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[Seite der Druckausg.: 44 (Fortsetzung)]



FAZIT


Die Ergebnisse der Untersuchung geben nicht nur Anlass zum Nachdenken. Sie helfen auch, zu verstehen, wer die russischen Frauen in den Jahren der Reformen geworden sind und dieses Verständnis anderslautenden Vorstellungen und Stereotypen gegenüberzustellen, die sehr häufig wenig mit der wirklichen Situation der heutigen Russinnen gemeinsam haben. Daher führen wir zum Abschluss unseres analytischen Materials hauptsächlich Einschätzungen und Schlussfolgerungen an, die die Besonderheiten der Lebensweise unserer Mitbürgerinnen charakterisieren.

1. Ungeachtet der hartnäckigen Ansicht einer gewissen "Erdung" der Bestrebungen der russischen Frauen erwiesen sie sich den Resultaten dieser Studie zufolge als entwickelte Persönlichkeiten, die nach einem vielfältigen und erfüllten Leben streben.

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Denn nur die Frauen mit einem breiten Spektrum an Zielen, die weit über das Familienleben hinausreichen, erweisen sich als erfolgreich in jeder oder fast jeder Hinsicht. Die anderen können ihre Lebensziele, auch wenn diese recht beschränkt oder bescheiden sind, bei weitem nicht immer realisieren. So ist das Spektrum der Lebensziele der russischen Frauen insgesamt erheblich breiter als die realen Möglichkeiten ihrer praktischen Verwirklichung. Die Chancen der Realisierung der Ziele, die die Grundlage des gewählten Lebensmodells bilden, ist jedoch bei der überwiegenden Mehrheit der Russinnen recht hoch. Die Mehrheit unserer Mitbürgerinnen hat die für alle Frauen grundlegenden Ziele, nämlich treue Freunde, eine interessante Arbeit zu haben, eine glückliche Familie zu gründen, die wahre Liebe zu finden, nicht schlechter als andere zu leben usw., entweder schon erreicht oder rechnet damit, sie zu erreichen. Dabei beeinflusst das, was die Frau in ihrer beruflichen Tätigkeit erreicht hat, direkt oder indirekt, jedenfalls sehr spürbar, das Wohlbefinden der Familie.

2. Ein überaus wichtiger Aspekt des Lebens aller Frauen ist ihre sozialpsychologische Verfassung. Dabei unterscheidet sich die psychologische Verfassung des erfolgreichsten Frauentyps ("Karrieristinnen") am auffallendsten vom am wenigsten erfolgreichen (den "Enttäuschten"). Frauen, denen es psychologisch sehr schlecht geht, sind von allen anderen Aspekten ihres Lebens abgesehen am wenigsten mit der Möglichkeit zufrieden, die nötige Bildung und Ausbildung zu erhalten. Es genügt zu sagen, dass zwei Drittel aller Frauen, die ständig einen ganzen "Strauß" negativer psychologischer Zustände durchleben, diese Möglichkeit als "schlecht" bezeichneten. So erweist sich gerade der Zugang zur Bildung heute in Russland für die Frauen als wichtigster Faktor, der sie in einen relativ glücklichen und einen unglücklichen Teil der Gesellschaft unterteilt.

3. Der wichtigste Wert im Leben der Russinnen sind Kinder. Dies spiegelt sich sowohl in der Betonung der Liebe zu Kindern wieder, die zu den wichtigsten Qualitäten der idealen Frau und des idealen Mannes zählen, wie auch in den konkreten Vorstellungen darüber, wie viele Kinder sie gerne hätten. Drei von vier Russinnen hätte idealerweise gerne zwei oder mehr Kinder. Aber in der Praxis bleibt das traditionelle Reproduktionsmodell mit zwei und mehr Kindern nur für die Hälfte der Russinnen aktuell.

Unter den Hauptproblemen, mit denen die Russinnen im Zusammenhang mit der Kindererziehung zu kämpfen haben, stechen die Probleme des Zugangs zur Bildung und die Notwendigkeit hervor, die Kinder vor Drogen zu schützen. Aber während das Problem der Ausbildung unseren Daten zufolge sozial determiniert ist, nimmt das Drogenproblem heute universalen Charakter an und beunruhigt die Vertreterinnen der verschiedensten gesellschaftlichen Gruppen und Schichten.

4. Unter den offensichtlichen Lebensprioritäten unserer Mitbürgerinnen findet sich die Gründung einer stabilen und glücklichen Familie. Dabei ist die Familie für die Russinnen, wie die Studie gezeigt hat, zwar keine romantische "Verbindung zweier Herzen", aber auch keine zutiefst pragmatische Verbindung, in der die Frau den Mann nur als jemanden betrachtet, der ihr ein bestimmtes Lebensniveau garantiert. Sie ist ein besonderer sozialer Organismus, der emotionale Beziehung zwischen den Partnern ermöglicht, deren Grundlage jedoch nicht so sehr der Sex ist, sondern eher gemeinsame Interessen, vor allem bei der Erziehung der Kinder. Gleichheit in der Familie versteht die russische Frau dabei nicht so sehr als formale Gleichheit, sondern mehr als ehrliche Erfüllung der eigenen Pflichten durch beide Partner. Unter diesen Pflichten wird in Bezug auf die Männer in erster Linie die Pflicht des "Ernährers" und liebenden Vaters verstanden, der für Familie und Kinder die nötige Zeit aufbringt. Und unter den Pflichten der Frau wird die Rolle der Mutter und Hausfrau verstanden, die gemeinsam mit dem Mann das Familienbudget verwaltet.

