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Rechtspopulismus in Europa : die Meuterei der Besitzstandswahrer / Michael Ehrke ; Lothar Witte - [Electronic ed.] - Bonn, 2002 - 23 S. = 95 KB, Text . - (Globalisierung und Gerechtigkeit)
Electronic ed.: Bonn : FES Library, 2002

© Friedrich-Ebert-Stiftung


INHALT


[Seite der Druckausg.: 1 = Titelseite]

Michael Ehrke

Rechtspopulismus in Europa:
Die Meuterei der Besitzstandswahrer



In ganz Europa konnten rechtspopulistische Parteien in
den letzten Jahren spektakuläre Wahlerfolge verzeichnen.
Wie ist dieser Trend zu erklären?

Der europäische Rechtspopulismus hat ein spezifisches Angriffsziel:
Die politische Kultur der modernisierten Sozialdemokratie. Die Sozialdemokratie
wird stellvertretend für die verunsichernden Umbrüche angegriffen, die
mit dem Übergang von der industriellen zur postindustriellen Gesellschaft
verbunden sind. Dabei ist der Rechtspopulismus weniger eine Rebellion der
Modernisierungsverlierer als eine Meuterei der Besitzstandswahrer:
Er ist ein Appell an das nackte Eigeninteresse, eine Aufforderung, bei der
Verteidigung von Besitzständen zivilisatorische Hemmschwellen zu senken.
Die Gefahr, die von ihm ausgeht, liegt eher in der gezielten Brutalisierung der
Sprache und des Verhaltens als in dem Risiko, dass er an der Regierung die
europäischen Gesellschaften in den Abgrund steuern könnte.

Das rechtspopulistische Potential wird sich weder durch Anbiederung,
noch durch sozialpolitische Großzügigkeit oder diskursive Aufklärungsstrategien
entschärfen lassen. Eine gegen den Rechtspopulismus gerichtete Politik muss
in erster Linie die demokratischen Mehrheiten ansprechen: Indem sie scheinbare
Sachzwänge in politische Optionen verwandelt und diese mit den sozialen Interessen
der Mehrheiten – der Arbeitnehmer – verknüpft.






Globalisierung und Gerechtigkeit

[Seite der Druckausg.: 2 = Titelseite (Rückseite)]





ISBN
Kontakt: Referat Internationale Politikanalyse
In der Abteilung Internationaler Dialog
Friedrich-Ebert-Stiftung
53170 Bonn
Fax: 0228-883 625

e-mail:ehrkem@fes.de

http://www.fes.de/indexipa.html

http://www.fes.de/ipg/ipg

[Seite der Druckausg.: 3]

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1. Einleitung: Rechtspopulismus in Europa

Der Begriff "Populismus" bezieht sich auf zwei voneinander zu unterscheidende Phänomene. Auf der einen Seite bezeichnet er einen politischen Stil: Eine anbiedernde Anrede des "Volkes", die unter Ausschaltung vermittelnder und repräsentativer Instanzen eine direkte Beziehung zwischen dem politischen Führer und den Massen herzustellen sucht. Als in diesem Sinne "populistisch" könnten Politiker jeder Richtung gekennzeichnet werden. Auf der anderen Seite hat sich in den westeuropäischen Demokratien in den letzten Jahren ein bestimmter Typus politischer Parteien und Bewegungen profiliert, für die sich die Bezeichnung "rechtspopulistisch" durchgesetzt hat. [Im Folgenden werden die historischen Ursprünge des Populismus in Russland, den USA und Lateinamerika sowie die umfangreiche Literatur zu diesem Phänomen nicht thematisiert.] Dieser Rechtspopulismus hat sich als eine Art Dritten Weges der Rechten zwischen den traditionellen demokratischen Konservatismus und dem offen antidemokratischen Rechtsradikalismus (der in der Regel nicht populistisch auftritt) geschoben. Das Prinzip dieses neuen Rechtspopulismus ist schillernde Prinzipienlosigkeit, so dass er sich einer Beschreibung in den etablierten Mustern der parteipolitischen Zuordnung zu entziehen tendiert. Zum Teil ist die Verbindung zur traditionellen radikalen Rechten noch dominant (so bei Jean-Marie Le Pens Front National oder Gianfranco Finis Alleanza Nazionale), zum Teil wird diese Verbindung zumindest in der Öffentlichkeit negiert (von der Partei Pim Fortuyns oder der Forza Italia Silvio Berlusconis). Auf jeden Fall ist der rechte Populismus zu einer dauerhaften – wenn auch instabilen, durch spektakuläre Erfolge wie unspektakuläre Niedergänge und Spaltungen gekennzeichneten – politischen Realität in Europa geworden. In Italien hat er die Regierungsmacht erobert, in anderen Ländern (Österreich, den Niederlanden) ist er im Bündnis mit traditionellen konservativen Parteien an die Regierung gelangt.

Wahlergebnisse rechtspopulistischer Parteien in Europa

Land

Jahr

Partei

Stimmen in Prozent

Dänemark

2001

Dansk Folkeparti (Pia Kjaersgaard)

9,1

Niederlande

2002

Liste Pim Fortuyn

17,6

Österreich

1999

FPÖ (Jörg Haider)

26,9

Italien

2001

Casa della Libertá (Berlusconi)

42,6



Davon:
Forza Italia (Berlusconi)


29,4



Alleanza Nazionale (Fini)

12,0



Lega Nord (Bossi)

3,9

Belgien

2000

Vlaams Blok

10,1

Frankreich*

2002

Front National (Le Pen)

16,9



Nationalrepublikaner (Megret)

2,9

    * Präsidentschaftswahlen, 1. Wahlgang

Die Klammer, die die rechtpopulistischen Parteien Europas miteinander verbindet, sind die Motive, mit denen die Wähler mobilisiert werden. Diese Motive sind:

  • Die Präsenz von Ausländern in den europäischen Gesellschaften wird als exzessiv abgelehnt. Die Begründungen der Ausländerfeindlichkeit reichen von offen rassistischen und wohlstandschauvinistischen ("das Boot ist voll") bis hin zu migrationspolitischen (so bei Pim Fortuyn) Topoi. Über die Präsenz von Ausländern hinaus werden die erreichten Grade der wirtschaftlichen und kulturellen Internationalisierung/ Globalisierung verurteilt. Diese nationalistische Orientierung schließt eine im Hinblick auf die EU eine integrationsfeindliche Haltung ein: Der erreichte

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    Stand der Integration bzw. die europäische Integration insgesamt werden attackiert;

  • In Österreich und Italien (wie bei der in nationalen Wahlen weniger erfolgreichen radikalen Rechten in Deutschland) verbindet sich der Nationalismus mit geschichtsrevisionistischen Motiven bzw. der Umdeutung der faschistischen/ nationalsozialistischen Vergangenheit.

  • Der vermeintliche oder reale Niedergang der inneren Sicherheit wird (oft im Zusammenhang mit der Präsenz von Ausländern) dramatisiert und beklagt;

  • Der Wohlfahrtsstaat wird selektiv abgelehnt, und zwar vor allem dort, wo seine "Kostgänger" nicht dem vom Rechtspopulismus angesprochenen Kollektiv angehören.

Diese Motive werden mit einer Anti-Establishment-Attitüde vorgetragen, die den Rechtspopulismus in den Gegensatz zu den sozialdemokratischen und demokratisch-konservativen mainstream-Parteien (oder der "politischen Klasse" insgesamt) stellt. Der Rechtspopulismus gibt sich rebellisch, die Rebellion soll für die selbsternannten Rebellen aber risikofrei sein, da sie sich im Konsens mit der Mehrheit der "Anständigen" wissen können. Die etablierte Politik, die der Rechtspopulismus attackiert, wird nicht im Namen bestimmter Interessen oder Werte angegriffen, sondern pauschal als farblos und bürgerfern denunziert. Die gegen die Regierenden gerichtete Wut speist sich nicht aus der Enttäuschung über deren unzureichenden Leistungen, eher im Gegenteil: Oft wurde gerade eine erfolgreiche Regierungspolitik mit einem spektakulären Wahlerfolg der Rechtspopulisten belohnt:

  • Die Arbeitsmarktpolitik der dänischen (sozialdemokratischen) Regierung gilt international als vorbildlich, da sie hohe Lohnersatzleistungen mit einer hohen Mobilität der Beschäftigten kombiniert und so gleichzeitig ein akzeptables Beschäftigungs- und Schutzniveau für die Arbeitslosen aufrechterhält. Dies hinderte die Wähler nicht, die Regierung abzuwählen und die rechtspopulistische Dansk Folkeparti ins Parlament zu bringen.

  • Der Wirtschafts- und Sozialpolitik der französischen (sozialistischen) Regierung gelang es, "linke" arbeits- und sozialpolitische Reformen (wie die Verkürzung der Arbeitszeiten) mit Wachstums- und Beschäftigungserfolgen in Einklang zu bringen. Gleichwohl stach der rechtsradikale Jean-Marie Le Pen in der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen den sozialistischen Premierminister Lionel Jospin aus.

  • Die italienische Regierung der linken Mitte bewältigte die Herkules-Aufgabe, das staatliche Haushaltsdefizit und die Staatsverschuldung, zwei chronische Übel der italienischen Wirtschaft, abzubauen und den Staatshaushalt in Übereinstimmung mit den Erfordernissen des europäischen Stabilitätspakts zu bringen. Sie wurde zugunsten der rechtspopulistischen Koalition Silvio Berlusconis (mit der neofaschistischen Beimengung der Alleanza Nazionale) abgewählt.

  • Das "Polder"-Modell der (von den Sozialdemokraten geführten) niederländischen Regierung gilt international als Muster einer erfolgreichen Arbeitsmarktpolitik, die nicht mit einer gravierenden Rückentwicklung des Sozialstaats erkauft wurde. In den Parlamentswahlen 2002 erlitt die Sozialdemokratie gleichwohl eine erdrutschartige Niederlage, während die Liste der kurz vorher ermordeten Pim Fortuyn fast 18 Prozent der Stimmen auf sich ziehen konnte.

Die Beispiele sollen nicht die Undankbarkeit des Wahlvolks beklagen, sondern das Fehlen eines erkennbaren Zusammenhangs zwischen den (etwa anhand von Wachstums- oder Arbeitsmarktdaten) nachvollziehbaren Leistungen einer Regierung und dem rechts-

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populistischen Wählerpotential illustrieren: Rechtspopulistische Wahlsiege sind keine Abstrafung nicht leistungsfähiger oder -bereiter Regierungen. Die rebellische Attitüde richtet sich eher gegen die "politische Klasse" als solche als gegen spezifische politische Inhalte/Leistungen.

