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1. Aktueller Stand der Debatte zur 20:20-lnitiative




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1.1 Entstehungsgeschichte1
[Fn.1: Die folgende Darstellung folgt Jespersen/Parker (1995), die als UNICEF-MitarbeiterInnen frühzeitig mit der 20:20-lnitiative befaßt waren.]

Der Human Development Report 1991 des UNDP (Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen) enthält die Empfehlung, die Regierungen sollten die Hälfte ihrer Sozialausgaben in den Bereich der menschlichen Prioritäten (human priorities) lenken. Diese wurden ursprünglich als Grundbildung, Basisgesundheitsdienste, Verfügbarkeit von Trinkwasser, Beseitigung von Unterernährung und Zugang zu Methoden der Geburtenplanung definiert. Als wünschenswert wird ein Anteil der Sozialleistungen am gesamten Staatshaushalt in Höhe von 40 Prozent unterstellt. Die Hälfte dieser Summe ergibt folglich 20 Prozent der öffentlichen Ausgaben als Zielvorgabe für die menschlichen Schwerpunkte.

Der Human Development Report des darauffolgenden Jahres formuliert eine parallele Aufforderung an die Geberstaaten. Sie sollen mindestens 20 Prozent der öffentlichen Gelder für die Entwicklungszusammenarbeit auf die menschlichen Prioritäten konzentrieren. 1993 verbindet UNICEF, das UN-Kinderhilfswerk, in seinem Jahresbericht zur Situation der Kinder in der Welt die beiden Empfehlungen mit der Absicht, eine höhere öffentliche Aufmerksamkeit und zusätzliche Finanzmittel für die soziale Grundversorgung zu mobilisieren. Ein qualitativ neuartiges Element ist dabei die Gegenseitigkeit der Verpflichtungen, die Geber- und Nehmerländer gleichermaßen binden sollen. Der Ansatz der wechselseitigen, vertraglich fixierten Selbstverpflichtung von Industrieländern und Staaten des Südens (global compact) hat in jüngster Zeit - auch über die 20:20-lnitiative hinaus - einiges Interesse auf internationaler Ebene gefunden. Zum Beispiel haben die Niederlande mit verschiedenen Nehmerländern entsprechende Vereinbarungen getroffen (Falk 1992).

1994 spricht UNDP (1994: 89) vom "20:20-Vertrag über menschliche Entwicklung" und präsentiert eine Schätzung der zusätzlichen jährlichen Kosten für dessen Umsetzung bis zum Jahr 2005. Im Vorfeld der Konferenz der Vereinten Nationen über "Bevölkerung und Entwicklung" (September 1994 in Kairo) legen UNICEF, UNDP und UNFPA, der Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen, dann einen gemeinsamen Vorschlag zur 20:20-lnitiative vor (UNICEF/UNDP/UNFPA 1994).

Auf der letzten Vorbereitungssitzung für den Weltsozialgipfel im Januar 1995 bekräftigen diese Institutionen ihr Engagement für die 20:20-lnitiative, jetzt verstärkt um die UN-Kulturorganisation, UNESCO, und die Weltgesundheitsorganisation, WHO. Damit wird das Konzept als Vorschlag der fünf zuständigen UN-Fachinstitutionen auf die Tagesordnung der Kopenhagener Konferenz plaziert und dort zum Gegenstand intensiver Debatten.

Um die Kritik aufzufangen, die 20:20-lnitiative sei zu eng auf staatliche Sozialleistungen fixiert, brachte der hochrangige UNDP-Berater, Mahbub ul Haq (1995), noch kurz vor dem Weltsozialgipfel die Erweiterung um Kreditsysteme für die Armen in die Diskussion. Diese Anregung wurde aber ausdrücklich nicht in den offiziellen Vorschlag der UN-Institutionen übernommen.

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Von ihrem Ursprung bis heute hat sich die Begrifflichkeit der 20:20-lnitiative verändert. Nach konfliktbeladenen Diskussionen mit dem Development Assistance Committee (DAC) der OECD und einzelnen Geberländern sprechen die internationalen Institutionen seit Mitte 1994 von "sozialen Grunddiensten" (basic social services). Das DAC (OECD/DAC 1994: 98) hatte zu bedenken gegeben, daß menschliche Prioritäten nicht nur durch direkte staatliche Sozialleistungen, sondern auch durch Änderungen der strukturellen Rahmenbedingungen und durch Maßnahmen in anderen Sektoren gefördert werden können (Raffer 1995).

