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Welt im Herbst : neue Risiken und neue Fronten nach dem 11. September / Michael Dauderstädt - [Electronic ed.] - Bonn, 2001. - 20 KB, Text
Electronic ed.: Bonn : FES Library, 2001. - (Politikinfo / Internationale Politikanalyse)

© Friedrich-Ebert-Stiftung


INHALT




    Die unmittelbaren Kosten des Terroranschlags vom 11. September 2001 an Sachwerten sind beachtlich, verblassen jedoch vor den Schäden, die er indirekt durch die Veränderungen in den Köpfen angerichtet hat. „Die Welt ist nicht mehr, was sie einmal war.", eine Plattitüde, die immer gilt, rechtfertigt sich selbst, indem die, die es so sehen, die Welt verändern, erst mal – aber nicht unbedingt auf Dauer! - zum Schlechteren.

Die schlechteste aller Welten

Der wichtigste Effekt des Terrorangriffs ist eine veränderte Perzeption der Risiken einer Vielzahl von Rahmenbedingungen und Aktivitäten (Dimensionen menschlichen Hasses und Vernichtungsbereitschaft, Flugreisen, Leben und Arbeit in Hochhäusern, usw.). Ja, vielen Menschen erscheint nun jede Gefahr realistisch, nachdem sie den Angriff aufs World Trade Center ansehen mussten.

Veränderte Risikoperzeptionen haben unmittelbare Wirkungen in den Wirtschaftstätigkeiten, die professionell Risiken managen wie bei Versicherungen, die ihre Beiträge für Fluglinien erhöhen. Aber auch viele Haushalte werden sparen, um für einen gar nicht rational vorhersehbaren Notfall besser gerüstet zu sein. „Rational" war eine Welt, in der die Wahrscheinlichkeit, dass sich vier von Selbstmörderteams gesteuerte Flugzeuge gleichzeitig auf die symbolischen Zentren der amerikanischen Macht stürzen, null war. Die Normalverteilung aller möglichen Ereignisse und Welten hat sich durch diesen Extremwert gewaltig verschoben.

Jede zukunftsbezogene Entscheidung, jede Investition ist unter diesen Annahmen neu zu bewerten. Zwar werden (würden?) Jahre erneuter Normalität im bisherigen Sinne die Dinge wieder zurechtrücken; aber bis dahin bestimmen die neuen Ängste die Handlungen.

Die erste Dimension dieser Veränderung ist ökonomisch. Die direkten Kosten des Attentatschadens (20-50 Milliarden US-Dollar) nehmen sich gegen die 11 Billionen US-Dollar Wertverlust, den die weltweiten Aktienmärkte seit ihrem Höchststand letztes Jahr hinnehmen mussten, bescheiden aus. Zwar erfolgte nur ein Bruchteil des gesamten Wertverfalls nach dem 11.9.01; aber eine ohnehin rezessiv gestimmte Börsenwelt beschleunigte erst mal ihre Talfahrt.

Da sich die Bewertungen auf den Finanzmärkten auf Erwartungen gründen, brechen sie bei schlechten Erwartungen ebenso ein, wie sie in (scheinbar) besseren Zeiten immer höher steigen. Paul Krugman hat in seiner Analyse der Asienkrise vom „Pangloss-Value" gesprochen, jenem unrealistischen Optimalwert der Investitionen, der sich bei Annahme der besten aller möglichen Welten (d.h. hohe Wachstumsperspektiven und vernachlässigbare Risiken) ergibt. Jetzt scheinen die Werte auf eine pessimistischere Einschätzung zuzustreben – doch ist diese realistisch?

In der Tat verändert sich mit den Erwartungen auch die reale Wirtschaft, etwa durch die bekannten Mechanismen niedrigerer Konsumausgaben bei Vermögensverlusten (auch wenn sie nur Buchverluste sind). Aber manche der jetzt angekündigten Maßnahmen (z.B. Kündigungen und Schließungen) scheinen auch Mitnahmeeffekte zu sein; sie standen aus Gründen vorheriger Überinvestition, überzogener Erwartungen und der Rezessionstendenzen ohnehin an.

