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Erdöl und Identität im Kaukasus : Regionalkonflikte zwischen ethnischer Mobilität und ökonischem Interesse / Uwe Halbach - [Electronic ed.] - Bonn, 2002 - 20 S. = 86 KB, Text . - (Frieden und Sicherheit)
Electronic ed.: Bonn : FES Library, 2002

© Friedrich-Ebert-Stiftung


INHALT







[Seite der Druckausg.: 1 = Titelblatt]

Uwe Halbach

Erdöl und Identität im Kaukasus

Regionalkonflikte zwischen ethnischer Mobilisierung und ökonomischem Interesse

Die Konflikte des Kaukasus sind ein Beispiel dafür, wie stark
Interessen und Identitäten, rationale und irrationale Motive,
ethno-psychische Tiefendimensionen und handfeste wirtschaftliche
Anreize ineinander greifen. Die Konflikte eskalierten, bevor der
Energieboom im kaspischen Raum zur Neueröffnung des
Great Game führten und den Kaukasus als potentiellem Transportkorridor
von Energierohstoffen geoökonomisch aufwerteten.
Die nicht von den Eliten, sondern von den Massen ausgehenden
Sezessionen wurden in erster Linie von den chosen traumas
und den chosen glories der Vergangenheit angetrieben.
Mit den gewaltsamen Konflikten und der Herausbildung eines
zerklüfteten politischen Konfliktlabyrinths entstanden freilich
auch Gewaltmärkte, auf denen eine Klasse von Gewalt-Unternehmern
ein Eigeninteresse am Fortbestand der Instabilität entwickelte.

Nach dem 11. September ist der Kaukasus ein weiteres Mal
zum Gegenstand internationaler Aufmerksamkeit geworden:
Seine no-go areas gelten als potentielle Brutstätten und Betätigungsfelder
des internationalen Terrorismus. Die begrenzten Sezessionskonflikte
erscheinen nun als Teil eines globales "Zusammenstoßes der Zivilisationen".


Frieden und Sicherheit






[Seite der Druckausg.: 2]




ISBN
Kontakt: Referat Internationale Politikanalyse
In der Abteilung Internationaler Dialog
Friedrich-Ebert-Stiftung
53170 Bonn
Fax: 0228-883 625
e-mail: ehrkem@fes.de
http://www.fes.de/indexipa.html
http://www.fes.de/ipg/ipg

[Seite der Druckausg.: 3]

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1. Konfliktlabyrinth Kaukasien

Ein Jahrzehnt nach dem Zerfall der Sowjetunion ist die kaukasische Region ein von Konflikten durchzogenes Labyrinth politischer Entitäten. Die Landschaft des Südkaukasus setzt sich zusammen aus drei unabhängig gewordenen Staaten (Georgien, Armenien und Aserbaidschan) und drei Sezessionsgebilden (Berg-Karabach, Abchasien und Südossetien), hinzu kommen einige zentrifugale Landesteile Georgiens. Der Nordkaukasus besteht aus sieben nationalen Teilrepubliken der Russischen Föderation, darunter trennungsanfällige binationale Konstruktionen wie Kabardino-Balkarien oder Karatschajewo-Tscherkessien, ein schillerndes polyethnisches Gebilde namens Dagestan sowie das von Russland abtrünnige Tschetschenien, das bis heute Kriegsschauplatz ist. Im sogenannten postsowjetischen Raum übertrifft die kaukasische Region hinsichtlich ihrer Fragmentierung auch Zentralasien, dessen politisch-territoriale Gliederung überschaubarer ist, obwohl sich auch hier Konflikte entfaltet haben, unter anderem ein mörderischer Bürgerkrieg in Tadschikistan. Kaukasien ist eine von Demarkationslinien und Blockaden durchsetzte Parzellenlandschaft, die das Schlagwort der „feudalen Zersplitterung„ provoziert und die beiden Hauptoptionen der internationalen, insbesondere der europäischen Politik für die Region außer Kraft setzt: Als Konfliktlabyrinth kann Kaukasien seine Funktion als Transitkorridor zwischen Europa und Asien insbesondere für den Transport kaspischer Energierohstoffe kaum erfüllen. Und die dringend geforderte regionale Zusammenarbeit ist blockiert. Dabei sind die drei südkaukasischen Staaten, deren Nationalprodukt zusammen genommen unter dem Bremens liegen, für eine tragfähige Wirtschaftsentwicklung zu schwach. Eine Studie der Weltbank aus dem Jahre 2000 schätzte, dass nach Aufhebung der konfliktbedingten regionalen Blockaden und Schranken das Nationalprodukt Armeniens um 30 Prozent, das Aserbaidschans um immerhin noch 5 Prozent wachsen werde. [Evgeny Polyakov: Changing Trade Patterns after Conflict Resolution in the South Caucasus. Washington DC: The World Bank, 2000]

[Seite der Druckausg.: 4]

Anerkannte Staaten und nicht anerkannte Sezessionsgebilde im Südkaukasus

Name

Unabhängig-
keits-

erklärung

Bevölkerung

Nationalitäten

Territ.(km2)

Streitkräfte

Armenien

23. 9. 1991

3.500.000

Armenier 96%

29.800

60.000

Aserbaidschan

18.10.1991

8.000.000

Aseris 90%,

86.600

72.000




Russen 3%



Berg-Karabach
(arm. Arzach)

2.9.1991

150.000

Armen.95%

4.400

15-20.000

Georgien

9.4.1991

5.000.000

Georgier 70%

69.700

27.000




Armenier 8%






Russen 6%





Aseris 6%






Osseten 3%



Abchasien

25.8.1990

200.000

Abchasen ?%

7.867

5000




Armenier,






Georgier



Südossetien
(Iryston)

20.9.1990

70.-80.000

Osseten,
Georgier
Russen

2.732

2000


Geopolitik und Great Game: Ursache der Kaukasuskonflikte?

Auch die internationalen Ausrichtungen in der Region zeigen einen antagonistischen Charakter. In der Außen- und Sicherheitspolitik Armeniens. Georgiens und Aserbaidschans konfligieren pro- und antirussische, pro- und antitürkische, pro- und antiiranische Einstellungen. Gegenläufige geostrategische „Achsen„ wurden ausgemacht: eine West-Ost-Achse (Washington-Ankara-Baku-Tiflis) und eine Nord-Süd-Achse (Moskau-Jerewan-Teheran). Die Konfliktparteien ordnen sich diesen Konfliktlinien zu: So lehnen sich die Sezessionsgebilde des Südkaukasus besonders eng an Russland, während sich die von der Sezession betroffenen "Metropolitanstaaten" Georgien und Aserbaidschan gegenüber der alten Hegemonialmacht wohl ablehnender verhalten als alle anderen GUS-Staaten und sich außen- und sicherheitspolitisch am stärksten nach Westen orientierten. In ihrer Wahrnehmung hat vor allem Russland ein Interesse an ihrer territorialen Desintegration und an der Instabilität in der Region.

Die kaukasische Region ist der westliche Abschnitt des größeren kaspischen Raums, der im letzten Jahrzehnt dank umfangreicher Energielagerstätten und Pipelineprojekte Prominenz erlangte. Folgerichtig wurden die politisch-ökonomischen Rahmenbedingungen der Regionalkonflikte im geopolitischen Kontext des sogenannten neuen Great Game gesucht, der Konkurrenz zwischen Russland, den USA und den Regionalmächten Türkei und Iran um wirtschaftlichen und strategischen Einfluss in diesem Raum. [Vgl. z.B.Vicken Cheterian: Dialectics of Ethnic Conflicts and Oil Projects in the Caucasus. PSIS Occasional Paper No.1/1997.] Der Ausbruch und die Eskalation der meisten lokalen Konflikte steht allerdings in keinem erkennbaren Zusammenhang mit diesem geopolitischen bzw. geoökonomischen Kontext. Der älteste südkaukasische Regionalkonflikt um Berg-Karabach entfaltete sich 1987, zu einem Zeitpunkt, als sich der internationale Energie-Boom im kaspischen Raum und die Schlüsselrolle Aserbaidschans noch gar nicht abzeichneten. Auch Georgien war zu der Zeit, in der sich die bis heute entscheidenden Konfliktstrukturen ausbildeten, noch nicht als Transitraum für künftige kaspische Rohstoffexporte im Gespräch. Der entscheidende politische Kontext war ein anderer: Der Zerfall der sowjetischen Zentralgewalt schuf Anreize und Gelegenheiten für eine ethno-politische Mobilisierung. Ökonomische Motive spielten in der Mobilisierungsphase auf georgischer, aserbaidschanischer, armenischer, abchasischer oder ossetischer Seite keine entscheidende Rolle, kult-

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relle, ethno-politische und territoriale Belange fielen stärker ins Gewicht. ["In none of these cases did economic concerns play an important role in political mobilization, however. Both Georgians and Abkhaz mobilized around almost entirely noneconomic issues in 1988; those economic issues that did come up were primarily proxies for issues of ethnic balance or political power". Stuart J.Kaufman: Modern Hatreds. The Symbolic Politics of Ethnic War. Cornell University Press, Ithaca/London 2001, S.100.]
Zu den an ihren Metropolitanstaat Aserbeidschan gerichteten Beschwerden der Karabach-Armenier Aserbaidschan gehörte zwar der Vorwurf der „absichtlichen Unterentwicklung„ und ökonomischen Vernachlässigung, schwerer wog aber die Anklage der kulturellen „Ent-Armenisierung„. Erst im Tschetschenienkonflikt fiel die gewaltsamen Eskalation in eine Periode, in der die internationale Aufmerksamkeit für das ökonomische Potential des kaspischen Raums bereits geweckt war, was auch prompt politökonomische Deutungen des Konflikts (Krieg um das Öl) provozierte. Freilich sind ökonomische Anreize der Konfliktanalyse insofern zu berücksichtigen, als sich sowohl in den der frozen conflicts des Südkaukasus als auch im ungelösten Sezessionskonflikt Russlands im Nordkaukasus lokale Gewaltmärkte herausbildeten, von denen Konflikt-Unternehmer auch wirtschaftlich profitieren konnten.