Die sektorale Eingrenzung des UNDP/UNICEF-Vorschlags ist im wesentlichen unverändert geblieben - bis auf die Erweiterung um Sanitärmaßnahmen. Neben der sektoralen Festlegung ist die explizite Zielgruppenorientierung von Bedeutung. Die Sozialdienste sollen die marginalisierten Bevölkerungsgruppen erreichen. Deshalb wurde eine Kostenobergrenze für Maßnahmen bei der Wasserver- und -entsorgung hinzugefügt. Sie soll sicherstellen, daß ausschließlich Vorhaben erfaßt werden, die den Armen unmittelbar zugute kommen.

Eine international akzeptierte Abgrenzung der sozialen Grunddienste existiert bisher nicht. Einige Geberländer verwenden Definitionen, die über den Vorschlag der UN-Institutionen hinausgehen. Dies führt zu einiger Verwirrung in der internationalen Debatte und lenkt von den zentralen inhaltlichen Fragen ab. Es ist dringend erforderlich, daß die anstehende Konferenz in Oslo (Ende April 1996) endlich Klarheit schafft und einen einheitlichen begrifflichen Rahmen für die sozialen Grunddienste verabschiedet.

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1.2 Zielsetzung

Als sozialpolitische Ziele bis zum Jahr 2000 gegenüber der Ausgangssituation von 1990 werden im Vorschlag der UN-Organisationen aufgeführt (UNDP/UNFPA/UNICEF 1994):

  • Halbierung der Analphabetenrate (die Rate der Frauen soll nicht höher liegen als die der Männer).
  • Halbierung der Unterernährungsrate für Kinder unter 5 Jahren.
  • Halbierung der Todesrate bei entbindenden Frauen.
  • Reduzierung der Todesrate für Säuglinge und Kinder unter 5 Jahren um ein Drittel oder auf ein Niveau von 50 bis 70 Fällen pro 1.000 Lebendgeburten (es gilt jeweils das niedrigere Ziel).
  • Zugang zu reproduktiver Gesundheitsfürsorge und Geburtenplanung für alle Einzelpersonen und Paare.

In der internationalen Debatte zur 20:20-lnitiative gab es anfänglich Stimmen, die dafür eintraten, diesen Ansatz auf die ärmsten Länder (LDCs = least developed countries) zu begrenzen. Inzwischen hat sich jedoch die Position durchgesetzt, daß soziale Grunddienste unabhängig vom Pro-Kopf-Einkommen zu den staatlichen Prioritäten zählen müssen.

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1.3 Sektorale Definition

Um diese Ziele zu erreichen, haben die UN-Institutionen einen detaillierten Vorschlag für die sektorale Konzentration vorgelegt (UNDP/UNFPA/UNICEF 1994; siehe auch Gsänger 1995). Danach gehören die folgenden Maßnahmen zum Katalog der sozialen Grunddienste:

  • Basisgesundheitsdienste (Kontrolle ansteckender Krankheiten, grundlegende Gesundheitsfürsorge, Gesundheitsdienste für Mütter und Kleinkinder, Training des Personals, Krankenhäuser und Management des Gesundheitssystems auf Distriktebene, Gesundheitserziehung).
  • Grundbildung (Primarerziehung, Vorschulbetreuung, Grundbildung für Erwachsene).
  • Trinkwasser und Sanitäranlagen (Einrichtungen für die Trinkwasserversorgung zu weniger als 30 US-Dollar Kosten pro Nutznießerin, Sanitäranlagen zu weniger als 20 US-Dollar Kosten pro Nutznießerin, Hygieneerziehung und -ausbildung).
  • Beseitigung der Unterernährung (direkte Ernährungsprogramme, ernährungsbezogene Informationssysteme, Verbesserung der Ernährungssicherheit auf Haushalts- und Dorfebene, Kinder- und Säuglingsspeisung).
  • Reproduktive Gesundheitsfürsorge und Geburtenplanung (einschließlich AIDS-Vorbeugung).

Die sozialen Grunddienste beziehen sich nicht nur auf die direkte Erbringung der staatlichen Leistungen, sondern schließen dazugehörige Infrastrukturmaßnahmen ein - z.B. den Bau von Brunnen, Grundschulen und ländlichen Gesundheitszentren.

