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3. Andere Konzeptionen der Armutsbekämpfung


3.1 Das sektorübergreifende Konzept des BMZ 21

[Fn.21: Die wichtigsten Dokumente für diesen Förderbereich sind: BMZ (1990, 1992, 1995c, 1995d und 1996). Die vorliegende Studie konzentriert sich ausschließlich auf den BMZ-Schwerpunkt Armutsbekämpfung. Eine Würdigung der übrigen Bereiche der deutschen Entwicklungszusammenarbeit hinsichtlich ihrer Armutsrelevanz erfolgt nicht. Auch die Auswirkungen der Gesamtpolitik der Bundesregierung im internationalen System (z.B. Handels- und Finanzbereich, Rüstungsexporte) auf die Armut im Süden bleiben hier außen vor. Für eine umfassende Darstellung dieser Aspekte siehe Deutsche Welthungerhilfe/terre des hommes (1994 und 1995).]



3.1.1 Kriterien und Volumen

Ein spezifisch deutsches Konzept ist die selbsthilfeorientierte Armutsbekämpfung, die aus dem 1983 im BMZ eingerichteten Arbeitsschwerpunkt "Armutsbekämpfung durch Hilfe zur Selbsthilfe" hervorgegangen ist (Fues 1994). Dieser Prozeß fand in intensivem Erfahrungsaustausch und in enger Abstimmung mit kirchlichen und anderen Hilfswerken statt. Die eigens dafür gegründete Arbeitsgruppe mit staatlicher und nicht-staatlicher Besetzung besteht in abgewandelter Form noch heute. Sie trifft sich regelmäßig auf Geschäftsführungs- und Arbeitsebene, um konzeptionelle Grundsatzfragen sowie praktische Erfahrungen und Kooperationsansätze zu diskutieren.

Anders als beim sektoral ausgerichteten Ansatz der Prioritäten menschlicher Entwicklung und der sozialen Grunddienste wird die Armutsbekämpfung vom BMZ explizit als sektorübergreifendes Konzept definiert, das alle Bereiche der Entwicklungshilfe umfassen kann und soll. Anhand eines offen formulierten Leitfadens wird von den Länderreferaten im BMZ entschieden, ob ein geplantes Vorhaben den Kriterien für selbsthilfeorientierte Armutsbekämpfung entspricht. Folgende Bestimmungskriterien müssen dafür überwiegend bejaht werden können:

  • Zielgruppen: Menschen unterhalb der länderspezifischen Armutsgrenze.
  • Eigeninitiative muß vorhanden sein.
  • Beteiligung der betroffenen Bevölkerung muß sichergestellt sein.
  • Eigenbeitrag der Zielgruppe muß erbracht werden.
  • Handlungsspielraum für lokale Selbsthilfeorganisationen muß gewährleistet sein.

Die Kennzeichnung eines Vorhabens als selbsthilfeorientierte Armutsbekämpfung wird vom BMZ-Referat 220 (Übersektorale Grundsatzfragen; Armutsbekämpfung; Soziokulturelle Faktoren) überprüft und kann im Extremfall zurückgenommen werden.

In der BMZ-Rahmenplanung 1996 wird der Anteil der selbsthilfeorientierten Armutsbekämpfung mit 18,6 Prozent der bilateralen Gesamtzusagen für die Technische und Finanzielle Zusammenarbeit ausgewiesen (rund 700 Millionen DM). Dies entspricht in etwa dem Vorjahreswert von 18,5 Prozent. 1994 entfielen dagegen erst 12,6 Prozent der Ist-Zusagen auf diese Position.

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Für 1994 war in der Rahmenplanung ein Betrag von 497 Millionen DM für die selbsthilfeorientierte Armutsbekämpfung vorgesehen (Soll-Zusagen). Während des Jahres wurde eine Summe von 491 Millionen für den Schwerpunkt in Regierungsvereinbarungen mit den Nehmerländern erreicht (Ist-Zusagen). Dieser hohe Grad an Übereinstimmung zwischen dem geplanten und realisierten Volumen überrascht angesichts der Tatsache, daß 39 der insgesamt 101 vereinbarten Projekte der selbsthilfeorientierten Armutsbekämpfung überhaupt nicht in der Rahmenplanung enthalten waren (sogenannte C-Maßnahmen) (BMZ 1995f).