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Die Globalisierungsbremse

Ein erstes Opfer pessimistischer Risikowahrnehmungen ist die Globalisierung im Sinne einer immer weiteren Liberalisierung grenzüberschreitender Aktivitäten. Bei den Flügen fängt es an. Die Kosten an Zeit und Geld haben sich spürbar erhöht. Aber kann es bei den Kontrollen des Passagierverkehrs bleiben? Und bei Flügen? Kurz nach dem Attentat hat die US-Küstenwache die Häfen von Washington und New York abgeriegelt. Im Grunde erscheinen jene Kontrollen wieder angezeigt, deren Zeit mit sinkenden Zöllen vorüber schien. Jetzt geht es an den Grenzen (und auch innerhalb) nicht mehr um Pflanzenschädlinge oder Markenklau, sondern um Nuklearsprengsätze, Giftgas und biologische Kampfstoffe.

Der einreisende Ausländer könnte nun nicht mehr nur ein eventuell ungeliebter Konkurrent um den Arbeitsplatz oder Asylant sein, ganz zu schweigen vom begehrten IT-Experten, sondern der Attentäter, der als „Schläfer" getarnt in die andere Gesellschaft eingeschleust wird.

Die globalen Finanzmärkte haben sich als die idealen Kanäle zur Finanzierung der terroristischen Netzwerke entpuppt. Ihr unkontrollierter Wildwuchs gefährdet nun nicht mehr nur die finanzielle Stabilität einiger schlecht gemanagter Volkswirtschaften, sondern erlaubt es den Massenmördern, von ihren Taten zu profitieren, um die nächsten vorzubereiten.

Bei der Kontrolle des Internet und der weltweiten Kommunikationsnetzwerke, deren relative Anarchie mit ihren Freiräumen für Kinderpornos und Rechtsradikalismus viele schon lange störte, könnte es jetzt um Leben und Tod in einem viel unmittelbareren Sinne und in anderen Größenordnungen gehen.

Die Kontrolle all dieser Risiken – deren tatsächliches Bestehen dabei gar nicht genau abzuschätzen ist, wird die Kosten aller betroffenen Aktivitäten erhöhen, teils direkt, teils in Form erhöhter Versicherungsprämien oder Steuern (denn viele der Maßnahmen wird der Staat treffen müssen). Die gestiegenen Kosten senken die Produktivität und damit die möglichen Realeinkommenzuwächse. Allerdings könnten erhöhte Staatsausgaben auch eine keynesianische Reflation einleiten.

Eine Risikoprämie auf internationale Wirtschaftsbeziehungen kommt einer „Tobinsteuer" gleich, nur dass sie sich nicht auf spekulative Devisengeschäfte beschränkt. Wer mit dem World Trade Center die Globalisierung treffen wollte, hätte sein Ziel partiell erreicht.

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Der Graue Krieg

Die USA und ihre Verbündeten haben dem internationalen Terrorismus den Krieg erklärt. Wenn die jetzt gemachten Ankündigungen halbwegs Bestand haben, so geht es dabei nicht um einige rasche Militäraktionen, sondern um eine langfristige, weltweite Kampagne, um einen Grauen Krieg, durchaus vergleichbar (und verglichen) mit Trumans Ankündigung der Containment-Strategie gegen den sowjetischen Kommunismus, mit der der Kalte Krieg begann.

Der Kalte Krieg brachte eine Neuordnung der Prioritäten und eine Reihe von weitsichtigen Politiken: nicht nur die alten Feinde Deutschland und Japan wurden stabilisiert und wiederaufgebaut; mit dem Marshallplan belebten die USA die Wirtschaft ganz Westeuropas und schufen ein dem Kommunismus überlegenes, attraktives Gesellschaftsmodell. Der Wohlfahrtsstaat war nicht zuletzt eine Reaktion auf die Systemkonkurrenz. Im internationalen Umfeld entsprach dem die Entwicklungshilfe.

Nicht alle diese Politiken waren erfolgreich im Sinne einer Stabilisierung pro-westlicher Regime und Systeme. Oft ging es um die Destabilisierung linker Regierungen ungeachtet ihrer demokratischen Legitimation. Und manche Maßnahmen hatten unbeabsichtigte Nebenwirkungen (wie z.B. die Aufrüstung der antisowjetischen Mujaheddin und Taliban). Der Zusammenbruch des kommunistischen Gegners hat auch einige dieser Politiken untergraben. Zumindest befürchten gerade die Anhänger des nationalen und internationalen sozialen Ausgleichs, dass mit der Systembedrohung auch die Ressourcen und der politische Wille für derartige präventive Politik verloren ging.