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2. Der Rechtspopulismus und die politische Kultur der Sozialdemokratie

Die Wahlerfolge rechtspopulistischer Parteien in Europa sind zu einem hohen Anteil durch spezifische nationale Kräftekonstellationen bedingt. Der Aufstieg des Rechtspopulismus in Italien steht im engen Zusammenhang mit dem faktischen Verschwinden der Christdemokratie. Die Wahlerfolge Jörg Haiders in Österreich sind auch als Reaktion auf eine langjährige konservativ-sozialdemokratische Koalition zu bewerten. In Belgien und Italien erklären sich die Erfolge des Vlaamske Blok bzw. der Lega Nord, Parteien, die ihre Popularität aus der Diffamierung der eigenen Mitbürger gewinnen, aus landesspezifischen "ethnischen" oder regionalen Spannungen. In manchen Fällen mag der rechte Populismus die einzige Chance bieten, diffusen Protest zu artikulieren. Vielfach zieht der Rechtspopulismus Wähler an, die ihre Stimme in anderen Konstellationen den traditionell-konservativen Parteien – oder niemandem – zukommen lassen würden.

Der gemeinsame Nenner der verschiedenen Varianten des europäischen Rechtspopulismus liegt weniger in der "Nachfrage" der Wähler als im "Angebot", das die Populisten bereit stellen. Nur in diesem Sinne lässt sich von einem europäischen Trend sprechen. Der Rechtspopulismus richtet sich in ganz Europa explizit gegen eine spezifische "politische Kultur": Die der modernisierten Sozialdemokratie, die nicht auf sozialdemokratische/sozialistische Parteien beschränkt ist, sondern auch auf grüne und moderat-konservative Kräfte abgefärbt hat. Ralf Dahrendorf hat einst das 20. Jahrhundert als das "sozialdemokratische Jahrhundert" bezeichnet – eine Kennzeichnung, die auf die erste unglückselige Hälfte des Jahrhunderts kaum zutrifft, dafür aber um so besser aber die Jahrzehnte nach 1945 charakterisiert. Wenn an dieser Stelle von der "politischen Kultur der Sozialdemokratie" die Rede ist, ist aber nicht wie bei Dahrendorf der wohlfahrtsstaatliche Konsens gemeint, der bis Ende der siebziger Jahre in fast allen west- und nordeuropäischen Staaten die Basis wechselnder Regierungen abgab, sondern ein Politikstil, der sich insbesondere seit den achtziger Jahren, also nach Aufkommen des Neoliberalismus, herauskristallisiert hat. Man könnte diese modernisierte sozialdemokratische Politik mit dem Konzept des Dritten Weges – dem vor allem von der britischen Labour-Partei verfolgten Kurs "zwischen" oder "jenseits von" sozialdemokratischer Tradition und Neoliberalismus – zu beschreiben versuchen. Dies könnte jedoch missverständlich sein: Wichtige sozialdemokratische und sozialistische europäische Parteien haben sich explizit gegen den "Dritten Weg" ausgesprochen, und im vorliegenden Zusammenhang geht es um einen Politikstil – also weder um ein Etikett, noch um ein Programm –, der, wie gesagt, nicht allein für sozialdemokratische Parteien kennzeichnend ist. Als dessen Elemente lassen sich annäherungsweise benennen:

  • Der explizite Verzicht auf eine Politik, die gegenüber dem Kapitalismus eine Systemalternative anbietet, auch nicht im Rahmen der demokratischen Verfassung (das Ziel des traditionellen Reformismus). Der Kapitalismus wird nicht nur als gegeben akzeptiert, sondern mit einer positiven normativen Konnotation versehen;

  • Eine grundlegende wirtschaftliche wie kulturelle Offenheit, eine normativ begründete Ablehnung sowohl des wirtschaftlichen Protektionismus (die einzelne protektionistische Maßnahmen nicht ausschließt) als auch eines kulturellen Autarkiebestrebens; eine im Kern positive Bewertung der unter dem Begriff der

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    "Globalisierung" zu subsummierenden wirtschaftlichen wie kulturellen Entwicklungen;

  • Eine hohe und grundsätzlich positiv bewertete Bedeutung der Kooperation als Ansatz zur Lösung politischer Probleme auf internationaler – globaler wie europäischer – Ebene; dies schließt den verstärkten Einsatz machtpolitischer (militärischer) Instrumente im Rahmen internationaler Kooperation nicht aus;

  • Ein gewisses Niveau an Toleranz und politischer Liberalität in der innenpolitischen wie in der internationalen Auseinandersetzung; eine begrenzte Offenheit für ökologische und soziale Belange (auch auf globaler Ebene);

  • Die Akzeptanz eines Minimums an Sozialstaatlichkeit, die weitreichende Respektierung der gegebenen Konstellation organisierter Interessen und ein grundsätzlich integratives Herangehen an Interessengegensätze;

  • Eine orthodoxe Geld-, Finanz- und Wirtschaftspolitik (die die sozialstaatlichen Gestaltungsspielräume auch wieder begrenzt);

  • Der Verzicht auf ein "Narrativ", einen großen politischen Entwurf, die Anerkennung enger politischer Gestaltungsspielräume, in denen Politik eher als permanentes Krisenmanagement und unzusammenhängende Reihe einzelner Reformen erscheint denn als Produkt einer normativ begründeten Vision von einer gerechteren oder anderweitig zu bevorzugenden Gesellschaft.

Rechtspopulistische oder rechtsradikale Parteien am Rande der politischen Bühne Westeuropas sind kein Novum – siehe den französischen Poujadismus oder die deutsche NPD –, die jüngste rechtspopulistische Aufwallung aber, die gerade in stark sozialdemokratisch geprägten politischen "Kulturen" (den Niederlanden, Österreich, Dänemark) ausbrach, hat eine spezifisch anti-sozialdemokratische Stoßrichtung im skizzierten Sinne. Es ist kein Zufall, dass diese jüngste Rebellion des Ressentiments in eine Zeit fällt, in der die modernisierte Sozialdemokratie zur politisch hegemonialen Kraft EU-Europas geworden war. Vor nicht mehr als zwei Jahren stellten die Sozialdemokraten nicht ohne Stolz fest, dass sie an zwölf von 15 europäischen Regierungen in führender Position beteiligt waren. Heute sehen sie sich – von New Labour in Großbritannien abgesehen – nach überraschend kurzer Zeit wieder in der Defensive, unter dem Druck nicht nur der üblichen Verdächtigen aus dem traditionell-konservativen Lager, sondern auch der neuen Rechtspopulisten und der verschiedenen informellen wie formellen konservativ-rechtspopulistischen Bündnisse.

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3. Gegen die Globalisierung und gegen das Management der Globalisierung

Die Modernisierung der Sozialdemokratie – ob sie unter dem Etikett des Dritten Weges vorgenommen wurde oder nicht – ist selber die Antwort auf einen wahrgenommenen Umbruch, der mit dem Etikett der "Globalisierung" versehen wurde: Des Übergangs von der industriellen zu einer wie immer zu qualifizierenden postindustriellen Gesellschaft. Die europäischen Sozialdemokraten brachte dieser Umbruch zur – in den verschiedenen Ländern unterschiedlich formulierten – Überzeugung, dass die im "Goldenen Zeitalter" des Kapitalismus, also in den fünfziger bis siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts, verfolgte Politik unter den neuen Bedingungen weder die Übernahme der Regierungsmacht, noch eine erfolgreiche Regierungsführung gestattete.

Die Modernisierung der Sozialdemokratie war und ist gleichbedeutend mit einer grundsätzlich positiven Bezugnahme auf Veränderungen, die von vielen als Auflösungsprozess

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(von Traditionen, Deutungsmustern, Sozialmilieus, Lebensformen und Normalbeschäftigungsverhältnissen) und damit als Krise erfahren werden – als handfeste Verschlechterung der eigenen Lebensverhältnisse (etwa infolge des Übergangs aus einem Beschäftigungsverhältnis in die Arbeitslosigkeit), als vermeintliche oder reale Bedrohung sicher geglaubter Besitzstände oder als Verunsicherung fest gefügter normativer Orientierungen. Der rechte Populismus reagierte und reagiert somit auf zwei Phänomene: Die Krise des Übergangs zur postindustriellen Gesellschaft und den Versuch der Sozialdemokratie, diesen Übergang politisch zu bewältigen. Dabei erhält die politische Klasse den Status eines Sündenbocks, der stellvertretend für schwer fassbare Prozesse sozialen Wandels geprügelt wird. Denn im Prozess des Übergangs zeichnet sich das Neue allenfalls in vagen Umrissen ab. Es entsteht ein Gesellschaftsbild, in dem sich Arbeitslosigkeit, astronomische Gagen für Rennfahrer, die als beunruhigend wahrgenommene Präsenz fremder Kulturen, die Kriege und Bürgerkriege am Rande Europas, die neoliberalen Hochleistungs-, Flexibilitäts- und Mobilitätszumutungen und der Übergang von Peter Frankenfeld zu Verona Feldbusch nicht zu einem kohärenten Muster fügen, sondern Verwirrung erzeugen. Da sich der Esel der Globalisierungskrise nur schwer erkennen, geschweige denn schlagen lässt, drischt der rechte Populismus um so wütender auf den sozialdemokratischen Sack ein. In der Form sozialdemokratischer Politiker erhält die gefürchtete und verunsichernde, aber ungreifbare Krise Gesichter, die stellvertretend geohrfeigt werden können.

Gesellschaftliche Modernisierung erzeugt immer Verlierer, und Verlierer verleihen ihrer Wut Ausdruck, indem sie als Wähler für rechtsradikale oder rechtspopulistische Parteien stimmen oder als Passanten die Jagd auf Andersartige eröffnen. Extrem rechte Parteien und Bewegungen sind ein unappetitliches, aber dauerhaftes Begleitphänomen moderner Demokratien, das so lange nicht gefährlich ist, wie die großen Mehrheiten sozial und politisch dem mainstream integriert werden können. Der Umbruch, auf den der aktuelle Rechtspopulismus reagiert, ist aber nicht die Krise als dauerhaftes Begleitphänomen moderner Gesellschaften, sondern die Krise der Moderne (der Industriegesellschaft) selbst – und eine sozialdemokratische Politik, die diese Krise zu managen versucht. Das heißt nicht, dass der Rechtspopulismus von heute gefährlicher sein muss als vergleichbare Bewegungen in der Vergangenheit – im Gegenteil: Die nach dem Motto "Wehret den Anfängen" immer wieder vorgenommene Gleichsetzung des Rechtspopulismus mit dem europäischen Faschismus verleiht dem Gegner den finsteren Abglanz des Dämonischen, der ihn für die verängstigten Rebellen möglicherweise noch attraktiver macht. Gleichwohl setzt die Erklärung des heutigen Rechtspopulismus voraus, dass er als Reaktion auf eine spezifische Krise und eine spezifische Form sozialdemokratischen Krisenmanagements verstanden wird.

