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Polen vor der Wahl : ein Überblick über Parteien, Wirtschaft und Außenbeziehungen / Hermann Bünz - [Electronic ed.] - Bonn, 2001 - 12 S. = 55 KB, Text. - (Politikinformation Osteuropa ; 91)
Electronic ed.: Bonn : FES Library, 2001

© Friedrich-Ebert-Stiftung


INHALT





[Einleitung]

Am 23. September werden die polnischen Wahlberechtigten zu den Urnen gerufen werden, um einen neuen Sejm zu wählen. Die besondere Bedeutung dieser Wahl in unserem größten östlichen Nachbarland ergibt sich in erster Linie daraus, dass durch sie aller Wahrscheinlichkeit diejenige Regierung bestimmt werden wird, die in zwei oder drei Jahren den Beitritt Polens zur Europäischen Union vollzieht. Das im letzten Jahr wiedergewählte Staatsoberhaupt, Präsident Aleksander Kwaœniewski, spielt seinen entsprechenden Part schon jetzt.

Weiterhin gewinnt die Wahl an Interesse durch die seit Monaten konstanten Prognosen, die einen überwältigenden Sieg des jetzt in der Opposition befindlichen SLD voraussagen, dem auch Präsident Kwaœniewski nahe steht (nach seiner Wahl 1995 trat er aus Neutralitätsgründen aus der Partei aus, macht aber gleichwohl für sie Wahlwerbung).

In einem kurzen Überblick über die Lage im Land sollen diejenigen Faktoren beleuchtet werden, die vermutlich für das Wahlverhalten der Polen bedeutsam sind. Es handelt sich um:

  • die Parteienlandschaft

  • die wirtschaftliche Lage

  • die außenpolitische Situation, besonders in punkto EU-Beitritt.

Bei der Betrachtung dieser Punkte geht es auch um die Einschätzung des Entwicklungsstandes der Zivilgesellschaft in Polen. Aus historischen Gründen ist in der polnischen Gesellschaft das Misstrauen gegen staatliche Strukturen weit verbreitet. Die Vertrauensbasis, welche die politische Klasse in der Bevölkerung besitzt, ist mitentscheidend für die Stabilität des demokratischen Rechtsstaates; dies wiederum ist Voraussetzung für die feste Verankerung Polens in der europäischen Ordnung.

Die politische Klasse ist in den letzten Jahren von zahlreichen Skandalen mit meist finanziellem Hintergrund erschüttert worden. Zugleich ist die verbreitete Korruption eines der Haupthindernisse bei der Transformation der politischen und wirtschaftlichen Strukturen. Besonders führt Korruption zu einer verzögerten Umsetzung der Anpassung an die EU-Standards und dadurch zur Verschlechterung der polnischen Verhandlungsposition.

Bei Parlamentswahlen lässt sich der Grad der öffentlichen Zustimmung klassischerweise an der Wahlbeteiligung ablesen. Sollte die Beteiligung im September 2001 zu niedrig sein, könnte dies die neue Regierung in Legitimationsschwierigkeiten bringen, sowohl im Lande angesichts weiterer Reformnotwendigkeiten als auch gegenüber der EU.

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I. Parteienlandschaft


1. Wahlaktion „Solidarität„ (Akcja Wyborcza Solidarnosc – AWS)

Bei der letzten Parlamentswahl 1997 siegte die rechte Sammlungsbewegung „Wahlaktion Solidarität„ (AWS) und bildete daraufhin eine Koalition mit der liberalen, ebenfalls aus Teilen der alten „Solidarität„ stammenden Freiheitsunion (Unia Wolnosci – UW). Die AWS war von Beginn an ein eher loses Bündnis mehrerer rechter und rechtsliberaler Parteien, das auch nur zustandekam, nachdem die völlig zersplitterte Rechte bei den vorigen Wahlen 1993 praktisch gar nicht mehr im Sejm vertreten gewesen war. Parteihader und ein Mangel an wirklicher Solidarität blieben jedoch ein Merkmal der AWS. Premierminister wurde der bis dahin wenig bekannte Kompromisskandidat Jerzy Buzek.

Wenn seine Mitte-Rechts-Regierung bis zum Jahr 2000 halbwegs gute Arbeit leistete und einige, wenn auch unpopuläre Reformen (Verwaltung, Gesundheitswesen, Renten, Bildung) durchführen konnte, dann nicht zum geringsten dank des kleineren Koalitionspartners UW, der mit den Ministern Bronislaw Geremek (Äußeres), Hanna Suchocka (Justiz) und Leszek Balcerowicz (Finanzen) die reputierlichsten und im Ausland angesehensten polnischen Kabinettsmitglieder stellte. Als diese im Mai 2000 einem Parteitagsbeschluß Folge leisteten und die Regierung verließen – mit der Begründung, die AWS sei innerlich undemokratisch und in der Regierung zu weiteren wirtschaftlichen Reformen nicht imstande -, so gelang es immerhin Premierminister Buzek, mit einer Minderheitsregierung im Amt zu bleiben (zumal die UW diese tolerierte).

Jedoch begann unmittelbar darauf der Zerfallsprozess der AWS selbst, ungeachtet aller Versuche Buzeks, sie im Gegenteil in eine echte Partei umzuwandeln. Gleichsam in Anerkennung der sich seit Anfang 2000 rapide verschlechternden Umfragewerte kehrten die verschiedenen Parteiführer und andere Personen zur gewohnten Sezessionspolitik zurück. Befördert wurde diese Entwicklung mit Sicherheit durch das blamable Scheitern des offiziellen Herausforderers von Präsident Kwaœniewski bei den Wahlen im Jahre 2000, des Vorsitzenden der Gewerkschaft „Solidarität„ Marian Krzaklewski. Seitdem haben sich innerhalb der formal noch bestehenden AWS mehrere konkurrierende Gruppen gebildet. Damit ist eine ähnliche, die politische Linke begünstigende Situation hergestellt wie 1993; allerdings wird damit gerechnet, dass mindestens drei neue konservative Gruppierungen den Einzug in das Parlament schaffen werden.

