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Presseerklärung des NRO-Forums Weltsozialgipfel




    Zunahme der Armut

Mit der diesjährigen Jahreskonferenz unter dem Thema „Staat und Zivilgesellschaft in der sozialen Entwicklung" beteiligt sich das Deutsche NRO-Forum Weltsozialgipfel an der Diskussion über eine Neubestimmung des Verhältnisses von staatlicher Verantwortung und zivilgesellschaftlicher Eigenanstrengung im Prozeß der Sozialentwicklung und der sozialen Sicherung.

„Globalisierung" wird in vielen Ländern zum Anlaß genommen, sozialpolitisch untätig zu sein bzw. soziale Sicherungssysteme abzubauen.

1. Der Weltsozialgipfel unterstreicht die Verantwortung der Staaten für Soziale Sicherung. In Kopenhagen haben sich die Regierungen verpflichtet: „bei nationalen, regionalen und internationalen Politiken und Maßnahmen der Förderung des sozialen Fortschritts, der Gerechtigkeit und der Verbesserung der Lebensbedingungen auf der Grundlage der vollen Teilhabe aller Menschen höchste Priorität einzuräumen".

Alle vorliegenden Untersuchungen (UNDP, UNCTAD, Weltbank) bestätigen demgegenüber eine Zunahme der Armut, insbesondere aber. eine wachsende Kluft der Einkommen und Vermögen sowohl innerhalb der Länder des Nordens und Südens als auch zwischen ihnen. Über 1.3 Milliarden Menschen leben mit nicht einmal 1 US-Dollar täglich in absoluter Armut. 70 Prozent der Armen sind Frauen. 100 Millionen leben inzwischen in den Industrieländern unter der Armutsgrenze. 85 Prozent des gesamten Welteinkommens steht nur 20 Prozent der Weltbevölkerung zur Verfügung. Arbeitslosigkeit, soziale Ausgrenzung und ein Abbau sozialer Sicherung sind Kennzeichen einer neuen Problemlage, die unter dem Stichwort „Globalisierung" weithin den politischen Diskurs bestimmt.

    Politische Resignation nicht akzeptieren

2. Nicht akzeptiert werden kann die politische Resignation, das Abschieben der Verantwortung auf das anonyme Wirken der Globalkräfte, das in der Politik immer mehr um sich greift. Der Weltsozialgipfel setzt auf die politische Gestaltung der Rahmenbedingungen, die soziale Ordnungsfunktion der Staaten und die Beteiligung der Menschen, die Stärkung ihrer Interessenvertretung, ihren Anspruch auf sozialen Ausgleich und Gerechtigkeit. Die Auffassung, daß „gute Politik" und gezielte Maßnahmen sehr wohl auf die sozialen Bedingungen und die Armutssituation einwirken können, ist inzwischen durch den „Bericht über die menschliche Entwicklung" von UNDP und Untersuchungen von Weltbank und ILO vielfach bestätigt.

    Alte Antworten nicht angemessen

Für die Bewältigung neuer Problemlagen sind alte Antworten nicht angemessen. Es bedarf Mut für eine neue Politik struktureller Reformen und Einsatz für die Wiedergewinnung eines gesellschaftlichen und politischen Konsens über die zukünftige Ausgestaltung des Sozialen in der eigenen Gesellschaft und in der internationalen Verantwortung. Es gibt Handlungsfelder auf nationaler und internationaler Ebene, wo politische Aktion und Zusammenarbeit Sinn macht.

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    Sozialen Fortschritt nicht einseitig dem Wirken des Marktes überlassen

3. International verpflichtende Absprachen für die soziale - und ökologische - Einbindung des globalisierten Marktes sind aktiv aufzugreifen. Soziale Sicherheit ist ein Menschenrecht. Völkerrechtlich verbindliche Sozialnormen müssen national und international politisch durchgesetzt werden. Nichtregierungsorganisationen werden sich in ihren Netzwerken und auf internationalen und nationalen Ebenen mit Nachdruck für einen entsprechenden Ordnungsrahmen einsetzen und auf die Politik einwirken. Die aktive Unterstützung der armen Länder, die eine entsprechende Sozialpolitik umsetzen, ist eine Kernaufgabe der Entwicklungspolitik.

Aber es gilt auch die historische Erfahrung, daß sozialer Fortschritt weder einseitig dem Wirken des Marktes, noch der Wohltat der Herrschenden überlassen werden kann: Soziale Gerechtigkeit wird immer erkämpft. Demokratie und Rechtsstaat, die Durchsetzung von Interessenvertretungen und die Beteiligung zivilgesellschaftlicher Organisationen, die Gleichbehandlung und Gleichberechtigung der Geschlechter sind wesentliche Voraussetzungen für den sozialen Ausgleich in und zwischen den Gesellschaften. International verpflichtende Absprachen bleiben ohne Wirkung, wenn in den Ländern die Betroffenen nicht zu Wort kommen und Politik aktiv mitgestalten. Für viele Nichtregierungsorganisationen des Forums Weltsozialgipfel ist die Zusammenarbeit mit Partnerorganisationen in anderen Ländern ein wesentliches Arbeitsfeld.