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4. Keine Revolte der Zukurzgekommenen ...

Ein gängiger Erklärungsansatz des aktuellen Rechtspopulismus verweist auf das "Versagen der Sozialdemokratie" in der Sozialpolitik. Die Sozialdemokratie galt und präsentierte sich in der Vergangenheit als politische Vertretung der weniger Privilegierten, historisch der Industriearbeiter, in den Jahrzehnten der Nachkriegsprosperität der abhängig Beschäftigten. Ihr Integrationskonzept war (hierin nicht grundsätzlich von dem der Konservativen unterschieden) das der Teilhabe aller am volkswirtschaftlichen Wohlstand, die eine begrenzte politische Bewertung und staatliche Korrektur der Verteilungsergebnisse des Marktes einschließen konnte. Die Modernisierung der Sozialdemokratie dagegen enthält die Anerkennung der Tatsache, dass das Wirtschaftswachstum aktuell und in ab-

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sehbarer Zukunft nicht mehr alle in gleicher Weise begünstigen, sondern zu Polarisierungen führen wird, sei es, weil bestimmte Basisinstitutionen der sozialen Sicherung – in erster Linie: langfristig gesicherte Beschäftigungsverhältnisse – angesichts der Globalisierung, Tertiarisierung o. ä. erodieren, sei es, weil die Möglichkeiten einer sekundären Umverteilung durch den Staat eingeschränkt sind (bzw. als eingeschränkt wahrgenommen werden). Im Konzept der modernisierten Sozialdemokratie verabschiedet sich der Staat zum Teil aus der Verantwortung für die Sozial- und Erwerbsbiographien der Individuen und weist diese ihnen selbst zu. Die Erfolge sozialdemokratischer/ sozialistischer Regierungen in Europa (siehe oben) verdecken, dass die partielle Annäherung der Sozialdemokraten an den Neoliberalismus – so die Kritik – die Globalisierungsverlierer im berühmten Regen stehen ließ. Mit ihrem Einschwenken in eine wie immer definierte Mitte "verrieten" sie die Opfer des Strukturwandels, also diejenigen, die in die Arbeitslosigkeit entlassen oder aus einem gesicherten in ein prekäres Beschäftigungsverhältnis gedrängt wurden. Die Verlierer sahen sich von den etablierten politischen Kräften (Parteien und Gewerkschaften) nicht mehr vertreten und wandten sich in der Konsequenz irgendwelchen "Rattenfängern" zu, die all das versprachen, was die Sozialdemokratie nicht mehr versprechen konnte oder wollte. Das Politikangebot der Rechtspopulisten und Rechtsradikalen traf auf die Nachfrage der von der Sozialdemokratie vernachlässigten Deklassierten, die in ihrer Frustration und politischen Unmündigkeit jeden wählten, der ihnen das Blaue vom Himmel herunter log.

Dieser Erklärungsansatz, der an August Bebels eher verharmlosende Charakterisierung des Antisemitismus als des "Sozialismus der dummen Kerls" erinnert, ist in mehrerlei Hinsicht problematisch. Zwar mag man nachweisen können, dass die modernisierte Sozialdemokratie, insbesondere in den programmatischen Schriften zur Begründung des Dritten Weges, die Frage der sozialen Ungleichheit eher umgeht als beantwortet. Die Programmdiskussion sollte aber nicht mit der Politik sozialdemokratischer Regierungsparteien verwechselt werden. Diese ist – wie ihr von neoliberalen Professoren und den Sprechern der Unternehmerverbände ja immer wieder vorgehalten wird – gerade nicht durch einen durchgehenden Abbau sozialer Sicherheit gekennzeichnet, sondern eher durch den Versuch, eine wenig spektakuläre Balance zwischen sozialen Sicherheitsbedürfnissen und (wahrgenommenen) wirtschaftlichen Erfordernissen zu halten. So aufgeregt die Debatte um den "Abbau des Sozialstaats" auch geführt wird – empirisch wurden eher marginale Korrekturen vorgenommen. Und auch andere Institutionen der sozialen Sicherung – vom Beamtenstatus über die Zunftordnungen bis hin zu den Agrar- und Kohlesubventionen – haben den Übergang von der industriellen zur postindustriellen Gesellschaft erstaunlich gut überlebt. Die Sozialdemokratie hat gemeinsam mit anderen Kräften eine intensive Modernisierungsdebatte geführt, die den Pegel der Aufregung über die großen Umbrüche unserer Zeit möglicherweise steigerte, ihre politische Praxis jedoch lief eher auf die Bewahrung des sozialen status quo hinaus.

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5. ...sondern Meuterei der Besitzstandswahrer

Gegen das Argument, das "Versagen der Sozialdemokratie" habe dem rechten Populismus Tür und Tor geöffnet, spricht die Tatsache, dass sich die Wählerschaft des rechten Populismus – wie empirische Analysen zeigen – gerade nicht überproportional aus Deklassierten, Arbeitslosen oder von der Arbeitslosigkeit real Bedrohten zusammensetzt. Eher spiegelt sich in ihr die Gesamtgesellschaft in ihren Schichtungen wider. Vor allem aber spricht die Rhetorik des rechten Populismus nicht die Deklassierten an, sie artikuliert nicht die Nöte der schlechter Gestellten, sondern bestätigt die Selbstzufriedenheit

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der Arrivierten. Der rechte Populismus spricht die an, die etwas zu verlieren haben (jedenfalls mehr als ihre Ketten), und die ihren Status eher vage als manifest bedroht sehen. Er appelliert offen an die Brutalität derjenigen, die das Erreichte oder ihnen Zustehende (was immer das sei) mit Zähnen und Klauen zu verteidigen bereit sind, sein Kern ist die Aufforderung, Hemmschwellen abzubauen, die die Rücksichtslosigkeit des nackten Egoismus moderieren könnten. Daher ist die vom Prinzip her "moderierende" politische Kultur der Sozialdemokratie auch das Angriffsziel: Der Versuch, soziale und nationale Interessen im engen Sinne mit "übergeordneten" Belangen – der europäischen Integration, der Erhaltung der Umwelt, der Solidarität mit den Benachteiligten usw. – auszugleichen. Derartige Einschränkungen des Eigeninteresses – von den Nettozahlungen an die EU bis zu Geschwindigkeitsbegrenzungen ("mein Auto braucht keinen Wald!"), von der Entwicklungshilfe bis zur Sozialhilfe, von der Mineralölsteuer bis hin zur geforderten Toleranz gegenüber Immigranten – sind aus der Sicht des rechten Populismus und seiner Klientel Zumutungen.

Der rechte Populismus stellt zwischen dem jedes zivilisatorischen Feigenblatts entkleideten Egoismus und dem Staat eine Kurzschlussbeziehung her: Der Staat soll bei der Verteidigung der Interessen "seiner" Bürger dieselbe Rücksichtslosigkeit walten lassen, zu der die Individuen selbst bereit sind. Nun weiß jedes Kind, dass Interessengegensätze nicht in erster Linie national, sondern innergesellschaftlich begründet sind. Der rechte Populismus appelliert zwar an den Egoismus, verzichtet dabei aber bewusst darauf, soziale Interessendifferenzen anzusprechen. Einigendes Band populistischer Rhetorik sind nicht bestimmte Interessen (etwa der Arbeitnehmer), sondern die eher diffuse Gemeinsamkeit der Status- und Besitzstandswahrer gegen diejenigen, die neue Ansprüche erheben oder erheben könnten. Verteidigt wird eher "das Portemonnaie" als die Einkommen (Löhne, Gewinne), die es füllen. Die innergesellschaftlichen Gegensätze werden wie im traditionellen Faschismus übertüncht bzw. durch ein symbolisches Konstrukt fiktiver Kollektivität ersetzt, in dem sich der Opelfahrer, dem das Benzin zu teuer ist, der junge Mann, der such durch die Emanzipationsbestrebungen der Frauen verunsichert sieht, der Besitzer des Häuschens im Grünen, der auf die Kilometerpauschale pocht, der Querulant, der seine Steuern sowohl "denen da oben" als auch den "Asozialen" vorenthalten möchte und der Yuppie, der die soziale Sicherung seiner philippinischen Haushaltshilfe für Sozialkitsch hält, gleichermaßen aufgehoben fühlen können. Daher rührt auch die für den Populismus die – man kann sagen: strategische – Rolle der Ausländer und der Ausländerfeindschaft. Denn erstens ermöglicht es die Präsenz der Ausländer, eine klare Grenze zwischen "uns" und "denen" zu ziehen, die auf innergesellschaftliche Interessendifferenzen keine Rücksicht nimmt und damit erst das Kollektiv der "Bürger" herstellt. Der gut gemeinte Hinweis, die Ausländer nehmen uns "in Wirklichkeit" gar nicht die Arbeitsplätze und Wohnungen weg, geht in die Irre, da wirkliche Interessendifferenzen gerade ausgeblendet sind. Zweitens kann anhand der Ausländer und anderer Minderheiten demonstriert werden, dass man bereit ist, bei der Verteidigung seines Interesses zivilisatorische Hemmungen fallen zu lassen: Toleranz, Respekt und Liberalität werden als Gefühlsduselei einer intellektuellen Elite abgetan, die "uns" nur daran hindert, das von "uns" Erreichte wirksam zu schützen.

