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[Seite der Druckausg.: 14 (Fortsetzung)



Profile des Übergangs post-sozialistischer Länder:
die baltischen Staaten im Quervergleich mit anderen Beitrittsländern


Was die baltischen Staaten betrifft, war ihre Ausgangslage im Vergleich zu anderen Bewerberländern in einem wesentlichen Punkt durchaus verschieden: Sie waren weit mehr als andere Comecon-Länder in die zentral geplante sektorale ökonomische Arbeitsteilung der Sowjetunion einbezogen, verglichen mit den hier wesentlich souveräneren sozialistischen Nationalstaaten in ihrer Nachbarschaft. Für kleinräumige Länder mit geringer Einwohnerdichte musste es um so schwerer fallen, aus dem Netz einer hochaggregierten wirtschaftlichen Verflechtung auszusteigen und auf den eigenen Bedarf zugeschnittene ökonomische Strukturen neu aufzubauen, die darauf hinausliefen,

  • nicht angemessen dimensionierte Unternehmenseinheiten (Kombinate etc.) zurückzufahren und aufzuteilen,

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  • die Produktpaletten im Blick auf den heimischen Markt nachfrageorientiert zu diversifizieren,

  • damit eine Vielzahl kleinerer und mittlerer Unternehmen zu bilden bzw. neu zu gründen und

  • dafür entsprechende Investoren bzw. Investitionsmittel aufzutreiben;

  • und dies alles unter wettbewerbsrechtlichen Aspekten sowie beteiligungsorientiert im Rahmen eines zu revidierenden Arbeits- und Gesellschaftsrechts zu organisieren.


Chancen und Defizite in den baltischen Staaten

Hält man diesen objektiv gegebenen Problemstellungen der baltischen Staaten die sich im einzelnen ergebenden spezifischen Defizite, aber auch die Chancen und sich im Einzelfall zeigenden Alternativen gegenüber, ergibt sich als Fazit ein differenzierteres Bild. In Estland, Litauen und Lettland sind spezifische Potentiale im Bereich der Wirtschaft und der Arbeitsbeziehungen erkennbar, die einer Weiterentwicklung durchaus offen stehen. Dies in Analogie zu anderen MOE-Ländern, bei denen angesichts eines rascher und mit mehr zeitlichem Vorlauf vollzogenen Strukturwandels bereits soziale und wirtschaftliche Erfolge ersichtlich sind, die künftig auch in dieser Region zu erwarten sein dürften. Ein häufig zitierter Basis-Indikator ist der Kaufkraftvergleich des BIP pro Kopf der Kandidatenländer im Vergleich mit dem Durchschnitt der Einkommen in der EU-15 (=100%). Die Bewerberstaaten zeigen für das Jahr 2000 hier im einzelnen folgende Reihung der Prozentwerte (Eurostat 2001):

– Slowenien

– 71%

– Tschechien

– 58%

– Ungarn

– 52%

– Slowakei

– 48%

– Polen

– 39%

– Estland

– 37%

– Lettland

– 29%

– Litauen

– 29%

Diese Indikatoren vermögen allerdings neben der wirtschaftlichen Leistungskraft mehr über die Qualität der Verteilungspolitik auszusagen als über die des Sozialdialogs insgesamt. Insofern schien es uns angebracht, im Sinne einer erweiterten Potenzialanalyse die unterschiedlichen Schwächen und Stärken der Systeme der Arbeitsbeziehungen zunächst einmal der baltischen Vergleichsländer einander gegenüberzustellen und sodann einem Profilvergleich mit weiteren MOE-Ländern zu unterziehen.