    Das Soziale als Grundelement von Gesellschaft neu entdecken

4. Staat und Politik können nicht aus ihrer Verantwortung entlassen werden. Wir haben das Thema „Staat und Zivilgesellschaft in der sozialen Entwicklung" gewählt, weil deutlich ist, daß in der globalisierten Welt wohlfahrtsstaatliche Regelungen keine Realitätschancen haben. Wir möchten daher eine Debatte, die weder einseitig von der Finanzkrise der Sozialsysteme, noch von der Defensive des Bestehenden, einem Strukturkonservatismus, geprägt wird. Es gilt neu zu bestimmen, was der Staat notwendigerweise zu leisten hat und wie er dies tut. Und was an Eigenverantwortung und Problemlösung den Einzelnen und ihren gesellschaftlichen Selbstorganisationen übertragen werden kann. Nichtregierungsorganisationen haben den Staat nicht zum Gegner, sie erwarten aber auch nicht alles von dem Staat. Daß der Sozialstaat in der jetzigen Form und unter den Bedingungen der Globalisierung an seine Grenzen gekommen ist, ist vielen deutlich geworden. Aber die Aufgabe sozialstaatlicher Verantwortung und der Perspektive „soziale Marktwirtschaft" wäre nicht nur für den europäischen Kontext demokratiegefährdend und gesellschaftssprengend. Nach manchen Diskussionen sind wir uns bewußt, daß ein „Umbau" unseres Sozialsystems gerade unter Nachhaltigkeitsgesichtspunkten unausweichlich ist und Fehlentwicklungen zu korrigieren sind. Er muß bedarfsorientierter, zielgenauer und effizienter, aber auch unbürokratischer und auf die Basis echter Subsidiarität gestellt werden. Gerade weil Marktgeschehen und gesellschaftliche Veränderungen zu Individualisierung und Isolierung führen, gilt es das „Soziale" als Grundelement von Gesellschaft neu zu entdecken und neu zu definieren. Und den Begriff des Eigeninteresses mit dem der Solidarität neu zu verbinden.

    Staatliche Verantwortung für Verteilungsgerechtigkeit

5. Staatliches Handeln sollte weniger auf die bürokratische Regelung sozialer Leistungen gerichtet sein als auf die Schaffung der Bedingungen für Arbeit und produktive Beschäftigung: Die Förderung der Eigenverantwortung und Befähigung der Menschen zur aktiven Teilhabe durch Bildung, Ausbildung und den Zugang zu produktiven Ressourcen wie Grund und Boden, Kapital, Wissen, Infrastruktur und soziale Beziehungen ist der Kern moderner staatlicher Sozial-

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politik. Aktivierung und Förderung der Fähigkeiten, Anreiz zur Eigenvorsorge und zur gegenseitigen und solidarischen Hilfe sind Eckpunkte einer Politik, in der staatliches Handeln und die eigenverantwortliche Tätigkeit gesellschaftlicher Organisationen sich ergänzen.

    Politische Resignation nicht akzeptieren

6. Trotzdem halten wir fest an der staatlichen Verantwortung für Verteilungsgerechtigkeit. Dies meint nicht Gleichheit, sondern gerechte Chancen der Teilhabe. Aber gegen den Skandal der wachsenden Ungleichheit muß die Legitimität sozialer Ausgleichsleistungen gesetzt werden. Es geht nicht ohne soziale Transfers innerhalb und zwischen den Gesellschaften zugunsten der Ärmsten. Deshalb unterstützen wir mit Nachdruck die „20:20-Initiative" des Weltsozialgipfels mit der Orientierung auf soziale Grunddienste. Sozialpolitisch und entwicklungspolitisch kann auf soziale Transferleistungen zugunsten der Ärmsten, denen die Befähigung und Voraussetzung für Eigenanstrengung fehlt, nicht verzichtet werden. Soziale Stabilität und politische Demokratie stehen in einem sehr engen Zusammenhang. Zukünftig wird entscheidend sein, wie der Zugang zu produktiven Ressourcen, Kapital, Bildung und Wissen, Land und natürlichen Gutem gestaltet wird. Dies ist vorrangig eine politische Aufgabe, auch und gerade weil dies aus dem politischen Diskurs weitgehend ausgeblendet wird.

    Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, Artikel 22 (1948):
    „Jedermann hat als Mitglied der Gesellschaft Recht auf soziale Sicherheit und Anspruch darauf, durch innerstaatliche Maßnahmen und internationale Zusammenarbeit unter Berücksichtigung der Organisation und der Hilfsmittel jedes Staates in den Genuß der für seine Würde und freie Entwicklung seiner Persönlichkeit unentbehrlichen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte zu gelangen.

7. Die Weltbank hat sich mit ihrem Weltentwicklungsbericht 1997 „The State in a Changing World" aus der neoliberalen Verengung herausbewegt, die durch Deregulierung und Privatisierung staatliches Handeln auf den Kernbereich begrenzt. Jetzt wird dem Staat als Partner, Katalysator und Helfer bei der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung eine wichtige Rolle beigemessen.

Die Weltbank hält einen effektiven Staat für notwendig, um

  • für den Markt geeignete institutionelle Rahmenbedingungen zu schaffen,
  • ein freies politisches Umfeld zu garantieren,
  • Investitionen in elementare soziale Dienste und Basisinfrastrukturen zu leisten,
  • den Schutz der Schwachen und der
  • Umwelt zu sichern.

Wir halten dies für einen Schritt in die richtige Richtung und setzen auf den Dialog mit der Weltbank und der deutschen Politik zu diesem Thema.

Dr. Erfried Adam
Koordinator/Sprecher


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Mai 2000

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