Der rechte Populismus ist ein Aufruf an die Besitzstandswahrer zur Senkung zivilisatorischer Hemmschwellen. Er definiert Haltungen und Ansichten, die in einer liberalen politischen Kultur als anstößig gelten, in legitime Volkstümlichkeit um. Er ist eine Attacke auf die politische Urteilskraft: Politische Urteile sind wie Geschmacksurteile – und anders als wissenschaftliche Aussagen – nie universell und verbindlich. Gleichwohl definiert jede politische (wie jede ästhetische) Kultur einen Raum akzeptabler Urteile (das Bild des röh-

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renden Hirsches ist keine Kunst, auch wenn man sich über Geschmack streiten kann). Der rechte Populismus erweitert den Raum möglicher politischer Urteile, indem er offen oder verdeckt nicht-demokratiekompatible (etwa rassistische) Aussagen salonfähig macht. Die Gefahr, die von ihm ausgeht, liegt eher in dieser Wirkung auf die politische Kultur als in der Möglichkeit, dass er die Regierungsmacht übernehmen und die Demokratien Europas in den Abgrund steuern könnte. Es sei an die Analysen erinnert, die Norbert Elias zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Milieu deutscher Verbindungsstudenten vornahm: Die gezielte Brutalisierung der Sprache und des Verhaltens führte nicht auf geradem Wege in den Nationalsozialismus, schuf aber bei der jungen deutschen Elite die kollektiven Dispositionen, die vom Nationalsozialismus als Rohstoff genutzt werden konnten.

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6. Der "Neoliberalismus der dummen Kerls"?

Mit seinem Angriff auf die politische Kultur der Sozialdemokratie und seiner selektiven Ablehnung des Wohlfahrtsstaats weist der Rechtspopulismus eine gewisse Nähe zum Neoliberalismus auf, wobei "Neoliberalismus" im vorliegenden Zusammenhang nicht als eine bestimmte Denkrichtung der Wirtschaftswissenschaften verstanden wird, sondern ein politisches Projekt, das in Westeuropa im Grunde nur in Großbritannien unter Margaret Thatcher realisiert wurde. Am deutlichsten ist die Verbindung zwischen Rechtspopulismus und Neoliberalismus bei Silvio Berlusconis Forza Italia. Andere rechtspopulistische Parteien sind aus ursprünglich liberalen Parteien hervorgegangen, so Jörg Haiders FPÖ und die Liste Pim Fortuyn (eine Abspaltung der niederländischen Rechtsliberalen). In Deutschland deutet sich eine ähnliche Entwicklung bei der F.D.P. an. Es ist kein Zufall, dass die "modernste" Variante des rechten Populismus (Fortuyn, Haider und Berlusconi im Unterschied zu Le Pen) nicht nur zeitlich auf den Niedergang des Neoliberalismus als politischem Projekt folgt, sondern inhaltlich einige Motive des Neoliberalismus aufnimmt.

Verbindende Motive beider politischer Richtungen sind

  • Die generelle Staatsfeindlichkeit, die sich auf paradoxe Weise mit der Überhöhung des Nationalstaats verbindet. Als politische Kraft konnte der Neoliberalismus nur wirksam werden, indem er sich quer zu seiner ökonomischen Logik auf Nation, Familie, Tradition und Religion – Entitäten also, die der vom Neoliberalismus deifizierte Markt unerbittlich zersetzt – berief. Die Kombination aus Nationalismus und Staatsfeindlichkeit wird vor allem von Margaret Thatcher ("I want my money back!") verkörpert, die in dieser Hinsicht auch für den rechten Populismus eine prototypische Figur ist.

  • Eine Kombination aus wirtschaftlich libertären und politisch autoritären Motiven. Der "moderne" Rechtspopulismus vertritt in der Regel keine korporativen Modelle der Organisation von Wirtschaft und Gesellschaft (etwa nach dem Vorbild des historischen Faschismus oder des spanischen Franquismus), auch tritt er in Europa (anders als Pat Buchanan in den USA) nicht offen für die Protektion der nationalen Wirtschaften durch Handelsbarrieren ein, obwohl dies vielleicht im wirtschaftlichen Interesse eines Teils seiner Klientel läge.

  • Der Appell an das Eigeninteresse, das vor allem vor dem Staat – vor dem Fiskus – geschützt werden soll. Neoliberale und rechtspopulistische Parteien sind Steuersenkungsparteien, wobei die vom Staat erhobene Steuer, die ja für die Ansprüche anderer Menschen (der Benachteiligten, Ausländer usw.) oder Belange jen-

[Seite der Druckausg.: 11]

    seits des unverhüllten Egoismus (Umwelt, Entwicklung, europäische Integration) steht, als eine Art Menschenrechtsverletzung denunziert wird. Dasselbe gilt für die soziale Sicherung, die nicht als ein auch im individuellen Interessen liegende kollektives Arrangement zur Abwehr sozialer Risiken anerkannt, sondern als ein von außen und oben organisierter "Angriff auf das Portemonnaie" verurteilt wird.

  • (eher als Attitüde denn als Programm) die intendierte Brutalisierung der sozialen Beziehungen, die im Kontrast zu allem, was zivilisierte Humanität ausmacht, entweder auf Marktbeziehungen reduziert oder zu einem kriegsähnlichen Verteilungskampf fiktiver Kollektive ("wir" gegen "sie") simplifiziert werden.

Die Ausprägung der Differenzen zwischen Neoliberalismus und Rechtspopulismus hängen von Konsistenz ab, mit der das neoliberale Projekt realisiert wird. Grundsätzlich würde ein konsequenter Neoliberaler nicht nur der wirtschaftlichen Globalisierung positiv gegenüber stehen, sondern auch eine ihrer sichtbarsten Konsequenzen – die internationale Migration – begrüßen. In gewisser Hinsicht ist der Immigrant ein besonders lobenswertes Marktsubjekt, da er in Abkehr von seiner lokalen Lebenswelt rational auf Angebot und Nachfrage reagiert und dorthin geht, wo seine Arbeitskraft gefragt ist. Mehr noch: Der Neoliberalismus ist zumindest im Grundsatz der natürliche Feind aller angestammten Besitzstände, auf die der rechte Populismus oft pocht: Das Marktsubjekt muss seine Wettbewerbsfähigkeit täglich aufs Neue unter Beweis stellen, ausruhen dürfen sich nur die, die dank eines großen Vermögens vom Wettbewerb suspendiert sind oder diesen als Spiel genießen können. Der Rechtspopulismus dagegen tritt – um noch einmal Bebel zu bemühen – als Neoliberalismus der "dummen Kerls" auf, er spricht die an, die zwar etwas zu verlieren haben, aber des täglichen Kampfes um die Existenz nicht entbunden sind, die sozialen Risiken ausgesetzt bleiben, und die möglicherweise auf der Strecke blieben, wenn der Markt wirklich uneingeschränkt herrschte. [Diese Zuordnung führt im Grunde zurück zu einer erneuerten Version der Faschismustheorien der dreißiger Jahre, die im von unten (der Arbeiterschaft) wie von oben bedrohtem Mittelstand die soziale Basis des europäischen Faschismus vermuteten. Diese soziologische Festlegung mag etwas simpel sein, da sie die Anteile sowohl des Arbeitermilieus als auch der Oberschichten am Faschismus zu verkennen droht. Sie eröffnet gleichwohl eine Perspektive, die unter radikal veränderten Bedingungen auch zur Erklärung des aktuellen Rechtspopulismus beitragen könnte.]
Er kann keine eindeutige ordnungspolitische Option im Sinne des Neoliberalismus artikulieren, weil ein relevanter Teil seiner Klientel zwar von freien Märkten profitieren würde, sofern es um die Beziehungen zu Kunden, abhängig Beschäftigten usw. geht, gleichzeitig aber aus nicht-marktgemäßen Schutzmechanismen (Zunft- und Standesordnungen, Subventionen usw.) erhöhte Einkommen und Sicherheiten bezieht. Sein Programm ist wie beim Neoliberalismus Sozialabbau – aber Sozialabbau für "die anderen", die nicht dem fiktiven Kollektiv der Status- und Besitzstandswahrer zuzurechnen sind. Der Rechtspopulismus verkörpert eine Öffnung des Neoliberalismus "nach unten" und nimmt das Motiv einer Verunsicherung auf, der nur die Besitzer großer Vermögen, die eigentlichen Adressaten des Neoliberalismus, nicht ausgesetzt sind.

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7. Elemente einer Verunsicherung

Im rechtspopulistischen Appell an den unverhüllten Egoismus spiegelt sich der Verlust traditioneller überindividueller Orientierungen wider, die Auflösung von Sozialmilieus, die den Individuen verbindliche Deutungen und Orientierungen anboten, Anforderungen definierten und individuelle Leistungen mit den zu erwartenden sozialen Gratifikati-

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onen oder – bei Leistungsverweigerung – Bestrafungen in einen überschaubaren Zusammenhang stellten. In Westeuropa erbrachten das Industriearbeiter- und das katholisch-ländliche Sozialmilieu (mit ihren engen Bindungen an die großen "Volksparteien") diese aus der Sicht der Gesellschaft integrativen und sozialisierenden, aus der Sicht der Individuen orientierenden und kompensierenden (tröstenden) Leistungen. Mit der Auflösung der Sozialmilieus, auch der großen religiösen oder ideologischen Deutungssysteme, mutet die Gesellschaft den Individuen zu, selbst die Verantwortung für die eigene Biographie zu übernehmen; mit der Modernisierung müssen die Individuen nicht hinterfragbare traditionsgebundene Orientierungen durch die reflexive Bearbeitung der an sie gerichtetem Anforderungen bewältigen. Im Zuge der mit der Modernisierung einhergehende Enttraditionalisierung wird in der Tendenz alles hinterfragbar. Was vorgegeben war, wird zur Option, zum Gegenstand individueller Entscheidungen, für deren Folgen das Individuum auch die Verantwortung zu übernehmen hat. Es wurde daher oft bemerkt, dass die Modernisierung für viele auch mit einer grundlegenden kognitiven und praktischen Überforderung verbunden ist, dass der Rückfall in "einfache Wahrheiten", wie die rechten Populisten sie anbieten, als eine Art natürlichen Drangs zur Komplexitätsreduktion zu verstehen sei. Dieser Rückfall in "einfache Wahrheiten" droht dabei eine bösartige Wendung zu nehmen, da die Bewahrung der von der Modernisierung bereits zersetzten Selbstverständlichkeiten eines um so verbisseneren Einsatzes mentaler Energie bedarf.

Nun ist die Enttraditionalisierung, die Auflösung von Traditionen und Sozialmilieus, seit der industriellen Revolution ein ständiges Begleitphänomen moderner Gesellschaften. Entsprechend ist die politische Geschichte des Industriezeitalters auch durch eine Vielzahl reaktionärer oder (zumindest dem Schein nach) rückwärtsgewandter Bewegungen bestimmt, von den russischen und amerikanischen Urformen des Populismus über die verschiedenen Varianten des religiösen Fundamentalismus und des Nationalismus bis hin zum Nationalsozialismus/ Faschismus. Die Modernisierung bildet keine gerade Linie von traditionellen zu aufgeklärt-reflexiven Orientierungen, sondern erweist sich als Zickzackmuster begrenzter Fortschritte und katastrophaler Rückfälle. Was aber unterscheidet die aktuelle Umbruchssituation – der Übergang von der industriellen zur postindustriellen Gesellschaft oder, wenn man so will, die Globalisierung – von den ständigen De- und Rekonstruktionen der industriegesellschaftlichen Vergangenheit?

