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Globalisierung sozial gestalten : eine zurechtgerückte politische Agenda / Alfred Pfaller - [Electronic ed.] - Bonn, 2002 - 20 S. = 72 KB, Text . - (Globalisierung und Gerechtigkeit)
Electronic ed.: Bonn : FES Library, 2002

© Friedrich-Ebert-Stiftung


INHALT







[Seite der Druckausg.: Titelblatt]

Alfred Pfaller

Globalisierung sozial gestalten:
eine zurechtgerückte politische Agenda

Januar 2002

Märkte sind heute weltweit integriert.
Der einzelne Staat, sagt man, kann kaum noch regelnd in sie eingreifen: es sei das Gesetz von Angebot und Nachfrage, das immer mehr die Geschicke von Menschen überall auf der Welt bestimme.
Es wird befürchtet, dass derart ungeregeltes Marktgeschehen zu einer Verteilung von Lebenschancen führt, die mit dem alten Menschheitsideal der Gerechtigkeit nicht zu vereinbaren ist.
Globalisierung sozial gestalten, hieße demnach, den politischen Eingriff in die globalen Marktprozesse global zu organisieren.
Ein politisches Programm, das viele Anhänger hat, doch die wirklichen Herausforderungen sind andere.






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Globalisierung ist eine generalisierende Bezeichnung für eine Reihe unterschiedlicher Entwicklungsprozesse mit durchaus unterschiedlichen politischen Konsequenzen. Der Begriff Globalisierung ist analytisch unscharf, er verwischt, indem er Disparates zusammenfasst. Wenn man die mit ihm angedeutete Realität erfassen will, tut man gut daran, ihn alsbald beiseite zu legen und sich die einzelnen Dimensionen separat anzuschauen. Zum Teil geht der Siegeszug des Globalisierungsbegriffes gerade darauf zurück, dass er von der mühsamen gedanklichen Bewältigung einer komplexen Wirklichkeit entbindet und statt dessen eine einfache Formel bereit stellt. Im gesellschaftlichen Diskurs wird die Formel zum Substitut von Realität. Das abstrakte menschliche Hirnprodukt „Globalisierung„ wird mitsamt den weitreichenden Konnotationen, die das Wort mitliefert, zum konkreten Vorgang, der draußen stattfindet, den man mit einem Artikel versehen, beobachten, erkennen, verkennen, gutheißen, hinnehmen, bewältigen, gestalten etc. kann. Dieser Umgang mit der Globalisierungsformel birgt die Gefahr, dass sowohl die Erkenntnis als auch die politische Gestaltungsfähigkeit erheblichen Schaden nehmen. Er kann dazu führen, dass man sich an einem „Hirngespinst„ abarbeitet, statt realen Herausforderungen mit angemessenen Strategien zu begegnen.

Die Formel „Globalisierung sozial gestalten„ setzt an einer Problemwahrnehmung (oder, vorsichtiger ausgedrückt, einem Problemverdacht) an, die sich gleichsam logisch aus einem zentralen Aspekt des Globalisierungsbefundes ableitet. Der Befund ist, hoch stilisiert, wie folgt: Märkte sind heute weltweit integriert. Der einzelne Staat kann nur noch begrenzt regelnd in sie eingreifen. Es ist das Gesetz von Angebot und Nachfrage, das immer mehr die Geschicke von Menschen überall auf der Welt bestimmt. Die Befürchtung ist, dass derart ungeregeltes Marktgeschehen zu einer Verteilung von Lebenschancen führt, die mit dem alten Menschheitsideal der Gerechtigkeit auch nicht annähernd zu vereinbaren ist. Denn allein dem Markt überantwortet, sind viele Menschen in hohem Maße ausbeutbar und/oder verwundbar. Soziale Gestaltung von Globalisierung deutet dementsprechend in die Richtung, neue Möglichkeiten des wirksamen politischen Eingriffs in die globalen Marktprozesse zu etablieren. Derartige Eingriffe können auf die regelsetzende und notfalls sanktionierende Gewalt einer hoheitlichen Instanz zurückgreifen oder auf die Marktmacht derer, die mit koordiniertem Nachfrage- und Angebotsverhalten für die gerechte Sache eintreten (Verbraucher, Arbeitnehmer).

Die Gedankenskizze erscheint als Ausgangsüberlegung plausibel. Sie geht aber von fraglichen Prämissen aus. Sie postuliert eine vorglobale Welt der relativen Gerechtigkeit („Wohlstand für alle„), in der die sozial fortgeschrittenen unter den nationalstaatlich verfassten Gesellschaften ihre jeweiligen nationalen Unternehmerschaften mit Hilfe von staatlicher Regulierungs- und Besteuerungsgewalt und von gewerkschaftlichem Arbeitsmarkt-Kartell einer sozialen Disziplin unterworfen hatten. In anderen Gesellschaften, wo die fortschrittlichen Kräfte sich noch nicht hinreichend formiert hatten, musste – gemäß dieser Sicht – hierfür noch gekämpft werden. Es ist in erster Linie diese Vorstellung von der dem Kapital abgetrotzten

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(oder noch abzutrotzenden) Sozialstaatlichkeit, die Globalisierung als soziale Bedrohung erscheinen lässt.

Aber die Vorstellung blendet drei wesentliche Aspekte aus:

  • Der moderne Sozialstaat war nie ein Schema der Umverteilung vom Kapital zur Arbeit oder auch von den Reichen zu den Armen. Er war und ist ganz überwiegend ein Schema der kollektiven Vorsorge und – in Grenzen – des finanziellen Ausgleichs innerhalb der Arbeitnehmerschaft. Er wird im wesentlichen von denen finanziert, denen seine Leistungen zugute kommen, auch wenn in einigen Staaten die Fiktion der „Arbeitgeberbeiträge„ (die ökonomisch gesehen nichts anderes als ein Teil des Bruttolohns sind) das Denken beherrscht. Solange die Bürger diese Art der kollektiven Daseinsvorsorge und der Solidarität mit den ärmeren Mitbürgern mit ihrer politischen Entscheidung aufrechterhalten, solange können sie dies auch tun, so mobil das Kapital auch sein mag.

  • Das steigende Masseneinkommen, das im Verlauf der 60er Jahre in praktisch allen fortgeschrittenen Industrieländern erreicht wurde, war einem über lange Zeit hinweg durchgehaltenen hohen Wirtschaftswachstum geschuldet, das trotz hoher Produktivitätszuwächse die verfügbaren Arbeitskräftereserven weitestgehend absorbierte. Die Armut, die sie sich seit Ende der 70er Jahre in weiten Teilen der westlichen Welt wieder ausbreitet, hat ihre primäre Ursache im Nachlassen des Wachstums und dem damit verbundenen Ende der Arbeitskräfte-Knappheit.

  • Die Zeit vor der sogenannten Globalisierung war – weltweit gesehen – eine Zeit der extrem ungleichen Verteilung von Wohlstand. Für die meisten Menschen ist die Wahrscheinlichkeit, im Elend leben zu müssen oder an den Früchten der weltweiten Produktivitätsentwicklung teilzuhaben, seit mehr als 100 Jahren maßgeblich davon bestimmt, in welchen nationalen Arbeitsmarkt sie geboren wurden. D.h. es waren die nationalen Grenzen der noch nicht als globalisiert wahrgenommenen Welt, die die Menschen in relativ Arme und relativ Reiche unterteilten. Dies legt immerhin die Vermutung nahe, dass eine größere Durchlässigkeit dieser Grenzen – und dafür steht der Begriff der Globalisierung – frühere Unterschiede verringern könnte. Aber die geographische Verteilung von Wohlstand und Armut hat seit langem auch sehr viel mit der Struktur der Weltwirtschaft, mit ihrer Einteilung in wirtschaftliche Agglomerationsräume und in Räume mit ausgedünnter Wirtschaftstätigkeit zu tun. Zugespitzt: Es ist die lange vor der „Globalisierung„ erreichte globale Integration der Weltmärkte verbunden mit der politischen Fragmentierung der Arbeitsmärkte, die das Entstehen und den Fortbestand von Elendszonen in der Welt gefördert hat.