Diese Definition der sozialen Grunddienste durch die zuständigen UN-Fachinstitutionen richtet sich an den Zielsetzungen einer menschlichen Entwicklung aus, die auf verschiedenen Weltkonferenzen der vergangenen Jahre formuliert worden sind.
[Fn.2: Zu diesen Weltkonferenzen zählen: Jomtien Weltkonferenz über Erziehung für alle (1990), Weltgipfel für Kinder (1990), Internationale Ernährungskonferenz in Rom (1992), Weltbevölkerungskonferenz Kairo (1994), Weltsozialgipfel Kopenhagen (1995) und Weltfrauenkonferenz Peking (1995).]
Damit sollen die staatlichen Sozialleistungen erfaßt werden, die unverzichtbar sind, damit Menschen der absoluten Armut entrinnen können. Der Ansatz steht in hoher Übereinstimmung mit den sozialen Dimensionen der Armutsbekämpfung im Weltentwicklungsbericht der Weltbank von 1990. Einige der sozialen Grunddienste sind auf zurückliegenden Weltkonferenzen präzise mit dem Ziel definiert worden, Synergieeffekte mit anderen Komponenten dieses Bereichs zu erzielen (z.B. Grundbildung).

Im Rahmen einer sozialen Entwicklungsstrategie weisen die Grunddienste gemeinsame Merkmale auf, die sie von anderen sozialpolitischen Bereichen deutlich unterscheiden:

  • Soziale Grunddienste zielen auf die Beseitigung der absoluten Armut ab. Damit soll der "Teufelskreis der Armut" gebrochen werden.
  • Die sozialen Grunddienste zeichnen sich durch einen hohen Grad der Komplementarität untereinander aus. Zum Beispiel wird die Wirksamkeit von Basisgesundheits-

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    diensten geschwächt, wenn die Alphabetisierungsquote der Frauen niedrig oder der Zugang zu sauberem Trinkwasser begrenzt ist.

  • Die Bereitstellung von sozialen Grunddiensten erfolgt auf dezentraler Basis und stärkt so die Verlagerung staatlicher Kompetenzen auf die lokale Ebene. Dabei können in besonderem Maße Effizienzgewinne erzielt werden, wenn die Leistungen als integriertes Bündel angeboten werden.
  • Auch im Rahmen einer primär ökonomischen Betrachtungsweise läßt sich die Konzentration auf soziale Grunddienste gut begründen. [Fn.3: Im Mittelpunkt des neuen DAC-Jahresberichts (OECD/DAC 1996) stehen die Konzepte Humankapital und Sozialkapital. Staatliche Sozialleistungen in diesen Bereichen werden als strategische Investitionen zur Steigerung von gesamtwirtschaftlichem Wohlstand und gesellschaftlicher Wohlfahrt betrachtet.]
    Alle Bereiche der sozialen Grunddienste sind durch hohe wirtschaftliche Ertragsraten und positive externe Effekte charakterisiert. Dies bedeutet, daß die gesellschaftliche Wohlfahrt im Vergleich mit anderen Bereichen öffentlicher Leistungen überdurchschnittlich steigt. In der internationalen Debatte herrscht deshalb Übereinstimmung darüber, daß der Staat eine unaufgebbare Verantwortung für die soziale Grundversorgung trägt. Darüber hinaus wird die Legitimation staatlicher Leistungen im Gegensatz zur Tätigkeit privater Anbieter durch das normative Ziel der sozialen Gerechtigkeit sowie die hohen Grenzkosten einer flächendeckenden Versorgung verstärkt.

Im Vorfeld der anstehenden Osloer Konferenz haben einzelne Geber die Erweiterung der sozialen Grunddienste ins Gespräch gebracht - z.B. um Wohnungsbaumaßnahmen, Nahrungsmittelhilfe und humanitäre Hilfe. Die fünf UN-Fachinstitutionen halten jedoch an ihrer Definition fest. Sie sind der Auffassung, daß Slumsanierung und Wohnungsbau für die Armen nicht in den Kernbereich staatlicher Zuständigkeit fallen. Die Rolle privater Anbieter ist hier als bedeutend höher einzuschätzen. Nahrungsmittelhilfe wird in vielen Fällen als reguläre Bezahlung bei Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen verwendet. Es handelt sich dann um eine allgemeine Zahlungsbilanzhilfe. Die Position Ernährung in den sozialen Grunddiensten richtet sich dagegen gezielt auf die Beseitigung von Unterernährung. Bei der humanitären Hilfe geht es nicht um langfristig nachhaltige Armutsbekämpfung, sondern um akute Katastrophen- und Notfälle. Dieser Schwerpunkt sollte deshalb separat von den sozialen Grunddiensten erfaßt werden.