Eingefrorene Konflikte?

Mit Ausnahme des Tschetschenienkriegs sind die Hauptkonflikte der Region „eingefroren„. Im positiven Sinne bedeutet dies die Umwandlung kriegerischer Auseinandersetzungen in einen Zustand, in dem „weder Krieg noch Frieden„ herrscht: die Phase militärischer Auseinandersetzungen wurde zwischen 1992 und 1994 durch Waffenstillstandsabkommen beendet; die folgende Entwicklung wurde nicht ganz zutreffend mit post violence bezeichnet. Dass der Waffenstillstand trotz des Einsatzes von Friedenstruppen und internationalen Beobachtermissionen labil blieb, wurde an der georgisch-abchasischen Front deutlich, wo im Frühjahr 1998 neue Kämpfe ausbrachen, die neue Flüchtlingsströme auslösten. Seit Herbst 2001 spitzt sich die Situation im Kodori-Tal zu, im einzigen von Georgien kontrollierten Teil Abchasiens, in dem georgische paramilitärische Einheiten und tschetschenische Kämpfer aufmarschiert sind; die abchasischen Streitkräfte wurden mobilisiert, und russische Kampflugzeuge sind im Luftraum Georgiens aufgetaucht. Die militärische Demarkationslinie zwischen Berg-Karabach und Aserbaidschan erinnert an das Schützengrabensystem des Ersten Weltkriegs und hält die Wahrnehmung eines feindlichen Verhältnisses zwischen beiden Staaten aufrecht.

Im negativen Sinne bedeutet frozen conflicts Stagnation: An keiner Stelle wurde bislang ein politischer Durchbruch erzielt. Gleichwohl hat sich die Situation in den Sezessions-„Staaten„ nach dem Waffenstillstand durchaus verändert, haben sich diese doch in der Abtrünnigkeit von ihrem einstigen Metropolitanstaat eingerichtet. Die Rahmenbedingungen der Konfliktbearbeitung sind heute andere als zum Zeitpunkt des Waffenstillstands oder des Ausbruchs der Konflikte.


Kaukausische no go areas

Nach dem 11. September 2001 ist die Aufmerksamkeit für den Zusammenhang zwischen schwacher Staatlichkeit und nichtstaatlicher Gewalt gewachsen. „Eingefrorene Konflikten„ werden von der internationalen Politik immer weniger toleriert. „Eine der Lehren des 11.September lautet, dass die Weltgemeinschaft die Existenz sogenannter ‚no go areas', also geografischer Bereiche, in denen theoretisch geltendes Recht praktisch nicht zur Gültigkeit kommt, nicht mehr einfach hinnehmen kann„. [Gernot Erler: Regionale Konflikte in der Perspektive der "Nach-September-Welt": Neue Optionen für den Südkaukasus? Osteuropa, 2/2002, S.146-158, Zit. S. 151.] Der Kaukasus ist mit seiner Kombination aus schwacher Staatlichkeit und ethno-territorialen Konfliktzonen ein Paradebeispiel für Bedingungen, unter denen lokale Gewaltmärkte entstehen und Kriegsherren, Terroristen, organisierte Kriminalität und andere Träger nicht-staatlichter

[Seite der Druckausg.: 6]

Gewalt agieren können. Unter der territorialen Desintegration und der Entstehung von no go areas hat vor allem Georgien gelitten: Drei von vier „postsowjetischen Sezessionsstaaten„ [Zur komparatistischen Forschung über diese vier "postsowjetischen" oder "eurasischen" Sezessionsstaaten siehe: Dov Lynch: Managing Separatist States: A Eurasian Case Study. PSIS Occasional Papers, Nr.32, 2001; Charles King: The Benefits of Ethnic War. Understanding Eurasia's Unrecognized States, in: World Politics, vol.53, no.4, July 2001, S.525-553.] liegen im Südkaukasus (der vierte ist das von Moldawien abtrünnige Transnistrien). Davon gehören zwei – Abchasien und Südossetien – völkerrechtlich zu Georgien. Hinzu kommen Landesteile, die sich zwar unterhalb der Sezessionsschwelle befinden, sich aber der Kontrolle durch die Regierung in Tiflis mehr oder weniger wirksam entziehen. Aus dem Territorialmosaik der Republik Georgien ragen in dieser Hinsicht hervor:

  • das autonome Gebiet Adscharien unter seinem ambitionierten Führer Abaschidse,

  • der von einer russischen Militärbasis wirtschaftlich dominierte, für den georgischen Staat schwer zugängliche, zu 60 Prozent von Armeniern besiedelte Landesteil Samts'che-Djavacheti,
  • das in letzter Zeit berühmt gewordene Pankisi-Tal mit seiner tschetschenischstämmigen Volksgruppe der Kisten und angeblich 7000 Flüchtlingen aus Tschetschenien (inzwischen wohl nur noch etwa 3.500),
  • isolierte Hochgebirgsregionen wie Swaneti oder das als Hochburg der Gamsachurdia-Anhänger bekannt gewordene Mingrelien im Westen Georgiens.

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2. Konfliktstrukturen, Konfliktobjekte, Konfliktakteure


Innerstaatliche Konflikte

Die kaukasischen Konflikte sind wie die meisten heutigen Kriegs- und Krisenherde innerstaatlich, weisen allerdings auch zwischenstaatliche Implikationen auf (Armenien-Aserbaidschan im Fall des Karabach-Konflikts, Georgien-Russland im Fall der Abchasien-und Südossetienkonflikte). Sie sind ethno-politisch in dem Sinne, dass politisierte ethnische Kriterien bei der Identifikation der Konfliktparteien die Schlüsselrolle spielen. [Nobert Ropers: Die friedliche Bearbeitung ethno-politischer Konflikte, in: Friedliche Bearbeitung in der Staaten- und Gesellschaftswelt (hrsg. von Norbert Ropers und Tobias Debiel), Stiftung Entwicklung und Frieden 1995, S.197-232, hier S.197.] Sie werden in erster Linie um Territorien und Souveränitätsansprüche ausgetragen, es handelt sich also auch um ethno-territoriale Konflikte. Dass sich derartige Konflikte im ehemals sowjetischen Raum am stärksten im Kaukasus verdichten würden, war bereits gegen Ende der sowjetischen Periode ersichtlich. Von 164 innersowjetischen territorialen Streitfällen, die zum Zeitpunkt der Auflösung der Sowjetunion 1991 vom Moskauer Institut für Geographie registriert wurden, betrafen mehr als ein Viertel den Kaukasus, der nur sieben Prozent des sowjetischen Territoriums ausmachte. [Vladimir Kolossov: Ethno-Territorial Conflicts and Boundaries iun the Former Soviet Union, in: International Boundaries Research Unit, Territory Briefing 2, Durham University 1992, S.3-4, Tab.1.]

Einschließlich des noch akuten Krieges zwischen Tschetschenien und Russland tragen kaukasische Konflikte die typischen Merkmale innerstaatlicher Konflikte, in denen sich so schwer von außen ermitteln lässt. Ein weiteres Merkmal sind die strukturellen Asymmetrien zwischen den Konfliktparteien, sowohl quantitativ – es handelt sich um die Konfrontation zwischen Mehrheiten und Minderheiten – als auch qualitativ – die als Staaten verfassten Konfliktparteien verfügen über organisatorische Vorteile und völkerrechtliche Legitimität. In den postsowjetischen Sezessionskonflikten bedarf dieses Argument jedoch einiger Einschränkungen: Die Sezessionsparteien im Südkaukasus erhielten substantielle politische, wirtschaftliche und militärische Hilfe von außen (von Russland im Falle aller drei regionalen Sezessionskonflikte, von Armenien im Falle des Karabach-Konflikts).

[Seite der Druckausg.: 7

Die Metropolitanstaaten befanden in der Zeit der Kriege politisch und militärisch in einem chaotischen Zustand, was ihre organisatorischen Vorteile stark einschränkte. Die Legitimitätsasymmetrie wird dadurch relativiert, dass sich Abchasien, Südossetien und Berg-Karabach ebenso wie die tschetschenischen Separatisten im Nordkaukasus durchaus auf Rechtsgrundlagen für staatliche Unabhängigkeit berufen können. Sie knüpfen dabei an den autonomen Status an, der ihnen vom sowjetischen Ethno-Föderalismus eingeräumt worden war. Ihre Territorialautonomie habe „Souveränität„ impliziert, womit ihnen nach dem Zerfall der Sowjetunion eine selbstbestimmte Entscheidung über ihr weiteres staatliches Schicksal zugestanden habe. Tatsächlich haben sich zentrifugale Tendenzen in Landesteilen nachsowjetischer Staaten zumeist nur dort bis zur Sezession entfaltet, wo dieser institutionelle Rahmen der sowjetischen „nationalen Gebietskörperschaft„ gegeben war.

Der strukturellen Asymmetrie steht oft eine umgekehrt asymmetrische Bindung der Parteien an den Konflikt gegenüber. Die strukturell benachteiligte Partei weist oft die größere Entschlossenheit auf. „Wegen des großen Machtgefälles tendiert die Oppositionsbewegung (oder Sezessionspartei) zu einer beinahe totalen und exklusiven ‚Selbstbindung' an den Konflikt. Dieser wird zum wichtigsten Anliegen, zur ‚raison d'etre' [...] Durch das Bündeln ihrer Ressourcen auf den Konflikt sind Oppositionsbewegungen häufig in der Lage, ihre mangelnde Stärke auszubalancieren, große Standfestigkeit zu demonstrieren. Häufig produzieren solche Konstellationen langandauernde Konflikt- und Pattsituationen„. [Rexane Dedashti: Internationale Organisationen als Vermittler in innerstaatlichen Konflikten. Die OSZE und der Berg Karabach-Konflikt. Studien der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung Band 34, Frankfurt/New York 2000, S.152.] Gerade im Kaukasus überraschten die von der strukturellen Asymmetrie benachteiligten Konfliktseiten wie die der Tschetschenen durch ihre Widerstandsfähigkeit, die nicht zuletzt auf diese stärkere Selbstbindung an den Konflikt zurückgeführt werden kann.