Die wiederholte Aussage des BMZ, mit dem jetzt realisierten Niveau der selbsthilfeorientierten Armutsbekämpfung von weniger als 20 Prozent sei die personelle Kapazitätsgrenze erreicht, kann nicht akzeptiert werden. Wenn die staatlichen Durchführungsorganisationen mit einer Ausweitung dieses Schwerpunkts überfordert sind, sollten die Finanzmittel des BMZ verstärkt den deutschen NRO für deren Armutsprogramme zufließen.

In Anlehnung an das Konzept von Social Watch International sollte vom BMZ gefordert werden, daß mindestens die Hälfte der Mittel in der bilateralen Zusammenarbeit für die direkte Armutsbekämpfung eingesetzt wird. Dazu zählen soziale Grunddienste, einkommensschaffende und -sichernde Maßnahmen für die Armen sowie die Förderung von Selbsthilfeorganisationen. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat die weitreichende Forderung erhoben, die selbsthilfeorientierte Armutsbekämpfung auf die Hälfte der bilateralen Leistungen auszuweiten (CDU/CSU-Bundestagsfraktion 1995:13). Es gibt allerdings sowohl im BMZ als auch von verschiedenen NRO erhebliche Vorbehalte, ob eine solche Prioritätensetzung den spezifischen Aufgaben und Möglichkeiten der staatlichen Entwicklungszusammenarbeit sowie der Aufgabenteilung zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren entspricht.

3.1.2 Schwachstellen

Die Schwäche des BMZ-Ansatzes liegt darin, daß die Kriterien für eine Einstufung der Vorhaben völlig vage bleiben und subjektiven Einflüssen unterliegen. Eine formale Festlegung, nach welchen operationalisierten Merkmalen die Klassifizierung eines Projekts erfolgt und wann der Tatbestand der "überwiegenden" Bejahung erfüllt ist, gibt es nicht.

Als großer Schwachpunkt des gesamten Ansatzes erweist sich, daß das BMZ über keinen Zielgruppenschlüssel verfügt, der zur Präzision bei der Bestimmung von Projektmerkmalen zwingen würde. Als generell gültiges Kriterium für die unmittelbare Armutsbekämpfung wird lediglich vorgegeben, daß "mehr als 50 % einer erkennbaren Gruppe von Begünstigten Arme sein (müssen)" (BMZ 1995c: 7). Eine weitere Ausdifferenzierung der Armen nach geschlechtsspezifischen, familiären (Alleinerziehende), sozialen (ethnische Minderheit) oder erwerbsmäßigen Merkmalen (Kleinbäuerin oder Tagelöhner) erfolgt nicht.

Das neue sektorübergreifende Zielgruppenkonzept des BMZ benennt in erstaunlicher Offenheit die methodischen Schwächen der bisherigen Verfahren hinsichtlich der Partizipation der Zielgruppen: "Auch wird zu häufig nach den Zielgruppen erst gefragt, wenn ein Vorhaben schon weitgehend festgelegt ist... Typisches Beispiel: In der Technischen

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Zusammenarbeit (TZ) laufen die entscheidenden Phasen ZOPP 1 bis 3 ohne Beteiligung der Zielgruppe aus dem Entwicklungsland (EL) ab; diese wird erst beteiligt (wenn überhaupt), wenn das Vorhaben schon geplant und beschlossen ist." (BMZ 1995c, S.3)

Das neue Zielgruppenkonzept hilft zwar bei der begrifflichen Klärung und der Vereinheitlichung der deutschen Verfahren. Es läßt aber operationalisierte Vorgaben zur Einstufung einzelner Vorhaben anhand ihrer Armutsrelevanz sowie hinsichtlich der Partizipation der Zielgruppen vermissen.

In einer Fundamentalkritik hinterfragt der entwicklungspolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Prof. Winfried Pinger (1995), das bisher gültige Verständnis von Partizipation in deutschen Projekten, weil "die Armutsbekämpfung als Grundbedürfnisbefriedigung in der steuernden Hand der deutschen Durchführungsorganisation blieb und .. die Bevölkerung (immerhin) in einer gewissen Weise mitwirken durfte.... Für unsere Projektpolitik müßte diese Erkenntnis zu der Konsequenz führen, daß die 'Setbsthilfeprojekte' methodisch vollkommen anders angegangen werden als die herkömmlichen Projekte, die auf die Hilfe für die jeweilige Regierung abgestellt sind ('Regierungsprojekte')." (Pinger 1995: 3-4). [Fn.22: Ähnliche Ansätze finden sich bei Schneider-Barthold (1995) und Molt (1995).]
Kritisiert wird auch, daß bisher ein genereller Auftrag an die deutschen Durchführungsorganisationen fehlt, das vorhandene Selbsthilfepotential in Ländern des Südens zu analysieren.