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1.4 Finanzbedarf

Um ein hinreichendes Angebot bei diesen Sozialdiensten zu sichern, ist ein zusätzliches Finanzierungsvolumen von 30 bis 40 Milliarden US-Dollar pro Jahr bis zum Ende dieser Dekade erforderlich. Im einzelnen verteilt sich der zusätzliche Ressourcenbedarf auf folgende Positionen (UNDP/UNFPA/UNICEF 1994):

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Zusätzlicher Mittelbedarf pro Jahr in Mrd. US-$

Grundbildung

3-6

Basisgesundheitsdienste und Ernährung

11-13

Reproduktive Gesundheitsfürsorge und Geburtenplanung

11-12

Trinkwasser und Sanitäreinrichtungen

5-9

GESAMT

30-40

Die Regierungen des Südens müßten den Anteil der sozialen Grunddienste an den Staatshaushalten von derzeit durchschnittlich 13 auf 20 Prozent steigern. Das würde zwei Drittel der erforderlichen Mittel abdecken. Wenn die Geber ihren Teil der gegenseitigen Verpflichtung erfüllten, würde das restliche Drittel der erforderlichen globalen Summe aufgebracht. Es handelt sich hier um pauschale Durchschnittswerte. Eine Konkretisierung der Beträge, die die einzelnen Geberländer durch Umschichtung mobilisieren müßten, ist bisher noch nicht erfolgt.

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1.5 Die Beschlüsse von Kopenhagen

Schon im Vorfeld des Weltsozialgipfels stieß die 20:20-lnitiative auf erhebliche Vorbehalte (Wolff 1995). [Fn.4: Gsänger (1995) referiert die kritischen Vorbehalte von Regierungen, vertritt aber selber eine positive Einstellung zur 20:20-lnitiative.]
Zahlreiche Geberländer befürchteten die Einengung ihrer Entscheidungsfreiheit bei der sektoralen Aufteilung der Finanzmittel. Viele Nehmerländer wiesen die Formel als Eingriff in ihre nationalstaatliche Souveränität zurück. Von Ländern des Südens wurde zusätzlich Mißtrauen geäußert, das Konzept könne zur Verschärfung der Geberkonditionalität mißbraucht werden.

Nach langwierigen Beratungen verabschiedete der Kopenhagener Gipfel deutlich zurückhaltende Formulierungen zur 20:20-lnitiative (Donner-Reichle 1995). Zum einen wird die Freiwilligkeit des Ansatzes betont. Einzelne Geber- und Nehmerländer können daran mitwirken; sie können das Konzept aber auch völlig ignorieren. Zum anderen wurde kein Einvernehmen über die sektorale Eingrenzung der Leistungen erzielt, die den sozialen Grundprogrammen zuzurechnen sind (EUROSTEP 1995). Ein weiterer Mangel ist, daß es keinerlei Verabredung für einen institutionalisierten Folgeprozeß zur Umsetzung, Überprüfung und Weiterentwicklung der Initiative gab.

Die zentralen Passagen der von den Regierungen unterzeichneten Kopenhagener Schlußdokumente, die für die 20:20-lnitiative von Bedeutung sind, lauten:

  • " At the international level, we will.... increase the share of funding for social development programmes..." (Commitment 9 (l)). [Fn.5: United Nations 1995a: 30. Auf deutsch: "Auf internationaler Ebene wollen wir.... den Anteil der Entwicklungshilfe für soziale Entwicklungsprogramme anheben..." (Verpflichtung 9 (l) der Erklärung; Übersetzung Th. F.).]

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  • Dafür sind zusätzliche Finanzmittel erforderlich. Dies erfordert u.a.: "Agreeing on a mutual commitment between interested developed and developing country partners to allocate, on average, 20 per cent of ODA and 20 per cent of the national budget, respectively, to basic social programmes." (Programme of Action, paragraph 88 (c)). [Fn.6: United Nations 1995a: 117. Auf deutsch: "...sich in einer gegenseitigen Verpflichtung zwischen interessierten Industrie- und Entwicklungsländern partnerschaftlich darauf zu verständigen, daß durchschnittlich 20 Prozent der öffentlichen Entwicklungshilfe beziehungsweise 20 Prozent des öffentlichen Haushalts für soziale Grundprogramme eingesetzt wenden..." (Aktionsprogramm, Paragraph 88 (c); Übersetzung Th.F.).]