Bemerkenswert ist, dass die neuen politischen Formationen - ähnlich wie in der Ära der gegen den Kommunismus gerichteten Kultur der „Antipolitik„ vor 1989 – die Bezeichnung „Partei„ zu vermeiden suchen. In dieser Hinsicht ist also der politische Konsolidierungsprozess weniger abgeschlossen, als es der Fall zu sein schien.

Die „Zerfallsprodukte„ der AWS sind im wesentlichen:

a) die rechtsliberale „Volkskonservative Vereinigung„ (Stronnictwo Konserwatywno-Ludowe – SKL) unter Jan Maria Rokita, die im April 2001 die AWS verlassen hat und ein taktisches Bündnis mit der neuen Bürgerplattform (s.u.) eingegangen ist;

b) die konservative Gruppierung „Recht und Gerechtigkeit„ (Prawo i Sprawiedliwosc – PiS) um die Brüder Lech und Jaroslaw Kaczyñski. Der vor kurzem als Justizminister zurückgetretene Lech Kaczyñski besitzt in der Bevölkerung die höchsten Sympathiewerte unter allen Politikern der Rechten und kann sich gute Chancen auf den Einzug in den Sejm ausrechnen; gegenwärtig sehen die Umfragen PiS bei etwa 5%;

c) der rechtskonservative Kern der jetzigen AWS – bekannt als AWS RS (Ruch Spoleczny – Soziale Bewegung), der sich mit rechtsgerichteten Kleinparteien innerhalb der Regierung wie dem Christlich-Nationalen Bund (Zwiazek Chrzescijansko-Narodowy – ZChN) und einigen bislang oppositionellen rechten Gruppierungen wie ROP (Ruch Odbudowy Polski – Bewegung zum Wiederaufbau Polens) zu dem neuen – als echte Partei gedachten Rechtsbündnis AWSP (AWS Prawicy – „AWS der Rechten„) zusammengeschlossen hat. Nicht unbedeutend ist der Umstand, dass der als nicht eben charismatisch, aber solide geltende Jerzy Buzek offenbar den in der AWS lange tonangebenden, aber in der Öffentlichkeit chronisch unbeliebten Vorsitzenden der Gewerkschaft „Solidarität„, Marian Krzaklewski, als Anwärter auf die Parteiführung überwunden hat. Ob jedoch Buzek aus ihr eine echte Partei der Rechten schmieden kann, erscheint angesichts seiner bisherigen begrenzten Führungsqualitäten eher fraglich.


2. Bürgerplattform (Platforma Obywatelska – PO)

Die im Januar 2001 gegründete rechtliberale PO, der „shooting star" auf der politischen Bühne Polens, ist primär das Werk seiner drei Gründer, die ihm als Triumvirat vorstehen:

  • des angesehenen Ökonomen, ehemaligen Außen- und Finanzministers und unabhängigen Präsidentschaftskandidaten des Jahres 2000. Andrzej Olechowski, der mit dem zweiten Platz – vor dem offiziellen Kandidaten der Rechten Krzaklewski – einen persönlichen Achtungserfolg erzielte, der ihn in der Folge zum Hoffnungsträger der rechten Mitte werden ließ;

  • des Sejmmarschalls und ehemaligen AWS-Angehörigen Maciej Plazynski, der durch sein hohes Amt eine große Reputation mitbringt und über unschätzbare Einblicke in die Regierung verfügt;

  • des ehemaligen Wortführers des wirtschaftsliberalen Flügels der UW, Donald Tusk.

Viele Mitglieder von AWS und UW folgten Tusk und Plazynski zur PO, die sich programmatisch in der Mitte zwischen den beiden etablierten, aber schnell schrumpfenden Parteien befindet: Im wesentlichen steht sie für Deregulierung der Wirtschaft und ringt mit der UW um die Besetzung des Themas „Mittelstandsförderung„. Ihre allgemeine Wertorientierung ist liberal-konservativ in deutlicher Abgrenzung von den klerikalen und strukturkonservativen Kräften in der AWS.

Allerdings führt die „antipolitische„ Rhetorik der Führungspersonen zu einer gewissen Unbestimmtheit des Wahlprogramms und der Haltung zum Parlamentarismus. Außerdem liegt eine gewisse Frivolität darin, dass die „Triumvirn„ seit Jahren innerhalb des jetzt von ihnen kritisierten „Systems„ in führenden Positionen aktiv gewesen sind. Bedenklich könnte den Beobachter stimmen, dass offenbar viele Anhänger der PO in der Tat eine antiparlamentarische Ausrichtung unterstützen. Es gibt Ansätze zu einer personenkultartigen Konzentration auf die Figur des „Experten„ Olechowski, in einer Weise, die an den Kurs der Forza Italia von Silvio Berlusconi erinnert. Dort ist es ein knappes Jahrzehnt nach der „Revolution„ gegen die diskreditierte Nachkriegsordnung schon wieder zu einer faktischen Abkehr vom Vertrauen in die demokratischen Institutionen zugunsten einer – vermeintlich – aus der „Mitte des Volkes„ stammenden Führergestalt gekommen.

Zwar sind die Umfragewerte von den anfänglichen sensationellen 20% mittlerweile auf 15% gesunken, aber dennoch hat die PO Chancen, im neuen Sejm auf Anhieb zur stärksten Kraft rechts der Mitte zu werden. Obwohl sie ideologisch strikt antisozialistisch ist, gibt es Anzeichen für eine mögliche, wenn auch informelle Beteiligung von PO-Mitgliedern wie z.B. dem anpassungsfähigen Jacek Saryusz-Wolski an einer SLD-geführten Regierung.