Positiv ist zu vermerken, daß das BMZ vor kurzem ein externes Gutachten zum Thema "Kriterien zur Beurteilung armutsorientierter Vorhaben" in Auftrag gegeben hat, mit dessen Hilfe die bisherigen Schwachpunkte behoben werden sollen. Dabei geht es auch um spezifische Kriterien für die strukturellen und mittelbaren Formen der Armutsbekämpfung, die gleichwertige Bestandteile des deutschen Armutskonzepts neben den unmittelbaren Armutsvorhaben sind. Ihr quantitativer Anteil an der deutschen Hilfe konnte bisher wegen fehlender Bestimmungsfaktoren noch nicht berechnet werden. Da die Untersuchung erst gegen Ende 1996 vorgelegt werden wird, können die Erkenntnisse hier nicht berücksichtigt werden.

Genauso dringlich ist der Untersuchungsbedarf im deutschen Armutsprogramm hinsichtlich der erzielten Wirkungen. Gemessen am Stand der Aktivitäten anderer Geber scheint die Wirkungsanalyse auf deutscher Seite weit zurückzuliegen (DANIDA 1995). Eine Querschnittsevaluierung des gesamten Förderschwerpunkts selbsthilfeorientierte Armutsbekämpfung sollte mit höchster Priorität in Angriff genommen werden. Solange derartige Untersuchungen nicht existieren, sind schlüssige Aussagen über das qualitative oder quantitative Maß der Armutsorientierung der deutschen Entwicklungszusammenarbeit nicht möglich (von Hauff 1995). [Fn.23: Zum internationalen Stand der Bemühungen, die armutsmindernden Wirkungen öffentlicher Entwicklungshilfeleistungen zu analysieren und zu messen, siehe DANIDA (1995).]

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3.1.3 Informationspolitik

Die Debatte zwischen interessierter Öffentlichkeit und BMZ über die Armutsbekämpfung hat einen Stellenwert, der weit über einen einzelnen Schwerpunkt der Entwicklungszusammenarbeit oder den Nachfolgeprozeß eines Weltgipfels hinausweist. Es geht dabei exemplarisch um die Grundsatzfrage, welchen Grad an Transparenz die Regierung in der Entwicklungspolitik herstellt und wie sie ihre Rechenschaftspflicht gegenüber der eigenen Bevölkerung hinsichtlich der Verwendung von Steuergeldern wahrnimmt.

Nach dem Ende der bipolaren Weltordnung ist der staatliche Ressourcentransfer zwischen Nord und Süd in eine unabweisbare Legitimationskrise geraten (Hewitt 1994). Gerade hinsichtlich des proklamierten Anspruchs der Armutsbekämpfung wachsen die Zweifel über die Wirksamkeit der Entwicklungshilfe. Wird dem nicht begegnet, kann die gesellschaftliche Unterstützung für jede Form des staatlichen Engagements unterminiert werden (Wissenschaftlicher Beirat beim BMZ 1995).

Vor diesem Hintergrund ist es unverzichtbar, daß staatliche und nicht-staatliche Geber den Nachweis über die Verteilung ihrer Finanzmittel auf unterschiedliche Förderbereiche (input) sowie über die konkreten Erfolge ihrer Maßnahmen (outcome) anhand nachvollziehbarer und überprüfbarer Verfahren führen können. Die Beteuerung guter Absichten und die Erarbeitung hervorragender Konzepte alleine genügen nicht.

Die Debatte über die Armutsorientierung der deutschen Entwicklungszusammenarbeit leidet bisher unter der unbefriedigenden Informationspolitik des BMZ. Zum Beispiel blenden die Projektlisten, die dem Parlament geliefert werden, projektbezogene Informationen über die sektorale und übersektorale Klassifizierung aus. Weder die Vertraulichen Erläuterungen, die der Bundestag als Teil der Rahmenplanung für das folgende Jahr erhält, noch die jährlichen Soll-lst-Vergleiche geben Auskunft, welche Vorhaben der selbsthilfeorientierten Armutsbekämpfung und/oder den sozialen Grunddiensten zugerechnet werden.