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1.6 Internationale Institutionen

Nach Kopenhagen kommen die internationalen Bemühungen zur Verwirklichung der dort gefaßten Beschlüsse nur schleppend in Gang (Martens 1996). UNDP, zusammen mit UNICEF Erfinder der 20:20-Formel, hat sich aus der konkreten Umsetzungsarbeit für diese Initiative weitgehend zurückgezogen, will aber im sonstigen Folgeprozeß des Weltsozialgipfels eine führende Rolle spielen. Nach Veränderungen des Mandats durch seinen Exekutivrat konzentriert sich UNDP auf die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen der Armutsbekämpfung (UNDP 1995b). Die unmittelbare Weiterarbeit am 20:20-Konzept wird als Aufgabe derjenigen internationalen Institutionen betrachtet, die wie UNICEF, UNFPA und WHO direkt mit der Durchführung von Sozialleistungen beauftragt sind. Falls dies gewünscht wird, ist UNDP jedoch bereit, Initiativen anderer UN-Institutionen zur Erarbeitung von 20:20-Länderprogrammen zu unterstützen, z.B. im Bereich der Ressourcenmobilisierung und Geberkoordination (UNDP 1995a: 16).

Die Führungsrolle im Bereich der internationalen Institutionen zur 20:20-lnitiative hat jetzt UNICEF übernommen. Der Ansatz wird als strategischer Hebel zur Verwirklichung der Ziele des Weltgipfels für Kinder von 1990 gesehen (UNICEF 1995: 98). UNICEF koordiniert auch die Bemühungen innerhalb des UN-Systems für eine einheitliche Klassifizierung der Leistungen aus diesem Bereich. Die gemeinsame Arbeitsgruppe der UN-Institutionen zu sozialen Grunddiensten unter Einbeziehung von Weltbank und Internationalem Währungsfonds, die als Teil des Kopenhagener Folgeprozesses eingerichtet wurde, wird aber vom UN-Bevölkerungsfonds (UNFPA) geleitet (Martens 1996: 21). Konkrete Ergebnisse dieses Prozesses sind bisher noch nicht bekannt geworden.

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1.7 Regierungen

Konkrete Erfahrungen bei der Umsetzung von 20:20 durch einzelne Geber- und Nehmerländer liegen bisher noch nicht vor. Unmittelbar nach dem Kopenhagener Gipfel hatte der niederländische Entwicklungsminister, Jan Pronk, dem zuständigen UN-Unter-Generalsekretär, Nitin Desai, ein Seminar über die Umsetzung der 20:20-lnitiative vorgeschlagen. Zwanzig Geber- und zwanzig Nehmerländer sollten - so die Anregung - das Konzept weiterentwickeln (NOVIB 1995:10).

Im Kreis der Geberländer hat Norwegen mittlerweile die Federführung übernommen und will interessierte Geber- und Nehmerländer sowie internationale Institutionen und NRO [Fn.7: Das Einladeverfahren für NRO ist bisher nicht transparent.]

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zu einer größeren Tagung über die 20:20-lnitiative vom 23. bis 25. April 1996 nach Oslo einladen. Dieses Ereignis wird von einer Arbeitsgruppe aus jeweils drei Geber- (Kanada, Niederlande und Norwegen) und Nehmerstaaten (Bangladesh, Chile und Uganda) sowie VertreterInnen internationaler Organisationen (UNDP, UNICEF, UNFPA und UNCTAD) vorbereitet. Die Weltbank wurde in beratender Funktion einbezogen. Auf der geplanten Tagesordnung stehen folgende Themen:

  • Verbindliche Definition der sozialen Grunddienste.
  • Verfahren zur Umsetzung der 20:20-lnitiative.
  • Überprüfung der durchgeführten Programme.

Nach langem Zögern im Vorfeld hat die Bundesregierung die 20:20-lnitiative in Kopenhagen unterstützt. Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) ist stolz darauf, den Vorschlag innerhalb der Europäischen Union gegen den Widerstand anderer Mitgliedsländer durchgesetzt zu haben. Ohne deutsches Drängen wären demnach selbst die vagen Formulierungen zu 20:20 nicht in die Kopenhagener Dokumente aufgenommen worden. Einzelheiten zur Umsetzung der Initiative durch das BMZ werden im nächsten Kapitel ausführlich behandelt. Das BMZ ist am weiteren internationalen Austausch interessiert und hat bereits seine Bereitschaft zur Teilnahme an der erwähnten Konferenz in Oslo signalisiert.