3. Freiheitsunion (Unia Wolnosci – UW)

Wohl entgegen deren Hoffnungen, erscheinen die Wähler kaum bereit, der UW ihre Prinzipientreue und den damit verbundenen Regierungsaustritt zu honorieren: Während vermutlich viele linksliberal Gesinnte der UW, insbesondere dem seinerzeitigen Finanzminister Balcerowicz, die sozial sehr harten Reformen der Regierung Buzek anlasten, sind die stärker wirtschaftsliberal orientierten Kreise bereits großenteils zur PO übergewechselt.

Die übriggebliebene Gruppe honoriger Liberaler um Parteichef Bronislaw Geremek – sein Vorgänger Balcerowicz hat sich auf den sicheren Posten des Nationalbankchefs verfügt - muss damit rechnen, nicht in den neuen Sejm einzuziehen, da ihre Umfragewerte seit längerem nicht mehr über 4% hinausgelangt sind und in Polen nach deutschem Vorbild eine Fünfprozenthürde existiert (8% für Wahlbündnisse). Inhaltlich sucht sich die UW besonders von der rein wirtschaftsliberalen PO dadurch abzugrenzen, dass sie eine auf Bildung und politischem Bewusstsein gründendes humanistisches Bürgerideal propagiert, wie es Parteichef Bronislaw Geremek verkörpert.

Dennoch scheint zwölf Jahre nach dem Ende des Kommunismus der politische Liberalismus an einem Tiefpunkt angelangt zu sein; hierzu tragen zweifellos die im Zuge der Transformation wachsenden ökonomischen Verteilungskämpfe bei. Es ist vielsagend, dass die UW gegenwärtig über kein größeres Wählerpotential mehr verfügt als die rechtspopulistische und mitunter kriminell agierende Bewegung Samoobrona (Selbstschutz) des EU-feindlichen Bauernführers Andrzej Lepper.


4. Polnische Volkspartei (Polskie Stronnictwo Ludowe – PSL)

Die Polnische Volkspartei, die traditionell die Interessen der Landbevölkerung vertritt und daher auch als „Bauernpartei„ bekannt ist, zählt zu den stabilsten politischen Kräften im Lande, offensichtlich in erster Linie aufgrund der konservativen Struktur ihrer Wählerschaft. Daran ändert auch die regelmäßig wieder aufflammende öffentliche Diskussion um den noch überwiegend aus kommunistischer Zeit stammenden materiellen Besitz der Partei wenig.

Die jüngsten Prognosen geben der PSL ca. 10% der Stimmen, was sie zur viertstärksten Fraktion machen würde. Es wird allgemein damit gerechnet, dass die PSL wie schon zwischen 1993 und 1997 Koalitionspartner eines siegreichen SLD werden wird. Sie spielt eine kritische Rolle angesichts der Härten der Wirtschaftsreformen, von denen die Landbevölkerung noch stärker betroffen ist als der Durchschnitt der Gesellschaft, die aber auch eine Linksregierung nicht viel anders wird gestalten können als die jetzige.


5. Bündnis der Demokratischen Linken (Sojusz Lewicy Demokratycznej – SLD) und Arbeitsunion (Unia Pracy – UP)

Das SLD, Erbe der kommunistischen Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (PZPR) und nach 1989 anfangs unter dem Namen Sozialdemokratie der Republik Polen (SdRP) bekannt, gilt schon zwei Monate vor der Wahl als sicherer Sieger. Die Unzufriedenheit vieler Bürger mit den Härten der von der jetzigen Regierung eingeführten Reformen im Verein mit der fortschreitenden Selbstzerfleischung der letzteren, macht die größte Oppositionspartei zum fast alleinigen Hoffnungsträger der breiteren Bevölkerungsschichten (während die besserverdienenden Gewinner des sozialen Umbruchs mehrheitlich zur PO gehen werden). Den Prognosen zufolge kann das SLD mit 45 bis 50% der Stimmen rechnen, umso mehr, als es die andere nennenswerte Linkspartei, die Arbeitsunion (Unia Pracy – UP) absorbiert hat und damit das Parteienspektrum nach links abdeckt. Offen erscheint lediglich die Frage, ob die Großpartei SLD-UP wird allein regieren können oder die PSL als Koalitionspartner brauchen wird.

In den Medien wird oft vermutet, SLD-Parteichef Leszek Miller, dem „großen Überlebenden„ aus kommunistischer Zeit, wäre eine Koalition lieber, da sie ihm gegenüber dem fundamentalistisch-konservativen Flügel des SLD mehr Spielraum lassen würde, zumal aufgrund weltwirtschaftlicher Zwänge eine drastische Kursänderung bei den so unbeliebten Reformen kaum möglich sein wird. Besonders herrscht eine Spannung zwischen der relativ liberalen, reformfreudigen Führungsgruppe um Leszek Miller in Warschau und den oftmals sehr konservativen, im Kommunismus sozialisierten Provinzfürsten. Der dem zentralistischen Verwaltungssystem geschuldete Brauch, nach einem Regierungswechsel die vom Premierminister abhängigen Wojewoden mehr oder weniger komplett auszutauschen, könnte einen Wahlsieger Miller in das Dilemma bringen, Personen berufen zu müssen, die einem modernen Regierungsstil wenig dienlich wären. Der mögliche Koalitionspartner PSL würde eher noch in die gleiche Richtung ziehen.