Materielle/immaterielle Triebkräfte - Identitäts- oder Interessenkonflikte?

Aus politisch-ökonomischer Sicht wird kritisiert, dass eine primär von ethnischer Identität ausgehende Analyse gewaltsamer Konflikte „im Allgemeinen und Oberflächlichen verharrt„ [Dedashti, S.162.] , dass werte- und identitätsbezogene Konfliktdeutungen ökonomische Anreize übersehen, die die Gewalt in Gang halten, dass sich in innerstaatlichen Konflikten – dem Kampf ethnokratischer Eliten um Ressourcen – oftmals weniger anarchische als politökonomisch zielgerichtete Gewalt entfaltet. Dieser ökonomisch-funktionalistische Ansatz zur Erklärung ethno-politischer Konflikte verlagert die Aufmerksamkeit vom onus of identity auf politökonomische Triebkräfte, auf transnationale kriminelle Netzwerke und Parallelwirtschaften, auf Interessenparteien, die eine Konfliktregelung verhindern und politische Instabilität als Voraussetzung außerlegaler Wirtschaftsaktivitäten aufrechterhalten wollen. Solche Akteure teilen Charakteristiken, die traditionell der Mafia zugeschrieben werden. Oligarchisch in ihrer Struktur, herrschen sie über ein Netzwerk aus Gewalt, Patronage und Protektion. Dabei repräsentieren sie nur einen winzigen Teil der jeweiligen Bevölkerung. [" Elites tend to frustrate efforts at resolution since real peace would neutralise the political economy which conflict generates and sustains. By rejecting proposed solutions, they can portray themselves as 'defenders' or 'protectors' of the nation". Hugh Griffiths: A Political Economy of Ethnic Conflict. Ethno-nationalism and Organised Crime, in: Civil Wars, vol.2, no.2 (summer 1999), S.6-73.]

Eine einseitig auf materielle Interessen zielende Konfliktdeutung ist jedoch ebenfalls problematisch. Im theoretischen Diskurs über ethno-politische Konflikte wurden in den widerstreitenden Lagern oft dogmatische und für sich allein genommen zu kurz greifende Erklärungsschablonen produziert. Auf der einen Seite wurde die Konfliktdynamik auf feststehende ethnische oder religiöse Identitäten und ancient hatreds zurückgeführt, auf der anderen Seite wurde der Begriff des „ethnischen Konflikts„ schlichtweg in Frage gestellt, Volksgruppenkonflikte wurden auf die Interessen

[Seite der Druckausg.: 7]

und Aktivitäten eigensüchtiger „ethnischer Unternehmer„ reduziert, Ethnizität wurde zum falschen Zauber erklärt, mit dem manipulierende Eliten Gefolgschaften mobilisieren. Demgegenüber wäre die „Doppelgesichtigkeit ethnischer Spannungen zwischen historisch-psychosozialen Tiefen einerseits und praktisch-politischen Regelungen andererseits„ zu betonen. [Ropers, S.228.] Die „historisch-psychosozialen Tiefen„ sind im Falle der Kaukasuskonflikte durchaus bedeutsam. Die Konfliktparteien kultivieren ihre chosen traumas und chosen glories, halten einander antagonistische Geschichtsmythen über Abstammung und „nationale Heimstätten„ vor, verweisen auf die Brutalität, ja Bestialität des Gegners, die in einem so scharfen Kontrast zum eigenen Volkscharakter stehe.

Eine kategorische Trennung zwischen Interessen- und Identitätskonflikten ist aufgrund des Ineinandergreifens beider Aspekte unmöglich. Stuart Kaufman bringt in seinem Buch Modern Hatred, das sich besonders den Konflikten im Südkaukasus widmet, dieses Ineinandergreifen auf den Punkt. [" Without perceived conflicts of interest, people have no reason to mobilize. Without emotional commitment based on hostile feelings they lack sufficient impetus. And without leadership, they typically lack the organization to act": Stuart Kaufman, Modern Hatreds, S.12.] Gegen die Überbetonung des „naturgegebenen Völkerhasses„, die im ethnisch extrem differenzierten Kaukasus scheinbar besonders gut bestätigt findet, wendet er ein, dass praktisch alle regionalen und lokalen Konflikte Produkte des zwanzigsten Jahrhunderts sind, wobei der Bürgerkrieg 1918-21 und die ethno-territorialen Manipulationen der sowjetischen Nationalitätenpolitik von entscheidender Bedeutung waren. Der ganz auf die manipulative leaders setzenden Gegenseite begegnet er mit der Frage: „Wie konnten Führer solche leidenschaftliche Feindseligkeit gegen andere Gruppen entfachen?„ Er beobachtet, dass die ethno-territorialen Konflikte im Südkaukasus in ihrer Mobilisierungsphase eher massengeleitet (mass-led) als von politischen Führern organisiert (elite-led) waren. Auf keinen Fall lässt sich hier das „Milosevic-Muster„ wiedererkennen, dem zufolge ein delegitimierter kommunistischer Führer seine Macht durch die Entfachung ethno-politischer Konflikte und Feindbilder zu wahren suchte. Neue nationalistische, an den Konflikt gebundene Eliten stiegen im Kaukasus zumeist erst auf der bereits ausgelösten Woge ethnischer Mobilisierung auf.

Die besondere Bedeutung, die im Kaukasus nach dem Zerfall der Sowjetunion der nationalen Mythenbildung, ethnischen Vernichtungsängsten und dem Sicherheitsdilemma zukam, relativiert eine rein ökonomische Interpretation der Konflike. Unter den Triebkräften der Konfliktparteien heben Regionalexperten dagegen das „Sicherheitsdilemma„ auf der Grundlage wechselseitiger „ethnischer Vernichtungsängste„ hervor, das nach dem Zusammenbruch der sowjetischen Ordnung und der ethno-politischen Mobilisierung hervortrat und durch die Erfahrungen in der gewalttätigen Phase der Konfliktaustragung bestärkt wurde. „Der Sicherheitsimperativ wird von den separatistischen Regimen als weitaus bedeutender angesehen als die Wirtschaft„. [Dov Lynch, Managing Separatist States, S.12.] Er gehört zu den besonders hartnäckigen Hindernissen einer politischen Konfliktregelung, involviert er doch elementare Probleme wie die Rückführung von Flüchtlingen und Vertriebenen an ihre ursprünglichen Wohnorte. So steht für Abchasien die „demographische Frage„ im Zentrum der Konfliktperzeption. Eine Rückkehr der georgischen Bevölkerungsmehrheit ist für das Sezessionsregime in Suchum und die Restbevölkerung der Sezessionsrepublik unannehmbar. Für Stepanakert kommt die Rückkehr der einstigen aserbaidschanischen Bevölkerungsmehrheit der auf dem Gebiet Berg-Karabachs liegenden Stadt Schuscha nicht infrage, weil von dieser Stadt im Karabach-Krieg 1992 eine besondere Bedrohung für das Sezessionsregime ausgegangen war. Zur „elementaren Überlebensfrage für das tschetschenische Volk„ erhebt Aslan Maschadow die Unabhängigkeit Tschetscheniens von Russland – ein Motiv, das durch die Menschenrechtsverletzungen der föderalen Gewaltorgane zur „Reintegration„ des abtrünnigen Landesteils in die Russische Föderation freilich auch bestätigt wird.

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Die Konfliktparteien haben kein Vertrauen, dass die Herrschaft des Rechts ihre Sicherheit gewährleisten werde – wie die internationale Mediation ihnen nahe zu legen versucht. Sie pflegen eine militärische Sicherheitsperzeption und wollen harte Sicherheitsgarantien.


Ökonomische Anreize und Konsequenzen

Gleichwohl muss sich eine Analyse der innernen Triebkräfte der Konflikte auch mit wirtschaftlichen Anreizen befassen. Auf beiden Konfliktseiten, in den Sezessions- und Metropolitanstaaten, gibt es für bestimmte Akteure politökonomische Anreize für die Bewahrung des konflikthaften Status quo, der die Gesellschaften verkrüppelt, ihre politische und ökonomische Entwicklung blockiert und deshalb nicht im Interesse der Bevölkerungsmehrheit liegen kann.

Die „Sezessionskriege„ Anfang der neunziger Jahre haben die Wirtschaft Abchasiens oder Südossetiens zerstört, ganz zu schweigen von Tschetschenien, das heute (noch vor Tadschikistan) der physisch und psychisch am stärksten zerstörte Teil des gesamten postsowjetischen Raums ist. Seit Beendigung der kriegerischen Phase wurden in den südkaukasischen Sezessionsgebieten kaum Fortschritte beim Wiederaufbau und der Reform der Wirtschaft erzielt. Die weiterbestehende Kriegsdrohung in Kombination mit der herrschenden Misswirtschaft haben zu Hyperinflation, zur Demonetarisierung der Volkswirtschaften, zum Kollaps sozialer Dienstleistungen und zur Kriminalisierung der Wirtschaft geführt. Hinzu kommt die Wirkung der internationalen Isolation und der die gegen die Sezessionsstaaten verhängten Wirtschaftssanktionen. Abchasien unterliegt seit Januar 1996 Sanktionen der GUS. Aserbaidschan und die Türkei haben zu Beginn des Karabach-Krieges Wirtschaftsblockaden gegen Berg-Karabach und Armenien verhängt (was beide allerdings um so enger zusammenschweißte). Berg-Karabach ist heute in jeder Hinsicht – außer der völkerrechtlichen –stärker mit Armenien als mit Aserbaidschan verbunden. [Zwischen der Republik Armenien und der Republik Berg-Karabach wurde die beste Straße des Südkaukasus gebaut. Die armenische, nicht die aserbaidschanische Währung gilt in der Sezessionsrepublik. Ein großer Teil ihrer Bevölkerung sind Staatsbürger Armeniens. Einige Karabach-Führer sind zu höchsten Ämtern in Armenien gelangt – wie der amtierende Präsident Kotscharian.] Viele Bewohner Abchasiens und Südossetiens sind russische Staatsbürger geworden. Abchasien ist heute eher Bestandteil des russischen als des georgischen Wirtschaftsraums. Die Metropolitanstaaten haben mit der Blockade-Option gegenüber ihren separatistischen Landesteilen deren faktische Abtrünnigkeit bestärkt. Verflechtungen über die Konfliktfronten und Demarkationslinien hinweg bestehen – wie zu zeigen sein wird – hauptsächlich im Schmuggel und anderen Formen außerlegaler Wirtschaftstätigkeit.