Die 50. Generalversammlung der Vereinten Nationen beschäftigte sich im Dezember 1995 mit dem Nachfolgeprozeß des Weltsozialgipfels. In einigen Stellungnahmen wurde die 20:20-lnitiative explizit angesprochen. [Fn.8: Siehe International Institute for Sustainable Development (1995).]
Der norwegische Beitrag brachte zum Ausdruck, daß die Annahme der 20:20-lnitiative eines der konkretesten Ergebnisse gewesen sei. Der spanische Vertreter, der im Namen der Europäischen Union sprach, begrüßte die Initiative der norwegischen Regierung für eine internationale Konferenz zur weiteren Umsetzung (siehe oben).

Die peruanische Stellungnahme hob hervor, daß derzeit schon mindestens 40 Prozent des nationalen Haushalts für Sozialleistungen eingesetzt würden. Für die Regierung Simbabwes ist die Umsetzung der 20:20-lnitiative von zentraler Bedeutung für den Erfolg des gesamten Aktionsprogramms von Kopenhagen. Pakistan verwies auf sein Programm für soziale Grunddienste in Höhe von 8 Milliarden US-Dollar. In der Resolution der Generalversammlung vom Dezember 1995 über den Folgeprozeß von Kopenhagen wurde die Bedeutung der 20:20-lnitiative als freiwillige Maßnahme unterstrichen. [Fn.9:Siehe United Nations (1995b)]

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1.8 Nicht-Regierungsorganisationen

Bisher liegen wenig Informationen über Nachfolgeaktivitäten von NRO zur Umsetzung des 20:20-Ansatzes vor. Einzigartig ist die Initiative "Social Watch International" der niederländischen Organisation NOVIB gemeinsam mit zahlreichen Partnerorganisationen aus dem Süden (NOVIB 1995). Das Projekt will die Umsetzung von Weltsozialgipfel und Weltfrauenkonferenz (September 1995 in Peking) im Norden und Süden gleichermaßen kritisch begleiten. Im November 1995 fand ein Seminar in Den Haag statt, auf dem die

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beteiligten NRO das Konzept verabschiedeten. Für den März 1996 ist ein erster Bericht angekündigt. Das europäische NRO-Netzwerk EUROSTEP hat sich inzwischen der Social-Watch-lnitiative angeschlossen.

Durch gezielte Öffentlichkeits- und Lobbyarbeit soll Druck auf diejenigen Regierungen mobilisiert werden, die ihren Verpflichtungen von Kopenhagen und Peking nicht nachkommen. Dazu wollen die NRO die Regierungspolitik im Bereich der sozialen Entwicklung anhand von einheitlichen Indikatoren und qualitativen Kriterien analysieren. Ebenfalls von Interesse sind die nationalen und internationalen Rahmenbedingungen sowie die Rolle der Zivilgesellschaften. Angestrebt wird ein jährlicher Bericht, der die nationalen Untersuchungen zusammenbringt und allgemein gültige Schlußfolgerungen daraus zieht. Die Lobbyarbeit soll sich auch auf die internationale Ebene richten - z.B. Vereinte Nationen, Weltbank, Internationaler Währungsfonds und Europäische Union.

Relevant für die weitere Debatte zur 20:20-lnitiative ist die Definition der Förderbereiche sowie die Festlegung des dafür eingeforderten Mindestanteils der Entwicklungshilfe. Nach dem Social-Watch-Konzept lassen sich die staatlichen Leistungen für soziale Entwicklung den folgenden drei Bereichen zuordnen:

  • Soziale Grunddienste - wie in der 20:20-lnitiative definiert.
  • Einkommensschaffende und einkommenssichernde Maßnahmen für die Armen (insbesondere Frauen): Kleinkreditprogramme, Arbeitsbeschaffungsprogramme, Unterstützung der kleinbäuerlichen Produktion.
  • Stärkung der sozialen Organisationen: z.B. Organisationen von BäuerInnen und Frauen, für Menschenrechte und Demokratie sowie Gewerkschaften.