Gleichwohl sind es – neben dem demoralisierten Bild, das die AWS-Regierung zu Ende ihrer Amtszeit abgibt – zweifellos Hoffnungen auf eine sozial verträglichere Politik seitens einer linken Regierung, die die Wähler zum SLD treiben. Nach den Wahlen wird somit Polen aller Wahrscheinlichkeit nach mit einer einheitlich linken Führungsmannschaft (Präsident und Regierung) die Beitrittsverhandlungen mit der EU abschließen.

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II. Zwischen Parteien und Arbeitswelt: Die Gewerkschaften

Die Parteienlandschaft der sog. „Dritten Republik„ seit 1989 ist unter anderem durch eine nach westlichen Maßstäben „schiefe„ Rolle der Gewerkschaften geprägt. Während der Organisationsgrad der Arbeitnehmerschaft im Jahre 2001 gerade einmal 17% beträgt (das entspricht etwa 2,5 Millionen Mitgliedern) und gerade viele westliche Investoren erkennbar keine allzu eifrigen Betriebsräte wünschen, verwenden die Funktionäre ein Gutteil ihrer Zeit und Energie darauf, im politischen Spiel direkt mitzumischen.

Die 1980 gegründete Gewerkschaft „Solidarität„ (Solidarnosc) wuchs unter dem Kriegsrecht nach 1981 zu einer Volksbewegung an und trat 1989 bei den ersten halbfreien Wahlen siegreich gegen die Kommunisten an; in den 1990er Jahren zerfiel diese Bewegung jedoch – unweigerlich – in ihre sozialen und weltanschaulichen Bestandteile, aus denen sich politische Parteien entwickelten, wenn auch, wie erwähnt, noch nicht mit der wünschenswerten Stabilität. Während daher der Name „Solidarität„ von den verschiedensten Gruppierungen in der einen oder anderen Weise beansprucht wird, bildete die eigentliche Gewerkschaft, der NSZZ (Unabhängiger Gewerkschaftsbund) Solidarnosc (auch einfach als „S„ bekannt), seit 1997 den Kern der „sozialen Bewegung„ RS AWS innerhalb der Regierung.

Im Mai 2001 beschloss aber die Landeskommission, d.h. der Vorstand der „S„, sich aus der AWS zurückzuziehen. Somit werden keine Kandidaten mehr als nominelle Vertreter der Gewerkschaft auf den Wahllisten erscheinen, und die Gewerkschaft wird der AWS auch keine offizielle finanzielle Unterstützung mehr zukommen lassen.

In ähnlicher Form hat der andere große „Allgemeine Polnische Gewerkschaftsbund„ (OPZZ), welcher dem SLD nahe steht, vor kurzem die künftige Unvereinbarkeit von gewerkschaftlicher Funktion und politischem Mandat festgestellt. Beide Verbände reagieren durch diese Schritte auf die Verfassungsbestimmung, die es Gewerkschaften verbietet, direkt an Parlamentswahlen teilzunehmen. Außerdem erscheint es ihnen zum Erhalt ihrer inneren Stabilität und Glaubwürdigkeit sicherer, nicht direkt mit sozial harten Regierungsentscheidungen identifiziert zu werden. Sie werden aber faktisch weiterhin durch zahlreiche Personen mit der jeweiligen Partei verbunden bleiben, nach inoffiziellen Schätzungen etwa 20 Vertreter des OPZZ und 40 des NSZZ „S„.

Der postkommunistische OPZZ und der konservative NSZZ „S„ sind nicht nur ideologische Erzrivalen, sondern haben sich einen jahrelangen Rechtsstreit um die Besitztümer geliefert, die in Abhängigkeit von den politischen Verhältnissen zwischen ihnen hin- und hergewechselt sind. Eine jetzt bevorstehende außergerichtliche Einigung – im Rahmen der Novellierung des Gesetzes über die Sozialpartnerschaft – ist seitens des OPZZ wesentlich dadurch motiviert, dass er nur „unbelastet„ darauf hoffen darf, in naher Zukunft (und Jahre nach der „S„) Mitglied des Europäischen Gewerkschaftsbundes (ETUC) zu werden.

Auch die Volkspartei (PSL) kooperiert auf breiter Basis mit Gewerkschaften, in erster Linie natürlich mit Interessenverbänden der bäuerlichen Bevölkerung, aber auch solchen anderer „schwächerer„ Arbeitnehmergruppen wie z.B. des Krankenpflegepersonals.

Insbesondere für die beiden großen Gewerkschaftsbünde gilt, dass ihr Gewicht innerhalb der beiden großen Parteien bzw. Blöcke SLD und AWS in den 1990er Jahren mit zu einer allzu defensiven Wirtschaftspolitik und verschleppten Privatisierungsprozessen geführt hat, deren Folgen sich jetzt in Form von steigender Arbeitslosigkeit, hohen Steuern und einem wachsenden Haushaltsdefizit zum Nachteil der Arbeitnehmer auswirken.

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III. Die wirtschaftliche Lage

Wie überall ist das wirtschaftliche Wohlergehen ein, wenn nicht gar das (wahl)entscheidende Hauptinteresse der Menschen. Die polnische Bevölkerung sieht sich nach elf Jahren demokratischer Regierung in der Situation, dass ihr Land zwar insgesamt weiterhin positive makroökonomische Werte aufweist, ein Großteil der Bevölkerung aber persönlich vor allem die mit der Transformation verbundenen Härten zu spüren bekommt.

Generell hat sich seit 1998 der jahrelange Aufwärtskurs der polnischen Wirtschaft abgeflacht; von über 6% Ende 1999 ist die Wachstumsrate auf jetzt knapp 3% gesunken. Damit liegt sie zwar noch immer über dem Durchschnitt der weitgehend saturierten EU. Allerdings macht sich jetzt bemerkbar, dass auch in Polen, wo seit 1991 unter Finanzminister Leszek Balcerowicz eine sog. Schocktherapie zu relativ großen Erfolgen geführt hat, viele Reformen zu spät oder gar nicht angegangen worden sind.