In einem bemerkenswerten Kurswechsel seiner Informationspolitik hat das BMZ Nicht-Regierungsorganisationen vor kurzem erstmals eine komplette Liste aller Vorhaben der selbsthilfeorientierten Armutsbekämpfung zugänglich gemacht (BMZ 1995i). Jahrelang hatten interessierte NRO vergeblich um diese Angaben gebeten (Deutsche Welthungerhilfe/terre des hommes 1994 und 1995). Zu kritisieren ist, daß diese Liste nur als Hintergrundinformation verwendet, aber nicht vollständig veröffentlicht werden darf.

3.1.4 Kredite und Schuldenumwandlung

Es ist zu begrüßen, daß sämtliche Vorhaben der selbsthilfeorientierten Armutsbekämpfung als nicht-rückzahlbarer Zuschuß finanziert werden - auch bei solchen Ländern (z.B. Simbabwe, Tunesien, Côte d'lvoire und Kolumbien), die sonst Mittel der Finanziellen Zusammenarbeit als Kredite erhalten (BMZ 1995k: 110). Die oben erwähnte DAC-Statistik (Anlage 2) zeigt jedoch den relativ hohen Anteil der Kredite in armutsrelevanten Bereichen der deutschen Hilfe (z.B. Grundbildung und Wassermaßnahmen). Während die deutschen Leistungen bei den Basisgesundheitsdiensten in voller Höhe als Zuschuß gewährt werden, entfällt ein Drittel der Zusagen für Grundbildung 1994 auf Kredite. Noch eindringlicher stellt sich die Bedeutung wachsender Auslandsverschuldung durch Ent-

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wicklungshilfe im Bereich von Wasserversorgung und Sanitärmaßnahmen dar. Von den deutschen Zusagen im Jahr 1994 in Höhe von 761 Millionen DM, die vom BMZ in vollem Umfang den menschlichen Prioritäten zugerechnet werden, wird gerade mal die Hälfte (388 Millionen) als Zuschuß überwiesen. Die Erhöhung der Auslandsschulden durch die andere Hälfte kann die armutsmindernden Wirkungen der Maßnahmen unterlaufen.

Wie die UNICEF-Fallstudien gezeigt haben, verhindert der staatliche Schuldendienst eine Ausweitung staatlicher Leistungen für die Armen. Neben dem Aufbringungsproblem ist auch das Transferproblem von hoher Relevanz. Die geförderten Projekte sozialer Entwicklung können keine Devisen für den Schuldendienst erwirtschaften (Raffer 1995). Deshalb muß die gesamtwirtschaftliche Exportproduktion ausgeweitet werden. Diese Zielsetzung kann sich negativ auf die Armutssituation auswirken, wenn arbeitsintensive, auf den lokalen Markt gerichtete Wirtschaftskreisläufe zurückgedrängt werden.

Um eine umfassende Armutsorientierung der deutschen Entwicklungszusammenarbeit sicherzustellen, müssen die gesamten deutschen Leistungen auf nicht-rückzahlbare Zuschüsse umgestellt werden. Die meisten bilateralen Geber transferieren inzwischen ihre Entwicklungshilfe auf Zuschußbasis. [Fn.24: Von den 21 DAC-Ländern vergeben inzwischen dreizehn 95 Prozent oder mehr ihrer Entwicklungshilfe in Form von nicht-rückzahlbaren Zuschüssen: Australien, Dänemark, Finnland, Großbritannien, Irland, Kanada, Niederlande, Neuseeland, Norwegen, Portugal, Schweden, Schweiz, USA (OECD/DAC 1996: Table 28, S. A47). Für Deutschland gilt ein Anteil der Zuschüsse an der gesamten bilateralen Hilfe von 70 Prozent.]
Der Geberverzicht auf Rückzahlung und Verzinsung bedeutet nicht automatisch, daß die Gelder im Nehmerland in Form von Geschenken verteilt werden. Sie können durchaus als Kredite eingesetzt werden, deren Schuldendienst allerdings in einheimischer Währung an revolvierende Fonds zu leisten wäre. Entscheidend ist, daß die Entwicklungshilfeleistungen keine Transferverpflichtung in Devisen begründen.