Auf der Ebene des Unternehmens herrschen in den baltischen Staaten noch ganz überwiegend die traditionellen Führungssysteme vor: Die Leitungskräfte entscheiden autonom im Rahmen ihrer Kompetenzen und Interessen, die Mitarbeiter führen diese unter ihrer Kontrolle aus. Moderne, mitarbeiterbezogene kooperative Führungs- und Beteiligungssysteme sind die Ausnahme und werden tendenziell eher vom Personalmanagement ausländischer Joint-ventures oder aber bestimmter Großunternehmen (wie z.B. Lattelekom in Lettland) praktiziert. Die Arbeitgeber entscheiden oberhalb des Minimums der staatlich fixierten Mindestlöhne auch über das im Individualvertrag festgelegte Einkommen – es sei denn, ein Tarifvertrag auf Unternehmensebene definiert dessen Höhe. Dies gilt jenseits von Einzelarbeitsverträgen für die überwiegende Zahl jener Fälle, in denen überhaupt Kollektivvereinbarungen über die Lohn- und Arbeitsbedingungen bestehen. Für das Gros der Arbeitnehmer in den baltischen Staaten ist dies aber gerade nicht der Fall, wie eine Übersicht der Deckungsraten im internationalen Vergleich zeigt (s. Übersicht 1 am Ende).

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Die große, aber zukunftsträchtige Ausnahme bilden Branchentarifverträge, wie sie in der Praxis der Vergleichsländer langsam mehr und mehr auch in der Privatwirtschaft Eingang finden (z.B. im Transportwesen Estlands oder in der chemischen Industrie Litauens). Die auf sektoraler Ebene noch vorherrschende Indifferenz sowohl der Arbeitgeberseite wie auch der Beschäftigten selbst erscheint dann überwindbar, wenn sich die offensichtlich positiven Effekte solcher Beispiele als werbewirksam erweisen. Dahinter müssen allerdings auch Verbände mit der nötigen Stärke stehen. Eine wesentliche Voraussetzung des neuen lettischen Arbeitsgesetzbuchs für eine Allgemeinverbindlicherklärung von Branchentarifverträgen (d.h. staatlich sanktionierte Bindekraft innerhalb des Sektors) ist beispielsweise eine Repräsentation von mehr als 60% der Arbeitgeber einer Branche in dem vertragsabschließenden Verband. Die Druckpotentiale auf gewerkschaftlicher Seite sind wiederum abhängig von der überbetrieblichen Koordinationsfähigkeit der Interessenvertretung. Fehlt es aufgrund pluralistischer Zersplitterung der Organisationen oder Handlungskompetenz der Gewerkschaftsspitze an abgestimmten Positionen, bleibt der mögliche Effekt aus. Estland und Lettland befinden sich hier strukturell in einer besseren Position als Litauen mit seinem ausgeprägten Gewerkschaftspluralismus.

Die Tendenz zu einem politisch folgenlosen „Fassaden-Korporatismus„ in manchen tripartistischen Gremien auf der Spitzenebene (Wirtschafts- und Sozialräte) scheint verbreitet und einer allgemeinen Kritik der Sozialpartner ausgesetzt. Die positiven Ausnahmen in der neuesten Entwicklung Litauens oder Estlands mit ihrem Trend zur Regionalisierung und der dort aktiveren Beteiligung bei der Strukturförderung sind gleichwohl nicht zu übersehen. Bei letzteren ergibt sich auch am ehesten eine Öffnung gegenüber lokalen NGO-Gruppierungen und damit zu einer aktiveren „Beteiligungsdemokratie„ vor Ort. Diese Gremien werden dann auch immer weniger als Ersatz für bilateral wirkende Tarifpartner angesehen werden, wie es auf anderen Ebenen teilweise noch der Fall ist.

Insgesamt lässt sich als Fazit des Statusvergleichs sagen: In den baltischen Ländern herrscht bisher noch mehr eine gleichgerichtete als divergierende Entwicklung vor. Charakteristisch ist in dieser Landschaft eine vergleichsweise lange Reaktionszeit für erforderliche Neuansätze. Dies führt nicht selten dazu, dass durch die Zwänge von Marktanpassungen oder EU-Vorgaben vollendete Tatsachen geschaffen werden, bevor ein funktionierender sozialer Dialog in Gang kommen kann, der rechtzeitig notwendige Korrekturen im Entscheidungsprozess bewerkstelligen könnte. Fehlende Informationen oder auch mögliche Hilfestellungen von außen – neben der Brüsseler Administration oder den Landesregierungen auch durch die internationalen Spitzenverbände beider Seiten sowie ihre Pendants in den Mitgliedstaaten – spielen hier ebenfalls eine Rolle.