Am stabilsten, sowohl politisch als auch ökonomisch, erscheint noch die Lage in Berg-Karabach, das unter den Sezessionsgebilden den höchsten Grad an Staatlichkeit aufweist und in Hinsicht auf die Kontrolle über sein Territorium auch im Vergleich mit de jure-Staaten wie Georgien eher gut dasteht. Wirtschaftlich wird es vom – ökonomisch selber extrem geschwächten – Armenien und der armenischen Diaspora unterstützt. Weit schlimmer ist die Lage in Abchasien. Der militärische Konflikt zwischen Tiflis und Suchum (1992-94) wurde ausschließlich auf dem Territorium Abchasiens ausgetragen und führte zur Zerstörung von Wirtschaft und Infrastruktur und zur Entvölkerung eines Gebiets, das das Tourismuszentrum der Sowjetunion gewesen war. Schätzungen gehen davon aus, dass die Bevölkerung von 525.000 auf unter 200.000 geschrumpft ist. Diese Schrumpfung hat zwar das relative ethno-politische Gewicht der abchasischen „Titularnation„, die vor dem Krieg nur 17,1% der Gebietsbevölkerung ausgemacht hatte, schlagartig erhöht (zwischen 230.000 und 250.000 Georgier wurden aus Abchasien vertrieben). Aber sie hat das Gebiet in eine gleichzeitig demographische und ökonomische Katastrophe gestürzt.

[Seite der Druckausg.: 10]

Auch Südossetien erlitt in den Kämpfen von 1992-93 eine so weitgehende Zerstörung, dass jede reguläre Wirtschaftstätigkeit zum Erliegen kam und durch außerlegale Wirtschaftsformen ersetzt wurde. 1993 wurde ein russisch-georgisches Wiederaufbauprogramm für das Gebiet verabschiedet. Beide Seiten sollten 34 Mrd. Rubel (damals 28,6 Mio. Dollar) in das Programm investieren. Tiflis brachte nicht einmal ein Prozent der Summe auf, Russland kaum mehr als zwei Prozent.

Abchasien unterscheidet sich von Berg-Karabach vor allem durch seine weitaus schwächeren staatlichen Strukturen. Das Sezessionsregime unter dem schwerkranken „Präsidenten„ Ardzinba hat kaum Kontrolle über die südlichen Teile des Gebiets (den Gali-Distrikt und das Kodori-Tal), die zum Tummelfeld diverser Gewaltakteure – Schmugglerbanden, georgische Partisanen, tschetschenische Kriegsherren u.a. – geworden sind. Die Regierung kann soziale Dienstleistungen für die Bevölkerung schon längst nicht mehr erbringen, ausländische Hilfsorganisationen sind in diese Lücke eingesprungen und haben die internationale Isolation der Sezessionsrepublik etwas aufgeweicht.

Die Herrschaftsstrukturen in den Sezessionsgebilden ähneln hinsichtlich der Korruption, des Klientelismus und der Vernetzung zwischen politischer und ökonomischer Macht denen der ehemaligen Metropolitanstaaten. Allerdings sind die politischen Klan- und Klientelbildungen in den Sezessionsrepubliken noch weniger erforscht als die analogen Strukturen in den Metropolitanstaaten. Nur zwei Beispiele:

  • In Abchasien wird eine Konkurrenz zwischen dem „Otschamtschira-Klan„ mit dem Parlamentssprecher Sokrat Dschindscholija an der Spitze und dem „Gudauta-Klan„, den Präsident Ardzinba repräsentiert, beobachtet. Diese Konkurrenz beeinflusst auch die Haltung beider Seiten zu einer möglichen Konfliktlösung. [Dschindscholija lehnt eine Rückkehr der georgischen Flüchtlinge in die Gali-Region und eine Statusregelung mit Georgien im Sinne von "Staaten mit gemeinsamen Grenzen" noch kategorischer ab als Ardzinba. Siehe Mengumi Nisimura: Nacional'noe samoopredelenie v stranach Zakavkaz'ja: Rol' mezdunarodnogo soobscestva v resenii problemy, in: Centr. Azija i Kavkaz, Nr.5 (17) 2001, S-68-79, hier S. 78]
    Seit 2001 gewann in Abchasien die politische Opposition an Zulauf: Die verheerende Wirtschaftslage und die Isolation der politischen Führung unter Ardzinba und seinem weniger populären Statthalter, Regierungschef Djergenia, hat eine politische Oppositionsbewegung namens „Aitara„ (Wiedergeburt) hervorgebracht. Sie vertritt die gleichen Unabhängigkeitsforderungen wie die Führung, kritisiert aber deren Inflexibilität. Die Regierung diffamiert die Opposition als Gruppe von Intellektuellen, die Abchasien an Georgien verkaufen wollen, und nimmt in der Frage der Konfliktregelung mit Tiflis eine harte Position ein, um dem erwarteten Vorwurf der „Kapitulation„ die Grundlage zu entziehen. [Thomas de Waal, in: CRS (Caucasus Report Series) No.117, 21.2.2001 http://www.iwpr.net/archive/cau/cau_200202_117_1_eng.txt]
    Eines der wenigen größeren Unternehmen des Landes, die staatliche Holzfabrik AbchazLes, ist mit der Familie des Präsidenten Ardsinba verflochten. Der Holzhandel – insbesondere mit türkischen Partnern und unter Umgehung der GUS-Blockade – ist eine der Haupteinnahmequellen Abchasiens.
  • In Berg-Karabach wurde das Militär, das am höchsten qualifizierte des gesamten Südkaukasus, in der Amtszeit des Verteidigungsministers Babajan zum prominentesten politökonomischen Akteur. Babajan selber hielt ein Monopol im Zigaretten- und Benzinhandel. Er wurde im März 2000 unter dem Verdacht verhaftet, einen Anschlag gegen den Präsidenten geplant zu haben. Danach war die Regierung in Stepanakert bemüht, die politisch-ökonomische Rolle des Militärs in der öffentlichen Wahrnehmung herabzustufen.

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Die Kriminalisierung der Wirtschaft

Die Zerrüttung der Infrastruktur, Wirtschaft und Gesellschaft hat in weiten Teilen des Kaukasus zur Herausbildung von Subsistenzökonomien mit starken kriminellen Einschlägen geführt. Wie in anderen Regionalkonflikten und zerrütteten Staaten spielt dabei der Drogenhandel eine exponierte Rolle. Der ehemalige Innenminister Georgiens äußerte sich dazu im Januar 2002: „Die gegenwärtige politische und wirtschaftliche Situation in Georgien bietet die perfekte Voraussetzung für uneingeschränkte Drogengeschäfte. Wir haben eine ideale Situation für den Drogenhandel geschaffen - durch Territorien, die außerhalb staatlicher Kontrolle stehen, und eine strategische geographische Lage, die unmittelbaren Zugang zu Seehäfen und somit die kürzeste Route nach Westen bietet„. [Interview mit Saakashvili in Eurasianet. Questions and Answers, 7.1.2002 http://www.eurasianet.org/departments/quanda/articles/eav010702.shtml.] Laut Mitteilung des georgischen Gesundheitsministeriums sind bis zu 200.000 Menschen in dem Land Konsumenten harter Drogen. Die Polizei ist tief in den Drogenhandel involviert. [Eka Anjaparidze: Police Collude in Georgian Drug Trade, Caucasus Report Series, 23.5.2002, http://www.iwpr.net/index.pl?archive/cau/cau_200205_130_2_eng.txt]

In fast allen Konfliktzonen stellen ökonomische Anreize Interessengemeinschaften und Komplizenschaften her, die die Demarkationslinien und Konfliktfronten überschreiten. Ein anschauliches Beispiel solcher Verflechtungen ist der südkaukasische Sezessionskonflikt, dem bisher die geringste Intensität nachgesagt wurde: der Südossetien-Konflikt. Die Sezessionsrepublik Südossetien (für Georgier der Landesteil Schida Kartli) mit der „Hauptstadt„ Zchinwali ist zu einem kaukasischen Schmuggelzentrum geworden, durch das illegale Warenströme (Benzin, Alkohol, Zigaretten, harte Drogen u.a.) zwischen Russland und Georgien kanalisiert werden. Der illegale Handel verschafft seinen Organisatoren und deren Komplizen in den Behörden auf russischer, ossetischer und georgischer Seite erhebliche Profite. Der Transitverkehr von Süd- nach Nordossetien, von Zchinwali nach Wladikawkas, von Georgien nach Russland und umgekehrt läuft über einen der wenigen Kaukasus-Übergänge, die mit LKWs befahren werden können. „Da Tbilissi den ossetischen Grenzposten nach Russland nicht selbst kontrollieren kann und an der Verwaltungsgrenze zu Südossetien aus verständlichen Gründen keine Zollstationen aufbauen will, kommt ein Großteil des gesamten Benzinbedarfs Georgiens auf diesem schwarzen Kanal ins Land. Und davon profitieren letztlich alle - mit Ausnahme des georgischen Fiskus.„ [Der lange Abschied des Eduard Schewardnadse. Georgien und die Sezessionen, in: Georgien-News.de. Das Internet Magazin aus Georgien, Ausgabe 5/02, 8. April, Seite 3 von 6.] Dabei wird das extrem niedrige Steuer- und Zollaufkommen Georgiens von internationalen Organisationen als eine Hauptursache der schwachen Staatlichkeit des Landes moniert.