[Seite der Druckausg.: 46]

5. Gewalt gegenüber Frauen wurde zur alltäglichen Realität für Millionen von Russinnen. Jede Sechste bis Siebte von ihnen wurde bereits einmal Opfer von Gewalt, und drei Viertel der russischen Frauen nehmen eine wachsende Bedrohung durch Gewalt in den letzten Jahren wahr. Besonders besorgniserregend ist, dass den vorliegenden Daten zufolge das Risiko, zum Gewaltobjekt zu werden, sei es auf der Straße oder zu Hause, für alle sozialen Gruppen existiert und von den Frauen praktisch nicht kontrolliert und verhindert werden kann. Relativ häufig werden Frauen zu Gewaltopfern, wenn sie selbst mit unzureichenden Lebensbedingungen zu kämpfen haben (Bildung, sozialer Status usw.), was besonders für die Bewohnerinnen der russischen Provinz charakteristisch ist.

Gleichzeitig erlauben es die Resultate der Untersuchung, von einer besonderen Gruppe derjenigen zu sprechen, die einen Alkoholiker unter ihren Familienmitgliedern haben. Die Zugehörigkeit zu dieser Gruppe lässt das Risiko, zum Opfer von Gewalt zu werden, sei es häuslicher oder anderer, für die Frauen extrem stark ansteigen.

6. Die überwältigende Mehrheit der Frauen hat weder besondere Vorurteile gegenüber von Männern in der Politik eingenommene Führungspositionen, noch dagegen, dass Frauen aktiv an gesellschaftlichen und politischen Prozessen teilnehmen, besonders auf lokaler Ebene. Was die Einschätzung der Möglichkeit eines eigenen Engagements betrifft, sowie die Faktoren, die dies beeinflussen, so hat die Befragung hier ein widersprüchliches Bild ergeben. Vor allem wurde die weit verbreitete Ansicht nicht bestätigt, dass Politik eine Domäne "sozialer Außenseiterinnen" ist. Eher demonstrieren umgekehrt Frauen aus höheren Einkommensgruppen Interesse und haben Potential für eine Beteiligung an der Politik. Unter ihnen finden sich die meisten, die bereits eine Karriere im gesellschaftlich-politischen Bereich gemacht haben oder eine derartige Entwicklung in der näheren Zukunft erwarten. Und umgekehrt ist der Anteil derer, die keine Erfolge in diesem Bereich erwarten, höher.

7. Zu den schwierigsten und widersprüchlichsten Problemen im Leben der heutigen Frauen gehört die fehlende Gleichberechtigung. Es besteht in der Hauptsache bei weitem nicht darin, dass zum Beispiel in einigen Bereichen, etwa bei Einstellungen oder der Vertretung in Staatsorganen, die formale Gleichberechtigung von Männern und Frauen verletzt wird. Wie die durchgeführte Untersuchung noch einmal bestätigt hat, ist der Schlüssel für das Verständnis des Wesens der Diskriminierung der Frauen der jeweilige soziokulturelle und sozioökonomische Kontext, in dem sie leben und arbeiten müssen. Er diktiert den Frauen bestimmte Lebensziele und Absichten, stellt sie vor diese oder jene erstrangigen Probleme, zwingt ihnen bestimmte soziale Rollen auf und determiniert schließlich die Wahl eines Verhaltensmodells, in dem die Frau zugunsten des Erreichens der ihr wichtigen Ziele sich selbst ganz bewusst in eine ungleiche Position im Verhältnis zu den Männern begibt.

So hängt das wichtigste negative Ergebnis der Reformen für unsere Mitbürgerinnen den Daten dieser Studie zufolge nicht mit Diskriminierungen bezüglich ihres Rechts auf Arbeit und ihre gleiche Bezahlung, auf gleichen Zugang zu Ausbildung und Möglichkeiten, Karriere zu machen, zusammen (obwohl es Diskriminierungen in diesen beiden Bereichen zweifellos gibt). Zur schwerwiegendsten Folge der Reformen wurde für die russischen Frauen die Unmöglichkeit, die beiden für sie wichtigsten sozialen Rollen zu verbinden, die familiäre und die berufliche, was zu einer ständigen Sorge um die Kinder führt. Möglicherweise nimmt die Liebe zu Kindern gerade deswegen einen so wichtigen Platz im Bild des idealen Mannes ein, weil sich die Frauen nicht in der Lage fühlen, die vor ihnen liegenden Probleme alleine zu lösen und das Niveau ihres psychologischen Stresses außergewöhnlich hoch ist.

[Seite der Druckausg.: 47]

Gleichzeitig wäre es nicht richtig, die Reformperiode aus der Perspektive ihrer Folgen für die Lage der russischen Frauen nur in negativen Farben zu malen. Ein bedeutender Teil aller Frauen, und in einigen Gruppen sind es über die Hälfte, gaben an, dass als Ergebnis der Reformen neue Möglichkeiten für die soziale Betätigung von Frauen entstanden sind, dass es für sie einfacher geworden ist, sich in der Wirtschaft, der Politik und dem gesellschaftlichen Leben zu verwirklichen. Unter den befragten Frauen, besonders in den wohlhabenderen Gruppen, dominierte denn auch die Ansicht, dass es in den vergangenen Jahren leichter wurde, das eigene Äußere zu pflegen und gesund zu leben. Dennoch, wenn man die Lebenswünsche und Wertorientierungen der Russinnen betrachtet, so erwiesen sich die Gewinne als nicht in der Lage, die negativen Folgen des Reformjahrzehnts und die bedeutenden sozialen Verluste zu kompensieren, die viele von ihnen erfahren haben.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Januar 2002

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