Damit neue Freiräume für eine verstärkte Armutsorientierung im Süden geöffnet werden, ist eine weitreichende Schuldenregulierung erforderlich - gerade gegenüber den hochverschuldeten armen Ländern. Elemente der Schuldenumwandlung und einheimische Gegenwertfonds können dabei unter gewissen Voraussetzungen wichtige entwicklungspolitische Impulse freisetzen (Fues 1995). Die Dokumente von Kopenhagen enthalten in Verpflichtung 9 (o) der Erklärung und Paragraph 90 (f) des Aktionsprogramms Hinweise für einen verstärkten Einsatz der Schuldenumwandlung zugunsten von Maßnahmen der sozialen Entwicklung.

Für 1996 hat der Bundestag die Anhebung der Schuldenumwandlung für ausstehende Entwicklungshilfekredite auf 200 Millionen DM sowie die Ausweitung des Verwendungszwecks auf Armutsbekämpfung beschlossen. Angesichts der Rückflüsse (Zinsen und Tilgung) aus Entwicklungshilfeschulden in Höhe von 1,7 Milliarden DM in 1994 (Kreditanstalt für Wiederaufbau 1995: 58) ist dies ein Tropfen auf den heißen Stein. Hinzu kommt, daß die ärmsten Länder weiterhin Schuldendienst an die Bundesregierung für Handelskredite aufbringen müssen. 1993 flossen aus den dreißig ärmsten Ländern der Welt fast 200 Millionen DM auf diese Weise in die Bundeskasse (Eberlei/Fues 1995).

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3.2 Behandlung der sektorübergreifenden Armutsbekämpfung beim DAC

Die sektorübergreifende Armutsbekämpfung wird in den Berichtssystemen des Development Assistance Committees bisher nicht berücksichtigt. Als sogenannte policy markers für prioritäre Ziele der Geberprogramme werden bisher nur frauen- und umweltspezifische Merkmale außerhalb der sektoralen Aufgliederung in den jährlichen Meldebögen abgefragt (siehe Anlage 2). Es ist auch dem Drängen des BMZ zu verdanken, daß im DAC seit einiger Zeit die Einführung weiterer sektorübergreifender Kategorien diskutiert wird.

Nach Meinung des DAC-Sekretariats ist die Aufnahme der folgenden Bereiche durchführbar: partizipatorische Entwicklung/gute Regierungsführung, Menschenrechte sowie Armutsbekämpfung (OECD/DAC 1995b: 9). Vom DAC-Sekretariat wird vorgeschlagen, das kanadische Verfahren zur Klassifizierung armutsrelevanter Vorhaben für die Berichterstattung an das DAC zu übernehmen.

Die kanadische Entwicklungshilfeinstitution CIDA unterscheidet zwischen einer primären und sekundären Zielsetzung bei der Armutsbekämpfung (OECD/DAC 1995b: 9). Die primäre Zielsetzung liegt vor, wenn ein Vorhaben folgende Kriterien erfüllt:

  • Die Armen müssen in dem Projektvorschlag identifiziert und die Gründe für ihre Armut benannt werden.
  • Die Mittel und Mechanismen, die dafür sorgen, daß der erzielte Nutzen die Armen erreicht, sollen ebenfalls identifiziert werden.
  • Ein Projekt ist keine Maßnahme der Armutsbekämpfung allein deshalb, weil die Armen als NutznießerInnen benannt werden. Die Verbesserung der Lebenssituation der Armen sollte ein Ziel und kein Nebenprodukt sein.

Die sekundäre Zielsetzung ist bei allen Vorhaben gegeben, wo die Armen als indirekt Begünstigte identifiziert werden können. Entsprechend dem bisher üblichen Meldeverfahren bei policy markers könnte auf diese Weise nach unmittelbaren und mittelbaren Wirkungen der Armutsvorhaben unterschieden werden.

Bei diesem Vorschlag fehlt die Dimension der Partizipation völlig. Es ist zu wünschen, daß das BMZ und andere Geber hier auf Änderungen drängen. Da zunächst die Reform des CRS-Schlüssels auf der Tagesordnung stand, ist derzeit nicht absehbar, wann die Einführung der neuen übersektoralen Kategorien erfolgen wird.

