FES HOME MAIL SEARCH HELP NEW
[DIGITALE BIBLIOTHEK DER FES]
TITELINFO / UEBERSICHT



TEILDOKUMENT:


[Seite der Druckausg.: 111]



Manfred Beller
Wissenschaftliche Migration im Nebel:
die Situation in Italien


Um die Situation der deutschen wissenschaftlichen Migration in Italien darstellen zu können, habe ich als erstes an die statistische Erfassung von Anzahl und Verweildauer der in Italien tätigen deutschen Wissenschaftler gedacht. Ich habe nach einschlägigen Publikationen gesucht: Es gibt keine. Sodann erhielt ich von der Deutschen Botschaft in Rom die freundliche Auskunft, man wäre sehr froh, wenn es eine entsprechende Erhebung gäbe, aber die italienischen Ministerien würden selbst über keine entsprechenden Informationen verfügen. Tatsächlich ist im Zeitalter des "gläsernen Menschen" nur zu erfahren, wie viele Ausländer insgesamt und nach den jeweiligen Herkunftsländern unterschieden in Italien leben: Das "Istituto Nazionale di Statistica" in Rom verzeichnet zum 1.1.1999 genau 33 836 bei der Fremdenpolizei gemeldete deutsche Staatsbürger, von denen 890 das Studium als Motiv angegeben haben (www.istat.it).

Deutscherseits nennt der DAAD gegenwärtig (Sommer 2001) sieben entsandte Lektoren und hat außerdem eine Zahl von 75 "freien" Lektoren erfasst. Es gibt in Italien aber rund 60 öffentliche und private Hochschulen, an denen jeweils zwischen eins bis fünf deutsche Sprachlehrer tätig sind, was allein schon eine geschätzte Zahl vor vielleicht über zweihundert akademisch ausgebildeten deutschen Lehrkräften ergeben dürfte. Wer weiß aber, wie viele Mediziner, Chemiker, Physiker, Juristen, Kunsthistoriker, Archäologen usw. in akademischer Stellung in Italien tätig sind? Niemand!

Schließlich habe ich mich via Internet ein paar Schritte in dieses in dichtem Nebel liegende statistische Niemandsland hineinbegeben. Es gibt nämlich ein Verzeichnis der Vor- und Nachnamen aller vom italienischen Universitäts- und Forschungsministerium angestellten Hochschullehrer der drei Kategorien "professori ordinari", "professori associati" und "ricercatori"; das waren am 1. Januar 2000 insgesamt 50 501 Personen (www.murst.it).

Die Durchsicht der Dozentenlisten von acht staatlichen Universitäten in Nord-, Mittel- und Süditalien (Pavia, Padova, Bologna, Pisa, Roma, Chieti, Bari, Palermo) hat 42 Träger eindeutig deutscher Namensformen erbracht. Dabei habe ich die spezifisch österreichisch und tirolerisch klingenden Namen (vor allem im Lehrkörper der Universität Padua) ausgenommen. Es ist auch zu bedenken, dass die Anzahl deutscher Namen etwa von schweizer, amerikanischen und anderen Staatsbürgern gegenüber den Deutschen, die französische oder slawische Namen tragen, vermutlich ein Nullsummenspiel ergibt. Interessehalber habe ich festgestellt, dass die Zahl der

[Seite der Druckausg.: 112]

deutschen Namen nur von den englischen (46) übertroffen werden: wider Erwarten finden sich viel weniger französisch (15), dagegen mehr spanisch (20) und slawisch (26) klingende Namen. Die 42 Träger deutscher Namen in der von mir durchgesehenen Namensliste von acht Universitäten bilden unter ihren 16 400 Kollegen tatsächlich eine unauffällige Minderheit. Ich habe also nur etwa ein Drittel der Gesamtzahl von rund 50 000 Hochschullehrern durchgesehen, wobei ich die Kategorie der über 18 000 Lehrbeauftragten noch nicht berücksichtigt habe. Unter vorsichtiger Handhabung der Gesetze der Wahrscheinlichkeit sind gegenwärtig also mindestens 120 deutsche Hochschullehrer an italienischen Universitäten fest angestellt. Das sind weniger als ich nach meinem persönlichen Erfahrungsbereich erwartet hatte; von rund 250 Germanisten sind nämlich 45 deutscher Herkunft.