Profilvergleich mit weiteren Beitrittskandidaten

Varianten dieser Entwicklung sind erkennbar, wenn man die Vergleichslandschaft um die in der Voruntersuchung behandelten Länder Polen, Tschechien, Ungarn und Slowenien oder auch die Slowakische Republik erweitert (vgl. Ergebnisse dieses FES-Projekts, Bonn 2000). Denn hier herrschen auf den beiden als neuralgisch und defizitär beschriebenen Ebenen der Arbeitsbeziehungen im Unternehmens und in der Branche deutliche Unterschiede vor (s. auch Übersichten 1 und 2 im Anhang). Erkennbar wird dies bei den Indikatoren Gewerkschaftszugehörigkeit (Organisationsgrad) und Wirkungsgrad von Tarifverträgen (Deckungsrate im Blick auf alle Beschäftigten) einerseits sowie der unterschiedlichen Formen der betrieblichen Interessenvertretung andererseits. Diese Indikatoren vermitteln zusammengenommen einen aussagekräftigen Eindruck über Charakter und Wirksamkeit des sozialen Dialogs in einem Lande. Denn hier geht es sowohl um die Wirkungen der Beteiligungs- wie auch der Verteilungspolitik für die Gewerkschaften bzw. sämtliche Beschäftigte.

In den ex-sozialistischen Kandidatenländern als Gesamtheit zeigen sich wesentlich differenziertere Strukturen als nur beim internen baltischen Quervergleich. Sie lassen sich typologisch

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charakterisieren als eher strukturkonservativ oder eher innovativ. Strukturkonservativ meint die Tendenz, unter Beibehaltung bisheriger Formen der Organisation und der als bewährt geltenden Programmschwerpunkte, der Führungsstile und der Politikformen den Umwandlungsprozess managen zu wollen. Als innovativ wird demgegenüber eine Praxis definiert, die bewusst neue Formen und Elemente der Interessenvertretung, der Vertragsbeziehungen und der Ebenen, Abläufe wie auch Kontrolle des sozialen Dialogs einführt. Dazu gehört die Bereitschaft, neue Wege zu beschreiten und wo nötig bei diesem Prozess ständige Korrekturen anzubringen. Auf den einzelnen Ebene der Arbeitsbeziehungen lassen sich folgende Erscheinungsformen als tendenziell innovativ bzw. strukturkonservativ kennzeichnen:


Anpassung der Arbeitsbeziehungen an neue Anforderungen erfolgt …

... eher strukturkonservativ

... eher innovativ


… auf Unternehmensebene


Die betriebliche Gewerkschaftsorganisation ist sowohl für den Abschluss von Kollektivverträgen wie auch die Mitwirkung bei der Betriebspolitik zuständig, soweit hier entsprechende legale Handhaben bestehen.

Die Interessenvertretung wird nur von Gewerkschaftsmitgliedern gewählt und gestellt, was zunehmend problematisch ist, wenn es diese nicht oder nicht in ausreichender Zahl gibt. Beteiligung wie auch Durchsetzung eines Kollektivvertrags - auch auf Unternehmensebene - sind dann kaum möglich.

Eine Zwischenform bildet das „tschechische Modell„ (2001), wonach Betriebsräte nur solange gebildet und tätig werden können, als keine Gewerkschaftsvertretung im Betrieb existiert (d.h. Betriebsräte minderen Rechts auf Abruf – auch während der Wahlperiode!).