Der Anpassungsdruck an die Standards der EU macht die Probleme zwar objektiv nicht größer, aber sichtbarer. Letzterer Umstand trägt nicht zu einem positiven Bild des EU-Beitritts bei; daher ist auch die harte Haltung der polnischen Regierung hinsichtlich der Übergangsregelungen primär vor diesem psychologischen Hintergrund zu sehen.


1. Arbeitslosigkeit

Für jede Gesellschaft ist eine hohe Arbeitslosenquote belastend, umso mehr gilt dies aber, je weniger Geld für die sozialen Sicherungssysteme bereitsteht. In Polen, einem nach EU-Maßstäben noch immer armen Land, was die Situation des Durchschnittsbürgers betrifft, ist die Arbeitslosigkeit von 10% im Jahre 1998 auf jetzt ca. 16% gestiegen; das sind etwa 3 Millionen Menschen (im Vergleich hat Deutschland 4 Millionen Arbeitslose, jedoch die doppelte Bevölkerung Polens). Besonders dramatisch ist eine Jugendarbeitslosigkeit von real ca. 40%.

Nicht eingerechnet ist dabei die versteckte Arbeitslosigkeit, die besonders auf dem Land als hoch (ca. 1 Million Personen) eingeschätzt wird. Zwischen Gewinnern und Verlierern der Reformen wächst die soziale Kluft. Das Einkommensverhältnis zwischen Stadt und Land beträgt mittlerweile 2:1, aber auch in den Städten nehmen Armut und Obdachlosigkeit zu. Die Wohlfahrtseinrichtungen sind zugleich überlastet und unterfinanziert, eine Situation, die sich angesichts der prekären Budgetlage des Staates eher noch zu verschlechtern droht. Die Unterbeschäftigung schwächt außerdem die Binnennachfrage erheblich.


2. Haushaltsdefizit und hohe Zinsen

Das Ende der laufenden Legislaturperiode ist neben dem Zerfall des Regierungsbündnisses durch ein enormes Haushaltsdefizit gekennzeichnet, das es der Regierung von Jerzy Buzek äußerst schwer macht, noch irgendwelche Korrekturen der Wirtschaftspolitik (seien es nun „echte„ oder wahltaktisch gemeinte) vorzunehmen.

Schon Ende Mai musste Finanzminister Jaroslaw Bauc vor dem Sejm bekannt geben, dass das für das Gesamtjahr 2001 geplante Defizit schon zu 90% erreicht worden sei. Die Staatsverschuldung liegt um 12 Milliarden Zloty (ca. 6 Mrd. DM) höher als geplant und wird unweigerlich noch steigen, nach Schätzungen von Fachleuten wie dem ehemaligen Außenminister Dariusz Rosati auf bis zu 20 Milliarden Zloty bei Jahresende. Die Gründe hierfür sind ein zu geringes Wachstum im Verein mit einer zu geringen „wachstumsfördernden„ Inflation. Die resultierende Überbewertung des Zloty hemmt den polnischen Export; dass ein Gutteil des Außenhandelsdefizits auf die unverändert massiven ausländischen Direktinvestitionen (FDI) zurückgeht, hilft den leidenden heimischen Industrien wenig.

Der hohe Wechselkurs des Zloty – einer im Unterschied zu den Währungen der Eurozone ja noch „freien„ Währung – ist jedoch in erster Linie Ausdruck der hohen Zinssätze, die wiederum Folge der hohen staatlichen Verschuldung sind. Weiterhin haben die Banken, da die Regierung (wie allerdings die SLD-geführte Regierung vor ihr auch) zu jedem Zinssatz Kredite aufnimmt, ihre Zinssätze so hoch geschraubt, dass es für Unternehmen zu teuer ist, Investitionskredite aufzunehmen. Daher entstehen gegenwärtig im Inland kaum Arbeitsplätze in polnischen Firmen, allenfalls in ausländischen Niederlassungen, die mit FDI arbeiten.

Als Signal zur Änderung des gegenwärtigen Kurses hat der Währungsrat unter Leitung von Nationalbankpräsident Leszek Balcerowicz Ende Juni die Leitzinsen um 1,5% gesenkt; weitere Senkungen (der Lombardsatz steht jetzt bei 19,5%) macht er jedoch von einer Verringerung des Haushaltsdefizits abhängig.

Neben diesen makroökonomischen Bedingungen gibt es jedoch noch zusätzliche, politisch weniger leicht zu rechtfertigende Gründe: Da ist zum einen die Belastung des Haushalts durch langfristige Subventionen für veraltete Industrien, die infolge der Intervention der großen Gewerkschaftsbünde zu spät oder gar nicht privatisiert wurden und jetzt oft praktisch finanzielle Fässer ohne Boden darstellen. Dazu kommen diverse Finanzskandale, sowohl im Bereich privater Renten- und Anlagefonds als auch bei den staatlichen Sozialkassen.

In dieser Lage stehen der Regierung im Grunde nur zwei Auswege offen: Entweder schreitet sie zu einer Ausgabensperre oder sogar zu radikalen Ausgabenkürzungen – das wäre Salz in die Wunden einer schon jetzt reichlich mitgenommenen Wählerschaft. Außerdem erscheinen den meisten Experten solche Kürzungen so spät im Budgetzeitraum weder juristisch noch administrativ möglich. Oder aber sie entschließt sich zu einer weiteren Neuverschuldung - eine Maßnahme, vor der Wirtschaftsexperten dringend warnen, die sie aber gerade von einer neuen Linksregierung erwarten. Eine Tendenz dieser Art zeigte sich schon vor kurzem, als im Sejm beide großen Parteiblöcke AWS und SLD einen Gesetzesantrag von UW und SKL zur weiteren Deregulierung der Wirtschaft zu Fall brachten.