Für diese Schwerpunkte sollen 50 Prozent der öffentlichen Entwicklungshilfe zur Verfügung gestellt werden - mindestens die Hälfte davon speziell für Frauen. Für die Länder des Südens wird keine quantitative Vorgabe formuliert. Die Regierungen werden allgemein aufgefordert, der sozialen Entwicklung höchste Priorität bei der Aufstellung von Haushaltsplänen und bei der Politikformulierung zukommen zu lassen. An die Adresse von Weltbank und Internationalen Währungsfonds wird die Forderung gerichtet, die Strukturanpassungsprogramme sozialverträglich auszugestalten.

Die im Forum Weltsozialgipfel zusammengeschlossenen deutschen NRO messen der 20:20-lnitiative einen hohen entwicklungspolitischen Stellenwert bei, weil sie hierin eine Chance sehen, die Debatte über die Qualität der Entwicklungszusammenarbeit und die zielgerichtete Armutsbekämpfung zu vertiefen. [Fn.10: Anläßlich des Tages der Menschenrechte haben die Kinderkommission des Bundestags und die Kindernothilfe eine gemeinsame Initiative an die Bundesregierung gerichtet, in der die Bedeutung der 20:20-lnitiative im Rahmen einer umfassenden Armutsbekämpfung hervorgehoben wird.]
Sie haben dafür eigens eine Arbeitsgruppe gegründet, die die nationale und internationale Umsetzung des Konzepts kritisch begleiten soll. Erste Gespräche mit der Bundesregierung im Rahmen der umfassenden Auswertungsgespräche nach Kopenhagen haben stattgefunden. Weitere Schritte sollen nach Diskussion der vorliegenden Untersuchung folgen.

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1.9 Kritische Würdigung

Die 20:20-lnitiative ist ein wichtiger Impuls für die Neuorientierung der internationalen Entwicklungszusammenarbeit sowie die Umschichtung der öffentlichen Ausgaben im Süden nach sozialen Prioritäten und verdient volle Unterstützung von Regierungen und NRO. Der Vorschlag der UN-Institutionen bietet ein hilfreiches Konzept zur Konzentration staatlicher Leistungen auf zentrale Felder der Überlebenssicherung. Diese Angebote sind vor allem für schwache Bevölkerungsgruppen von Bedeutung, bei denen die Voraussetzungen für produktive Selbsthilfe nicht gegeben sind - z.B. Kinder, Alte und Kranke (Gnärig 1995 und BMZ 1995k: 108). Das besondere Engagement von UNICEF für das 20:20-Konzept erklärt sich aus diesem Zusammenhang.

Die hohe internationale Aufmerksamkeit, die der 20:20-lnitiative durch den Weltsozialgipfel zuteil geworden ist, sollte genutzt werden, um zusätzliche Mittel zu mobilisieren und vorhandene Ressourcen umzuschichten. Genauso wichtig ist die gesteigerte Wirksamkeit der eingesetzten Gelder, um die Lebenssituation der Zielgruppen dauerhaft zu verbessern.

Bei einer grundsätzlich positiven Würdigung sollten jedoch die Grenzen und Schwächen des Ansatzes nicht unberücksichtigt bleiben. Der sektoral bestimmte Ausbau der sozialen Grunddienste unterscheidet sich deutlich von den sektorübergreifenden Konzepten der Armutsbekämpfung. Als isoliertes Programm mißverstanden, kann die 20:20-lrtitiative zentrale Merkmale einer emanzipatorisch ausgestalteten Armutsorientierung nicht erfüllen. Sie setzt beim Mitteleinsatz (input) an und läßt die Wirkungen (outcome) offen. Sie fragt nicht notwendigerweise danach, ob die Armen tatsächlich Zugang zu den sozialen Grunddiensten erhalten oder ob die Inanspruchnahme durch Gebühren und andere Hemmnisse beschränkt wird (Wolff 1995). Sie könnte als top-down-Konzept, das die NehmerInnen entmündigt und in Abhängigkeit hält, mißbraucht werden.

Das 20:20-Konzept setzt auf der Verwendungsseite des Volkseinkommens, bei der Verteilung öffentlicher Gelder, an. Es vernachläßigt die Entstehungsseite, wo es um die Entfaltung der produktiven Fähigkeiten, die Verteilung von Reichtum und Macht sowie die Selbstorganisation der Armen geht. Geschlechtsspezifische Aspekte werden nur am Rand gestreift. Dabei wird der herausgehobene Stellenwert dieses Faktors für die sozialpolitische Analyse und Programmgestaltung immer deutlicher (UNDP 1995c). Der 20:20-Ansatz erhebt nicht den Anspruch, die strukturellen Rahmenbedingungen zu beeinflussen. 80 Prozent der öffentlichen Finanzmittel und der Entwicklungshilfe werden zunächst ausgeblendet. Wenn deren Verwendung armutsverschärfend ist, können die positiven Wirkungen der 20:20-lnitiative mehr als aufgehoben werden.