Die drei genannten Aspekte stellen die Aufgabe der sozialen Gestaltung von Globalisierung in einen Zusammenhang, in dem die neueren Globalisierungsprozesse eher an den Rand des gesamten Herausforderungs-Syndroms treten. Zum einen geht es darum, die „alte„ Weltwirtschaft sozialer zu machen. Dabei kann die neuere Globalisierung evtl. helfen. Zum anderen

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geht es darum, das hohe Wirtschaftswachstum, auf dem das goldene Zeitalter des Wohlfahrtskapitalismus beruhte, wieder zu erlangen. Das kann u.a. mit Korrekturen an den neueren Globalisierungsprozessen verbunden sein. Weiterhin geht es darum, bei der Anpassung der Vorsorge- und Solidaritätsstrukturen des Sozialstaates an die veränderten wirtschaftlichen Kontextbedingungen den Primat der Politik nicht aus den Augen zu verlieren. Das bedeutet auch, sich nicht von unangemessener Globalisierungsangst ins Bockshorn jagen zu lassen. Schließlich geht es aber auch darum, auf die spezifischen Bedingungen der neueren Globalisierung einzugehen und ihnen in angepassten Mechanismen sozialer Solidarität Rechnung zu tragen.

Die folgenden Abschnitte versuchen, die Herausforderungen an den einzelnen Fronten des Kampfes um eine sozial gestaltete Welt zu analysieren und die möglichen Handlungskorridore grob abzustecken. Wir beginnen mit dem Aspekt, der im Vordergrund des Globalisierungsparadigmas steht, nämlich der Furcht, dass der globale Markt nationale Verteilungspräferenzen gleichsam überstimmt. Danach wird das Blickfeld ausgeweitet auf die globale soziale Frage, d.h. auf die Kluft zwischen armen und reichen „Ländern„ (die nur für die jeweiligen Massen, nicht für die ökonomischen Eliten gilt). Ein weiterer Abschnitt widmet sich der Variablen „Wirtschaftswachstum„, die eine Grundbedingung für soziale Gestaltung darstellt, und geht dabei gesondert auf die Stabilität der internationalen Finanzmärkte ein. Im Schlussteil werden über die diversen Fronten hinweg die nationalen Handlungsmöglichkeiten mit den Perspektiven supranationalen Vorgehens verglichen.

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Verschärfte internationale Konkurrenz: Anpassung ja, Kapitulation nein


Druck auf Löhne und Sozialstandards: Das Damoklesschwert hängt noch

Das Bild der globalisierten Welt ist am stärksten geprägt von der Vorstellung verschärfter internationaler Konkurrenz. Diese Vorstellung ist richtig. Dabei kommen mehrere Faktoren ins Spiel:

  • Zunehmende Offenheit nationaler Grenzen gegenüber Importen von Waren und Dienstleistungen aus dem Ausland, selbst vor allem eine Funktion politischer Entscheidungen, Zölle und andere Handelsbarrieren abzubauen.

  • Verstärktes Auftreten von Billigkonkurrenz, eine Konsequenz nicht nur der offeneren Märkte, sondern auch der erhöhten Lieferfähigkeit von Ländern der Dritten Welt und Osteuropas aufgrund nationaler Entwicklungsanstrengungen und ausländischer Investition.

  • Länderübergreifende (zu Ende gedacht: globale) Organisation von Produktionsprozessen durch transnationale Unternehmen. Dieses verstärkt die Wirkung der beiden ersten Faktoren.

  • Weniger ausgeprägt: verstärkte Migration von Arbeitskräften aus Niedriglohnländern in die Hochlohnländer, wodurch ebenfalls die Wirkungen der erstgenannten Faktoren verstärkt werden.

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Die zunehmende Offenheit der Märkte setzt vordem geschützte nationale Anbieter unter Wettbewerbsdruck. Sie müssen das Preis-Leistungs-Verhältnis ihrer Produkte (Güter und Dienstleistungen) an internationale Standards anpassen. Die konkrete Arbeitsplatzsicherheit (nicht unbedingt die Beschäftigungssicherheit) nimmt tendenziell ab. Die zunehmende Billigkonkurrenz bewirkt zusätzlich, dass der Zwang zur Anpassung der Arbeitskosten in den Hochlohnländern des „Nordens„ Größenordnungen erreichen kann, die mit deutlichen Realeinkommenseinbußen der betroffenen Arbeitskräfte verbunden sind. Im Extremfall ist die erforderliche Anpassung nicht mehr realisierbar, so dass die betroffenen Anbieter aus dem Markt gedrängt werden.

Die Internationalisierung der Unternehmenstätigkeit hat zur Folge, dass ein Land auf die nationalen Unternehmen, ihre Innovativkraft und ihre Fähigkeit zur Produktivitätssteigerung nicht mehr als Verbündete bei notwendig werdenden Anpassungen zählen kann. Es sind mehr und mehr die Unternehmen selbst, die gegebenenfalls die Produktion an günstigere Standorte verlagern. Es ist demnach allein der Standort, der sich anpassen muss, um im Wettbewerb zu bestehen. Solche Anpassung geht stets in zwei Richtungen: (a) Faktorkosten senken, (b) Voraussetzungen für hohe Produktivität (erfasst durch den Begriff der „industriellen Fertilität„) verbessern. Dieser Faktor hat zwei weitere Konsequenzen:

  • Vom Weltmarkt ausgehender Anpassungsdruck macht sich für die Standorte und die nationale Arbeitnehmerschaft schneller bemerkbar, weil ihn die Unternehmen mit ihren Anpassungsbemühungen weniger abfedern.

  • Arbeitnehmer und Staaten als Standortverwalter werden erpressbarer.

Die Suppe wird freilich nicht so heiß gegessen, wie sie gekocht wird. Mehrere Faktoren mildern den zu befürchtenden Druck auf Reallöhne, soziale Absicherung von Arbeitnehmern und Arbeitsbedingungen ab.

  • Die Weltproduktion ist kein Nullsummenspiel, bei dem die im Standort A neu aufgebauten Produktionskapazitäten mitsamt den zugehörigen Arbeitsplätzen die Produktionskapazitäten im Standort B ersetzen. Die Weltwirtschaft wächst und die Erschließung neuer Standorte für den Weltmarkt ist Teil des weltweiten Wachstumsprozesses. Die Anpassung, die in ihrem Gefolge an den „alten„ Standorten notwendig wird, ist „Strukturanpassung„. D.h. frühere Produktionsbereiche werden aufgegeben und neue entstehen. Natürlich entschärft diese Beobachtung das Problem der Verdrängung und des damit verbundenen Lohn- und Sozialabbaus nicht kategorisch. Produktionsverlagerung, die nicht durch neue Produktionsentwicklungen kompensiert wird, ist vorstellbar und schwebt gleichsam als Damoklesschwert über den Hochlohnstandorten. Das Herabfallen des Schwertes würde aber voraussetzen, dass Geschwindigkeit und Breite des Verlagerungsprozesses den permanenten Innovationsprozess überschatten. Das lässt sich bislang nicht feststellen.

  • Billigstandorte stehen der Weltmarktproduktion bis heute nur in sehr begrenztem Maße zur Verfügung. Viele Standorte sind nach wie vor nicht weltmarktfähig, weil die sozialen,

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    kulturellen, politischen und oft auch wirtschaftspolitischen Voraussetzungen nicht gegeben sind. Andere Billigstandorte bieten sich nur für eine kleine Palette von Produktionsprozessen an. Die Entwicklung zusätzlicher Möglichkeiten braucht ihre Zeit. Währenddessen geht der Innovationsprozess in den industriellen Zentren der Welt weiter.

  • Produktionsverlagerung ist für Unternehmen nach wie vor mit hohen Transaktionskosten verbunden. Verlagerungsentscheidungen werden deshalb nicht so schnell getroffen. Einmal getroffen, werden sie allerdings auch nicht so schnell wieder revidiert.

Als Zwischenbilanz lässt sich ein erhöhter Anpassungsdruck aufgrund verschärfter internationaler Konkurrenz festzustellen, aber keine systematische Notwendigkeit zum Senken von Lohn- und Sozialkosten. Unterbietungskonkurrenz aus der Dritten Welt hat sich für die Hochlohnstandorte insgesamt bislang nicht als soziale Bedrohung erwiesen. Die Perspektive einzelner betroffener Branchen liefert diesbezüglich ein falsches Bild. Aber mit dieser Diagnose ist die Tatsache nicht aus der Welt geschafft, dass Unternehmen heute in wesentlich höherem Maße international mobil sind, und prinzipiell zwischen unterschiedlichen Standortangeboten – und dazu gehören ganz wesentlich die Kosten des Faktors Arbeit – auswählen können. Für die Arbeitnehmerseite wie für den Staat bedeutet dies, dass sie die Unternehmen nicht mehr so unter Druck setzen können wie ehedem. Sowohl die hoheitliche Festlegung von kostenverursachenden Produktionsbedingungen als auch z.B. der Generalstreik sind als Waffen stumpfer geworden. Die Möglichkeit der Unternehmen, einen Standort gegen den anderen, eine Arbeitnehmerschaft gegen die andere, auszuspielen, ist definitiv größer geworden. Ihre Verhandlungsposition im unmittelbaren „Verteilungspoker„ hat sich verbessert, die der Arbeitnehmer und der Staaten als Vertreter der Interessen der Standortbevölkerung verschlechtert.