Das jetzige Kabinett hat eine Mischung beider Maßnahmen angekündigt; demnach soll das Defizit durch Neuverschuldung um weitere 5-7 Milliarden Zloty erhöht, zugleich Kürzungen in „weniger schmerzhaften„ Bereichen vorgenommen werden. Eine gewisse Erleichterung verschaffte bereits die Überweisung der Überschüsse der Nationalbank aus dem Jahr 2000 (ca. 5 Milliarden Zloty) und die Erträge aus dem Verkauf von UMTS-Lizenzen.


3. Reformen ohne Fortüne

Die während der letzten vier Jahre eingeleiteten Strukturreformen waren im Kern richtig und notwendig, jedoch wurden sie weder der Bevölkerung in ausreichendem Maße erläutert noch konsequent genug durchgeführt.

Beispielhaft hat die Reform des Rentensystems sowie eine nicht eben transparente Behördenpolitik viele Menschen in weitgehende Desorientierung hinsichtlich der von ihnen zu erwartenden Altersbezüge gestürzt. Die Idee einer Teilprivatisierung hat bekanntlich auch in westeuropäischen Ländern zu Verunsicherungen, sozialen Abstiegsängsten und heftigen politischen Auseinandersetzungen geführt. In Polen sind viele noch weit weniger mit dem modernen Finanz- und Anlagewesen vertraut. In der gegenwärtigen Budgetkrise hat zudem die Regierung offensichtlich Gelder des staatlichen Sozialversicherungsfonds ZUS abgezogen, um den Haushalt teilweise auszugleichen.

Die Reformen des Gesundheits- und Bildungswesens sowie des Steuersystems haben ganz ähnliche Verunsicherung und soziale Verwerfungen ausgelöst.

In einer kürzlich veröffentlichen Studie zur Lage der Nation hat die Polnische Akademie der Wissenschaften (PAN) einen „Rückstand der zivilisatorischen Entwicklung„ konstatiert und gefordert, in den nächsten 20 Jahren den Lebensstandard stärker als das allgemeine Wachstum zu heben und im speziellen Bildung und Ausbildung absolute Priorität einzuräumen. Auf diese Weise solle der wachsenden sozialen Kluftbildung zwischen einer kleinen Gruppe sozialer Aufsteiger und einem „extrem hohen Bevölkerungsanteil mit nur minimaler Bildung„ entgegengewirkt werden.

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IV. Die Außenbeziehungen


1. Außenhandel

Anders als die genannten Binnenfaktoren entwickelte sich der polnische Außenhandel im Jahre 2000 auf eine ausgeglichenere Bilanz hin. Ende April 2001 stellte das Statistische Zentralbüro einen Rückgang des Außenhandelsdefizits um 1,1 Milliarden Dollar gegenüber dem Vorjahr fest. Es betrug noch 4,6 Milliarden Dollar; dabei stehen für den Zeitraum Januar bis April 2001 Exporte im Wert von 11,8 Milliarden Dollar Importen im Wert von 16,4 Milliarden Dollar gegenüber. Die Gesamtexporte für das Jahr 2000 betrugen 28,3 Milliarden Dollar, die Gesamtimporte 41.4 Milliarden Dollar. Die trotz der überteuerten Zloty-Währung verbesserte Exportlage verdankt sich einer stark gestiegenen Auslandsnachfrage nach polnischen Produkten, vorzugsweise solchen höherer Qualität.

Charakteristisch ist die sich immer mehr festigende Orientierung auf die westlichen Industrieländer, d.h. in erster Linie die Integration der Handelsstrukturen in diejenigen der EU, mit der zwischen 70 und 80% des polnischen Handels abgewickelt wurden (Importe von 8,6 Milliarden EURO und Exporte von 6,6 Milliarden EURO). Damit ist Polen wie auch die anderen mitteleuropäischen Beitrittsländer bereits Jahre vor dem Beitritt fest an den wirtschaftlichen Körper der EU angeschlossen. Im Vergleich dazu ist Russland, vor der großen Krise vom August 1998 noch an zweiter Stelle im polnischen Außenhandel stehend, auf den zehnten Platz mit einem Anteil von wenig mehr als 2% zurückgefallen.

Gleichwohl weist Polen gegenüber Russland ein deutlich größeres Handelsdefizit auf als vor vier Jahren (3,7 Milliarden Dollar gegenüber 530 Millionen Dollar 1997). Das wiederum liegt in der Natur der Importe aus Russland begründet, die fast ganz aus Rohstoffen, insbesondere Erdöl und Erdgas bestehen. In diesem Sektor hat Russland aufgrund der scharf gestiegenen Weltmarktpreise praktisch ein Versorgungsmonopol in Mittel- und Osteuropa; zugleich ist dies seine Haupteinnahmequelle für Devisen. Diese Stellung wird von Russlands Präsident Putin unverhohlen als politischer Hebel benutzt, was sich v.a. an der schwierigen Lage der Ukraine zeigt. Der Wunsch, diese Abhängigkeit von Russland durch eine Diversifizierung der Rohstoffquellen zu begrenzen – was im übrigen auch den politischen Richtlinien der EU entspricht –, hat die polnische Regierung vor kurzem dazu bewogen, einen Liefervertrag über dänisches – und optional norwegisches - Erdgas abzuschließen und eine Gaspipeline auf dem Boden der Ostsee zu verlegen. Hierüber hat sich zwischen AWS und SLD ein politisches Ringen entwickelt; das SLD, das bekanntermaßen enge Beziehungen zu dem russischen Erdgasgiganten Bartimpex unterhält, hat angekündigt, nach einer Regierungsübernahme den Vertrag mit Dänemark nochmals zu überprüfen.