New Economy Hype: Die rhetorische Dramatisierung des Umbruchs

Man mag in der Tat darüber streiten, ob der zur Zeit zu beobachtende Prozess technischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandels sich fundamental von den Veränderungsprozessen der Vergangenheit unterscheidet. Selbst wenn von den großen Katastrophen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts einmal abgesehen wird: Ist der Übergang vom 20. zum 21. Jahrhundert wirklich so viel dramatischer als die Umbrüche der fünfziger und sechziger Jahre? Ist die Einführung des Internet ein schwerer wiegender Einbruch in traditionelle Lebenswelten als die des Fernsehens, des Autos oder des für (fast) alle zugänglichen Flugverkehrs? Wie Paul Krugman bemerkte: Es mag eine gute Sache sein, einen Flug per Internet zu buchen, die Mobilität der Individuen wurde aber durch das Verkehrsflugzeug revolutioniert (dessen Ikone, der Jumbo-Jet, sich seit Anfang der siebziger Jahre nicht verändert hat), nicht durch Erleichterungen bei der Reservierung von Tickets. Die heute zu beobachtenden Umbrüche in der Arbeitswelt sind nicht nur die Konsequenzen der informationstechnischen Revolution, sondern auch Begleitphänomene eines sehr langfristigen Trends der industriellen Rationalisierung und wirt-

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schaftlichen Tertiarisierung, den Soziologen und Ökonomen bereits in den fünfziger Jahren beobachtet hatten.

Was die heutigen Umbrüche, deren Bedeutung auf keinen Fall geschmälert werden soll, in der Tat von früheren Veränderungen unterscheidet, ist ihre allseitige Dramatisierung in der Form einer Rhetorik der unbegrenzten Zumutungen. Politiker aller Richtungen, Massenmedien und Wirtschaftsprofessoren rufen den Leuten nahezu ununterbrochen zu: Seid Euch bloß nicht sicher! Rechnet nicht damit, dass Eure Qualifikation zu einem Einstieg in die Arbeitswelt berechtigt – sie ist bereits heute veraltet. Rechnet auf keinen Fall mit einem langfristigen Beschäftigungsverhältnis und einem sicheren Einkommen. Eure Renten sind nicht sicher, Eure auf den Kapitalmärkten angelegten Gelder sowieso nicht. Wer nicht zur uneingeschränkten Flexibilität und Mobilität bereit ist, zur Übernahme hoher Risiken und zum Verzicht auf vermeintliche Anrechte, landet schnell bei den Überflüssigen – so die Botschaft. Der natürliche Feind der Umbruchsrhetoriker sind "Besitzstände": Sie gaukeln eine Sicherheit vor, die das 21. Jahrhundert nicht mehr kennt. Diese habituelle Dramatisierung des Umbruchs mag zum Teil der Eigendynamik einer Mediengesellschaft geschuldet sein, in der Nachrichtenwert nur hat, was übertreibt und verunsichert, einer Gesellschaft, in der sich auch Politik und Wissenschaft in den Medien präsentieren und deren Kriterien übernehmen müssen. Zum Teil liegt sie im Interesse der Arbeitgeber, deren Verbände und Presse die Disziplin der neuen Märkte gegen das "Anspruchsdenken" und die "Besitzstände" der Arbeitnehmer ins Feld führen – der eher primitiven Logik folgend, dass verunsicherte Arbeitnehmer folgsamer sind.

Die Umbruchsrhetorik bezieht sich natürlich auf einen realen Kern: Etwa die Krise des Arbeitsmarkts – die sich in Europa in hohen Arbeitslosenquoten ausdrückt –, die in den Normalzustand der kommenden new economy umgedeutet wird, einer Wirtschaftsform, in der das Arbeits- und Sozialleben gleichbedeutend mit einem unablässigen und brutalen Selektionsprozess sein soll. Daher auch die Ambivalenz, mit der Medien und Politik mit der Arbeitslosigkeit umgehen: Sie ist auf der einen Seite das große Übel unserer Zeit; auf der anderen Seite erscheint sie aber nur als das logische Ergebnis einer unter den neuen Angebots- und Nachfragebedingungen nicht zu vermeidenden Selektion.

Wie immer die realen Folgen der Globalisierung oder des Übergangs von der industriellen zur postindustriellen Gesellschaft bewertet werden: Die von der Rhetorik des Umbruchs bewusst oder unintendiert erzeugte Verunsicherung übertrifft die für die Bevölkerungsmehrheit erfahrbaren Veränderungen, die sich in den westeuropäischen (Noch)-Sozialstaaten in Grenzen halten. Und der rechte Populismus reagiert eher auf das Klima der Verunsicherung, auf Verhaltenszumutungen als auf die reale Erfahrung sozialer Deklassierung.

Leistung und Belohnung

Ein wichtiger Aspekt sowohl der Umbruchsrhetorik als auch der erfahrbaren Veränderungen liegt in der (wahrgenommenen) Entkopplung von erbrachter Leistung und der auf sie folgenden Belohnung/ Bestrafung. Auch in diesem Zusammenhang spielt die Arbeitslosigkeit eine ambivalente Rolle: Auf der einen Seite ist sie für die Bevölkerungsmehrheit eine Lektion: Arbeitslosigkeit ist die Strafe für unzureichende Flexibilität, Mobilität, Risikobereitschaft usw. Auf der anderen Seite gibt es nicht den geringsten plausiblen Zusammenhang zwischen erbrachten Leistungen und dem Privileg einer gesicherten und gut entlohnten Beschäftigung. Die Vorstellung, die Arbeitnehmer könnten durch

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Lohnzurückhaltung, hohe Arbeitsleistungen und den Verzicht auf "Anrechte" ihr Unternehmen und damit ihren Arbeitsplatz erhalten, kann nicht einmal mehr als Fiktion Gültigkeit beanspruchen. Vielmehr scheinen anonyme Kapitalmärkte mit ihren Über- und Fehlreaktionen über das Schicksal von Unternehmen und der von ihnen Beschäftigten zu entscheiden. Eine ähnliche Entkopplung betrifft den Zusammenhang zwischen der für die schulische und berufliche Ausbildung erbrachten "Investition" und deren Ertrag in der Form einer sicheren und hinlänglich entlohnten Arbeit. Weder Generationen überdauernde Unternehmen, noch eine zumindest das eigene Erwerbsleben andauernde Qualifikation begründen Aussicht auf eine stabile Erwerbsbiographie – in einer Situation, in der für die große Bevölkerungsmehrheit ein Beschäftigungsverhältnis die einzige Einkommensquelle und die einzige Quelle sozialer Anerkennung und individueller Sinnstiftung ist. [Die Rede von der zunehmenden Bedeutung postmaterialisti sch-hedoni sti scher Werthaltungen führt in die Irre: Wer etwa im Interesse seiner Familie auf Erwerbsarbeit verzichtet und sich als „Hausmann„ betätigt, gilt als Tölpel und wird im Zweifelsfall auch so behandelt.]

Die Ideologie (mehr als die Realität) der Globalisierung führt scheinbar globale Standards für Leistungen und Belohnungen/Bestrafungen ein, die zu den in der eigenen Lebenswelt verwurzelten Gerechtigkeitsvorstellungen in einem eklatanten Missverhältnis stehen: In der globalisierten Wirtschaft – so die falsche Botschaft der Globalisierungspropheten – wird in der Tendenz das Leistungs-Belohnungsverhältnis des chinesischen Tagelöhners zum Standard, an dem die Ansprüche auch des europäischen Arbeitnehmers gemessen werden. Die potentielle Abstiegsperspektive wird bodenlos, während sich gleichzeitig die kompensierende Perspektive eines kontinuierlichen Anstiegs des Lebensstandards für alle als Illusion enthüllt.

Die Entkopplung von Leistung und Belohnung betrifft auch die Gegenseite der Gewinner: Die Gehälter und Bezüge von Managern haben in der Wahrnehmung der Bevölkerungsmehrheit eine Dimension erreicht, bei der sie in keinem irgendwie begründbaren Verhältnis zu den erbrachten Leistungen stehen. Ihr häufig offensichtliches Versagen, das viele Arbeitnehmer in die Arbeitslosigkeit treibt, wird nicht durch Status- oder Einkommensverlust bestraft, sondern im schlimmsten Fall durch einen Wechsel aus dem Vorstand in den Aufsichtsrat des Unternehmens. Das Risiko, mit dem die astronomischen Bezüge der Manager begründet werden, tragen nicht sie selber, sondern die Opfer ihrer Strategien. Ähnlich unverständlich sind die Einkommen der schillernden Vielzahl von "Prominenten" aus Medien, Kultur, Sport, und Skandalwelt, deren ans Wunderbare grenzende Höhe in keinem erkennbaren Verhältnis zu ihrer bzw. zu irgendeiner Leistung stehen. Was beim Spitzensportler, dessen Leistung ständig überprüft wird, noch nachvollziehbar ist, verliert bei einem Medienstar, der seine Prominenz dem Aufenthalt in einem Container verdankt, gänzlich an Plausibilität.

Die Skandalgesellschaft: Betrogene Betrugswillige

Es scheint, als seien in der heutigen Gesellschaft Lasten und Entschädigungen, Leistungen und Gegenleistungen, Privilegien und Zumutungen nach einem unbekannten random-Prinzip verteilt, als sei der Maßstab für durchschnittliche Leistungen, zumutbare Leistungsanforderungen und für eine Hierarchie von Tätigkeiten, die gesellschaftlich unterschiedlich bewertet werden, verloren gegangen. [S. Birgit Mahnkopf, Formel 1 der neuen Sozialdemokratie. Rede zur Tagung des SPD-Programmkongresses, 16.12.2000] Hieraus ergibt sich zum einen eine individuelle Unsicherheit hinsichtlich der eigenen Lebensplanung (eine Unsicherheit, die

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nicht mehr von Sozialmilieus aufgefangen wird), zum anderen eine Verletzung bestimmter rudimentärer Gerechtigkeitsprinzipien – wobei nicht die (möglicherweise zunehmende) soziale Ungleichheit Ursache der Verstörung ist, sondern das Fehlen eines verbindlichen Maßstabs für Ungleichheit.