Aber die Unternehmen stehen sozusagen permanent in einem Zweifrontenkampf. Auf der einen Seite verhandeln sie mit den Faktoranbietern um möglichst günstige Bedingungen, auf der anderen stehen sie in Konkurrenz mit anderen Unternehmen um die Gunst der Abnehmer, letzten Endes der Verbraucher. Tendenziell zwingt sie dieser Wettbewerb dazu, Kostenvorteile, die sie zu Lasten ihrer Zulieferer – dazu gehören die Faktoranbieter – ausgehandelt haben, an ihre Kunde weiterzugeben. Was der Arbeitnehmer verliert, gewinnt demnach der Verbraucher. Da Arbeitnehmer auch Verbraucher sind, gewinnen sie über die Güter- und Dienstleistungsmärkte einen mehr oder weniger großen Teil dessen zurück, was sie auf den Faktormärkten globalisierungsbedingt einbüßen. Die Frage ist, wie weit Unternehmen tatsächlich dem Preiswettbewerb unterliegen oder sich ihm durch Produktdifferenzierung, oligopolistische Kooperation und andere Taktiken entziehen können. Je schärfer der Wettbewerb auf den Gütermärkten, desto besser für die Verbraucher, einschließlich der Arbeitnehmer. Desto größer wird andererseits aber auch der Druck, den die Unternehmen auf ihre „Zulieferer„, die Arbeitnehmer, ausüben.

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Ansatzpunkte für die Stärkung der Arbeitnehmerposition im „Verteilungspoker„:
Verhandlungsmacht, Marktmacht, Staatsmacht

Die Bemühungen um eine Begrenzung globalisierungsbedingter Umverteilung „von unten nach oben„ setzen typischer- und verständlicherweise an den Mechanismen an, die auf nationaler Ebene soziale Belange gesichert haben und nun durch die Weltmarktkonkurrenz unter Druck geraten. Zwei Mechanismen sind dabei zentral:

  • die Kartellisierung des Arbeitsangebotes – d.h. das Ausschalten von Wettbewerb unter den Jobsuchenden – durch die Gewerkschaften;

  • die Festsetzung von Arbeits- und Entlohnungsbedingungen durch eine hoheitliche Instanz, den Staat.

Beides wird tendenziell durch die erhöhte Standortmobilität der Unternehmen unterlaufen. Diese setzen eine nationale Arbeitnehmerschaft und einen nationalen Staat in Konkurrenz mit anderen Arbeitnehmerschaften, anderen Staaten. Die logische Antwort auf diese Verschiebung in der Verhandlungsmacht ist die grenzüberschreitende Abstimmung der Verhandlungspositionen unter den einzelnen Arbeitnehmerschaften und den einzelnen Staaten. Sie wirft technisch-logistische, aber auch prinzipielle Probleme auf. Die grenzüberschreitende Abstimmung erfordert organisatorischen Aufwand, der die heutigen Ressourcen zumindest der Gewerkschaften schnell übersteigt. Wichtiger ist jedoch die Tatsache, dass die einzelnen Standorte tatsächlich in Konkurrenz miteinander stehen. Dem Interesse an einer gestärkten Verhandlungsposition im „Verteilungspoker„ mit den Unternehmen steht das Interesse an einem möglichst großen Anteil an dem von den Unternehmen vergebenen „Weltmarktkuchen„ mit all den daran hängenden Arbeitsplätzen, Steuereinnahmen u.a., gegenüber. Kartelle sind immer anfällig gegenüber aggressiver Außenseiter-Konkurrenz. Wenn etwa die meisten EU-Staaten sich zu einer gemeinsamen Arbeitszeit-, Urlaubs- oder gar Kündigungsschutzregelung zusammenfinden sollten und, sagen wir, Großbritannien und Irland nicht mitmachen wollen, wird die Sache scheitern. Sie wird zumindest scheitern, wenn die angesprochenen Regelungen wirklich als wettbewerbsrelevant, weil kostenträchtig, angesehen werden und wenn Arbeitsplatzerhaltung ein dominierendes politisches Motiv ist.

Ein Weg, dem zu entkommen, ist die Disziplinierung der Außenseiter durch hoheitliche Festlegung. Einen supranationalen Staat mit entsprechender Zwangsgewalt gibt es nicht. An seine Stelle könnten aber verbindliche internationale Standards treten, die, einmal vereinbart, die Staaten fürderhin festlegen. Wie aber lässt sich das Außenseiter-Problem bei der erstmaligen Festlegung überwinden? Eine Möglichkeit wären Mehrheitsbeschlüsse, die auch für die Minderheit verbindlich sind. Dafür wird in der Europäischen Union gekämpft. Die andere Möglichkeit ist die Verwässerung der Standards bis zu einem Grad, der Konsens zulässt. Dies steht hinter den sogenannten „Mindeststandards„. Das Dilemma mit ihnen ist, dass die für den Konsens erforderliche Reduzierung des Regelungsgehalts auch die intendierte soziale Wirkung vermindert.

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So sind die gegenwärtig international verhandelten und zäh umkämpften sozialen Mindeststandards – nämlich Verbot von Kinder- und Sklavenarbeit, Diskriminierungsverbot und Freiheit für gewerkschaftliche Interessenvertretung – kaum dazu geeignet, internationalen Wettbewerbsdruck auf Löhne und soziale Absicherung wirksam zu mindern. Sie dienen allenfalls dazu, essentielle Rechte mit Hilfe von Handelssanktionen durchzusetzen. Selbst hierbei stehen intendierte und reale Wirkung nicht in einem eindeutig positivem Verhältnis. Aber das gilt es hier nicht zu diskutieren.

Um die transnational mobilen Unternehmen wieder stärker in die soziale Verpflichtung zu nehmen, hat der Weg der internationalen Vereinbarungen enge Grenzen. So bleiben die Wege über die Staatsmacht und die Marktmacht.

  • Den Weg über die Staatsmacht zu gehen, verlangt als Voraussetzung, den Wirkungsbereich des Staates im Weltmarkt zu erweitern. Dazu bedarf es großer Staaten, deren Volkswirtschaften dem Weltmarkt nicht auf Gedeih und Verderb ausgeliefert sind und die ihrer Regelsetzung gegebenenfalls dadurch Nachdruck verleihen können, dass sie nicht kooperierende Außenseiter vom nationalen Markt ausschließen – was freilich auch eine Revision gegenwärtiger WTO-Regeln voraussetzt. Der Zusammenschluss der europäischen Staaten zu einem suprastaatlichen Gebilde, das auch im Sozialbereich Regelungskompetenzen hat, könnte diesem Zweck dienen. Es wäre dann die innereuropäische Willensbildung, die darüber entscheidet, wie weit das neu gewonnene Abschottungspotenzial wahrgenommen wird. So wie darüber in den USA auch nicht die Sachzwänge des Weltmarktes entscheiden, sondern die inneramerikanischen Mehrheitsverhältnisse.

  • Der Weg über die Marktmacht läuft darauf hinaus, dass Arbeitskräfte knapp sind und Unterbietungswettbewerb deshalb auf dem Arbeitsmarkt keinen Ansatz findet. Dies würde gegenwärtig relativ hohes wirtschaftliches Wachstum voraussetzen. In nicht allzu ferner Zukunft könnte die bevorstehende Alterung aller westlicher Gesellschaften die erforderliche Arbeitskräfte-Knappheit herstellen, womit sich das Problem des globalisierungsbedingten Drucks auf Löhne und Sozialstandards hierzulande erübrigen würde.

Die Generalalternative zur Wiederherstellung der bedrohten Verhandlungsmacht der Arbeitnehmer ist die Sicherung der Verteilungsbelange über den Wettbewerb auf den Produktmärkten. Dabei wäre zu gewährleisten, dass sich keine privilegierten Arbeitnehmergruppen bilden, die sich in ihren Arbeitsmarktsegmenten gute Einkommen sichern und die Preisvorteile nutzen, die sich aus den gedrückten Löhnen anderer Arbeitnehmergruppen (etwa Dienstpersonal) ergeben. Dies liefe auf die Ausbeutung der schlecht verdienenden Arbeitnehmer durch die gut verdienenden (und nicht durch die Unternehmen!) hinaus. In dem Maße, wie es Teilen der Arbeitnehmerschaft gelingen sollte, sich international zu kartellisieren und so hohe Stundenlöhne auch in international umkämpften Märkten durchzusetzen, und anderen Teilen der Arbeitnehmerschaft nicht, würden genau solche Situationen entstehen.