Die oben erwähnten "freien" Lektoren sind in dieser Zahl noch nicht enthalten. Eine ebenfalls abrufbare ministerielle Statistik aus dem Jahr 1999 ergibt eine Gesamtzahl von 1 872 Lehrkräften für alle Sprachen an allen italienischen Universitäten (www.murst.it). Davon dürften knapp die Hälfte Englischlehrer sein. Nach meiner Kenntnis der proportionalen Verteilung zwischen Englisch, Deutsch, dem aufstrebenden Spanisch und dem abnehmenden Französisch, dürften in dieser Zahl mindestens 250 an Universitäten angestellte und also mit akademischen Titeln und Aspirationen begabte Deutsche enthalten sein (von denen der DAAD bislang nur 75 kennt). Außer dieser noch einigermaßen greifbaren Kategorie der akademischen Sprachlehrerinnen – etwa 70 % von ihnen sind Frauen – volontieren, forschen und lehren noch etliche andere junge und auch ältere aus Deutschland stammende und an deutschen Universitäten ausgebildete Akademiker in Labors‚ Kliniken und Instituten innerhalb und außerhalb der Universitäten. Ihre Anzahl liegt für mich vollends im Nebel. Zähle ich nur die Inhaber akademischer Planstellen (ca. 120), die deutschen Sprachlehrer (ca. 250) und die in allen übrigen Wissenschaftszweigen Tätigen (ca. 130) zusammen, so ergibt das nach vorsichtiger Schätzung eine Gesamtzahl von vielleicht 500 deutschen wissenschaftlichen Migranten in Italien.

Nach diesem statistischen Vorspann komme ich nun zu der von den Organisatoren der Tagung vorgeschlagenen Untersuchung der Kriterien – Bewerbung und Karriere, Ausstattung, Forschung und Lehre, Integration –, die über die Situation deutscher wissenschaftlicher Migranten an italienischen Universitäten Auskunft geben sollen.

Dass es in Italien keine statistischen Erhebungen über die Wissenschaftsmigranten aus den europäischen Nachbarländern und allen übrigen Weltgegenden, das heißt keine bürokratische Aufmerksamkeit für die jeweilige nationale Zuordnung gibt, ist in kosmopolitischem Sinne begrüßenswert. Es zeigt, dass wir doch noch nicht ganz "gläsern" geworden sind, dass wir vielmehr in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts in eine aktuell miterlebte und deshalb unübersichtliche Phase des transnationalen Zusammenlebens eingetreten sind. Ungeachtet der seit 1990

[Seite der Druckausg.: 113]

wieder stärker beschworenen Geister des Nationalismus gibt es einen realen gesamtkulturellen Konsens, der weniger theoretisch als vielmehr praktisch vollzogen wird, zumindest in unserem unmittelbaren europäischen Lebensraum. Vor diesem Hintergrund erweist sich das regierungsamtliche Italien seit Jahrzehnten als ausgesprochen integrationsoffen. Das Zusammenwirken von institutionellen und lebensklimatischen Faktoren charakterisiere ich versuchsweise mit der Kurzformel einer "europafreundlichen Permissivität".