Der Verlust des Maßstabs, die vage Vorstellung, dass in dieser Gesellschaft gleichzeitig "zu viel" und "zu wenig" verlangt, belohnt und bestraft wird, lässt das Bild eines anomischen Räubersystems entstehen, in der anonyme reguläre Sozialbeziehungen (zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern, Bürgern und Staat, Beitragszahlern und Leistungsempfängern usw.) durch Korruption, Seilschaften und Mitnahmeeffekte verdrängt werden. Der "anständige" Bürger, Arbeitnehmer und Steuerzahler gerät zum Exemplar einer aussterbenden Spezies, dessen Biotop von Schnäppchenjägern, Steuerbetrügern, Spekulanten, Schwarzarbeitern und Absahnern jeder Art umstellt ist. Die systematische Umgehung von Regeln scheint selber zur Regel zu werden; die reale Unübersichtlichkeit der Gesellschaft (des Sozialstaats, des Steuersystems) lässt diese als eine Bühne erscheinen, auf der unablässig und ausschließlich Skandalstücke aufgeführt werden. Der rechte Populismus verschafft der Empörung über diese "Zustände" Ausdruck. Er tut dies aber nicht, indem er eine neue oder alte Moral einfordert, sondern indem er seine Klientel implizit auffordert, es "denen da oben" gleichzutun: Das Eigeninteresse "brutalstmöglich" (Roland Koch) und ohne Rücksicht auf Regeln, Moral und Recht zu realisieren – eine Aufforderung, die niemand in seiner Person so gut symbolisiert wie Silvio Berlusconi. Der nach oben gerichteten Empörung entspricht, dass man unter vermeintlich Gleichen – keineswegs aber nach unten – eher ein Auge zudrückt. Die rechtspopulistische Empörung zieht keine prinzipielle Grenze zwischen dem denunzierten korrupten "System" und der Moral, sondern in einer insgesamt als amoralisch wahrgenommenen Realität zwischen "uns" und "denen". Diese Grenze ist sowohl national als auch innergesellschaftlich definiert, als Trennlinie zwischen den betrogenen und betrügenden Besitzstands- und Statuswahrern auf der einen und denen, die an deren Portemonnaie wollen, auf der anderen Seite.

Im Lande Schläfer, an den Grenzen Barbaren

Verunsicherung geht auch von den Entwicklungen jenseits der Landesgrenzen aus bzw. wird von diesen überhaupt erst ausgelöst. Die klare Einteilung der Welt in containerähnliche Nationalstaaten zerbröckelt und geht über in ein schwer durchschaubares Geflecht nationaler, subnationaler, transnationaler und internationaler Akteure. Die von den Rechtspopulisten geforderte Rückentwicklung zum ethnisch definierten Nationalstaat würde die klare Trennlinie zwischen "uns" und "denen" wieder herstellen, die reale Unüberschaubarkeit überschaubar machen. Der populistische Nationalismus kann freilich die Ablehnung des bestehenden Nationalstaats einschließen: Die österreichische Rechte tendiert insbesondere in ihrer Vergangenheitspolitik zu einer germanophilen Haltung, die den Staat Österreich de facto in Frage stellt. Der belgische Vlaamske Blok lehnt den Staat Belgien offen ab, ebenso wie die Umberto Bossis Lega Nord den italienischen Staat (was aber die neofaschistische Alleanza Nazionale nicht daran hinderte, mit der Lega eine Koalitionsregierung zu bilden). Der Nationalismus auf ethnischer Grundlage folgt in der Regel dem wohlstandschauvinistischen Impuls einer Gemeinschaft der Arrivierten, die sich nichts nehmen lassen will – auch nicht von schlechter gestellten Bürgern des eigenen Staates, geschweige vom Staat selbst. Der Nationalstaat wird nicht deshalb zu restituieren versucht, weil er als Sozialstaat einen Rahmen zur Realisierung "sozialer

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Solidarität" abgibt oder abgeben könnte, im Gegenteil: Der Staat soll gerade nicht integrieren, sondern ausgrenzen.

Der sichtbarste Ausdruck für die Verwischung der Grenzen zwischen "innen" und "außen", "uns" und "denen", ist die Präsenz von Migranten, die in den europäischen Ländern Arbeits- und Lebensmöglichkeiten suchen. Der Immigrant ist für den lokalen Besitzstandswahrer, der sich vage bedroht fühlt, eine höchst ambivalente Figur: Durch seinen offensichtlich niedrigeren Status demonstriert er (wie der Arbeits- oder Wohnungslose) das mögliche eigene Schicksal. Gleichzeitig steht der Immigrant aber auch für eine Risikobereitschaft, die der sich in seinem Status bedroht Fühlende nicht aufbringen würde, für die Fähigkeit, dem elenden Schicksal im Heimatland mit dem unglaublichen Wagnis zu begegnen, in einem fremden Land und feindlichem Umfeld – oft auch noch erfolgreich – eine neue Existenz aufzubauen. Auch wenn der Immigrant nicht wirklich um den Arbeitsplatz oder die Wohnung des Besitzstandswahrers konkurriert, ist er aufgrund seines Erfolges eine bedrohliche Figur, die die potentiell schwache eigene Position im sozialen Selektionsprozess illustriert. Das Gefühl der eigenen Unterlegenheit darf aber nicht akzeptiert werden, es muss umschlagen in die Verachtung des Fremden, der Leistungen erbringt, zu denen man selber nie in der Lage wäre.

Die grenzüberschreitende, in erster Linie wirtschaftlich motivierte Migration in die europäischen Wohlstandszonen ist ebenfalls kein Novum, und der von rechtpopulistischer Seite angeprangerte Skandal liegt nicht nur in der Migration selbst, sondern auch in der Tatsache, dass sich mit der Migration Kulturen herausgebildet haben, die von den Staaten und Regierungen zumindest implizit als Realitäten anerkannt und politisch bewältigt werden müssen. Auch wenn einem Großteil der Immigranten nicht die vollen Bürgerrechte zuerkannt wird, haben sie doch als Arbeitnehmer und Selbstständige, Beitrags- und Steuerzahler, Bewohner von Städten, Vermögensbesitzer, Familien usw. gewisse Anrechte, die die Regierungen zwingen, die Grenze zwischen "innen" und "außen", "denen" und "uns" ein zweites Mal zu verwischen: durch die Zuteilung von Sozialleistungen und die Versorgung mit öffentlichen Gütern an Menschen, die außerhalb des Landes, in dem sie leben, geboren wurden. Auch die Immigranten werden zu einer Klientel des (Sozial)-Staats – in einer Zeit, in der dessen finanzieller Spielraum als zunehmend eingeengt wahrgenommen wird. Es kommt hinzu, dass die Migration vor dem Hintergrund anderer Globalisierungsphänomene von den etablierten Parteien und Regierungen wie von den Unternehmern als ein normales, für die eigene Gesellschaft sogar vorteilhaftes Phänomen interpretiert wird. Der rechte Populismus prangert also nicht nur die Migranten an, die des Absahnens, also des illegitimen Zugriffs auf das "von uns" Erarbeitete bezichtigt werden, sondern auch eine politische und wirtschaftliche Elite, die die "eigenen Bürger" vernachlässigt, indem sie die "Fremden" an Leistungen und öffentlichen Gütern beteiligt, an Gütern, auf die die "eigenen Bürger" exklusiven Anspruch zu haben meinen. Die Bedrohung durch den Immigranten wird verdoppelt durch die Wahrnehmung eines Staates, der offensichtlich nicht (mehr) ohne Abstriche die Besitzstände der eigenen Bürger schützt. Daher werden die oft offen rassistischen Motive des Fremdenhasses von negativen sozialstaatlichen Anspruchshaltungen überlagert: Objekte der Ablehnung sind nicht allein Menschen anderer "Rassen", sondern auch Mitglieder der eigenen Ethnie (für Deutschland etwa: Ostdeutsche und Aussiedler), sofern sie nur Ansprüche erheben und als anspruchsberechtigt anerkannt werden. Gegenstand der Wut ist nicht nur die Präsenz von "Fremden", sondern deren offiziell, wenn auch verschämt und halbherzig betriebene Integration (die zudem, weil sie verschämt und halbherzig ist, die sogenannten sozialen Brennpunkte erzeugt).

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Die Migration wird zudem als Bedrohung hingestellt und wahrgenommen, weil die bereits Eingewanderten nur als Vorboten einer in der Tendenz unendlichen Welle gelten, die Europa in einer neuen Form der Völkerwanderung zu "überschwemmen" droht. Jedermann ahnt zumindest vage, wie es um das Elend in den armen Ländern dieser Welt bestellt ist: Für Milliarden von Menschen aus den Entwicklungsländern käme selbst der niedrigste Status in Westeuropa einer wirtschaftlichen und sozialen Besserstellung gleich. Angesichts der zu erwartenden "Flut"– so die Botschaft – vermag nur die brutalste, zu Allem bereite Abwehr die Selbstbehauptung der europäischen Gesellschaften zu gewährleisten – und hierzu sind, so wird behauptet, die etablierten politischen Kräfte weder fähig noch willens.

Zwei weitere aktuelle Phänomene verstärken die in der Migration wahrgenommene Bedrohung: Zum einen die Tatsache, dass in den neunziger Jahren Kriege und Bürgerkriege bis an die Grenzen EU-Europas gedrungen sind. Auf dem Balkan hat sich – für viele überraschend: nicht selten handelte es sich um einst bevorzugte Feriengebiete – ein Gewaltpotential enthüllt, das die Notwendigkeit, die eigenen Hemmschwellen zu senken, noch dringender erscheinen lässt. Die Kriege und Bürgerkriege auf dem Balkan haben verdeutlicht, wie schwach die Barrieren zwischen Zivilisation und Barbarei sind. Die befürchtete Immigrantenflut wird um so bedrohlicher, als sie die Saat der Gewalt auch in den (noch) friedlichen Ländern Westeuropas ausstreut – eine Befürchtung, die durch die Existenz krimineller Migrantenmilieus bestätigt zu werden scheint. Zweitens beginnt sich die generelle Ablehnung von Migranten mit einem Kulturkampf oder einen clash of civilisations zu vermischen, insbesondere seit dem 11. September 2001 – wobei die Wirkungsgeschichte dieses Datums und sein Einfluss auf die europäische Politik gerade erst begonnen hat. Das antiislamische Motiv wird den Rechtspopulismus des Zukunft aller Voraussicht nach noch stärker kennzeichnen als heute – und in den Aktivitäten von Islamisten weltweit immer wieder Bestätigung finden. Mit der Figur des islamistischen "Schläfers" trat ein Symbol tödlicher Bedrohung in die europäische Gesellschaft, auf deren Potential zur Erzeugung diffuser Ängste und panischer Gegenschläge kaum ein rechtspopulistischer Politiker wird verzichten wollen.