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Sicherzustellen wäre auch, dass dem verstärktem Wettbewerb nicht Belange zum Opfer fallen, die als „non-negotiables„ gelten sollten, etwa Mutterschutz, physische Sicherheit am Arbeitsplatz oder angemessene ärztliche Versorgung. Hierfür bieten sich zwei Mechanismen an.

  • Belange, die nicht unbedingt auf Betriebs- oder Unternehmensebene geregelt werden müssen (etwa ärztliche Versorgung), vom Arbeitnehmerstatus lösen und am Staatsbürgerstatus festmachen. Die Finanzierung erfolgt dann über die Beiträge der Staatsbürger – einschließlich der Arbeitnehmer – direkt zur Krankenkasse oder zum Staatshaushalt, der dann seinerseits die Gesundheitsfürsorge finanziert. Dies entschärft das letzten Endes künstliche Problem der Lohnnebenkosten und entzieht den entsprechenden Sozialzweck dem Kostenwettbewerb auf den Gütermärkten.

  • Belange, die untrennbar mit der Arbeit verbunden sind, können auf nationaler Ebene gesetzlich geregelt werden. Die eventuellen Mehrkosten, die an einem nationalen Standort dadurch anfallen, dass andere Standorte laschere Regelungen haben, werden entweder durch Abschläge von den Löhnen (arbeitnehmerfinanziert) oder Subventionen aus der Staatskasse (staatsbürgerfinanziert) neutralisiert. Unter den oben skizzierten Voraussetzungen käme dies keiner Subventionierung des Unternehmens gleich. Dieses würde ja vom Wettbewerb gezwungen, alle Preisvorteile an die Konsumenten weiterzugeben. Es wären vielmehr die nationalen Verbraucher, die einen Teil des Preisvorteils zur Durchsetzung der politisch für vorrangig erklärten sozialen Belange abtreten würden, oder die Arbeitnehmer, die z.B. für eine Kombination von etwas mehr Urlaub und etwas weniger Lohn optieren würden.

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Nord-Süd: das alte Kernproblem der globalen Wirtschaft


„Globalisierung„ der Globalität:
Leicht verbesserte Perspektiven für die weltwirtschaftliche Peripherie

Weitet man die Betrachtung auf die Entwicklungsländer aus, verschiebt sich die Optik. Im Vordergrund steht zunächst nicht der Gegensatz von mobilen und immobilen Akteuren, von Arbeit und Kapital, sondern die gewaltige Diskrepanz im Lebensstandard der breiten Massen zwischen den hoch entwickelten Ländern des „Nordens„ und den armen Ländern des „Südens„. Diese ist kein Produkt jener neueren, Grenzen immer durchlässiger machenden, Entwicklungen, die heute mit dem Globalisierungsbegriff erfasst werden, sie ist ein alt bekanntes Phänomen aus „vorglobalen„ Zeiten. Die zentrale Fragestellung wäre demnach: Wie wirkt sich „Globalisierung„ auf die Diskrepanz in den Lebenschancen zwischen „Nord„ und „Süd„ aus? Verschlechtert sie die Perspektiven des Südens, den Abstand zu verringern?

Aus der Sicht des „Nordens„ erscheinen die Entwicklungsländer leicht als Teil des Globalisierungsproblems; denn von ihnen geht der Wettbewerbsdruck aus, der – so die Befürchtung – weltweit Niedrigstandards durchzusetzen droht. Andererseits werden die Entwicklungsländer, sofern sie nicht zur Kategorie der „Tiger„ gehören, oft als Globalisierungsverlierer gesehen.

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Dahinter steht die Vorstellung, dass sie den transnational agierenden Unternehmen noch viel stärker ausgeliefert sind, als die Industrieländer des Nordens, weil sie weniger als diese in die Waagschale zu werfen haben. Sie haben im allgemeinen keine attraktiven Märkte und keine guten Voraussetzungen für hohe Produktivität oder qualitativ hochwertige Produktion. Folglich können sie nur über den Preis der Standortfaktoren, sprich über niedrige Löhne und Steuergeschenke, konkurrieren. Diese Vorteile teilt jedes einzelne Entwicklungsland mit den anderen. Sie sind deshalb gerade in den Bereichen, die sich besonders leicht verlagern lassen, einem erbarmungslosen Konkurrenzkampf untereinander ausgeliefert.

Entwicklungsländer als Globalisierungsverlierer, das hebt auch auf politischen Druck ab, sich dem globalen Standortwettbewerb auszuliefern und alle Versuche, durch selektive Unterbindung von grenzüberschreitenden Waren- und Kapitalbewegungen eine eigene nationale Akkumulationsdynamik zu ermöglichen, tunlichst sein zu lassen. Schließlich wird die Gefahr betont, dass mit der Integration in den Weltmarkt eine Desartikulation der lokalen Märkte einher geht, die zur Verarmung breiter Bevölkerungsschichten führt, selbst wenn sich volkswirtschaftliche Aggregatgrößen wie das Bruttoinlandsprodukt positiv entwickeln. D.h. die Wirtschaftsentwicklung im globalisierten Markt schließt Viele aus.

Zwei Dinge sind zu klären.

  • Wie weit haben Entwicklungsländer in der heutigen „globalisierten„ Weltwirtschaft einen schlechteren Stand als in der früheren, nicht in gleicher Weise globalisierten? Von welchen Faktoren geht eine Verschlechterung ihrer Entwicklungschancen aus, von welchen evtl. auch eine Verbesserung?

  • Wie weit haben Entwicklungsländer heute noch die Option, sich den ungünstigen Aspekten der Globalisierung zu entziehen?

Das zentrale Problem der sogenannten Entwicklungsländer war von jeher ihr „peripherer„ Status in der Weltwirtschaft. Sie hatten als Ort der fortgesetzten Kapitalakkumulation geringere Chancen als die „zentralen„ Zonen der Weltwirtschaft. Für international mobiles Kapital waren sie unattraktiv, wenn man von der Erschließung einiger naturbedingter Standortvorteile (Bodenschätze, Klima), später auch billiger ungelernter Arbeitskraft absieht. Die Nachteile der „Peripherie„ lassen sich wiederum mit dem Begriff der geringen „industriellen Fertilität„ (dazu gehören physische Infrastruktur, Humankapital, bereits vorhandene Produktionsdichte, Marktnähe, kulturelle Faktoren, politische Stabilität) erfassen. Entwicklungschancen ergeben sich für die „Peripherie„ über zwei Strategien:

  • Allmähliche Überwindung des Peripherie-Status durch sukzessives Verbessern der „industriellen Fertilität„;

  • Verbesserte Ausnutzung des spezifischen Peripherie-Vorteils der niedrigen Faktorkosten.

Während die erste Strategie nach dem Listschen Prinzip des Erziehungszolls eine selektive Abkopplung vom Weltmarkt nahe legen mochte, wurde die zweite Strategie durch die mit

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dem Begriff „Globalisierung„ erfassten Prozesse (verringerte „diseconomies of distance„, offenere Märkte des Nordens, gewaltig verbesserter Informationsfluss) deutlich begünstigt. So gesehen verschaffte die Globalisierung der Peripherie zusätzliche Optionen. Entwicklungsländer können, wenn sie sich dazu politisch in der Lage sehen, für die erste Strategie optieren (einst der deutsche, amerikanische und japanische Weg, nach dem zweiten Weltkrieg der ostasiatische Weg). Sollten sie diesen lang anhaltenden Kraftakt aber aufgrund fehlender gesellschaftlicher und politischer Voraussetzungen nicht schaffen, bietet ihnen die weniger anspruchsvolle zweite Strategie bessere Chancen, als dies vor der Globalisierung zu Ende des 20. Jahrhunderts der Fall war. Denn transnationale Unternehmen können einen Großteil jener Entwicklungsaufgaben übernehmen, die einst als Vorleistung für Weltmarktfähigkeit erforderlich waren. Aber für welche Strategie sie auch optieren, Entwicklungsländer haben ein klares Interesse daran, dass die Globalisierung, was die Märkte für Güter und Dienstleistungen betrifft, nicht von nördlichen Bremsern behindert wird.