Eine Arbeitsteilung zwischen dem Abschluss von Tarifverträgen und der Beteiligung bei den wichtigen Alltags-Entscheidungen im Unternehmen wird auch organisatorisch vorgenommen: Letzteres ist Aufgabe eines von allen gewählten „Betriebsrats„ mit gesetzlich garantierten Mitspracherechten.

Eingeführt als „duales„ Modell in Ungarn und Slowenien mit einer zusätzlichen Vertretung der Arbeitnehmer in den Aufsichtsräten bzw. auch einem Arbeitsdirektor (in Slowenien: auf Vorschlag des Betriebsrats).

Tarifverträge bleiben grundsätzlich eine Domäne der Gewerkschaften, die in der Regel sektorale Vereinbarungen anstreben, die je nach Notwendigkeit im Unternehmen zu konkretisieren sind.


… auf Branchenebene


Der Staat setzt Minimallöhne fest.

Tripartite Räte auf nationaler Ebene fixieren Bandbreiten der Lohnerhöhung für sämtliche Branchen. Diese Vorgaben können im Unternehmen tarifvertraglich konkretisiert werden, soweit eine durchsetzungsfähige Gewerkschaftsorganisation existiert. Falls nicht, entscheidet allein der Arbeitgeber.

Ansonsten bleibt es beim Individualvertrag und den dort festgelegten Bestimmungen.

Tarifpartner vereinbaren autonom Verträge. Der Staat ist allenfalls beteiligt, als er selbst Vertragspartner ist (wie im öffentlichen Dienst) oder die Tarifverträge registriert.
Der Branchenvertrag hat Tarifvorrang vor betrieblichen Regelungen, die nur bei ausdrücklichen „Öffnungsklauseln„ möglich sind.

Eine Allgemeinverbindlicherklärung in der Branche ist möglich (Praxis in Slowenien, vorgesehen ab Juli 2002 auch in Lettland).

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… auf der politischen und nationalen Ebene


Eine Kontrolle der Einhaltung der Regeln des sozialen Dialogs ist neben betrieblichen Schlichtungseinrichtungen nur im Rahmen der allgemeinen Gerichtsbarkeit möglich. Lange Verfahrensfristen machen dies in der Praxis illusorisch.

Tripartite Gremien auf nationaler/regionaler Ebene ersetzen praktisch oft den Sozialdialog sowie fehlende Verhandlungsmöglichkeiten auf den unteren Ebenen. Sie haben auf der Spitzenebene mehr Beratungsrechte, deren politischer Vollzug allerdings in der Regel höchst ungewiss bleibt.

Spezielle Arbeitsgerichte garantieren die Regeln der Beteiligungs- und Verteilungspolitik. In das Verfahren der Schlichtung bzw. Urteilsfindung werden die Sozialpartner einbezogen (so in Ungarn und Slowenien).

Daneben gibt es im Betrieb paritätisch besetzte Einigungsstellen mit gesetzlich geregelten Kompetenzen.

Der soziale Dialog findet vorrangig im Betrieb und in der Branche statt. Tripartite Gremien haben andere, die Politik beratende oder diese flankierende Aufgaben, oder verständigen sich auf tarifpolitische Rahmendaten.



Als eher strukturkonservativ vorgehend sind insofern Gesellschaften und Dialogformen zu bezeichnen, die unter Beibehaltung überkommener Strukturen die Bewältigung neuer Herausforderungen auf sich nehmen und dies den Beteiligten zutrauen. Ein besonderer Risikofaktor ist hier die geringe Wirksamkeit und Kontrollmöglichkeit der Abläufe des sozialen Dialogs in Abhängigkeit von der jeweiligen Stärke der Verbände und insbesondere der Gewerkschaften auch auf dezentraler Ebene. Wo letztere fehlt, bleiben zunehmend Gruppen von Arbeitnehmern (vor allem in kleineren und mittleren Unternehmen) ohne gesetzlichen und sozialen Schutz im Arbeitsleben, dies vor allem auch in extremen Gefährdungssituationen. An die Stelle dieses vertretungspolitischen Vakuums tritt dann aber auch kein kollektivvertraglicher Schutz, der als solcher ja wiederum von der gewerkschaftlichen Präsenz vor Ort abhängig ist.