Was folgt daraus für die wissenschaftliche Migration? Alle ordentlichen Stellen an staatlichen und privaten italienischen Universitäten werden öffentlich ausgeschrieben, in der "Gazzetta ufficiale" und im Internet. Dabei sind Bewerber aus EU-Staaten den italienischen Staatsbürgern gleichgestellt, was an mehreren Stellen der ministeriellen Ausschreibungstexte ausdrücklich gesagt wird. Für die Bewerbung genügt ein mit der Promotion abgeschlossenes Hochschulstudium. Die Kommissionen werden innerhalb der jeweiligen Fächergruppe auf nationaler Ebene gewählt, vom Ministerium bestätigt und öffentlich bekannt gegeben. Der oder die Gewinner eines solchen "concorso" (Wettbewerb) um eine Stelle als "Ricercatore" oder "Associato" oder "Ordinario" wird anschließend von einer Fakultät, die eine solche Stelle zu besetzen hat, berufen und hat vom Tag seines Dienstantritts an die gleichen Pflichten und Rechte wie jeder seiner italienischen Kollegen. Die Karriere vollzieht sich also nach den Spielregeln eines für alle verbindlichen Wettbewerbs. Innerhalb des Systems der Institute, Fakultäten und Universitäten kann man ohne weiteres zum Direktor des "Dipartimento" oder zum "Preside" der Fakultät gewählt werden, sofern einer sich gemäß den ungeschriebenen Gesetzen des akademischen "Hickhacks", die auf der ganzen Welt die gleichen sind, um diese Ämter bemühen möchte.

Wie kommt nun ein deutscher Wissenschaftler dazu, sich um eine Stelle an der italienischen Universität zu bewerben? Ich spreche nicht von den aus der innerdeutschen Arbeitsmarktlage und Perspektive erwachsenden Motivationen. Allerdings haben fast alle deutschen Bewerber schon Kontakte nach Italien, die meisten leben und arbeiten bereits seit längerem in diesem Land. Ihre akademischen Biographien entwickeln sich also innerhalb der Nebelzone, die von keinem Amt oder gar statistischem Register erfasst wird. Der lebenspraktische Einstieg findet bei den meisten also nicht auf der Ebene der Planstellen statt. Man knüpft seine Kontakte und pflegt den Informationsaustausch über Berufsbilder und Arbeitsmöglichkeiten im Umkreis wissenschaftlicher, also meistens universitärer Institutionen. Von da aus gelingt manch einem der Sprung in die akademische Lehre und Forschung. Sehr viele schaffen es aber nicht. Sie geben sich entweder mit einer Stelle als Lehrer an Privatschulen, als Laborant in einer Klinik oder als Nachwuchskraft in Wirtschaft und Industrie zufrieden, oder aber sie vermehren die Zahl der unzufriedenen, manchmal tragisch gescheiterten Existenzen. Die deutschen Sprachlehrer an Universitäten, die nur noch selten den auslaufenden Status eines "Lektors" haben, werden inzwischen

[Seite der Druckausg.: 114]

infolge langwieriger Prozesse vor den Arbeits- und Verwaltungsgerichten zwar besser als bisher bezahlt, aber im bürokratischen Gegenzug mit der einschränkenden Titulatur "collaboratori esperti linguistici" (CEL) belegt. Infolgedessen ist die Frustration über den in einer Sackgasse endenden akademischen Aufbruch besonders groß. Nur die produktive Teilnahme am wissenschaftlichen Wettstreit mit entsprechenden Publikationen und der rechtzeitige Einstieg in die "Ochsentour" des "concorso"-Systems bietet die Aussicht auf eine befriedigende Anstellung an der Universität. Die gegenwärtige Verselbständigung des Faches "Lingua tedesca" und der dadurch ausgelöste Bedarf an linguistisch ausgebildeten Dozenten der deutschen Sprache eröffnet aber auch etliche neue, gute Chancen.

Die Frage nach "Ausstattung (Büro, Apparat)" ist aus deutscher Perspektive gestellt. Zwar geht es an italienischen Universitäten wie überall auch um diese Dinge, aber auf ganz andere Weise. Wer auf eine Stelle berufen wird, kann nicht vorher mit einem Kanzler oder Ministerialdirigenten irgendwelche Berufungsbedingungen aushandeln. Man spielt vielmehr die Rolle eines braven bescheidenen Bewerbers, der für die ergatterte Stelle dankbar ist. Man muss erst mal da sein, dann kann man "anbauen". Es gibt alteingeführte Fachrichtungen und Institute, an denen großzügige, oft freilich etwas angestaubte räumliche und instrumentelle Bedingungen herrschen. An den neueren Universitäten, falls diese nicht im hochsubventionierten Süden liegen, und in den nachgewachsenen jüngeren Disziplinen muss man das Zimmer mit den Kollegen teilen. Die Apparate und wissenschaftliche Literatur, die einer braucht, muss er sich auf den verschiedensten Antragswegen persönlich oder im Verbund mit Kollegen als besondere Forschungsmittel beschaffen. Die laufenden Etats sind z. B. in den Geisteswissenschaften meistens ziemlich eng bemessen. Sehr viel hängt von der durch Forschungsprojekte zu begründenden Eigeninitiative ab.