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8. Reaktionen auf die Reaktion (Anbiederung, Aufklärung, Sozialpolitik, Nichtstun)

Die Frage, mit welcher Strategie die mainstream-Parteien, insbesondere die Sozialdemokratie, dem Rechtspopulismus entgegen treten können, ist zunächst negativ zu beantworten. Wenig Erfolg verspricht erstens eine Politik, die dem Populismus den Boden zu entziehen sucht, indem sie sich selbst populistisch gibt, sei es im Stil , sei es in der Form eines Entgegenkommens in der Sache. Wohl alle Politiker unterliegen zumindest gelegentlich der Verführung des Populismus, der Versuchung, etablierte Sprachregelungen außer Kraft zu setzen und "Tacheles" zu reden, auf die vermeintlichen Ängste des "kleinen Mannes" direkt einzugehen und Volksnähe zu demonstrieren. Eine entsprechende Politik würde dem rechten Populismus nicht den Boden entziehen, zum einen, weil der Anbiederung Grenzen gesetzt sind, die der rechte Populist selbst nicht respektieren muss, zum andern, weil Anbiederung gerade bei denen, die man anzusprechen sucht, Misstrauen auslöst. Die etablierten Politiker sind zu eng mit dem als elitär wahrgenommenen Establishment assoziiert, als dass ihrer plötzlichen Volksnähe geglaubt würde. Indirekt würde ein mainstream-Populismus den rechten Populismus unterstützen, indem er dessen Themen und Sprache salonfähig macht. Ein Entgegenkommen in der Sache würde dagegen mit hohen Risiken belastet sein und kaum lösbare Folgeprob-

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leme nach sich ziehen. Auch strengere Auflagen für künftige Immigranten etwa würden die Politik nicht davon entlasten, Menschen ausländischer Herkunft in irgendeiner Form zu integrieren. Auch restriktive Maßnahmen würden die Wut der Populisten nicht dämpfen, jedenfalls so lange sie nicht mit demonstrativer Brutalität umgesetzt werden.

Ein zweiter, man könnte sagen: typisch sozialdemokratischer Ansatz wäre der aufklärende Diskurs im Sinne Bebels. So wie die antisemitischen dummen Kerls aufgeklärt werden müssen, dass ihr Protest in die falsche Richtung gelenkt wird, so müssten die potentiellen Anhänger oder Opfer des Populismus aufgeklärt werden, dass die Verkünder der einfachen Wahrheiten die Bedrohungen überzeichnen und keine tragfähigen Alternativen anzubieten haben, dass ihre Ängste ausgenutzt und ihre wirklichen Interessen von den Populisten verraten werden. Natürlich ist Aufklärung immer richtig, man sollte die Wirksamkeit einer diskursiven Strategie aber nicht überschätzen: Populismus ist der bewusste Verzicht auf Diskurs, auf Differenzierungen und komplexe Situationsdeutungen. Der wohlmeinende Hinweis, die Verhältnisse seien nun einmal komplex und einfache Lösungen unangemessen, würde nur als bewusste Verneblung denunziert werden; diskursive Strategien selber werden vom rechten Populismus als Attribut einer intellektuellen Elite verurteilt, die eine im Grunde leicht verständlichen Wirklichkeit mit überflüssiger Komplexität versieht, um ihr Deutungsmonopol aufrechterhalten und eine klare Grenze zwischen Elite und Volk ziehen zu können (nach dem Motto: "Wer etwas zu sagen hat, braucht keine langen Sätze"). Diskursive Strategien gegen den Populismus versprechen kaum Erfolge, wenn diskursives Denken selbst Objekt der Aggression ist.

Ein dritter Ansatz könnte mit dem Etikett "Sozialpolitik" versehen werden: Um dem rechten Populismus den Boden zu entziehen, müssen sich die mainstream-Parteien und Regierungen stärker um die sozialen Belange der Modernisierungsverlierer kümmern. Dies ist natürlich richtig: Die Aufgabe jeder demokratischen Partei und Regierung sollte es sein, die Schwächeren zu schützen – aber als Strategie gegen den Rechtspopulismus wird eine verantwortliche und wirksame Sozialpolitik kaum eingesetzt werden können. Wie oben angedeutet spricht der Populismus nicht die Schwächeren, sondern die Arrivierten an, er präsentiert desintegrative anstatt sozial integrativer Rezepte. In der Sicht des rechten Populismus würde eine verantwortliche Sozialpolitik – eine Sozialpolitik also, die an den Bedürfnissen der Schwächsten ansetzt – nur die Zahl der Kostgänger des Staates vermehren, deren Ziel letztlich der Geldbeutel der Status- und Besitzstandswahrer ist.

Eine vierte denkbare Antwort auf die Frage, was gegen den Rechtspopulismus getan werden könne, lautet: Nichts. Vom rechten Populismus geht keine Gefahr aus, weil er entweder am Rande der politischen Bühne ein Schattendasein pflegen wird und allenfalls in der Koalition mit stärkeren moderaten politischen Kräften an die Regierung kommen kann – oder weil er an der Regierung einem Verschleiß ausgesetzt sein wird, der seine Attraktivität drastisch mindert. An der Regierung wären die Populisten denselben Kooperationszwängen und Interessenkoalitionen, derselben technokratischen Logik und Eigendynamik der Apparate ausgesetzt, die sie bei den etablierten Kräften angreifen. Auch ein Jörg Haider oder Silvio Berlusconi muss in einem engen Korridor politischer Optionen agieren und wird sich in einem Geflecht aus widerstreitenden Interessen und Institutionen, Gewichten und Gegengewichten verstricken, so dass der ursprünglich angekündigte Rabatz schnell auf eine kleinlaute Politik "kleiner Schritte" und in der Folge Popularitätsverluste hinauslaufen wird. Diese Prognose eines "Abschleifens" der Ecken und Kanten ist wahrscheinlich zutreffend – nicht zuletzt, weil der Populismus mit seinem Appell an das nackte Interesse systematisch Personen und Gruppen anzieht, die ihr Inte-

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resse auch innerhalb und zu Lasten der populistischen Partei oder Regierung selbst verfolgen werden: Spaltungen aufgrund persönlicher Streitereien und Eitelkeiten, Aktivitäten in legalen Grauzonen, schamlose Vorteilsnahme und Erpressungen, Protzerei und Inkompetenz sind gerade im Umfeld des Populismus kein Ausdruck üblicher menschlicher Schwäche, sondern Kern des Geschäfts. Gleichwohl sollte diese Prognose nicht dazu führen, dass die potentiellen Schäden vernachlässigt werden, die auch eine temporäre Beteiligung rechtspopulistischer Kräfte an europäischen Regierungen nach sich ziehen könnte. An erster Stelle stehen – wie oben bemerkt – die Folgen für die politische Kultur, die Brutalisierung der Sprache und des Verhaltens, die Senkung zivilisatorischer Hemmschwellen, die nicht nur für Minderheiten mit realen Gefahren verbunden sein können. Darüber hinaus könnte der rechte Populismus fragile internationale Kooperationsprozesse – die europäische Integration und Erweiterung, die Demokratisierung der internationalen Organisationen, die internationale Kooperation in den Bereichen Umwelt, Entwicklung, Konfliktprävention – nachhaltig schädigen – mit letztlich unabsehbaren Konsequenzen.

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9. Eine mögliche Antwort: Die Politisierung der Politik

Der rechte Populismus profitiert von der Entpolitisierung der etablierten Politik: Von der akzeptierten Begrenzung politischer Gestaltungsspielräume auf einen engen Korridor möglicher Optionen. Politik in der Ära der Globalisierung scheint einem Prozess fortschreitender Entsubstantialisierung zu unterliegen: Sie reduziert sich auf die Bewältigung von Sachzwängen und das Management von Krisen. Der Mangel an grundlegenden Optionen höhlt den politischen Wettbewerb aus und zwingt zur Dramatisierung minimaler Differenzen, zu deren Ersatz durch Symbole bzw. zur Dauerproduktion von Medien-events: Wenn über rechts und links nicht mehr gestritten werden kann, werden die Bekleidungspräferenzen der Kandidaten in der Tat zum einzig verbleibenden Gegenstand der Auseinandersetzung. In einer sachlich ausgedünnten Öffentlichkeit produziert der Populismus seine eigene Art von Medien-events, indem er gezielt zivilisatorische und demokratische Tabus bricht. Das heißt allerdings nicht, dass er die im politischen Alltag verdrängten, vertagten oder technokratisch klein gearbeiteten Fragen nun in die Öffentlichkeit brächte, sein Trick besteht vielmehr darin, dass er immer wieder gestellte und nie eindeutig beantwortete Fragen in einer neuen Form thematisiert – nämlich außerhalb des Spektrums der in einer Demokratie akzeptablen Aussagen. Mit einem scheinbar kühnem Tigersprung überwindet er die Barriere, die die zivilisierte (liberale, tolerante) demokratische Kultur von einem autoritären Koordinatensystem trennt. Das scheinbare Fehlen von Optionen innerhalb des demokratischen Spektrums wird durch das Verlassen des Spektrums aufgebrochen. Dabei setzt sich der antidemokratische oder antizivilisatorische Impuls in der Regel nicht (wie beim Rechtsradikalismus) in explizit gegen die Demokratie gerichtete Aussagen um, sondern eher in antidemokratische Subtexte: Wenn etwa die Begrenzung des Zuzugs von Migranten mit dem Anliegen der Integration der bereits Eingewanderten begründet wird, kann sich der wörtliche Text durchaus im Rahmen des "politisch Korrekten" bewegen. Die Adressaten verstehen ihn trotzdem so, wie er gemeint ist: Als Bekundung einer nur oberflächlich bemäntelten, grundsätzlich feindlichen Haltung gegenüber "Ausländern".