Mehr Wirksamkeit kann der Sozialdialog in den Transformationsländern ganz offensichtlich bei einer innovativen institutionellen Ausstattung entfalten gemäß den in westeuropäischen Ländern vorhandenen Standards

  • garantierter Beteiligungsrechte im Betrieb (s. Übersicht 2 im Anhang),

  • der Flächentarifverträge mit der Möglichkeit der Allgemeinverbindlichkeit in der Branche,

  • der Mitwirkung von Arbeitnehmervertretern in Aufsichtsräten (so in Polen, Tschechien, Ungarn und Slowenien) oder im Personalmanagement (Slowenien),

  • sowie nicht zuletzt einer Kontrollmöglichkeit durch Einigungsstellen (Arbitrage) oder durch spezielle Arbeitsgerichte unter verantwortlicher Mitwirkung der Sozialparteien.

Solange und soweit dies ausreichend gegeben ist, wird der europäische »acquis communautaire«, der soziale Besitzstand in Europa durch die Erweiterung um letztlich zehn neue Mitglieder keine Verluste, sondern eine Bereicherung und mögliche Ausweitung erfahren. Im umgekehrten Falle droht eine Schwächung des EU-Sozialmodells sowie zusätzlich eine verschärfte Negativ-Konkurrenz um die Standorte.

Das Zusammenspiel ausgebauter Arbeitsbeziehungen auf Unternehmens- wie auch auf der sektoralen Ebene der Branche ist ein weiterer nicht unwichtiger Aspekt: Die Umsetzung eines Branchentarifvertrags setzt immer auch handlungsfähige Arbeitnehmervertretungen im Betrieb voraus, die die Einhaltung der Kollektivverträge überwachen bzw. damit verbundene Detailregelungen vor Ort zu treffen haben. So ist es auch kein Zufall, dass mit Ausnahme der skandinavischen Länder mit ihrer exzeptionell hohen Gewerkschaftszugehörigkeit (von gut 80%) der hohe Grad der Erfassung von Arbeitnehmern (Deckungsrate) durch Tarifverträge mit einer starken institutionellen Interessenvertretung gekoppelt ist.

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Diese Schlussfolgerung drängt sich auch durch einen Vergleich der Übersichten 1 und 2 (wiedergegeben im Anhang dieser Zusammenfassung) auf: Im oberen Segment dieser Tabellen ist jeweils auch eine sehr dichte Interessenvertretung insbesondere in Form von Betriebsräten nachweisbar. Umgekehrt ist in Ländern mit einer lückenhaften und nicht rechtlich abgesicherten Repräsentanz auch die niedrigste vertragliche Deckungsrate sowohl im Unternehmen wie auch sektoral gegeben. Dies betrifft in erster Linie die Kandidatenländer.

Andererseits hängt die Deckungsrate von Tarifverträgen auch vom Anteil der jeweiligen Mitglieder in den Arbeitgeberverbänden ab. Deren Organisationsgrad ist in der EU generell rückläufig, dürfte sich aber – je nach Zentralisierung oder Dezentralisierung von Tarifverhandlungen – auf der Höhe oder leicht oberhalb der Marge der Gewerkschaftszugehörigkeit bewegen. In den Beitrittsländern schwankt die Mitgliedschaft in Arbeitgeberverbänden zwischen 10 bis maximal 30% der vor allem mittleren und größeren Unternehmen. In Deutschland beispielsweise wird er, abhängig von der Branche, zwischen 20 und 40% geschätzt (mit deutlichen Abschlägen in Ostdeutschland), in Skandinavien um weitere 10 bis 20% höher. Letzteres ist auch eine Folge der Praxis von Allgemeinverbindlicherklärungen der Tarifverträge auf Branchenebene (d.h. Tarifbindung auch für Nicht-Verbandsmitglieder), wie insbesondere z.B. in Finnland: Unter solchen Bedingungen besteht ein deutlich höherer Anreiz zum Verbandsbeitritt – für beide Tarifpartner.