Eine weitere Schutzmaßnahme gegen russische Einflussnahme, diesmal von privater Seite, könnte die geplante Fusion des führenden polnischen Brennstoffunternehmens PKN Orlen mit dem ungarischen Konzern MOL und dem österreichischen OVM sein.


2. Sicherheitspolitik

Durch den NATO-Beitritt im März 1999 ist das polnische Sicherheitsbedürfnis im wesentlichen bedient worden. Jetzt ist Polen der entschiedenste Verfechter einer neuen NATO-Erweiterung ins Baltikum und nach Rumänien sowie einer stärkeren Einbindung der Ukraine. Die Unabhängigkeit der letzteren von Russland ist seit 1989 aus polnischer Sicht der Schlüssel zur Freihaltung Mitteleuropas vom Einfluss Moskaus. Obwohl NATO und EU mit der Ukraine bereits in besondere Beziehungen getreten sind, drängt Polen auf eine stärkere physische Anbindung der Ukraine an den EU-Raum.

Der Gedanke, sich gegen eine stets latent drohende Renaissance des russischen Imperialismus wappnen zu müssen, zählt zu den wenigen konsensfähigen Fragen im nicht sehr zum Konsens neigenden politischen Bewusstsein der Polen. Daher hat sich Warschau seit 1989 durch seine praktisch uneingeschränkte sicherheitspolitische Bindung an die USA ausgezeichnet. Die Zustimmung zum NATO-Beitritt unterlag nie den Schwankungen wie die Einschätzung der EU-Mitgliedschaft. Gegenüber der oft betonten – allerdings ohnehin mehr romantischen als empirisch belegbaren – besonderen Verbundenheit mit Frankreich liegt hier der eine Punkt, an dem Polen sich kategorisch in das amerikanisch-britische Lager stellt und auch deutlich größere Nähe zu Berlin als zu Paris aufweist.

Von der EU erwartet man in punkto Sicherheit wenig; äußerst bemüht klingen daher die Stellungnahmen der zuständigen polnischen Institutionen zur von der EU anvisierten „Europäischen Sicherheitsidentität„. Umgekehrt widerfuhr US-Präsident George W. Bush bei seinem kürzlichen Besuch in Warschau ein rauschender Empfang. Polen kann als eines der pro-amerikanistischsten Länder überhaupt angesehen werden; so ist es auch einer der wenigen NATO-Staaten, in dem die amerikanischen Pläne für ein Raketenabwehrsystem nicht auf kühle Skepsis stießen.

Umso mehr kennzeichnet es die strategische Prioritätensetzung der polnischen Politik, dass kurz nach dem Bush-Besuch Präsident Kwaœniewski – der auch Oberbefehlshaber der polnischen Streitkräfte ist – feststellte, für Polen sei die Erweiterung der NATO ins Baltikum und die verstärkte Kooperation mit der Ukraine wichtiger als die Errichtung des US-Abwehrschirms, jedenfalls dann, wenn dies die stärkere Abschottung der NATO von ihren östlichen Nachbarn zur Folge habe. Polen nimmt gleichsam die amerikanische Idee einer für die Sicherheit ganz Europas verantwortlichen NATO noch ernster als die USA selbst.


3. Europäische Integration

Damit ist auch bereits ein wichtiger Aspekt der zukünftigen Mitgliedschaft Polens in der EU angesprochen: Polen wird auf lange Jahre hinaus, wenn nicht für immer, zum östlichen „Grenzwart„ der EU werden, gegenüber Russland, Weißrussland (Belarus) und der Ukraine. Diese Funktion an der schon sprichwörtlichen „Schengengrenze„ – die allerdings zunächst noch einige Jahre an Oder und Neiße verbleiben wird – stellt nicht nur eine überwachungstechnische, sondern auch eine große politische Herausforderung dar. Im Rahmen der Beitrittsverhandlungen kämpft Polen um die Errichtung eines flexiblen Grenzregimes. Vor allem geht es darum, den Menschen im Grenzgebiet, die den wenig privilegierten Status von Drittstaatlern besitzen, den ungehinderten effektiven Zugang zum EU-Gebiet zu ermöglichen. Dabei geht es Polen immer weniger um den noch vor einigen Jahren (und für die östlichen Nachbarn noch heute) ökonomisch sehr wichtigen Grenzhandel als darum, die postsowjetischen Länder aus der russischen Einflusssphäre herauszuhalten.

Allgemein sind die Beitrittsverhandlungen ohne Zweifel das wichtigste politische Thema in Polen. Wie in den anderen Kandidatenländern hat der Angleichungsprozess an die Standards der EU, der im Grunde schon seit dem Abschluss des speziellen Assoziationsabkommens von 1991 - des sog. „Europaabkommens„ - im Gang ist, Auswirkungen auf sämtliche Bereiche des öffentlichen Lebens. Entsprechend werden alle gegenwärtigen Transformationsprozesse, selbst wenn sie ohnehin stattfinden müssten, auf den EU-Kontext projiziert.

Das entspricht zwar durchaus der „schicksalhaften„ Natur der Mitgliedschaft im „Club Europa„, verleiht aber der Diskussion über den Beitritt – zumal dieser sich länger hinzieht, als viele Polen erwartet hatten – einen stark emotionalen Charakter. Die EU erscheint sozusagen einerseits als das „Gelobte Land„ (indem sie als die große Friedens- und Wohlstandsordnung betrachtet wird, die sie zweifellos ist), aber gleichzeitig auch als elitärer und materialistischer Verein eigensüchtiger reicher Nationen, um deren Anerkennung man bitter ringen muss. Hier und da konnte und kann man sogar polemische Vergleiche der Europäischen mit der Sowjetunion hören, die beide als wuchernde bürokratische, „internationalistische„ Gebilde und Feinde der polnischen Souveränität betrachtet werden (ein Gedanke, der freilich auch den Euroskeptikern innerhalb der EU vertraut ist).