Auch die Diskussion über die Armutsbekämpfung als sektorübergreifender policy marker sollte schnell zu praktischen Ergebnissen führen. Dabei ist es unverzichtbar, daß die Formen der unmittelbaren Armutsbekämpfung sowie die Beteiligung der Zielgruppen präzise definiert werden.

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3.3 Armutskonzept der Weltbank

Das Armutskonzept der Weltbank umfaßt drei Wirkungsebenen (World Bank 1994: 3): [Fn.25: Zur Diskrepanz zwischen Konzept und Umsetzung siehe Illy (1993).]

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  • Projekte der unmittelbaren Armutsbekämpfung.
  • Allgemeine Wachstumsförderung.
  • Beseitigung rechtlicher und wirtschaftlicher Benachteiligung der Armen.

Umstritten ist allerdings in der internationalen Debatte, ob die konzeptionellen Innovationen der Weltbank bei der Armutsbekämpfung zu nachweisbaren Verbesserungen in der praktischen Projekt- und Programmpolitik geführt haben (Illy 1994).

3.3.1 Unmittelbare Armutsbekämpfung

Seit dem Geschäftsjahr 1992 verwendet die Weltbank das Konzept der zielgerichteten Maßnahmen (program of targeted interventions = PTI), um den Anteil der unmittelbaren Armutsbekämpfung quantitativ näher bestimmen zu können. Die Weltbank legt dabei eine Mindestgrenze von 10 Prozent des gesamten Projektvolumens zugrunde, die den Armen zugute kommen müssen, damit eine Maßnahme als PTI anerkannt wird (White 1995: 5).

Ein Vorhaben wird dann als PTI klassifiziert, wenn mindestens eines der folgenden Kriterien erfüllt ist (World Bank 1993:18):

  • Es gibt eine präzise definierte Ausrichtung auf arme Bevölkerungsgruppen (narrow targeting).
  • Der Anteil der Armen unter den Begünstigten ist deutlich höher als ihr allgemeiner Bevölkerungsanteil (broad targeting).

Innerhalb der Weltbankgruppe ist die International Development Association (IDA) in herausgehobener Weise mit der Armutsbekämpfung befaßt, da sie für die konzessionäre Kreditvergabe an die ärmsten Länder zuständig ist (Fues/Unmüßig 1995). Im Geschäftsjahr 1995 lag der volumenmäßige Anteil der PTI-Projekte an den IDA-Zusagen bei 43 Prozent (White 1995: 4). Für die Weltbank insgesamt, das heißt die IDA und die mit marktmäßigen Kreditkonditionen arbeitende International Bank for Reconstruction and Development (IBRD) zusammen, belief sich der entsprechende Wert auf 24 Prozent.

3.3.2 Strukturanpassungsprogramme

Auch in den Strukturanpassungsprogrammen bemüht sich die Weltbank darum, die Interessen der Armen explizit zu berücksichtigen. Ein Anpassungsprogramm gilt als armutsorientiert, wenn mindestens eines der folgenden Kriterien erfüllt ist:

  • Reform der Sozialleistungen, um die Armen besser zu erreichen.
  • Beseitigung von wirtschaftlichen Verzerrungen, die besonders schädlich für die Armen sind.
  • Einbeziehung sozialer Sicherheitsnetze oder anderer gezielter Programme. [Fn.26: Zu den von der Weltbank unterstützten Sozialfonds im Kontext von Strukturanpassungsprogrammen siehe Kasch (1995) und Arbeitsgruppe des Arbeitskreises "Armutsbekämpfung durch Selbsthilfe" (1995).]

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  • Einführung einer Armutsberichterstattung.
  • Formulierung einer Armutspolitik.

Gerade die beiden letzten Kriterien erlauben die Einbeziehung von Anpassungsprogrammen, deren reale Substanz nur wenig Bedeutung für die Verbesserung der Lebensbedingungen der Armen haben kann (White 1995: 5).

Die Weltbank berichtet über die Zahl der armutsrelevanten Anpassungsprogramme, nicht aber über deren Anteil am gesamten Kreditvolumen. Im Geschäftsjahr 1994 wurden 17 von 23 verabschiedeten Anpassungsprogrammen der Weltbank (IBRD und IDA) als armutsorientiert eingestuft (World Bank 1995: 38-43). Alle erfüllten zumindest eines oder mehrere der ersten drei Kriterien, z.B. Aufrechterhaltung der staatlichen Sozialleistungen, Verzögerung der Preiserhöhung für Grundnahrungsmittel, Import von Basisarzneimitteln, Arbeitsbeschaffungsprogramme sowie andere Formen sozialer Sicherheitsnetze.