Es stellt sich allerdings die Frage, wie weit die Globalisierung nicht gleichzeitig eine Entwicklungsstrategie erschwert, die über eine gewisse Zeit eines partiellen Schutzes vor ausländischer Konkurrenz bedarf. Man kann die Frage verdeutlichen: Wären heute, „im Zeitalter der Globalisierung„, die ostasiatischen Entwicklungserfolge der sechziger, siebziger und achtziger Jahre noch möglich? Die Antwort, die ostasiatische Finanzkrise von 1998 habe gezeigt, wohin die Reise gehe, wäre vorschnell. Diese Krise war spezifischen und vermeidbaren Faktoren geschuldet, auf die im nächsten Abschnitt einzugehen sein wird. Richtig an der Antwort ist jedoch, dass die neue Verwundbarkeit nicht unwesentlich das Ergebnis von politischen Weichenstellungen ist, die unter dem ideologischen Druck des neoliberalen Zeitgeists und vielleicht auch ganz konkretem politischen Druck der USA vorgenommen worden waren. Nicht alle Länder haben dem Druck nachgegeben. Als Beispiele seien Indien und China genannt. Beide Länder, ebenso wie die zum Teil phänomenale Erholung der ostasiatischen Krisenländer, sprechen für die These, dass eine Politik der selektiven Integration in den Weltmarkt auch heute noch möglich ist.

Die Negativbeispiele aus der Dritten Welt, etwa die Reihe der afrikanischen Fiaskoländer oder die Dauerkrise einst hoffnungsvoller lateinamerikanischer Länder, sind ebenfalls kein Beleg für eine inhärente Entwicklungsfeindlichkeit der Globalisierung. Die Wurzeln dieser Problemfälle reichen weit in die Zeit vor der Globalisierung nach heutigem Verständnis zurück. Alle diese Problemfälle haben viel mit schlechter Wirtschaftspolitik zu tun, was immer hierfür die Gründe gewesen und weiterhin sein mögen. Aber sie haben auch etwas mit der Position dieser Länder in der internationalen Arbeitsteilung zu tun. Ihre Entwicklungskrisen, so unterschiedlich sie auch in wichtigen Aspekten sind, hängen mit einer doppelten Abhängigkeit vom Weltmarkt zusammen: nämlich (a) der Abhängigkeit von einer äußerst kleinen Palette von Exportgütern zum Erwerb von Devisen und (b) der sehr begrenzten Fähigkeit zur Importsubstitution, d.h. einer schwer überwindbaren Importabhängigkeit auf breiter Front. So „hausgemacht„ die diversen Entwicklungskrisen in vieler Hinsicht auch sein mögen, die

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Probleme, mit denen die Länder nicht fertig werden, leiten sich ab aus der Art ihrer Einbettung in die Weltwirtschaft. Es sind, wenn man so will, die Probleme einer Globalität, die für die peripheren Zonen der Weltwirtschaft schon lange Realität war, bevor der Globalisierungsbegriff kreiert wurde. Die Globalisierung, auf die man heute so fasziniert blickt, bringt für die peripheren Länder strukturell wenig Neues – außer, wie gesagt, dass sie ihre Perspektiven leicht verbessert.


Soziale Gestaltung: Erst, wenn uns alle der Teufel holt?

Das programmatische Wort von der sozialen Gestaltung der Globalisierung müsste für die seit langem „globalisierte„ Peripherie vor allem an den spezifischen strukturellen Nachteilen ansetzen, die sich aus dem peripheren Status in der verflochtenen Weltwirtschaft ableiten. Der zentrale Ansatz hierfür wäre, diese Nachteile abzumildern, um die Chancen der Peripherie zu wirtschaftlichem Wachstum – der Basis eines höheren Lebensstandards für die Menschen – zu verbessern. Ein zweiter Ansatz zielt auf die wirtschaftlichen Strukturen in der Peripherie, mit dem Ziel, Marginalisierung breiter Bevölkerungsschichten zu verhindern. Beide Ansätze gehen nicht Hand in Hand. Der zweite Ansatz kann gewisse Abstriche am ersten Ansatz verlangen. Wichtig ist jedoch, dass der erste Ansatz, die Abmilderung der spezifischen Peripherie-Nachteile, nur von der „internationalen Gemeinschaft„ übernommen werden kann, während der zweite Ansatz zunächst einmal in die Zuständigkeit der Entwicklungsländer selbst fällt. Die „internationale Gemeinschaft„ kann sich aber in deren Innenpolitik zugunsten der sozial Schwachen einmischen.

Traditionelle Entwicklungshilfe im Sinne der Finanzierung von Entwicklungsprojekten samt des zugehörigen Transfers von Wissen ist ein äußerst schwacher Eingriff in die Strukturen der Unterentwicklung, auch wenn er für einzelne Staatshaushalte eine extrem hohe Bedeutung hat. Wesentlich wirkungsvoller sind Eingriffe in die Strukturen von Angebot und Nachfrage mit der Stoßrichtung,

  • die Absatzchancen für Entwicklungsländerprodukte in den Industrieländern zu erhöhen,

  • die Preise, die Entwicklungsländer mit ihren Exporten erzielen, zu erhöhen,

  • gleichzeitig den Entwicklungsländern die vorübergehende selektive Abschirmung ihrer Binnenmärkte zu erleichtern,

  • produktive Neuinvestitionen verstärkt in Entwicklungsländer zu lenken (so ähnlich, wie es innerhalb von Staaten regionale Entwicklungspolitik tut),

  • Verschuldenssituationen, die sich als Entwicklungsblockade erweisen, beschleunigt und kulant zu bereinigen,

  • Entwicklungsländern die Verwendung kommerziell geschützten Produktionswissens zu erleichtern,

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  • Menschen aus Entwicklungsländern den Zugang zu den Arbeitsmärkten des „Nordens„ zu erleichtern.

Derartigen Maßnahmen „globaler Strukturpolitik„ (früher war hier der Begriff der „Neuen Internationalen Wirtschaftsordnung„ en vogue) laufen zum Teil auf ein Mehr an Globalisierung hinaus (erleichterter Marktzugang für Entwicklungsländer), zum Teil aber auch darauf, die Marktkräfte aktiv – und gleichzeitig intelligent, das heißt maßnahmenbezogen jeweils Kosten und Nutzen abwägend – zugunsten der Peripherie umzulenken. Ein ganz entscheidender Durchbruch ließe sich allerdings mit einer Politik erzielen, die den einzigen noch weitgehend abgeschirmten nationalen Wirtschaftsbereich der „Globalisierung„ öffnet: die Arbeitsmärkte. Innerhalb der Nationalstaaten ist die Migration der Peripheriebewohner in die wirtschaftlichen Ballungszonen eine wichtige Dimension des Ausgleichs zwischen prosperierenden und weniger prosperierenden Regionen. Dieser Ausgleich bleibt auf weltwirtschaftlicher Ebene bisher so gut wie verschlossen. Die weltwirtschaftliche Peripherie, sprich: der „Süden„, hat nur ganz begrenzt die Möglichkeit, ihre Menschen in die Arbeitsmärkte der Zentren zu schicken. Das Privileg des Zugangs zu diesen Märkten bleibt im Großen und Ganzen den Staatsbürgern der Industrieländer vorbehalten. Letztere schützen mit dieser Zugangsbeschränkung nicht nur ihre eigenen Arbeitskräfte, die sonst mit den Zuwanderern konkurrieren müssten, sondern sichern ihren Staatsbürgern gleichzeitig die Vorteile der – kontrollierten – Globalisierung auf den Gütermärkten, nämlich die billigen Waren aus den Niedriglohnländern.

Insgesamt sind die Industrieländer und jene, die es dank erfolgreicher Entwicklungspolitik schaffen, zu ihnen aufzuschließen, nach wie vor die Nutznießer einer asymmetrischen Globalisierung. Die damit verbundenen Privilegien freiwillig aufzugeben, kann ihnen nur angesonnen werden, wenn mindestens eine von zwei Bedingungen gegeben ist:

  • Der Nutzen der Peripherie gereicht den Zentren nicht zum Nachteil, weil sich gleichzeitig der zu verteilende „Kuchen„ vergrößert. D.h. globale Strukturpolitik kann so dosiert werden, dass zusätzliche Wachstumsimpulse für die Weltwirtschaft entstehen und in ihrem Verlauf neue geschützte Nischen für die Hochlohnarbeiter des Nordens. Möglicherweise erweitern sich hierfür die Chancen im Zuge der bevorstehenden dramatischen Alterung aller Industriestaaten samt dem damit verbundenen Bevölkerungsrückgang.

  • Die fortgesetzte Schlechterstellung der Peripherie führt zu unkontrollierbaren Prozessen, die auch den Industrieländern spürbaren Schaden zufügen. Willy Brandt sagte seinerzeit im Zusammenhang mit dem Bericht der von ihm geleiteten Nord-Süd-Kommission: „Sonst wird uns alle der Teufel holen„. In den Ereignissen des elften September 2001 mag dieser Teufel sich wieder einmal kurz in Erscheinung gebracht haben.