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„Europäisierung„ der Arbeitsbeziehungen und des sozialen Dialogs

Es erscheint offensichtlich, dass die Transformationsländer angesichts des vielfachen Modernisierungs- und Anpassungsdrucks rasch an Grenzen der Überforderung gelangen können. Diese besondere Situation ist im Alleingang allenfalls dann zu bewältigen, wenn vergleichbare Sozialstrukturen bereits in der Historie vorhanden waren und somit revitalisierbar erscheinen, oder aber ein außergewöhnlicher Veränderungswille wirksam ist. Aber auch dieser setzte vor allem bilaterale Kooperations-Strukturen voraus.

Externe und wechselseitige Unterstützung ist in diesem Prozess somit unverzichtbar. Bei schwach ausgeprägtem sozialem Dialog und fehlenden Strukturen wirksamer Arbeitsbeziehungen auf den vitalen Ebenen können Gefährdungen sonst kumulierend durch wachsende Armut, Ausgrenzung und politische Radikalisierung wirken. Nicht steuerbare soziale Prozesse in einer defizitäre Zivilgesellschaft schlagen zwangsweise um in Euro-Skepsis, Ablehnung des Einigungsprozesses und generelle Politik-Aversion. Eine notwendige Voraussetzung zur Vermeidung solcher nachhaltiger Fehlentwicklungen sind im Bereich des Wirtschafts- und Arbeitslebens

  • die Garantie ausreichender Informations-, Konsultations-, Beteiligungs- und Verhandlungsrechte nicht zuletzt durch das kodifizierte kollektive Arbeitsrecht,

  • Existenz und Aufbau der sozialen Partner in handlungsfähigen Verbänden auch mit Hilfe externer Unterstützung,

  • Schaffung der erforderlichen Institutionen des Sozialdialogs auf allen Ebenen,

  • ein öffentlicher Dialog in den Beitrittsländern zur nötigen Sensibilisierung für die Bedeutung der sozialen Dimension des Beitrittsprozesses und parallel dazu in den Mitgliedsstaaten,

  • Kooperation und Austausch von außen sowohl von Seiten der EU-Mitglieder wie auch innerhalb der Kandidatenländer, u.a. in Form der Interregionalen Gewerkschaftsräte oder der transnationalen Tarifkooperation (z.B. nach dem Muster des „Wiener Memorandums„ in Ländern Südosteuropas oder der „Doorner Formel„),

  • verstärkte Kooperation der Interessenvertretung in multinationalen Unternehmen in Europäischen Betriebsräten – auch bereits vor dem offiziellen Beitrittsdatum,

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  • die weitere Förderung von Projekten durch die EU zur Weiterentwicklung des sozialen Dialogs auf allen relevanten Ebenen entsprechend den sichtbaren Defiziten.

Durch ein Maßnahmenbündel entsprechend diesen Minimalvorstellungen wären die erwarteten positiven Effekte im neuen europäischen Haus realisierbar und damit die wünschbaren Visionen eines Zusammenwachsens, einer „Europäisierung„ der Wirtschafts- und Arbeitsbeziehungen auch aufgrund originärer Impulse aus den einzelnen Regionen und (neuen) Mitgliedsländern.

Lassen sich auf diesem Terrain Entwicklungen prognostizieren und wenn ja, welche?