Für die IDA-Länder werden spezielle Armutsstudien angefertigt, die in die Länderkonzepte integriert werden sollen. Allerdings liegen diese Studien noch nicht für alle Nehmerstaaten vor, obwohl das Abkommen für die zehnte IDA-Wiederauffüllung eine Frist bis Ende 1994 setzte. Auch die Qualität der bereits erstellten Armutsanalysen gibt NRO Anlaß zur Kritik (Christian Aid 1995 und Oxfam International 1995).

Nach Eigenaussage der Weltbank wird ihr weitgefaßter Anspruch der Armutsorientierung in der Praxis nur ungenügend eingelöst. Im Geschäftsjahr 1994 umfaßte die Hälfte der Länderstrategien konkrete Aktivitäten zur Steigerung der Produktivität und wirtschaftlichen Chancen der Armen (World Bank 1995: vii). Im Vorjahr galt dies erst in einem Viertel der Fälle. Die plötzliche Verdoppelung gibt Anlaß zur Vermutung, daß der erhöhte Ausweis von Armutsmaßnahmen weniger auf Änderungen in der praktischen Projekttätigkeit, sondern auf veränderte Vorgaben bei der Außendarstellung zurückzuführen ist.

Die strukturelle Armutsrelevanz der Weltbank-Aktivitäten wird in den Länderprogrammen kaum thematisiert. Die Weltbank gesteht die Schwachpunkte ihrer country assistance strategies (CAS) in bemerkenswerter Offenheit ein: "... nur sehr wenige (der CAS; Th.F.) behandelten explizit die Fragestellung, in welcher Weise die gesamtwirtschaftlichen Strategien und der in der CAS vorgeschlagene Wachstumspfad den Armen nutzen" (World Bank 1995: vii; Übersetzung Th. F.).

3.3.3 Sektoraler Ansatz

Neben der sektorübergreifenden Definition der Armutsorientierung verwendet die Weltbank auch ein sektoral bestimmtes Konzept, um den Nachweis einer an sozialen Prioritäten ausgerichteten Geschäftspolitik zu führen (World Bank 1993 und White 1995). Dazu werden die Leistungen für folgende Sektoren zusammengefaßt:

  • Entwicklung der menschlichen Ressourcen (Bildung, Gesundheit, Ernährung und Bevölkerungspolitik).
  • Landwirtschaft/ländliche Entwicklung.
  • Wasserversorgung/Sanitärmaßnahmen.

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Während der drei Geschäftsjahre 1993-95 lag der Anteil dieser Förderbereiche bei 44 Prozent der gesamten Zusagen der Weltbank (IBRD und IDA). Dies ist doppelt so hoch wie der entsprechende Wert für die gezielten Armutsmaßnahmen (PTI). Daraus wird deutlich, daß der Armutsgehalt des Programms bei Verwendung grober Sektorkategorien erheblich überschätzt wird.

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3.4 Armutskonzept der Inter-American Development Bank

Die Definition der unmittelbaren Armutsbekämpfung anhand des Anteils der Armen in der Gruppe der NutznießerInnen eines Projekts berücksichtigt nicht die mengenmäßige Aufteilung der damit erzielten Wohlfahrtssteigerung. Denkbar ist z.B. beim ländlichen Straßenbau, daß die Armen als Begünstigte zahlenmäßig überwiegen, die Vorteile für relativ wohlhabende Gruppen in Handel und gewerblicher Wirtschaft aber sehr viel höher als für die Armen ausfallen.

Im Unterschied zu Weltbank und BMZ, die den Anteil der Armen an den Begünstigten als zentrales Kriterium verwenden, geht die Inter-American Development Bank (IDB) von der Verteilung des Projektnutzens aus (White 1995). Da es sich als äußerst schwierig erwiesen hat, die Wirkungen und ihre personale Verteilung zu messen, werden die für das Vorhaben zur Verfügung gestellten Finanzmittel als Ersatzgröße benutzt.