Insgesamt erscheint Skepsis angebracht, dass die national fragmentierte politische Welt zu einer sozialen Gestaltung von Globalisierung im Sinne einer von Gerechtigkeitsvorstellungen geleiteten Umverteilung von Lebenschancen in der Lage ist. Das Nachdenken sollte sich rea-

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listischerweise auf die Möglichkeit für ökonomische Positiv-Summen-Spiele konzentrieren. Hierunter würde auch ein stärkeres politisches Engagement der Industrieländer für den Fortschritt in Entwicklungsländern fallen. Alles, was mithilft, interne Entwicklungsblockaden in der Dritten Welt zu überwinden, ist Teil der sozialen Gestaltung von Globalität. Denn solche internen Blockaden sind nach wie vor wahrscheinlich ebenso wichtig wie günstige weltwirtschaftliche Bedingungen. Einmischung in innere Angelegenheiten von Entwicklungsländern wäre also durchaus angesagt, allerdings mit einer „aufgeklärteren„ Zielrichtung, als sie derartige Einmischung in der Welt, wie wir sie kennen, bislang in aller Regel geleitet hat. Wieder stellt sich die Frage, aus welcher Motivationslage das „aufgeklärtere„ Vorgehen kommen soll. Brauchen wir selbst hierfür die Angst vor bevorstehenden Katastrophen?

Eine Dynamisierung der Entwicklungsländer-Volkswirtschaften würde die nachhaltige Besserstellung breiter Schichten langfristig zweifellos begünstigen. Dennoch kann die jetzige Generation von Armen außen vor bleiben. Zusätzliche Maßnahmen sind angebracht, um auch sie besser zu stellen. Diese Maßnahmen laufen auf Umverteilung hinaus. Ansatzpunkte sind:

  • Umverteilung von produktiven Assets, z.B. Boden,

  • Erhöhung des Angebots an essentiellen öffentlichen Gütern (Bildung, ärztliche Versorgung),

  • Schutz von lokalen Wirtschaftskreisläufen, die viele Menschen absorbieren, gegen vorschnelle Produktivitäts-Revolutionen, die von der Einbindung in internationale Austauschbeziehungen herrühren.

Dies sind Dinge, die im politischen System des jeweiligen Landes ausgehandelt werden (gelegentlich auf gewaltsamem Weg). Aber Einmischung von außen, wenn sie denn die richtigen Zwecke und die richtigen Kräfte unterstützt, kann dazu beitragen, sozialere Verhältnisse herbeizuführen.

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Stärkung des weltweiten Wirtschaftswachstums:
der verborgene Königsweg



Viel kann getan werden, aber der Erfolg ist nicht machbar

Ein Großteil der sozialen Probleme, die man heute in den Industrieländern oft der Globalisierung zuschreibt, hängt unmittelbar mit der Verlangsamung des Wirtschaftswachstum zusammen. Genauer gesagt, ist es diese Verlangsamung verbunden mit der Nichtanpassung der politisch bestimmten Verteilungsstrukturen. Die Strukturen, um die es geht, betreffen (a) den Arbeitsmarkt und (b) den Sozialstaat. Letzterer ist als Pendant zur Vollbeschäftigungswirtschaft konzipiert, und zwar einer Vollbeschäftigungswirtschaft zu Löhnen, die auch am unteren Ende „akzeptabel„ sind. Diese Art von Vollbeschäftigungswirtschaft ist heute nicht mehr mit jenen Arbeitsmarktstrukturen zu vereinbaren, die zur Zeit hohen Wachstums unproblematisch waren. Soziale Polarisierung im Gefolge von entweder Massenarbeitslosigkeit (konti-

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nentaleuropäisches Verlaufsmuster) oder deregulierten Arbeitsmärkten ohne soziale Abfederung (amerikanisches Verlaufsmuster) ließe sich mit Hilfe angemessenen Arbeitsmarktreformen abwenden. Länder wie Dänemark, Schweiz, Österreich sowie mit Einschränkungen die Niederlande zeigen Ansätze hierzu. Derartige Reformen sind allerdings nicht zum Nulltarif zu haben. Viele Arbeitnehmer müssten Opfer bringen, damit viele andere nicht „hinten runter fallen„.

Der Anpassungsbedarf ist aber geringer, die Kosten sind niedriger, wenn das Wirtschaftswachstum hoch ist. Bei gegebenen politischen Blockaden, die einer Anpassung der Arbeitsmarktstrukturen im Wege stehen, führt höheres Wirtschaftswachstum unmittelbar zu sozial akzeptableren Ergebnissen. Der Problemdruck nimmt weniger schnell zu und ab einer bestimmten, längerfristig durchgehaltenen Wachstumsrate vermindert er sich. Dies gilt für die neueren sozialen Probleme der hoch entwickelten Industrieländer und es gilt für das alte Problem des Nord-Süd-Wohlstandsgefälles. Nachhaltig hohes Wirtschaftswachstum ist gleichsam der Königsweg zur sozialen Gestaltung der globalen, globalisierten oder sich globalisierenden Wirtschaft. Die Globalisierung sozial gestalten, heißt in diesem Sinne: die globale Wirtschaft dynamisieren.

Das wirft die Frage auf, was uns davon abhält, diesen Königsweg zu beschreiten. In unserem Kontext stellt sich insbesondere die Frage, ob es globalisierungsbedingte Wachstumshemmnisse gibt. Bisweilen wurde darauf hingewiesen, dass globalisierungsbedingte Regulierungsdefizite, etwa was makroökonomische Steuerung betrifft das gute Funktionieren der Weltwirtschaft beeinträchtigen und weltweit das Wirtschaftswachstum verlangsamt haben. Wie weit Derartiges zutrifft, darüber soll hier nicht spekuliert werden. Auf die spezifischen Gefahren unzureichend regulierter Finanzmärkte wird unten gesondert eingegangen. Das zeitliche Zusammenfallen eines signifikanten Wachstumsrückgangs mit den zentralen Prozessen des Globalisierungssyndroms (fortgesetzte, wenn auch keineswegs vollständige, Liberalisierung der Güter- und Dienstleistungsmärkte; Vordringen der transnationalen Organisation von Produktionsprozessen innerhalb von Unternehmen oder Unternehmensverbünden; weitgehende Liberalisierung der Finanzmärkte; zunehmende, obgleich nach wie vor stark eingeschränkte, grenzüberschreitende Migration) ist noch kein Beleg für einen Kausalzusammenhang. Glanzzeit und Niedergang der Bretton-Woods-Ordnung sind ganz gewiss ein komplexeres Phänomen, als mit der Globalisierungsvariable erfasst werden kann. Immerhin setzt die empirische Evidenz des – trotz des amerikanischen „Jahrhundertbooms„ der 90er Jahre – rückgängigen Wachstums ein dickes Fragezeichen hinter die gängige These von der wohlfahrtserhöhenden Wirkung der Globalisierung. Die fortschreitende globale Integration der Märkte mag mit einer effizienteren Organisation der weltweiten Produktion verbunden sein, weil komparative Kostenvorteile ausgenutzt werden und vielleicht auch, weil sich zusätzliche Skalenerträge ergeben. Aber die viel wichtigere Quelle von Prosperität, nämlich die Erweiterung des Produktionspotenzials, kann dabei dennoch an Kraft verlieren.

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Es mangelt nicht an Ratschlägen von Seiten der Wirtschaftswissenschaft, was zu tun wäre. Viele dieser Ratschläge richten sich auf sogenannte „no-regret-Maßnahmen„, also Dinge, die nie schaden können. Aber renommierte Ökonomen mahnen auch zur Skepsis, was die letztendliche Machbarkeit von anhaltend hohem weltweitem Wirtschaftswachstum betrifft. Empfohlene „no-regret-Maßnahmen„ zielen auf

  • eine stabile Nachfrage und stabile zugehörige Erwartungen, herbeizuführen durch eine angemessene Kombination von Fiskal-, Lohn- und Geldpolitik;

  • die Vermeidung makroökonomischer Schocks in Form von Verschuldenskrisen, zu gewährleisten (a) durch eine angemessene Regulierung und Beaufsichtigung des Kreditwesens, (b) durch angemessene Vorkehrungen zur Schadensreduzierung im Krisenfall, (c) durch angemessenes Wechselkursmanagement;

  • die Vermeidung von Preisschocks bei wichtigen Inputs (etwa Energie), zu gewährleisten (a) durch angemessene Regulierung der entsprechenden Märkte, (b) durch vorausschauendes Ressourcenmanagement;

  • eine attraktive Rentabilität produktiver Investitionen, zu sichern durch niedrige Realzinsen;

  • einen hohen Grad an unternehmerischer Innovation, zu begünstigen (a) durch die Förderung von Unternehmertum, insbesondere auch durch Strukturen, die unternehmerisches Handeln auf der sogenannten „Mesoebene„ unterstützen, (b) durch staatlich finanzierte Produktion technologischen Wissens, (c) durch das Ausschalten von Regeln, die unternehmerische Initiative hemmen, (d) durch die Förderung von Wettbewerb und das Ausschalten von Rentenquellen;

  • flexible Faktor- und Produktmärkte, die sich möglichst reibungslos an veränderte Bedingungen (Nachfrage, Konkurrenz, Innovationen) anpassen;

  • einen hohen Bestand an „Humankapital„, herbeizuführen durch angemessene Bildung und Fortbildung.