Bei aller berechtigten Skepsis wäre es verfehlt, die Förderung der sozialen Grunddienste und die strukturelle Armutsbekämpfung als konkurrierende Ansätze zu sehen und dann die 20:20-lnitiative als ungewünschte Sozialhilfe zu verwerfen. Soziale Grunddienste sind unverzichtbare Komponenten eines umfassenden Armutsprogramms (Jespersen/Parker 1995). Es empfiehlt sich jedoch, die Unterstützung der 20:20-lnitiative an die Erfüllung qualitativer Vorgaben zu binden. Zum einen geht es darum, die emanzipatorischen Bedingungen näher zu bestimmen, unter denen die sozialen Grunddienste angeboten werden sollen. Zum anderen ist es notwendig, die staatlichen Sozialleistungen in ein operationalisiertes Konzept der Armutsorientierung einzubetten, das auch

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strukturelle Änderungen in der Wirtschafts- und Sozialpolitik von Regierungen und internationalen Institutionen einfordert.

Bezüglich der näheren Ausgestaltung der sozialen Grunddienste sollte ein hoher zivilgesellschaftlicher Partizipationsgrad verwirklicht werden. Das gilt sowohl in Richtung beruflicher und fachlicher Verbände - z.B. Organisationen von ÄrztInnen, PflegerInnen und TechnikerInnen sowie Wohlfahrtsgruppierungen -, die in diesen Sektoren tätig sind, als auch im Hinblick auf die unmittelbaren Zielgruppen. Die Beteiligung sollte sich nicht auf die Durchführungsphase beschränken, sondern relevante Sektorpolitiken, Programmgestaltung, Überprüfung und Weiterentwicklung umfassen.

In dem Kontext der 20:20-lnitiative sind auch die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte (Sozialpakt) zu nennen (Nuscheler 1995). Jeder der 130 Staaten, die diesen Pakt ratifiziert hat, verpflichtet sich darauf, "einzeln und durch internationale Hilfe und Zusammenarbeit, insbesondere wirtschaftlicher und technischer Art, unter Ausschöpfung aller seiner Möglichkeiten Maßnahmen zu treffen, um nach und nach mit allen geeigneten Mitteln, vor allem durch gesetzgeberische Maßnahmen, die volle Verwirklichung der in diesem Pakt anerkannten Rechte zu erreichen." (Artikel 2 Absatz 1 des Sozialpakts). Es steht also im Sozialpakt "unter Ausschöpfung aller Möglichkeiten". Der Vorschlag der 20:20-lnitiative kann als ein erster Konkretisierungsversuch verstanden werden. Damit ist die "Grundlage geboten, den einmal erreichten sozialen Standard des sozial Schwächeren zu sichern ... (D)ie am meisten bedürftigen Mitglieder der Gesellschaft (müssen) Schutz genießen und sei es in der Form von "low-cost targeted programmes", wie sie im Rahmen von UNDP, UNICEF und anderen Organisationen entwickelt wurden. [Fn.11: Vortrag von Dr. Sabine von Schorlemer: Der Internationale Pakt für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (Sozialpakt) als internationale Rechtsverpflichtung, Tagung der Arbeitsgemeinschaft Kirchlicher Entwicklungsdienst: Menschenrechte gegen Armut, Evangelische Akademie Bad Boll, 12.2.1996.]

Bereits auf der Wiener Menschenrechtskonferenz wurde der Versuch unternommen, die Fortschritte der im Sozialpakt verankerten Rechte mit einem System von Indikatoren zu messen (Recht auf einen angemessenen Lebensstandard, Recht auf Gesundheit und Recht auf Bildung). Der Ausschuß für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte überprüft anhand von Länderberichten die Fortschritte nach vorgegebenen Kriterien. Diese Arbeit des Ausschusses sollte eng mit der Realisierung des 20:20-Ansatzes verknüpft werden, um eine Kohärenz und höhere Schlagkraft für die sozialen Menschenrechte, die teilweise im 20:20-Ansatz mitenthalten sind, zu erreichen.


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