Umfassende Analysen des IDB-Projektportfolios haben folgende Ergebnisse erbracht: Durchschnittlich 45 Prozent der Gelder in den Jahren 1979-89 kamen unmittelbar den armen Haushalten zugute (White 1995: 6). Die sektoralen Werte weisen eine große Bandbreite auf. Während Gesundheit (82 %) und städtische Entwicklung (80 %) ganz oben stehen, fallen die Sektoren Energie (18 %) und Transport (25 %) weit zurück. Im Zeitablauf fällt auf, daß der Finanzierungsanteil der Armen innerhalb der betrachteten Dekade spürbar abgenommen hat.

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3.5 NRO-Konzepte zur Erfassung armutsorientierter Vorhaben

Auch bei den Nicht-Regierungsorganisationen gibt es verstärkte Bemühungen, die analytischen Konzepte und statistischen Meßverfahren im Bereich der Armutsbekämpfung weiterzuentwickeln. Dies ist auf verschiedene Faktoren zurückzuführen. Insgesamt wächst der Wunsch nach verbesserter Wirkungsmessung und -kontrolle. Die Öffentlichkeit erwartet ein höheres Maß an Informationen und Rechenschaft darüber, inwieweit die proklamierten Ziele der Förderprogramme eingelöst werden.

Die intensive Auseinandersetzung mit bilateralen und multilateralen Gebern über deren reale Armutsorientierung hat das NRO-Bewußtsein für eigene Defizite geschärft. Angestrebt wird ferner eine verbesserte Steuerung der Projektauswahl und -bearbeitung nach sektorspezifischen und qualitativen Vorgaben. Eine Möglichkeit ist der Ansatz von MISEREOR zu einem neuen Projektschlüssel. [Fn.27: Die Darstellung beruht auf internen Arbeitsunterlagen, die von MISEREOR freundlicherweise für diese Studie zur Verfügung gestellt wurden. Es handelt sich dabei um vorläufige Entwürfe (Stand: 6. Oktober 1995).]
Dieser soll eine sehr viel aussagekräftigere Analyse des gesamten Programms hinsichtlich der Armutsrelevanz und anderer Aspekte ermöglichen. Einen besonderen Stellenwert nehmen die Kriterien zur Bestim-

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mung der Zielgruppen und ihrer Beteiligung sowie zur Messung der strukturellen Wirkungen ein.

Die Spezifikation Zielgruppe umfaßt neun Dimensionen: Geschlecht, Alter, Bildung, wirtschaftliche Rolle/Beruf, familiäre Rolle, gesellschaftliche Rolle, Lebensraum, Religion und eine offene kontinentspezifische Kategorie. Hinsichtlich der Beteiligung wird abgefragt, ob die Zielgruppe Projektträger ist, am Projekt direkt beteiligt oder nur angehört wird, generell zur Selbsthilfe motiviert oder überhaupt nicht einbezogen wird. Die Messung der strukturellen Wirkungen unterscheidet nach politischen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Rahmenbedingungen jeweils auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene.

Die vorliegenden Zwischenergebnisse für den neuen MISEREOR-Projektschlüssel bieten gute Ansatzpunkte für die Bemühungen des BMZ in diese Richtung und könnten auch für eine Weiterentwicklung der Systeme bei anderen NRO von einigem Wert sein. Es ist wünschenswert, daß die deutschen NRO ihre Verfahren zur Definition und Bestimmung der Merkmale von Projekten und Programmen in der Armutsbekämpfung verfeinern und vereinheitlichen. Die dadurch ermöglichte höhere Transparenz und Vergleichbarkeit würden ohne Zweifel die Glaubwürdigkeit ihrer Bemühungen in den Augen einer zunehmend skeptischen Öffentlichkeit verstärken.

Einheitliche Verfahren - am besten auf internationaler Ebene, zumindest aber innerhalb der Europäischen Union - würden zudem die Herausstellung unterschiedlicher Profile bei Betonung der gemeinsamen Anliegen zulassen. Sie sind auch wichtig hinsichtlich fairer Bedingungen für den "Wettbewerb" auf dem Spendenmarkt. Ansonsten besteht die Gefahr, daß eine Organisation, die die Armutsrelevanz ihres Förderprogramms nach strengen Kriterien mißt, in den Augen der Öffentlichkeit schlechter dasteht als eine andere, die den Armutsbegriff viel weiter faßt.


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