Diese Periode ungehemmten Vertrauens in Märkte, die auch die Globalisierung als Modewort hervorbrachte, mag im Rückblick ein kurzes Intermezzo zwischen den Imperativen des Kalten und des Grauen Krieges gewesen sein.

Dieser neue Graue Krieg wird seine eigenen Prioritäten und Politiken hervorbringen. Das Attentat auf das World Trade Center, wenn es denn wirklich der defining moment des gerade begonnenen 21. Jahrhunderts wird, polarisiert die globalen und lokalen Fronten und Allianzen neu.



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Neue Allianzen draußen

Erste Anzeichen sind schon da: Können die USA den Nahost-Konflikt noch mit jenem benign neglect betrachten, den die Bush-Administration an den Tag legte? Selbst eine aktivere Politik wie die früherer US-Regierungen, die aber immer noch auf eine de facto Rückendeckung für eine von der UNO verurteilte Politik Israels hinauslief, mag nicht mehr genügen. Denn für einen globalen Antiterrorfeldzug brauchen die USA die Unterstützung der islamischen Länder und der UN.

Wird die Weltmacht eine weitreichend erneuerte globale Verantwortung übernehmen? Wird sie ihre ausstehenden UN-Beiträge bezahlen?

Wie werden sich die Bündnisverhältnisse ändern? Werden die USA ihre alten Rechnungen mit dem Iran vergessen, um ihn als verbündete Schlüsselmacht zwischen Irak und Afghanistan zu gewinnen?

Werden die USA Russlands Dominanzneigungen gegen die Tschetschenen und in seinem near abroad dulden, um die zentralasiatischen Aufmarschfelder nutzen zu können?

Werden sie noch stärker auf eine EU-Integration der strategisch enorm wichtigen Türkei drängen, um ein islamisches Modernisierungsmodell präsentieren zu können, das allerdings auch wirtschaftlich dringend zu sanieren wäre?

Werden sie versuchen, Pakistan wirtschaftlich und sozial zu stabilisieren, um der internen islamistischen Opposition den Boden zu entziehen?

Und wie viele andere Frontstaaten (Ägypten, Algerien, Sudan, Jordanien) benötigen im Grunde wirklich massive Entwicklungsanstrengungen, um eine Verbindung von Islam und Moderne glaubhaft politisch vertreten zu können?

Die veränderte Geopolitik ist dabei vielleicht gar nicht das wichtigste Element der neuen Welt des Grauen Krieges. Denn die Fronten verlaufen nicht mehr zwischen Staaten. Schon im Kalten Krieg gab es die Bürgerkriege und die nach innen verlängerten Fronten zwischen Kommunisten und den Vertretern pro-westlicher, kapitalistischer Verhältnisse. Im Grauen Krieg gegen den Terror kommt es aber noch mehr als im Kalten Krieg auf die Stabilisierung der inneren Verhältnisse an.

Zwar gibt es auch in reichen Gesellschaften Terrorismus in verschiedensten Formen. Selbst im sich gut entwickelnden Spanien mir einer äußerst fortschrittlichen und liberalen Dezentralisierungspolitik können sich die ETA-Terroristen halten. Aber dennoch dürfte die Perspektivlosigkeit und die Verzweiflung, die in den Elendsquartieren und Flüchtlingslagern dieser Welt herrscht, ein zentrales Ursprungsmotiv der terroristischen Brutalopposition sein. Vielleicht rekrutieren sich nur wenige Attentäter dort, sondern eher in den besseren, gebildeten Kreisen der islamischen Welt, aber ihr Hass resultiert aus dem Bewusstsein dieses Elends.

Dieses Bewusstsein gilt es auch durch Veränderung der Wahrnehmungsmuster, vor allem in den islamischen Ländern, durch Dialog, Bildung, offensive Aufklärung, andere Schulbücher, etc. zu bekämpfen – eine Anstrengung, die allerdings nur Sinn hat, wenn sie sich auf eine veränderte politische Wirklichkeit stützen kann.