Die Wahl der Forschungsprojekte steht im freien Ermessen eines jeden Wissenschaftlers. Selbstverständlich haben gewisse bedarfsbezogene oder auch nur zeitgemäße Fragestellungen bevorzugte Aussichten auf Finanzierung. Die Gelder kommen aus dem Etat des Ministeriums und werden durch entsprechende Gremien innerhalb der einzelnen Institute, durch interuniversitäre Kooperation sowie über den "Centro Nazionale di Ricerca" (das Nationale Forschungszentrum) verteilt. Die gerne proklamierte Autonomie der Universitäten soll vor allem die Einwerbung von Drittmitteln aus der Industrie oder von Banken fördern, was erfahrungsgemäß eher den Naturwissenschaften zugute kommt. Die neuernannte Ministerin, Letizia Moratti, hat z. B. Biotechnologie, Informatik und neue Werkstoffe als vorrangige Förderungsbereiche benannt.

Die Freiheit der Lehre, die ja auch immer gerne beteuert wird, unterliegt im Rahmen der gerade mal wieder umstrittenen Universitätsreform der zunehmenden Forderung nach mehr "professionalizzazione", d. h. nach mehr berufsbezogener Ausbildung. Das ist der gleiche, vor allem den historischen Disziplinen abträgliche Trend, der allenthalben, so auch in Deutschland, immer mehr an Boden gewinnt.

[Seite der Druckausg.: 115]

Meine erst vor zehn Jahren verstaatlichte Universität kommt diesem Trend wegen des Andrangs und des Interesses der Studenten an innovativen Fächerkombinationen bereitwillig entgegen. Wir errichten gerade neue Studiengänge, die den bislang dominierenden Bereich der Fremdsprachenphilologien um die Medienwissenschaften, pädagogische und psychologische Fachbereiche und die Kulturwissenschaften erweitern. So lassen sich aus dem Trend der Zeit und der Nachfrage der Studenten für die Lehre, weniger wohl für die Forschung, lohnende und zukunftsweisende Anregungen gewinnen.

Die wissenschaftlichen Konditionen und der institutionelle Rahmen kommen der Integration deutscher Wissenschaftler an den italienischen Universitäten durchaus entgegen. Das Stichwort der "gesellschaftlichen Integration" betrifft dagegen das Phänomen der Migration und ihrer Probleme im allgemeinen. Das fällt in den Bereich und in die Verantwortung der individuellen Lebensentscheidungen. Ich habe weiter oben bereits auf die problematischen Aspekte, die ich aus meinem eigenen fachspezifischen Umfeld kenne, hingewiesen. Trotzdem besteht in Richtung Italien ein gewisses Überangebot an jungen deutschen Akademikern und Akademikerinnen. Die Ursachen dafür liegen wohl kaum in der Attraktivität der eigentlich nur durchschnittlichen Arbeits- und Erwerbsmöglichkeiten in Italien, die mit den, womöglich ebenfalls illusionären Vorstellungen vom einstigen Dorado Nordamerika nicht zu vergleichen sind. Die Entscheidung, nach Italien zu gehen, wird, wie auf dem Gebiete des Tourismus, durch anthropogeographische und traditionelle kulturelle Wunschbilder beeinflusst, die als oft unbewusste Hintergrundmotive meist sehr persönlicher Lebensentwürfe zu wirken scheinen.

[Seite der Druckausg.: 116 = Leerseite]


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | July 2003

Previous Page TOC Next Page