Die Schmuggler selber sagen aus, mit der georgischen Polizei in gutem Einvernehmen zu stehen. Eine Studie der Grünen Partei Georgiens schätzt den Verlust an Zolleinnahmen auf 1,7 Mrd. US-Dollar. Ein beträchtlicher Teil davon soll dem Schmuggel über die südossetische Route geschuldet sein. [Irakli Chikhladze: South Ossetia - Single Market Economy, in: CRS (Caucasus Report Series) No.108, 5.12.2001 ] „Wer einmal den nahezu unübersehbaren, riesigen und gut organisierten Schwarzmarkt im Dörfchen Ergneti vor den Toren der südossetischen Hauptstadt Zchinwali erlebt hat, dem wird schnell klar, dass sich die Hintermänner dieses Riesengeschäftes – neben Benzin werden hier auch Lebensmittel am georgischen Zoll vorbeigeschleust – wohl kaum durch eine politische Lösung des Südossetien-Konflikts stören lassen wollen„. [Der lange Abschied des Eduard Schewardnadse, S.2 von 6.] Südossetien grenzt unmittelbar an ein weiteres Niemandsland, an das Pankisi-Tal im Grenzgebiet zu Tschetschenien, das im Zusammenhang mit verschärften russisch-georgischen Spannungen und dem amerikanischen Sicherheitsengagement im Südkaukasus nach dem 11. September in die Schlagzeilen der Weltpresse geriet. Die Komplizenschaften und Vernetzungen zwischen ossetischen Schmugglern, georgischen Sicherheitskräften,

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russischen Friedenstruppen und tschetschenischen Akteuren in diesen Konflikt- und Krisenzonen stellen externe Sicherheitspartner vor das äußerst schwierige Problem des engen Zusammenhangs zwischen der Korruption staatlicher Organe und entstaatlichter Gewalt.

Auch auf der Seite der Metropolitanstaaten wie Georgien wirken sich die Interessen bestimmter Elitegruppen behindernd auf eine Konfliktlösung aus. „Die Vorteile staatlicher Schwäche liegen nicht nur auf der Seite der Separatisten, sondern auch auf der von Institutionen und Individuen, die für die Überwindung solcher Schwäche zuständig sein sollten„. [Dov Lynch, a.a.O.] Ein Beispiel hierfür sind neben den von der Bevölkerung als weitgehend korrupt angesehenen Sicherheitsorganen auch Sozialdienste, die für die Verteilung internationaler Unterstützung an vulnerable social groups wie die für Südossetien bestimmten Hilfsmittel zuständig sind. Ein Teil dieser Hilfsmittel landet auf dem Schwarzmarkt. Ein prominentes Beispiel politökonomischer Vorteilnahme bietet die „Regierung Abchasiens im Exil„, die sich aus den georgischen Repräsentanten der ehemaligen politischen Führung Abchasiens, wie sie vor dem Sezessionskrieg und der Vertreibung des georgischen Bevölkerungsteils bestanden hatte, zusammensetzt. Sie unterhält Ministerien, Staatskomitees und eine Reihe anderer Gremien. Daneben gibt es im Parlament eine Fraktion mit einer reservierten Zahl von Sitzen, die sich aus ehemaligen georgischen Abgeordneten des Vorkriegs-Parlaments Abchasiens zusammensetzt. Diese in ethnischer Hinsicht georgische Struktur Exilabchasiens genießt in Georgien politische und ökonomische Privilegien und hält vor allem die Kontrolle über die Haushaltsmittel und sozialen Leistungen, die der Staatshaushalt den aus Abchasien Vertriebenen bereitstellt. In der georgischen Innenpolitik hat sie sich zu einer pressure group entwickelt, die jeden Kompromiss mit dem Konfliktgegner, aber auch die Integration der Flüchtlinge in die georgische Gesellschaft ebenso wie ihre Rückführung nach Abchasien blockiert. Ihr werden enge Verbindungen zu paramilitärischen Einheiten nachgesagt, die in Abchasien in terroristische Aktivitäten verstrickt sind. Sie gehört zu den Kräften, die auf der Seite des Metropolitanstaats den Sezessionskonflikt lebendig halten. In Armenien spielt eine Gruppierung namens Jerkrapah die vergleichbare Rolle einer besonders konfliktgebundenen innenpolitischen Kraft. Sie entstand auf dem Höhepunkt des Karabachkriegs im Sommer 1993 und erlangte in der Republik Armenien politische und wirtschaftliche Privilegien (Bevorzugung bei der Privatisierung von Staatseigentum und der Besetzung von Staatsämtern u.a.). Die Protektion dieser Gruppe durch die Armee schädigte jedoch das Image der Streitkräfte. Jerkrapah forderte 1999 den Rücktritt des amtierenden Präsidenten Kotscharian und trat besonders bei der Diskussion über die Regelung des Karabach-Konflikts in Erscheinung. Sie lehnte kategorisch einen Gebietsaustausch zwischen Armenien und Aserbaidschan ab, der seit dem Jahr 2000 als eine Option zur Beilegung des Karabach-Konflikts diskutiert wurde. [Haroutiun Khachatrian: Yerkrapah. "Lightning Rod" or Political Force in Postwar Armenia? http://www.eurasianet.org/departments/insight/articles/eav051302.shtml.]

In Georgien unterstellt die Bevölkerung Teilen der politischen Elite fast schon eine absichtliche Konservierung staatlicher Schwäche. In der Regierungskrise im Herbst 2001 erreichte der seit längerem wachsende Vertrauensschwund der Bevölkerung in die politische Führung seinen Höhepunkt. Er richtet sich besonders gegen die für Sicherheit und Rechtsstaatlichkeit zuständigen Organe, denen bereits 1998 bei einer USAID-Umfrage 75% der Befragten das Misstrauen ausgesprochen hatten. [Vgl. Thomas Ladwein, Nachrichten aus Georgien, in: Mitteilungsblatt der Berliner Georgischen Gesellschaft, 9-10/ September-Oktober 2001, S. 12-37, S.15f.]
Nach dem 11. September 2001 ist das Vertrauen in die Sicherheitsorgane durch ständige Meldungen über terroristische „Banditenenklaven„ wie das Pankisi-Tal und Spekulationen über die Verwicklung der Innen- und Sicherheitsministerien in die in diesen Enklaven blühenden Geschäfte auf den Nullpunkt gesunken. Ausländische, aber auch georgische Analysten behandeln das Land in wachsendem Maße als failing state. Korruption wird in diesem Zusammenhang nicht

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als Mangel, sondern als „das allen Institutionen zu Grunde liegende Rationalitätsprinzip„ behandelt. [Barbara Christophe: Georgien: Das kaukasische Trugbild, in: Der Überblick. Zeitschrift für ökumenische Begegnung und internationale Zusammenarbeit, 4/2000, S.71-76, zit. S.73.]

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3. Erdöl und islamische Finanzierung: Ökonomische Aspekte der Tschetschenienkriege


Das Erdöl: Weniger geoökonomisches Streitobjekt ...

Die Eskalation des Sezessionskonflikts zwischen Moskau und Grosny zum Krieg fiel in eine Phase, in der mit dem Abschluss des sogenannten Jahrhundertvertrags zwischen der aserbaidschanischen Regierung und einem internationalen Konsortium am Kaspischen Meer der Energieboom auflebte und weltweit Aufmerksamkeit erregte. In diesem Kontext wurde der erste Tschetschenienkrieg (1994-1996) als ein „Krieg um Öl„ gedeutet – mitunter auf recht simplizistische Weise. [Zur kritischen Auseinandersetzung mit dieser Deutung vgl. Roland Götz, Noch ein Krieg ums Öl? Wirtschaftliche Aspekte der russischen Invasion in Tschetschenien, Aktuelle Analyse des BIOst, Nr.11/1995; Sanobar Šermatova: Rol' neftjanogo faktora v cecenskom konflikte (Die Rolle des Erdöl-Faktors im Tschetschenienkonflikt), in: Central'naja Azija i Kavkaz, No.5 (17) 2001, S. 86-93.] Tschetschenien selber war als Fördergebiet und als Raffinerie-Standort mit überregionaler Bedeutung bekannt und fiel als Transitgebiet zwischen den Energielagerstätten der Kaspi-Region und Russland ins Gewicht. „Der Krieg geht ums Öl„ – so hieß es bereits im Januar 1994, Monate vor der Invasion russischer Truppen in Tschetschenien, in der Überschrift eines Interviews der russischen Regierungszeitung mit dem stellvertretenden Ministerpräsidenten Nikolaj Jegorow, der den Wert der Öllagerstätten, um die es hier angeblich gehen sollte, mit einer Phantasiezahl bezifferte. [Rossijskaja gazeta, 14.1.1994, S.3. Zitiert von Roland Götz, a.a.O.] Neben dem Ölfaktor und der Transitbedeutung machten russische Kommentare auch weitere ökonomische Motive für den Einmarsch in Tschetschenien geltend: Die abtrünnige Republik sei zu einem schwarzen Loch der russischen Wirtschaft degeneriert, das riesige Geldsummen verschlinge und zum Zentrum des Waffen- und Drogenhandels, des illegalen Handels mit Edelmetallen, umfangreicher Geschäfte mit Erdöl und Erdölprodukten und einer regelrechten Raub- und Entführungsindustrie geworden sei.