Die Entsubstantialisierung der Politik führt zur viel beklagten "Verdrossenheit", die sich nicht nur und wahrscheinlich auch nicht in erster Linie in einem Zulauf für die Rechtspopulisten äußert. Mindest so bedeutsam ist der Trend zur Wahlenthaltung bzw. die Schwächung der Wählerbindung nicht nur an bestimmte Parteien, sondern auch an be-

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stimmte demokratische Überzeugungen. Der Populismus wird vor allem deshalb zum Problem, weil die demokratischen Parteien die Mehrheiten (einschließlich ihrer eigenen Mitgliedschaften) politisch nicht mehr oder nur schwach integrieren. Daher verspricht eine gegen den Rechtspopulismus gerichtete Politik nur dann Erfolg, wenn sie sich in erster Linie an die demokratischen Mehrheiten wendet, die der Verdrossenheit anheim gefallen sind oder ihr anheim zu fallen drohen. Die Bekämpfung des rechten Populismus wäre mit anderen Worten nur das Nebenprodukt einer Strategie, die sich gar nicht an die Wähler der Populisten wendet (die weder diskursiv, noch durch politische Leistungen erreicht werden), sondern an das nach wie vor bestehende genuin demokratische Potential. In diesem Zusammenhang wären drei Kernpunkte zu berücksichtigen.

Erstens: Die zivilisatorische Basis der Demokratie ist – wie die europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts zeigt – fragil. Die nicht eindeutigen und dennoch erkennbaren Grenzen des Raums der in der Demokratie akzeptablen politischen Urteile müssen von der Politik beachtet und geschützt werden. Die Grenzen der politischen Urteilskraft ähneln denen des Geschmacks (siehe oben): Von ihnen geht eine schwer abweisbare Verführung aus, sie zu verletzen. Dabei geht es jedoch nicht um die Einhaltung starrer Sprachregelungen, deren Durchbrechen bereits diebische Freude auslöst, sondern um die Aufdeckung von Subtexten, die sich auch hinter formell korrekten Aussagen verbergen. Die vom Rechtspopulismus betriebene Brutalisierung der Sprache und des Verhaltens muss von den demokratischen Kräften auch dann tabuisiert bleiben, wenn sie populär zu sein scheint. Vom Rechtspopulismus geschürte Ressentiments müssen mit dem Makel des Anstößigen versehen sein und bleiben.

Zweitens: Im Wettbewerb der Parteien geht es immer weniger um politische Optionen als um die Präsentation der besten Kandidaten für die Lösung vorgegebener Aufgaben. Die Politik der demokratischen Parteien und der geballte Sachverstand, der in ihrem Dienst steht, verschleiert, dass in einer Vielzahl der beengenden Sachzwänge in Wirklichkeit Optionen verborgen sind, dass Sachzwänge das Ergebnis vergangener Entscheidungen sind und wieder zum Gegenstand von Entscheidungen werden können. Anders formuliert: Darüber, was Sachzwänge und was Optionen sind, entscheidet zu einem hohen Anteil der politische Prozess selbst. Das schließt natürlich nicht aus, dass es in jeder Situation in der Tat einen Set vorgegebener Daten gibt, die sich politisch nicht oder nur marginal beeinflussen lassen. Die Schweiz etwa hat nicht die Option, zur maritimen Großmacht zu werden. Doch in vielen Fällen gilt als Datum nur, was als solches akzeptiert wird. Die Schädigung der natürlichen Umwelt durch die Industriegesellschaft etwa war in den fünfziger Jahren ein Faktum, das der politischen Auseinandersetzung entzogen war; erst die ökologische Bewegung der siebziger Jahre verwandelte das Faktum in eine politische Option. Umgekehrt galt die begrenzte Umverteilung von Einkommen und Vermögen in den siebziger Jahren als politische Option; heute wird die Einkommens- und Vermögensverteilung als Faktum angesehen, das die Politik zu akzeptieren hat. Die Umwandlung von Optionen in Fakten und ihre Bearbeitung unter technischen Gesichtspunkten außerhalb des Raums politischer Auseinandersetzungen hat manchmal eine notwendige, die Politik entlastende Funktion (ein Beispiel ist die Überantwortung der Geldpolitik an eine der politischen Debatte entzogenen Zentralbank); insbesondere in der Ära der Globalisierung jedoch tendiert die Politik dazu, sich mit technischen Apparaturen und Institutionen zu umstellen, die einer Eigendynamik unterliegen, so dass sie ihre systemtheoretisch definierte Funktion der Steuerung der Gesamtgesellschaft (einschließlich der Korrektur der Eigendynamik gesellschaftlicher Subsysteme) nicht mehr wahrnehmen und gleichzeitig ihre demokratischen Ansprüche nicht mehr einlösen kann. Die Rückumwandlung vermeintlicher Sachzwänge in Optionen wäre eine Voraussetzung

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für die Revitalisierung des politischen Wettbewerbs, der demokratische Mehrheiten an demokratische Parteien/ Optionen bindet. Je deutlicher Optionen innerhalb des demokratischen Spektrums sichtbar sind, desto weniger Raum bleibt für die Scheinoptionen des rechten Populismus außerhalb des demokratischen Spektrums.

Drittens: Wenn es so ist, dass der Rechtspopulismus eher eine Meuterei der Besitzstandswahrer verkörpert als den Aufstand der Deklassierten oder von Deklassierung real Bedrohten, wenn der Rechtspopulismus ein Appell zur Senkung der Hemmschwellen bei der brutalen Verteidigung des Eigeninteresses ist, kann eine Gegenstrategie nur bei der Definition sozialer Interessen ansetzen, die dem national definierten Gesamtinteresse eines fiktiven Kollektivs der Status- und Besitzstandswahrer entgegenzustellen sind. Die zu profilierenden Optionen sind an soziale Interessen zu knüpfen, und in kapitalistischen Gesellschaften, in denen sich soziale Ungleichheit erweitert reproduziert, sind politische Optionen an der Konfliktlinie Gleichheit versus (überflüssige) Ungleichheit bzw. Freiheit versus (überflüssige) Herrschaft angesiedelt. Insbesondere die Sozialdemokratie würde diese fundamentale Konfliktlinie nur zu ihrem Schaden verwischen und in einem konstruierten Nationalinteresse oder einer wie immer definierten Mitte verschwinden lassen. Das heißt nicht, dass nun die große Alternative zum Kapitalismus wieder im Angebot wäre. Eher geht es um die Verknüpfung vieler kleiner Schritte, einzelner Reformen und Vorhaben zu einem Programm, das an das historische Programm der Sozialdemokratie – den Abbau überflüssiger Ungleichheit und Herrschaft – anknüpft. Aus dieser programmatischen Perspektive würden auch viele der scheinbar technischen Detailfragen, an denen sich die Politik kontinuierlich und unspektakulär abarbeitet, wieder als Optionen zur Wahl gestellt werden können.

Eine offen linke Politik, eine Politik also, die die Interessen der Arbeitnehmer – der großen Bevölkerungsmehrheit – nicht dem Interesse der Ethnie, des Volkes, der Nation oder des Standorts unterordnete, würde ebenso wenig den Rechtspopulismus aus der Welt schaffen wie den Ladendiebstahl, die Volksmusik und die körperlichen Krankheiten. Sie könnte aber demokratische Mehrheiten mobilisieren und gegen die Meuterei der Besitzstandswahrer immunisieren.

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Zum selben Thema:

Alfred Pfaller
Rechtspopulismus in Europa
Wovon nährt sich die Politik der Ressentiments?
Politikinfo, Juni 2001

Weitere Veröffentlichungen:

Reihe Frieden und Sicherheit

Uwe Halbach
Erdöl und Identität im Kaukasus
Regionalkonflikte zwischen ethnischer Mobilisierung und ökonomischem Interesse
(20 Seiten, Juni 2002)

Dana Eyre/Andreas Wittkoswsky
The Political Economy of Consolidating Kosovo:
Property Rights, Political Conflict and Stability
(20 Seiten, Mai 2002)

Dieter Dettke
Die amerikanische Strategie gegen den Terrorismus
Konzeptionelle Probleme und Konflikte nach dem Krieg in Afghanistan
10 Seiten, März 2002

Michael Ehrke
Zur politischen Ökonomie post-nationalstaatlicher Konflikte:
Ein Literaturbericht

(23 Seiten, März 2002)

Reihe Globalisierung und Gerechtigkeit

Michael Ehrke/Lothar Witte
Flasche leer!
Die new economy des europäischen Profifußballs
(20 Seiten, Mai 2002)

Michael Dauderstädt
Sachzwang Weltmarkt?
Knapp daneben. Besitzstand Wohlfahrtsstaat
(15 Seiten, Mai 2002)

[Seite der Druckausg.: 23]

Politikinfos

Alfred Pfaller
Demokratie erhalten in der globalisierten Welt:
Drei grundlegende Politikoptionen
April 2002

Michael Ehrke
Zur politischen Ökonomie des Palästinakonflikts
März 2002

Alfred Pfaller
Palästina: Konfliktstrukturen, Handlungsoptionen, Friedensbedingungen
März 2002

Politikinformationen Osteuropa

Nr. 103
Peter W. Schulze
Wirtschaftsaufschwung, Modernisierung und Elitenwandel in Russland
März 2002

Nr. 102
Attila Ágh
Ungarn zwischen zentralistischer Mehrheitsdemokratie und europäischer Mehrebenendemokratie
März 2002

Nr. 101
Heribert Kohl / Hans-Wolfgang Platzer
Arbeitsbeziehungen in den baltischen Staaten
Estland, Lettland, Litauen
Februar 2002

Nr.100
Michael Dauderstädt
Von der Ostpolitik zur Osterweiterung
Deutschlands Außenpolitik und die postkommunistischen Beitrittsländer
Februar 2002

Friedrich-Ebert-Stiftung, Internationale Politikanalyse, Godesberger Allee 149, D-53175 Bonn

Bestellungen an: Helga Stavrou, stavrouh@fes.de

[Seite der Druckausg.: 24]

Internationale Politik und Gesellschaft 3/2002
International Politics and Society 3/2002

Kommentar:
Gernot Erler
Grundsätze deutscher Außenpolitik nach dem 11. September 2001

Beiträge:

David Miliband
New Labour's New Agenda

Hansjörg Herr
Tastendes Suchen statt beherztes Springen
Chinas erfolgreicher Reformprozess

Peter Wolff
Vietnam: Wirtschaftlicher Erfolg nach chinesischen Rezept

Hans-Jürgen Burchardt
Kuba nach Castro
Die neue Ungleichheit und das sich formierende neopopulistische Bündnis

Alec Rasizade
Dictators, Islamists, Big Powers and Ordinary People
The New "Great Game" in Central Asia

Carlos Santiso
Promoting Democracy by Conditioning Aid?
Towards a More Effective EU Development Assistance


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