Es mangelt auch nicht an kontroversen Empfehlungen, wie z.B. Stimulierung der Massennachfrage durch Umverteilung oder Stimulierung der Investition durch Lohnzurückhaltung und Steuererleichterungen. Wir müssen es bei diesem Mangel an Eindeutigkeit belassen und konstatieren, dass es keineswegs klar ist, wie das für die soziale Gestaltung der globalen Wirtschaft so wichtige Zwischenziel beschleunigten Wachstums erreicht werden kann. Eins ist jedoch festzuhalten: Der mittlerweile erreichte Grad an globaler Interdependenz verlangt „globale„ Lösungen. Wohl mag es dem einen oder anderen Land gelingen, sich vom weltweiten Wachstumstrend nach oben abzusetzen und sich einen besseren Platz im Weltmarkt zu sichern. Für Entwicklungsländer ist dies nach wie vor das eigentliche Ziel. Gleichzeitig aber stellt die Dynamik des Weltmarktes für alle Länder, die relativ erfolgreichen, wie die relativ erfolglosen, einen zentralen Faktor in der wirtschaftlichen Wachstumsgleichung dar. Das

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heißt, jedes Land hat ein großes Interesse daran, dass im Rest der Welt die Wirtschaft zügig wächst. Die Dynamisierung der weltweiten Nachfrage, von der alle profitieren, muss somit auch als ein gemeinsames Ziel der Staatengemeinde gelten. Allein aufgrund ihres Gewichtes kommt dabei den großen Volkswirtschaften (USA, Euroland, China, Japan) eine besondere Bedeutung – unter dem normativen Aspekt der sozialen Gestaltung könnte man sagen: eine besondere Verantwortung – zu. Die amerikanische Hochkonjunktur und das phänomenale Wachstum Chinas müssen in den 90er Jahren als Stützen der Weltkonjunktur angesehen werden, während von der kränkelnden japanischen Wirtschaft eine Bremswirkung auf den Rest der Welt ausging. Die EU wäre unter dieser Perspektive als Trittbrettfahrer zu bezeichnen.

Aus der gemeinsamen Verantwortung für jenes weltweite Wachstum, das für die soziale Gestaltung der Welt so entscheidend ist, kann freilich keine Notwendigkeit eines gemeinsamen Vorgehens abgeleitet werden. Ob der Weltwirtschaft mehr geholfen ist, wenn alle großen Länder „ihre Hausaufgaben„ machen oder wenn sie ihre Wirtschaftspolitik aufeinander abstimmen, ist eine Frage, die nicht schlüssig beantwortet werden kann. Der Gedanke der wirtschaftspolitischen Koordinierung ist ebenso pauschal plausibel wie er in wichtigen konkreten Aspekten kontrovers bis fraglich ist. Dinge wie die Regulierung der globalen Finanzmärkte (siehe unten), die Vermeidung weltweiter Preisschocks oder ein vorausschauendes Ressourcen-Management (einschließlich der ökologischen Absicherung des Wirtschaftswachstums) sind klare Kandidaten für abgestimmtes Vorgehen. Dass dies auch für die Stabilisierung der Nachfrage, die Stärkung unternehmerischer Initiative, die Förderung technologischer Innovation, die Flexibilisierung von Angebotsstrukturen oder die Bildung von Humankapital zutrifft, ist auf Anhieb weniger überzeugend.


Zähmung der internationalen Finanzmärkte: dringlich und machbar

Das Gebiet, auf dem „die Globalisierung„ am direktesten zu beobachten ist, sind die Finanzmärkte. Fortschritte in der Kommunikationstechnologie und weitreichende Liberalisierungsmaßnahmen vieler Staaten, darunter aller wichtigen Industriestaaten, haben einen wahrhaft globalen Markt für Finanzmarkttitel (Schuld- und Eigentumstitel, Devisen, Derivate) geschaffen. Auch viele Entwicklungsländer haben ihre Grenzen für Finanztransaktionen weit geöffnet. Andere haben sich allerdings bislang zurückgehalten.

Inzwischen ist offenkundig geworden, dass die Globalisierung der Finanzmärkte ernste Gefahren sowohl für nationale Volkswirtschaften (mit potenziell verheerenden sozialen Folgen) als auch für die Weltwirtschaft als Ganzes mit sich bringt. Diese Gefahren hängen mit der Funktionsweise von Märkten für Finanztitel – im Gegensatz zu Produkt- und Arbeitsmärkten – schlechthin zusammen. Ein starkes spekulatives Element ist hier stets vorhanden und kann Eskalationsprozesse auslösen, die zwar von den Vorgängen in der realen Ökonomie, wo es um Herstellung und Verkauf von Gütern und Dienstleistungen geht, kaum noch etwas zu tun haben, die aber gravierende Auswirkungen auf diese reale Ökonomie haben. Die Wahr-

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scheinlichkeit und das Ausmaß derartiger Finanzkrisen hängen darüber hinaus von den Sicherheitsnetzen ab, die auf den diversen Ebenen, den nationalen und der internationalen, eingezogen sind. Die Globalisierung der Finanzmärkte bringt hier dringenden Handlungsbedarf mit sich. Die Länder, die ihre Märkte öffnen, stehen vor der Aufgabe, ihr Kreditwesen krisensicherer zu machen (Eigenkapitalanforderungen, Bankenaufsicht u.a.) und die Liberalisierung der einzelnen Teilmärkte auf den Fortschritt bei diesem Unterfangen abzustimmen. Die Staatengemeinschaft muss international geltende Regeln erlassen, die auf das Verhalten von Kapitalanlegern und Schuldnern so einwirken, dass sich weniger leicht krisenanfällige Verschuldenssituationen herausbilden. Sie muss Kontrollmechanismen etablieren, die das Entstehen solcher Situationen frühzeitiger erkennen lassen. Und sie muss Vorkehrungen treffen, die im Krisenfall eine bessere Schadensbegrenzung ermöglichen.

Hier ist nicht der Ort, Pro und Contra spezifischer Ansätze zu einer robusteren internationaleren „Finanzarchitektur„ zu diskutieren. In der zugehörigen Debatte, die nach den großen Finanzkrisen von 1998/99 intensiv geführt und mittlerweile in Fachgremien außerhalb des politischen Rampenlichts verwiesen wurde, gehen Kriterien technischer Angemessenheit und Gruppeninteressen ineinander über. Viele haben den Eindruck, dass letztere das Spektrum der politisch durchsetzbaren Optionen stärker einengen, als es unter dem Zielaspekt der Krisenvermeidung und -bewältigung angebracht wäre. Die großen Industrieländer, und unter ihnen ganz besonders die USA, tendieren dazu, regulierende Eingriffe in die internationalen Finanzströme möglichst gering zu halten. Sie stellen die positiven Aspekte freier Finanzmärkte in den Vordergrund und die Wohlfahrtsminderung, die eine zu starke Beschneidung der Freiheit auf diesen Märkten mit sich brächte. Implizit schwingt das Argument mit: Gelegentliche Krisen, die trotz verbesserter Transparenz, Bankenaufsicht etc. auch in Zukunft auftreten, sind der Preis, der für die wohlfahrtssteigernde Gesamtwirkung möglichst freier Finanzmärkte zu entrichten ist. Zu viel Krisenvermeidung würde die internationalen Finanzströme über Gebühr austrocknen – nicht zuletzt zum Schaden der Entwicklungsländer.