Als Ölfördergebiet oder als Raffineriestandort war Tschetschenien für Russland jedoch ebenso wenig unverzichtbar wie es als Transitraum unumgehbar war. Es hatte sich zwar zu einer „kriminellen Freihandelszone„ entwickelt, wurde für Russland aber vor allem dadurch schädlich, dass am anderen Ende der kriminellen Waffen-, Öl-, Finanz- und Drogengeschäfte russische Partner saßen. Tschetschenien ist seit 1876 ein Erdöl-Fördergebiet. Im Vergleich mit anderen Regionen erlangte das Gebiet für die Erdölförderung des Zarenreichs und der Sowjetunion jedoch keine strategische Bedeutung. Zu Beginn der 1990er Jahre, bei Ausbruch des Sezessionskonflikts zwischen Moskau und Grosny, betrug die jährliche Erdölförderung hier knapp ein Prozent der gesamtrussischen Fördermenge. Die Pipeline von Baku zum russischen Schwarzmeerhafen Noworossijsk, die für Moskau strategische Bedeutung als Gegenentwurf zu einer von den USA geförderten Ost-West-Route von Baku über Georgien zum türkischen Mittelmeerhafen Ceyhan erlangt hatte und die seit 1997 in Betrieb ist, führt zusammen mit wichtigen Verkehrslinien über Tschetschenien, ist inzwischen aber durch eine Umgehungsstrecke über dagestanisches Territorium entlastet worden.


... als Ressource der lokalen Konfliktökonomie

Weniger im Sinne eines geopolitischen und ökonomischen Great Game als im Kontext einer konfliktbedingten Kriegs- und Kriminalökonomie spielt das Ölgeschäft neben anderen extralegalen

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Wirtschaftsaktivitäten eine wichtige Rolle im Tschetscheniendrama. Illegale Ölgeschäfte gehören zu den Einkommensquellen, die die Akteure auf beiden Konfliktseiten miteinander verbinden. Ungeachtet der wachsenden Spannungen zwischen Moskau und Grosny wurde in Tschetschenien bis zum Ausbruch des ersten Kriegs Rohöl aus verschiedenen Regionen Russlands verarbeitet, in Lizenz russischer Firmen hergestellte Erdölprodukte wurden aus Tschetschenien ausgeführt – teils über illegale Kanäle und an Abnehmer, die wie Serbien einem internationalen Boykott unterlagen. Der Führer der tschetschenischen Sezessionsbewegung, Dschochar Dudajew, versprach seinem Volk, die von Russland abtrünnige Republik zu einem „zweiten Kuwait„ zu machen. In Wirklichkeit erlebte Tschetschenien zwischen 1991 und 1994 einen ökonomischen, politischen und gesellschaftlichen Niedergang, der von der Kriminalisierung weiter Wirtschafts- und Lebensbereiche begleitet war. Im Krieg vom Dezember 1994 bis August 1996 wurde das Land von der russischen Armee weitgehend zerstört, nur die Erdölanlagen wurden ausgeklammert. Dreißig Städte und Ortschaften waren völlig vernichtet. Die Bevölkerung war von 1,2 Millionen vor dem Krieg auf unter 800.000 geschrumpft, die Zahl der Kriegstoten wurden auf 60.000 bis über 100.000 beziffert. Etwa 400.000 Menschen flohen in den Kriegsmonaten in andere Teile des Nordkaukasus und ins Innere Russlands. Die Zahl der Obdachlosen unter der verbliebenen Bevölkerung wurde 1997 mit 210.000 veranschlagt. Gesundheits-, Bildungs-, Verwaltungs- und Kommunikationsinfrastrukturen lagen am Boden. Der Rest regulärer Wirtschaftstätigkeit, der bis 1994 noch bestanden hatte, war zerschlagen. Externe Investitionen waren nicht erwarten, zumal die ausländische Präsenz in der Nachkriegsrepublik infolge der sich häufenden Entführungen [Laut Angaben des russischen Innenministeriums wurden von Januar 1997 bis August 1999 1097 Personen in Tschetschenien und seiner unmittelbaren Umgebung entführt. Dabei seien Lösegelder in Höhe von 5000 bis 145.000 Dollar (in prominenten Fällen weit darüber) gefordert worden. Zu den Entführten gehörten Franzosen, Schweizer, Schweden, Briten und andere Angehörige internationaler Organisationen und Missionen. Borisova, The Economics of War, in: St. Petersburg Times, 19.10.1999.] immer weiter zurückging und internationale Organisationen das Land verließen. Die schon vorher zerrüttete Erdölindustrie wurde zum Objekt von Plünderungen und „wilden Privatisierungen„. Die einzige Hoffnung für Tschetschenien bestand in der Aussicht auf Transiteinnahmen, hatte doch inzwischen die Exportroute von Baku über den Nordkaukasus für Russland an strategischer Bedeutung gewonnen.

Nach dem Waffenstillstandsabkommen und dem Abschluss eines Friedensvertrags zwischen Moskau und der „tschetschenischen Republik Itschkerien„ schlossen Russland, Tschetschenien und Aserbaidschan im September 1997 einen Vertrag über den Transit kaspischen Erdöls von Baku nach Noworossijsk. Dem Vertrag zufolge sollte Russland für den Transport einer Tonne Erdöl 15,67 US-Dollar beziehen und Tschetschenien einen Anteil von 4,57 US-Dollar erhalten. Die Pipeline sollte auf tschetschenischer Seite von einer Truppe von 400 Mann geschützt werden. Etwa ein Jahr lang erfüllten alle Seiten ihren Teil des Abkommens. Seit August 1998 jedoch blieb die russische Seite der tschetschenischen ihren Anteil schuldig. In Tschetschenien entschädigte man sich durch das Anzapfen der Leitung. Im April 1999 legte der russische Regierungschef Primakow den Konflikt zumindest teilweise bei. Moskau begann, seine Schulden abzuzahlen. In Tschetschenien lief der Prozess der Aneignung von Bohrlöchern weiter. 1998 wurden statt der geplanten 1,5 Mio. Tonnen nur noch 845.000 Tonnen Rohöl produziert. Davon wurden 400.000 Tonnen (im Wert von etwa 20 Mio. US-Dollar) von Feldkommandeuren „privatisiert„. [FAZ, 11.4.2000; Yevgenia Borisova, The Economics of War, or How to Finance a Chechen Rebel, in: St. Petersburg Times, 19.10.1999.]

Dieser Prozess hing mit dem dezentralen Widerstand im ersten Krieg zusammen, der einen Kriegsherren-Partikularismus hinterlassen hatte, an dem jegliche tschetschenische Nation- und Staatsbildung nach dem militärisch und politisch eigentlich erfolgreichen ersten Sezessionskrieg scheitern

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musste. [Dazu besonders Otto Luchterhand: Tschetscheniens Versuch nationaler Unabhängigkeit: innere Ursachen seines Scheiterns, in: Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg: OSZE-Jahrbuch 2000, Baden-Baden 2000, S.189-214.]
Feldkommandeure herrschten über die Territorien unter ihrem Kommando wie Feudalherren und leisteten dem gewählten Präsidenten Maschadow bei der Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols Widerstand. Zu einem bedeutenden Wirtschaftsobjekt in ihren „militär-territorialen Autonomien„ wurden die lokalen Erdöl-Bohrstellen. Etwa „776 Bohrlöcher funktionierten noch, und ihre mit mehr oder weniger primitiven Methoden betriebene Ausbeutung bildete dann auch einen wesentlichen Teil der wirtschaftlichen Grundlage der meisten Feldkommandeure, waren jedoch auch Objekte ihrer Rivalität und Ursache zahlreicher mitunter gewaltsam ausgetragener Streitigkeiten zwischen ihnen„. [Ebenda, S.200.] In diesem Sektor entfalteten sich eigentümliche Beziehungen zwischen dem lokalen Herrn der Bohrstelle, seinem Patron in der Republikregierung, den transportniki und - last not least - den Geschäftspartnern außerhalb Tschetscheniens, die das Öl weit unterhalb des Weltmarktpreises kauften. Den größten Gewinn bei diesem Geschäft machten die Käufer, die meist aus den offiziellen Strukturen im Nordkaukasus – das staatliche Unternehmen Dagneft in der Nachbarrepublik Dagestan, Raffinerien in anderen Teilen der Region – oder zentraler Regionen Russlands kamen. Das illegal gewonnene Öl aus Tschetschenien ist im gesamten Nordkaukasus verbreitet. In der größten Teilrepublik der Region, in Dagestan, macht es gut die Hälfte des lokalen Benzinmarkts aus, in der Region Stawropol bis zu 70 Prozent. [Nezavisimaja gazeta, 11.8.2000.] Neben der Rohölgewinnung vollzog sich auch die Weiterverarbeitung in Tschetschenien in einem Rahmen wilder Privatisierung. Von den über tausend Klein- und Kleinstfabriken ging eine erhebliche Umweltbelastung aus.