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Neue Fronten im Innern

Diese Frontlinien laufen auch im Innern der vom Terrorismus bedrohten Gesellschaften. Im Kalten Krieg drohte die gegen den Kommunismus zu verteidigende Freiheit das erste Opfer zu werden, z.B. durch McCarthy in den USA. Jetzt erscheint de Bedrohung fast noch größer und ihre Bekämpfung jedes Mittel zu rechtfertigen.

Nicht nur die globalen Märkte und grenzüberschreitenden Aktivitäten gilt es zu kontrollieren, sondern auch die interne Kommunikation, die Transportwege und Geldströme, die die Terroristen wahrscheinlich nutzen. Eine alte Hierarchie von Werten, die gesellschaftliche Ziele der res publica über den Wildwuchs der Marktmöglichkeiten stellt, könnte neue Bedeutung und Kraft gewinnen. Die politische Kontrolle der privaten Wirtschaft, hinter der sich beliebige Interessen verstecken können, würde damit an Bedeutung gewinnen.

Auch die Technologiepolitik wäre mit anderen Augen zu sehen. Die beliebige Vervielfachung technischer Möglichkeiten, die scheinbar neutral immer auch das Potential terroristischer Nutzung bieten, muss bedenklich stimmen.

Kernkraftwerke bedrohen nicht mehr nur wegen möglicher Unfälle, sondern als dauerhafte Potentiale an radioaktivem Material, als Zielscheibe von Anschlägen. Überall, wo gewaltige Energien auch für zivile Zwecke eingesetzt werden (z.B. auch konventionelle Großkraftwerke, Flugzeuge, Hochgeschwindigkeitszüge, bestimmte Industrieanlagen), ist nun das Terrorrisiko zu beachten.

Ähnliches gilt für biologische und chemische Technologien, die leicht zugänglich sind. Selbst die Datennetze können zum Instrument der Terroristen werden, um wichtige Kommunikations- und Datenverarbeitungssysteme (z.B. Zahlungsverkehr) zu (zer-)stören. Alte grüne Träume, auf bestimmte Technologien wegen ihrer inhärenten Risiken zu verzichten, erhalten neuen Auftrieb.

Andere innenpolitische Fronten könnten dagegen eher als überholte Belastung empfunden werden. Warum nicht den ohnehin verlorenen und sinnlosen Krieg gegen die Drogen einstellen? Eine Legalisierung hätte gewaltige Vorteile:

  • Die Legalisierung würde die kriminellen und terroristischen Strukturen und Kräfte austrocknen und entmachten, die sich durch die Kontrolle über die Drogenproduktion und den Drogenhandel finanzieren.

  • Sie würde enorme personelle und materielle Ressourcen im Sicherheitsapparat freisetzen, die jetzt zur Bekämpfung der Produzenten und Dealer sowie zur Verfolgung der User eingesetzt werden.

  • Sie würde bei vernünftiger Besteuerung bedeutende Staatseinnahmen bereit stellen, die dringend für den Kampf gegen den Terrorismus und die Absicherung gegen die neuen Risiken benötigt werden.

  • In vielen Produzentenländern (z.B. Afghanistan, Marokko) würden damit legale Möglichkeiten zur wirtschaftlichen Entwicklung, Einkommensbildung und Exportproduktion geschaffen, von der gerade die armen Regionen und Bevölkerungsschichten profitieren könnten.

Noch ist bei weitem nicht sicher, ob eine globale Polarisierung wirklich die Folge des 11. September 2001 sein wird. Gelingen bald einige spektakuläre Erfolge gegen die Drahtzieher und bleiben weitere Attentate aus, so mag sich die Lage auch in den Köpfen wieder beruhigen. Die Neuordnung der Prioritäten folgt dann dem Rhythmus der Mediendemokratie, für die vorgestern die Rechtsradikalen, gestern der Rinderwahn, heute die Terroristen und morgen vielleicht ein afrikanischer Virus die große Bedrohung der Gesellschaft und ihrer Sicherheit und Freiheit darstellen.

Kommt es jedoch zu einem Grauen Krieg, zu einem Kampf, dessen Fronten alle alten Interessen und Konflikte neu bewerten, so stehen die internationalen Beziehungen und die Gesellschaftspolitik vor gewaltigen Herausforderungen.

Michael Dauderstädt

Friedrich-Ebert-Stiftung, 53170 Bonn, fax: 0228 / 883 625, e-mail: DaudersM@fes.de


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