Hinsichtlich der Verpflichtung der Beitrittsstaaten auf den „acquis communautaire„ kann bereits heute von folgendem Entwicklungsszenario ausgegangen werden: Die gemeinschaftlichen (Mindest-)Standards schaffen notwendige – wenn auch nicht hinreichende – Voraussetzungen für die normative und faktische Stärkung und Stabilisierung der Arbeitsbeziehungen in den MOE-Staaten. Sie können nach aller Voraussicht dazu beitragen, dass in der erweiterten Union ein weitreichendes sozial- und arbeitspolitisches „down-sizing„, d.h. eine Abwärtsentwicklung, die durch ungeordnete Arbeitsbeziehungen in den Beitrittsländern ausgelöst würde, verhindert oder zumindest begrenzt wird. Nimmt man zur EU-Rechtsetzung im Bereich des kollektiven Arbeitsrechts die jüngeren Schritte der EU-Ebene in der Beschäftigungspolitik, der Koordination der sozialen Sicherheit oder der Innovationsoffensive (Lissabon-Strategie) hinzu und fragt nach der gegenwärtigen und künftigen Rolle der Sozialpartner auf nationaler und europäischer Ebene, so zeigt sich folgende Grundtendenz:

  • Die effektive Ausgestaltung der Europäischen Betriebsräte-Richtlinie und der künftigen Mitbestimmung in der Europäischen Aktiengesellschaft basiert auf rechtlich vorstrukturierten Verhandlungen: Dies aber setzt jeweils verhandlungsfähige und transnational koordinierungsfähige betriebliche und verbandliche Akteure voraus.

  • Auch die übrigen EU-Politiken (Beschäftigungs-, Lissabon-Strategie) basieren auf „weichen„ Regulierungs- und Steuerungsformen und setzen somit nicht zuletzt auf die (mit-)gestaltende und mitverantwortliche Rolle der Sozialpartner auf den verschiedenen Ebenen (z.B. im Rahmen von „Bündnissen für Arbeit„).

  • Solche flexible und national abgestufte Politikansätze werden im Zuge der EU-Erweiterung schon allein aufgrund einer wachsenden Struktur- und Interessen-Heterogenität auch künftig die prägenden Handlungsformen sein. Eine stärker zentralisierte Steuerung oder eine weitergehende Harmonisierung erscheint eher unwahrscheinlich.

  • Die Institutionen und Akteure der Arbeitsbeziehungen in den MOE-Ländern sind in ihrem gegenwärtige Entwicklungsstand nur begrenzt in der Lage, den gegebenen Verhandlungs- und Koordinierungsanforderungen der EU-Arbeits- und Beschäftigungspolitik gerecht zu werden und die damit zusammenhängenden Chancen aktiv zu nutzen.

Deshalb bedürfen die nationalen Entwicklungsprozesse der MOE-Länder im weiteren Vollzug des Beitrittsprozesses einer weit stärkeren transnationalen Unterstützung durch die westeuropäischen Gewerkschaften und Arbeitgeberorganisationen. Auch der EU – namentlich der Kommission und dem Brüsseler Wirtschafts- und Sozialausschuss (WSA) – kommt verstärkt die Aufgabe zu, einen entsprechend intensivierten politischen und materiellen Flankenschutz zu leisten. Einen nicht unwichtigen Beitrag dazu im Bereich der betrieblichen Arbeitsbeziehungen könnte u.a. auch die baldige Verabschiedung der im Vermittlungsprozess zwischen Rat und europäischen Parlament befindlichen EU-Richtlinie über „die Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer in der Europäischen Gemeinschaft„ mit ihren detaillierten Mindeststandards für den innerbetrieblichen sozialen Dialog leisten.

[Seite der Druckausg.: 21]

Anhang

    Übersicht 1: Gewerkschaftlicher Organisationsgrad und Reichweite von Tarifverträgen (Branche sowie Unternehmen)