Man darf hier, ohne in die Details der Regulierungsdebatte zu gehen, gleichsam Generalskepsis anmelden. Die großen „Erfolgsstories„ der aufholenden Entwicklung wurden zum größten Teil unter einem Regime stark regulierter Finanzmärkte geschrieben. Auch das „goldene Zeitalter des Kapitalismus„ mit seiner gewaltigen Zunahme des Massenwohlstands in den OECD-Ländern war recht restriktiv, was die grenzüberschreitenden Finanzkapital-Ströme anging. Die sukzessive Liberalisierung der Finanzmärkte – ihre „Globalisierung„ gleichsam – war hingegen mit einem deutlichen Rückgang von weltweitem Wirtschaftswachstum verbunden. Auch wenn diese Beobachtung per se nicht die These rechtfertigt, die Globalisierung sei schuld am Wachstumsrückgang, so bringt sie doch die These von der wohlfahrtssteigernden Wirkung offener Kapitalmärkte in arge Beweisnot. Dies spricht dafür, dem Schutz der armen Länder vor herben wirtschaftlichen Rückschlägen, die für manche Bevölkerungsgruppen eine existentielle Dimension annehmen, Vorrang zu geben vor fragwürdigen globalen Effizienz-

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steigerungen. Soziale Gestaltung der Globalisierung würde eine derartige Prioritätensetzung nahe legen.

Aber auch die Entwicklungsländer selbst sind gefordert. Sie haben die Möglichkeit, sich gegen die unmittelbaren Risiken unzureichend regulierter Finanzmärkte zu schützen – wenn auch nicht gegen die Wachstumseinbußen, die aus Finanzkrisen anderswo herrühren. Es besteht keine Notwendigkeit, ausländischem Kapital unkontrollierten Zugang zu nationalen Finanzmarkttiteln zu gewähren, bzw. nationalen Personen und Firmen zu erlauben, nach Belieben ausländische Kredite aufzunehmen. Im Sinne einer sozialen Gestaltung von Globalisierung wäre es, die Entwicklungsländer zur Beibehaltung – oder auch Wiedereinführung – auf die administrative Kapazität des Landes und die konjunkturelle Situation abgestimmter Kapitalverkehrskontrollen zu ermutigen und sie keinesfalls unter Liberalisierungsdruck zu setzen. Das oft vorgebrachte Argument, dies würde den von diesen Ländern dringend benötigten Kapitalzufluss einschränken, ist nicht stichhaltig. Denn diejenigen Formen von Kapitalzufluss, die für die nationale Wirtschaftsentwicklung vor allem wünschenswert sind, insbesondere ausländische Direktinvestitionen und gegebenenfalls Kredite zur Vorfinanzierung von Investitionsvorhaben und von Außenhandel, sind von jeher auch ohne Öffnung der Finanzmärkte möglich gewesen. Wo Rendite winken – eine Funktion der realwirtschaftlichen Perspektiven eines Landes –, konkurrieren ausländische Unternehmen um das Privileg, die entsprechenden Investitionen vornehmen zu dürfen.

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Global Governance ist gut,
aber über die wirksamen Waffen verfügt der Nationalstaat


Die seit langem bestehende räumliche Struktur der arbeitsteiligen, interdependenten Weltwirtschaft ist mit immensen sozialen Diskrepanzen verbunden. Die reichen, hoch entwickelten Länder könnten viel dazu beitragen, diese Unterschiede abzubauen. Dienlich wären dem in erster Linie Veränderungen in den jetzt geltenden Marktparametern. Sie liefen einerseits auf eine Öffnung von Güter- und Arbeitsmärkten hinaus, andererseits auf politische Interventionen in das Marktgeschehen, mit dem Ziel, die räumlichen Verteilung produktiver Investitionen zu beeinflussen, und mit dem Ziel, Eigentumsrechte (etwa von Gläubigern oder Patentinhabern) zu lockern. Ein Teil dieser Maßnahmen lässt sich sinnvoll nur auf der Ebene multilateraler internationaler Übereinkommen vorstellen. Aber zumindest die großen Industrieländer – oder das suprastaatliche Gebilde der Europäischen Union – können für sich signifikant dazu beitragen, dass die Weichen für die armen Länder der weltwirtschaftlichen Peripherie günstiger gestellt sind. Die Schwierigkeiten mit dem Zustandekommen peripheriefreundlicherer globaler Regime können nicht als Alibi für die relative nord-süd-politische Enthaltsamkeit der großen Industrieländer herhalten, eine Enthaltsamkeit, über die auch ihre transferpolitische Betriebsamkeit nicht hinwegtäuschen kann.

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Jene, nationale Grenzen immer durchlässiger machenden Entwicklungen der neueren Zeit, die seit etwa zehn Jahren mit dem Terminus „Globalisierung„ belegt werden, sind insgesamt dazu angetan, die spezifischen Peripherie-Nachteile abzumildern. Insofern können sie als ein Stück „sozialer Gestaltung„ der globalen Wirtschaft angesehen werden. In einem spezifischen Aspekt birgt die neuere Globalisierung allerdings die konkrete Gefahr von Krisen, die für viele Menschen in der Peripherie mit großer wirtschaftlicher Not verbunden ist. Diese Gefahr mit Hilfe eines angemessenen Regelwerks zu vermindern, ist eine Aufgabe der internationalen Gemeinschaft. Zieht man die Verteilung der politischen Gewichte in Betracht, kann man aber auch ohne allzu große Übertreibung sagen: die Verantwortung liegt bei den USA. Solange die internationale Finanzarchitektur labil bleibt, haben die einzelnen Staaten der Dritten Welt zudem die Möglichkeit, mit Hilfe von Kapitalverkehrskontrollen diese spezifische Gefahr der Globalisierung von ihrem eigenen Land fernzuhalten.

Die eigentlichen Globalisierungsverlierer sind indes in den Zentren der Weltwirtschaft zu vermuten. Es sind alle jene, die in erster Linie mit den Kapitalbesitzern im Verteilungskampf stehen: die Arbeitnehmer, die sich auf dem Arbeitsmarkt in zunehmendem Maße mit ausländischer Unterbietungskonkurrenz konfrontiert sehen, und die ortsgebundenen Steuerzahler, die einen größeren Anteil bei der Finanzierung öffentlicher Leistungen übernehmen müssen. Hiergegen hilft letztendlich nur die Bildung von Gegenmacht auf supranationaler Ebene: länderübergreifende, standardsetzende Abkommen bzw. Kartelle. Die Chancen dafür stehen aus mehreren Gründen insgesamt schlecht. Aber die realen Probleme liegen derzeit gar nicht auf der grundsätzlichen Ebene, auf der sich der Gegensatz zwischen mobil gewordenen und immobil gebliebenen Marktteilnehmern in Reinform darbietet. Die zunehmende soziale Polarisierung, die sich in vielen Industriestaaten bemerkbar macht, ist keine Folge der Globalisierung, sondern der mangelnden Anpassung von Arbeitsmarkt und Sozialstaat an die Bedingungen verlangsamten Wirtschaftswachstums. Der Versuch, sie als Globalisierungsprobleme zu deuten und zu bekämpfen, lenkt nur von dem ab, was tatsächlich getan werden müsste. Dies aber liegt weitestgehend im politischen Gestaltungsspielraum der Nationalstaaten.

Es ist allerdings nicht kategorisch auszuschließen, dass verstärkte internationale (Standort-)
Konkurrenz – die zentrale Dimension ökonomischer Globalisierung –in Zukunft stärkeren Druck auf nationale Verteilungsspielräume ausüben wird. Dem werden sich große, ökonomisch diversifizierte Staaten mit relativ niedrigem Außenhandelsanteil besser widersetzen können, da sie für ein eventuelle Teilabkopplung vom Weltmarkt besser gerüstet sind. Der Zusammenschluss der europäischen Staaten zur Europäischen Union kann in diesem Sinne als Vorkehrung für künftige Globalisierungsprobleme gesehen werden.

Die sozialen Probleme alter und neuer Art, die sich im Kontext ökonomischer Globalität ergeben, nehmen an Schärfe zu oder ab, je nachdem, wie die Weltwirtschaft insgesamt wächst. Anhaltendes hohes Wirtschaftswachstum ist der Königsweg zur „sozialen Gestaltung von Globalisierung„. Dies zustande zu bekommen, erscheint wiederum zunächst als Aufgabe der „internationalen Gemeinschaft„. Bei genauerem Hinsehen ergeben sich jedoch wiederum eine

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ganze Reihe von Politikansätzen, die im Kompetenzbereich der einzelnen Staaten liegen, während sich die Gemeinschaftsaufgabe nur in engen Grenzen sowohl klar definieren als auch politisch realisieren lässt.

Die Staatengemeinschaft wird und soll sich weiter mit der sozialen Gestaltung von Globalisierung befassen. Substanzielle Fortschritte sind indes vor allem auf der Ebene der Nationalstaaten zu erwarten. Hierbei sind einige, die großen, mehr gefordert als andere.


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