Dieses „Erdöl-Partisanentums„ (neftjanaja partizanšcina) bestand auch nach dem erneuten Einmarsch russischer Truppen in Tschetschenien im Herbst 1999 fort. Nur beteiligten sich nun auch russische Militärs an diesem Geschäft – ein Tabuthema, das erstmals im Frühjahr 2001 gebrochen wurde, als der Leiter der Verwaltung in Tschetschenien, Ahmad Kadyrow, von Benzinkarawanen sprach, die ungehindert zwanzig russische Kontrollposten passieren. [Šermatova, S.91.] Somit spielt Öl durchaus eine Rolle im Tschetscheniendrama, und zwar als Grundlage einer die Konfliktfronten überschreitenden kriminellen Ökonomie, in der auch andere Transaktionen wie der Menschen- und Waffenhandel ihre Rolle spielen. Und auch bei diesen Wirtschaftstätigkeiten überlagern die Geschäftsbeziehungen die Konfliktfronten. So wendet der russische Militäranalyst Pavel Felgenhauer gegen die offizielle Darstellung des von außen munitionierten „Terrorismus„ in Tschetschenien ein: „Waffen und Munition für den Partisanenkrieg werden hauptsächlich in Russland selber auf dem schwarzen Markt beschafft, von den Herstellern und aus Militäreinheiten, die in Tschetschenien stationiert sind.„ [Moskovskie novosti, no.40, 3.10.2001.] Eine russische Tschetschenien-Expertin stellte Mitte 2001 fest: „Die Maßstäbe dieser Schattengeschäfte gehen über die Wirtschaft hinaus und haben weitreichende politische Konsequenzen. Illegale Geschäftsbeziehungen, die russische Soldaten mit tschetschenischen Kämpfern verbinden, verändern die Situation in Tschetschenien völlig. Russische Militärs zeigen Interesse an der Fortsetzung des Kriegs.„ [Šermatova, S.92.] Ein anderer Kaukasienexperte stellt mit Hinweis auf illegale Waffen- und Ölgeschäfte gegen Ende des Jahres 2001 fest: „Nachdem die Konfliktseiten eine politische Regelung nicht erzielen konnten, wächst die Zahl der geheimen Militär- und Geschäftsabkommen zwischen russischen Offizieren mittleren Ranges und den ‚Warlords' mittleren Ranges noch„. [Nabi Abdullaev: Chechnya's War: A "Logic" of its own, in: Jamestown Foundation Prism, vol.7, no.12, Part 4, December 2001.]

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Finanzen aus der islamischen Welt

Zur politökonomischen Ressource ist auf tschetschenischer Seite allerdings auch die Islamisierung der Wiederstandsideologie geworden. Behauptungen Moskaus über substantielle Verbindungen der tschetschenischen Rebellen zur al-Qaida oder eine für ihre Widerstandsfähigkeit entscheidende militärische Unterstützung durch internationale "Mudschahedin" sind zwar überzogen und entbehren des Beweises. Für die finanzielle Unterstützung des tschetschenischen Widerstands und insbesondere seines islamistischen (wahhabitischen) Flügels aus dem islamischen Ausland dagegen gibt es durchaus Belege. Dabei wurde die Finanzhilfe nicht auf offizieller staatlicher Ebene gewährt, was islamistisch orientierte Führer wie Schamil Bassajew und Selimchan Jandarbijew deutlich genug beklagt haben. Statt dessen sind religiöse Stiftungen, Solidaritätsgruppen und Wohltätigkeitsorganisationen aus Saudi Arabien, Kuwait, Qatar, Jordanien und anderen Ländern für die tschetschenische Sache finanziell aktiv geworden. Allein die jordanische Filiale der Moslembrüderschaft soll seit Anfang 1999 rund 20 Millionen US-Dollar für den Dschihad im Nordkaukasus aufgebracht und über ein Büro in Baku nach Tschetschenien transferiert haben; im Jemen erbrachte eine Unterstützungskampagne für Tschetschenien allein in den ersten zehn Monaten des Jahres 1999 4,5 Mio. Dollar. Beträchtliche Finanztransfers kommen aus den nordkaukasischen Diasporas im Mittleren Osten. [Konstantin Poljakov: Vlijanie vnešnego faktora na radikalizaciju islama v Rossii v 90-e gody XX v. (Der Einfluß des externen Faktors auf die Radikalisierung des Islam in Rußland in den 90er Jahren des 20.Jahrhunderts), in: Aleksej Malašenko, Marta Brill Olkott: Islam na postsovetskom prostranstve:vzglad iznutri, Moskovskij Karnegi Centr, 2001, S.265-309, bes. 290-97.]
Einige russische Quellen dagegen sehen die Hauptquellen der Finanzierung des tschetschenischen Widerstand in illegalen Wirtschaftstätigkeiten, die Tschetschenen und ihre Geschäftspartner auf dem Territorium Russlands organisieren.

Der Appell an den Islam hat aber als politökonomische Ressource nicht nur in Hinsicht auf materielle Unterstützung Bedeutung. Der gesamte Nordkaukasus bietet etliche Beispiele für persönliche Karrieren, die aus der Instrumentalisierung des Islam und der Ethnizität entstanden sind. Ein Paradebeispiel ist die Karriere der Brüder Chatschilajew in Dagestan, die bis in die Innenpolitik Russlands hinreicht.


Die Fragmentierung der Konfliktparteien

Ein grundlegendes Problem des Tschetschenienkonflikts, das eine politische Lösung behindert, ist die Fragmentierung auf beiden Konfliktseiten. Hinsichtlich der tschetschenischen Seite ist dies hinlänglich bekannt: Die Mehrheit der Kombattanten handelt auf eigene Faust. Die halbwegs organisierten Separatisten zerfallen in mindestens drei Gruppen:

  • die Maschadow-Gruppe um den 1997 gewählten Präsidenten der „tschetschenischen Republik Itschkerien„, dessen Kontrolle über die übrigen Kombattanten aber begrenzt ist;
  • das Lager der sogenannten „Wahhabiten„ um den Feldkommandeur Bassajew und den aus Jordanien stammenden Emir Chattab, [Am 25.4.2002 meldete der russische Geheimdienst FSB, der "internationale Terrorist Chattab" sei bei einem Armee-Einsatz vernichtet worden.] das von radikal-islamistischen Organisationen unterstützt wird, aber in der tschetschenischen Bevölkerung kaum weniger verhasst ist als die russische Soldateska;
  • die Gruppe um den Feldkommandeur Ruslan Gelajew, die sich im Sommer 2000 nach einem Konflikt von Maschadow getrennt hat und sich heute in Georgien aufhält.

Die Zahl der bojewiki, die auf regulärer Basis kämpfen, ist begrenzt. Hinzu kommen Kämpfer, die sich der Guerilla nur für bestimmte Militäroperationen anschließen. Ebbe und Flut der Guerilla folgen den Aktionen des Gegners. Die sogenannten Säuberungsaktionen der föderalen Streitkräfte

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unter der Zivilbevölkerung Tschetscheniens führen dazu, dass die Beteiligung der lokalen Bevölkerung an den Vergeltungsaktionen der Rebellen zunimmt.

Dem steht aber auf russischer Seite eine ebenfalls fragmentierte Struktur gegenüber. Putins „rascher ordnungsschaffender Krieg„ im Nordkaukasus geriet zum Paradebeispiel für das genaue Gegenteil von law and order. Das aus der Jelzin-Periode ererbte Chaos auf der Akteursebene russischer Tschetschenienpolitik wurde noch vergrößtert. Seit 1999 entstand ein abstruses Gewirr aus Verwaltungs- und Gewaltapparaten, konkurrierenden Zuständigkeiten für die militärische Unterwerfung, die administrative „Reintegration„ und den wirtschaftlichen Wiederaufbau der abtrünnigen Republik. In diesem Sumpf versickern politische Initiativen und gewaltige Summen Geld.

Und auf militärischer Ebene? Die russische Journalistin Politkovskaja beschrieb den Zustand, den der erneute militärische Zugriff Moskaus auf die Sezessionsrepublik seit 1999 geschaffen hat, als „totale Militäranarchie„. Die föderalen Truppen operierten weitgehend auf eigene Faust und definieren ihre Aufgabe als „Vergeltung für die gefallenen Kameraden„. [RFE/RL Caucasus Report vol.4, no.39, 29.11.2001.] Bei den berüchtigten Säuberungsaktionen unter der tschetschenischen Zivilbevölkerung, die nach dem 11. September in wachsender Dichte aneinandergereiht wurden und einige Siedlungen gleich Dutzende Male trafen, zeichnet sich aber auch ein ökonomisches Motiv ab, ein beute- und plünderungsorientiertes Verhalten, das die „Anti-Terror-Operation„ im Nordkaukasus auf die Zivilisationsstufe des Dreißigjährigen Krieges stellt. So wurden Zivilisten gefangengenommen, um ihren Verwandten Lösegeldzahlungen abzupressen. Der Vorwurf, der von der russischen Seite gegen die „tschetschenischen Banditen„ erhoben worden war, nämlich eine regelrechte Entführungsindustrie zu betreiben, richtete sich nun gegen das russische Militär. Nach den Säuberungen in den Siedlungen Assinowskaja und Sernowodsk im Juli 2001 gab der Kommandeur der kombinierten Truppen im Nordkaukasus, General Moltenskoj, „weitverbreitete Verbrechen und vollständige Anarchie„ auf der Seite der russischen Gewaltorgane zu. [Zitiert von Pavel Felgenhauer in Moskovskie Novosti, No.29 (17-23.Juli) 2001.]