    – in % der jeweiligen Beschäftigten –


Land

Organisationsgrad

Deckungsrate des Tarifvertrags

Finnland

80

95

Österreich

45

90

Slowenien

43

90

Belgien

55

90

Italien

38

90

Griechenland

17

90

Frankreich

10

85

Schweden

80

80

Portugal

35

80

Dänemark

80

75

Deutschland

30

74

Niederlande

28

70

Spanien

18

70

Irland

45

45

Tschechien

30

45

Slowakei

35

40

Großbritannien

30

40

Ungarn

30

30

Polen

20

30

Lettland

24

23

Estland

15

20

Litauen

14

12*

* überwiegend nur im öffentlichen Sektor

Quelle: WSI-Tarifarchiv; einblick 1/00 (DGB-Funktionärsorgan); F. Draus, Der soziale Dialog in EU-Bewerberländern (im Auftrag von EGB/ UNICE), 2001, u. weitere; eigene Berechnungen

Die Daten beziehen sich auf 1999 bzw. 2000. Sie beruhen z.T. auf revidierten Schätzungen, da von den Verbänden im Einzelfall auch ein höherer Organisationsgrad angegeben wird; letzterer ist in der privaten Wirtschaft generell niedriger als im öffentlichen Sektor. Die Deckungsrate der (Branchen- bzw. Unternehmens-)Tarifverträge wird auch determiniert durch die Struktur der Arbeitgeberverbände sowie das Arbeitsrecht. Sie ist dort rückläufig, wo es keine Allgemeinverbindlicherklärung von Kollektivverträgen für die gesamte Branche gibt.

[Seite der Druckausg.: 22]

Land

Betriebsrat

Gewerkschafts-
vertretung

Anmerkung

Finnland

X

(= Vertrauenleute-Komitee, VL-K)

„Betriebsrat„ als VLK von allen Beschäftigten gewählt und vertritt auch Nichtmitglieder

Österreich

X


Betriebsräte sind auch gewerkschaftliche VL

Slowenien

X


seit 1993

Belgien

X


Unternehmensleiter ist Vorsitzender

Italien

X


Gemeinsame Gewerkschaftsvertretung, zu 2/3 von Belegschaft gewählt, führt auch Tarifverhandlungen im Betrieb

Griechenland

X

X

Betriebsrat möglich ab 20 Beschäftigte, GV qua Gesetz ab 100 Beschäftigte einzurichten

Frankreich

X


Arbeitgeber ist zugleich auch Vorsitzender

Schweden


X

nur von Gewerkschaftsmitgliedern gewählt
(im Landesdurchschnitt sind 80% Mitglieder!)

Portugal

X

X

Gewerkschaftsmitglieder wählen auch VL-K

Dänemark

X

(X)

Paritätischer Ausschuss, Arbeitgeber hat Vorsitz; Arbeitnehmervertreter: ½ von Belegschaft gewählt, ½ von Gewerkschaft ernannt

Deutschland

X


Neben Betriebsrat gibt es z.T. auch gewerkschaftliche Vertrauensleutegremien

Niederlande

X



Spanien

X


Starker Gewerkschaftspluralismus im Betrieb!

Irland


X


Tschechien

X

X

„Tschechisches Modell„ ab 2001: Betriebsräte nur möglich, soweit keine GV vorhanden

Slowakei

X

X

Obligatorische(!) Bildung von Betriebsräten nach tschechischem Muster ab 1. 4. 2002, aber nur in den Fällen, wo keine GV existiert

Großbritannien

X

X

Neben Shop stewards gibt es Joint Commis-
sions mit Arbeitgeber gemäß Vereinbarung

Ungarn

X


seit 1992, ab 1999 auch mit gesetzlicher
Tarifkompetenz, wenn keine GV vorhanden!

Polen


X


Lettland


X


Estland

(X)

X

Nichtgewerkschaftliche Vertretung ist möglich

Litauen

(X)

X

Entwurf des Arbeitsgesetzbuchs sieht Vertretung gemäß dem „tschechischen Modell„ vor

Saldo

16 (18)

11 (12)

Teilweise gibt es beide Formen parallel!*

* D.h. es besteht duales Modell von Betriebsräten und Gewerkschaftsvertretung mit unterschiedlichen Aufgaben

Quelle: Waddington/Hoffmann 2001 u.a.


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