Viele Akteure ziehen aus dem seit 2001 verstärkten Herangehen Moskaus an den Wiederaufbau der vom Krieg zerstörten Republik in großem Maßstab Profit. Die verwirrende Struktur der Zivilverwaltung Tschetscheniens und der für Tschetschenien zuständigen Stellen in Moskau – die „provisorische Verwaltung für Tschetschenien„ unter dem ehemaligen Mufti Ahmad Kadyrow, die „Regierung der Republik Tschetschenien„ unter dem von Moskau eingesetzten Stanislaw Iljasow, der für Tschetschenien zuständige Minister in Moskau und 24 Ministerien und Behörden vor Ort –, die alle über ihr eigenes Budget verfügen, ist für Korruption äußerst anfällig – wie auch Präsident Putin deutlich zum Ausdruck brachte: „Das Geld fließ nach Tschetschenien und bewegt sich wie in einem Labyrinth durch die verschiedensten Verwaltungsabteilungen und Banken„. [Zitiert in Süddeutsche Zeitung, 14.3.2002, S.2.] Im Jahr 2001 flossen umgerechnet 166 Mio. Euro aus dem Haushalt der Russischen Föderation nach Tschetschenien, hinzu kamen 370 Mio. Euro aus verschiedenen anderen Quellen, z.B. von Energiekonzernen, die Geld für den Wiederaufbau beisteuern. Im Jahr 2002 soll diese Summe noch auf bis zu 1,25 Mrd. Euro Gesamthilfe steigen. Der Wiederaufbau von Krankenhäusern und anderen medizinischen Einrichtungen steht dabei an der Spitze der Prioritätenliste. Auswärtige Beobachter und in Tschetschenien tätige Beamte jedoch stellen „Renovierungen á la Potemkin„, verschwundene Hilfslieferungen, gefälschte Rechnungen und insgesamt ein gewaltiges Potential an Korruption und Unterschlagung fest. Der für die Kontrolle über den Gebrauch von Bundesmitteln zuständige Beamte in Moskau gab im April 2002 das Verschwinden von 711 Mio. Rubel (23 Mio. US-Dollar) aus einem Posten für Wiederaufbauprojekte in Tschetschenien bekannt. [Rosbalt, 30.4.2002]

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4. Ausblick

So sehr politische und ökonomische Vorteilnahme durch Profiteure auf allen Konfliktseiten eine Rolle spielt und als Hindernis der Überwindung und Regelung von Konflikten wirkt, sind kaukasische Konflikte wie der Tschetschenienkonflikt ein Paradebeispiel dafür, wie stark Interessen und Identität, rationale und irrationale Motive, ethno-psychologische und historische Tiefen und handfeste Interessen ineinander greifen. Der Tschetschenienkonflikt enthält alle nur denkbaren Komponenten eines komplexen ethno-politischen Konflikts: Auf der einen Seite eine Dekolonisierungsgeschichte, auf der anderen Seite Dominotheorien über den Zerfall der Russischen Föderation, sollte Moskau diesem „Föderationssubjekt„ die Sezession gestatten; auf der tschetschenischen Seite chosen traumas in Form der gestalteten kollektiven Erinnerung an die genozide Gewalt des Gegners (Deportationen von 1944), kombiniert mit chosen glories, der Erinnerung an den heldenhaften Widerstand nordkaukasischer Muslime gegen die russische Kolonialgewalt („heilige Kriege„ unter religiösen Führern wie Scheich Mansur Uschurma und Imam Schamil). Auf der russischen Seite finden sich eine rassistisch gefärbte Wahrnehmung des Gegners und der Drang nach Vergeltung für die traumatische Demütigung der russischen Armee; auf beiden Seiten ist die Transformation eines politischen Sezessionskonflikts in einen clash of civilizations zu beobachten - auf tschetschenischer als Islamisierung der nationalen Widerstandsideologie, auf russischer als die Überzeichnung der Einmischung internationaler islamistischer Netzwerke in den Konflikt. Solche Komplexität auf „Politökonomie„ zu reduzieren, würde die Konfliktanalyse ebenso verzerren wie die völlige Ausblendung ökonomischer Motive.

Die Kosten-Nutzen-Frage, die sich den Konfliktseiten stellt, ist nicht in erster Linie ökonomisch bestimmt. Der Kaukasus liefert Anschauungsmaterial für die oft unbegreifliche Kostentoleranz der Konfliktteilnehmer, die insofern dynamisch ist, „als Kosten, das heißt materieller Mangel, immaterielle Opfer und Leiden, bis zu einem bestimmten Grad selbst Werte kreieren„. [Dedashti, Internationale Organisationen als Vermittler, S.154.] Aufgrund der stärkeren Selbstbindung an den Konflikt weist die separatistische Konfliktpartei, die ethnische Minderheit oder Oppositionspartei, meist die höhere Kostentoleranz auf. Auf diesem Feld wirkt ein Mechanismus, den man als Opferfalle bezeichnen. Opfermythen sind der Kern von Geschichtspolitik auf allen Konfliktseiten, besonders in den Sezessionsgebilden, die der geschichtlichen Legitimation in stärkerem Maße bedürfen als die Gegenseite. So heißt es in einem Schulbuch der Republik Südossetien: „Vor zehn Jahren...wurde die Republik Südossetien ausgerufen, eine Republik, die sich als dauerhaft erwiesen hat. Der Krieg hat Tausende unserer Bürger getötet oder verstümmelt, hat Zigtausende unschuldiger Menschen ohne Obdach, Arbeit und Mittel zum Überleben hinterlassen, hat unsere Infrastruktur vernichtet und friedliche Menschen zu Flüchtlingen gemacht. Und doch haben diese Jahre besondere Bedeutung für uns, weil wir nicht nur den Aggressor zurückgeschlagen, sondern auch unseren eigenen Staat aufgebaut haben„. [K.D.Dzugaev: Ju naja Ossetija: 10 let respublike, Vladikavkaz:Iryston 2000, S.4.] Ähnlich machen abchasische Kommentare aus den militärischen Siegen der frühen neunziger Jahre geheiligte, staatsbildende Ereignisse – unter Betonung der Brutalität des Gegner und der großen Opfer, die man erbracht hat. Das Opfermoment liegt jedoch gewiss nicht allein bei den Sezessionsparteien. Im Karabach-Konflikt trägt Aserbaidschan mit Hunderttausenden Flüchtlingen und Vertriebenen und der Besetzung eines beträchtlichen Teils seines Territoriums durch die gegnerische Armee das größere Opfer. Auch Georgien würde ähnliches von sich behaupten. Dennoch sind es vor allem die international nicht anerkannten Sezessionsstaaten, die aus dem Konflikt Legitimität für ihren Anspruch auf Selbstschutz und Selbstbestimmung zu schöpfen und ein Hauptargument gegen ihre Unterstellung unter den vormaligen Suzerän abzuleiten versuchen.

Deshalb darf auch die Wirksamkeit ökonomischer Anreize für die Erzeugung von Kompromissbereitschaft, etwa zur Reintegration der separatistischen Partei in den Metropolitanstaat, nicht über-

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chätzt werden. Karabach-Armenier geben ihre "hat erkämpfte Souveränität" nicht so leicht gegen wirtschaftliche Vorteile wie die Aufhebung ihrer Isolation und die Integration ihres Mini-Staats in regionale Wirtschafts- und Infrastrukturprojekte ("Seidenstraßenprojekte") her. Ungeachtet ihres wirtschaftlichen Elends ist das Gut "Souveränität" für die Sezessionsstaaten kaum verhandelbar. Dazu Dov Lynch zum Karabach-Konflikt: „Die Attraktivität potentieller internationaler Entwicklungshilfe wird durch die Tatsache gemindert, dass die ‚de facto Staaten' in erster Linie von politischen und nicht von wirtschaftlichen Anreizen angetrieben werden. Der Regierungschef von Berg Karabach gab mir gegenüber einmal zu, dass der Wiederaufbau der Wirtschaft das Hauptproblem sei, dem er sich gegenüber gestellt sehe, fügte dann aber hinzu: ‚Aber die Unabhängigkeit ist wichtiger als die Wirtschaft, und sie wird gegen nichts eingetauscht werden.'„ [Dov Lynch, Managing Separatist States, S.12.] Die wirtschaftliche Depression, die die kaukasischen Sezessionsstaaten erleiden, hat bisher nicht zu Kompromissen getrieben. Eher hat die wirtschaftliche Isolation Subsistenzsyndrome verstärkt, die den Separatisten Autarkie-Fähigkeit vorgaukeln. Entscheidend unterstützt wird dies durch den Umstand, dass von den Metropolitanstaaten kein pull effect, keine wirtschaftliche Magnetwirkung ausgeht. Ihre Wirtschaftslage wird von der Bevölkerung der Sezessionsgebilde als „keinen Deut besser„ eingeschätzt als die eigene Misere. Ein georgischer Analyst dazu: „Wie sollte Georgien für Abchasen attraktiv sein, wenn es nicht einmal für Georgier attraktiv ist?„ Und diese Einschätzung gilt auch in politischer Hinsicht. „Die Gesellschaft in Abchasien ist nicht überzeugt, dass Georgien ein demokratischer Staat ist. Solange jeder versöhnliche Ton und jegliches Eingeständnis, den Krieg angezettelt zu haben, dort fehlt, hält Abchasien Georgien für einen unzuverlässigen Partner, mit dem sich keine gemeinsame Staatlichkeit wieder einrichten lässt„. [Ebenda, S.15. ]

Den pull effect des "Metropolitanstaats" unterstützend aufzubauen, bleibt im Falle der georgischen Sezessionskonflikte immerhin noch eine Option für die Konfliktbearbeitung durch externe Akteure. Georgien hat mit seinen Sicherheitsproblemen in den letzten Monaten einen Zuwachs an internationaler Aufmerksamkeit erfahren und ist in eine verstärkte sicherheitspolitische Kooperation mit westlichen Partnern (USA, Türkei) getreten. Sollte diese Zusammenarbeit – unter der Voraussetzung, dass sich Russland ihr auch in Zukunft nicht entgegenstellt – zur Überwindung oder Abschwächung des failing state-Syndroms führen, könnte dies auch neue Perspektiven für eine Neuregelung der Beziehungen zwischen Georgien und seinen abtrünnigen Landesteilen eröffnen. Dabei wird die georgische Seite aber einsehen müssen, dass mehr als lockere konföderative Beziehungen kaum erreichbar sind - und das Bewusstsein hierfür ist bisher nicht sehr stark ausgeprägt. Noch stärker gilt dies für eine Neuregelung des Verhältnisses zwischen Aserbaidschan und Berg-Karabach. Bislang hat die Entwicklung nach dem 11. September zu neuen oder verstärkten sicherheitspolitischen Partnerschaften in Zentralasien und im Kaukasus geführt, nicht aber zur Stabilisierung der Konflikte und zur Neutralisierung des Konfliktpotentials.


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