Ähnlich wie bei der Sicherheitspolitik schließen sich hier die Reihen der Polen in seltener Einhelligkeit zur Verteidigung der „nationalen Interessen„, wobei oftmals der gemeinschaftsstiftende Gestus wichtiger ist als der Gehalt der in Frage stehenden Probleme. Zugleich weiß sich die AWS-Regierung, der gegenwärtig die Definition dieser Interessen obliegt, von einer allgemeinen Zustimmung getragen, der sich auch die Opposition nicht verweigern kann. Dies wurde bei einer Sondersitzung des Sejm im Juni d.J. deutlich, in der Außenminister Bartoszewski und Chefunterhändler Kulakowski vor dem Hintergrund der festgefahrenen Verhandlungen mit der EU zwar gewisse diplomatisch-taktische Zugeständnisse ankündigten, aber im wesentlichen die EU für den Stillstand verantwortlich machten und den harten Kampf um die „Kerninteressen„ Polens ausdrücklich fortzusetzen versprachen. Oppositionsführer Leszek Miller vom SLD beschwerte sich zwar über mangelnde Konsultation seitens der Regierung in dieser „nationalen„ Frage, aber es herrschte Einmütigkeit hinsichtlich der Verhandlungsziele.

Von daher hat man gerade auf dem Feld der Europapolitik unabhängig vom Wahlausgang im September mit großer Kontinuität zu rechnen; allenfalls könnte ein etwas weniger „nationaler„ Tonfall angeschlagen werden. Denn abgesehen davon, dass auch die polnische Linke Wert auf „Sicherheiten„ gegenüber der EU legt, könnte ein Linkskabinett gar keine großen Kursänderungen vornehmen, sofern es sich nicht sofort die Sympathien des „schutzsuchenden„ Volkes verscherzen will.

Inhaltlich gibt es viele Punkte, an denen die Verhandlungen mit der EU sich schwierig gestalten, was angesichts des sehr komplexen acquis communautaire, den die neuen Mitglieder zumindest im wesentlichen übernehmen müssen, generell nicht sehr verwunderlich ist. Polens spezifische Probleme liegen zum einen in der Struktur seiner Volkswirtschaft, v.a. in den veralteten Industrien (z.B. dem oberschlesischen Bergbau) und dem hohen Beschäftigungsanteil der Landwirtschaft (ca. 25%), in der jedoch nur ca. 5% des Nationaleinkommens erwirtschaftet werden. Selbst wenn ein großer Teil der allgemein sehr kleinen Bauernhöfe nur für den Eigenbedarf arbeitet und ohne Bedeutung für die Marktstrukturen ist, so stellen die hohe Arbeitslosigkeit im ländlichen Raum und der damit verbundene niedrige Lebens- und Bildungsstandard ein ernstes soziales Problem dar. Die EU-Länder sorgen sich um die zusätzlichen Kosten, die Polens Beitritt für die Agrarpolitik sowie für die Strukturfonds, in erster Linie den Europäischen Sozialfonds bedeuten wird.

Beim Widerstand gegen die sozial belastende, da mit zumindest zeitweiser Arbeitslosigkeit verbundene Abwicklung alter Industrien macht sich der Einfluss der Gewerkschaften besonders bemerkbar, den die „Solidarität„ und der OPZZ über „ihre„ Parteien ausüben konnten. Obwohl Polen besonders Anfang der 1990er Jahre im Vergleich zu anderen postsozialistischen Staaten radikale Schnitte vornahm und sich dadurch schon auf einem gewissen Niveau stabilisieren konnte, scheint nunmehr die Schmerzgrenze der Bevölkerung erreicht zu sein. Während die Wahl Aleksander Kwaœniewskis zum Präsidenten im Jahre 1995 in erster Linie als Ausdruck der Abkehr vom konservativen ideologischen Standpunkt Lech Walêsas gewertet werden konnte, so ist der jetzige Linkstrend der Wahlbevölkerung ganz offensichtlich wirtschafts- und gesellschaftspolitisch motiviert.

Dennoch sehen viele Polen in dem Zögern der EU bzw. in den Aussagen der jüngsten Gipfeldokumente den Versuch, die neuen Mitglieder zumindest anfänglich nicht gleich zu behandeln, sondern einem Sonderregime zu unterwerfen. Die Kandidaten, darunter Polen am nachdrücklichsten, verlangen eine bessere Anerkennung der relativen Fortschritte, die seit 1989 erzielt wurden, sowie der Tatsache, dass der acquis seit den oft zum Vergleich herangezogenen Erweiterungen der 1980er Jahre (um Griechenland, Spanien und Portugal) wesentlich komplexer und schwieriger zu erfüllen geworden ist. Hinzu kommt die Wahrnehmung, dass die EU bis zum Moment der Erweiterung ihre wirtschaftliche Machtstellung auch gegenüber den Kandidatenländern rücksichtslos ausnutzt. So werde noch immer Erzeugnissen aus den OME-Ländern der Zugang zum Gemeinsamen Markt auf verschiedene Weise erschwert, während die EU zugleich durch Exportbeihilfen die Märkte der ehemaligen Sowjetunion erobert hat, die ansonsten ein natürliches Zielgebiet mitteleuropäischer Waren darstellten.

Vieles an dieser Kritik ist zutreffend; anderseits gibt es aber auch handfeste Gründe für die in den letzten Jahren immer kritischer werdende Einschätzung Polens durch die EU, wie sie vor allem in den jährlichen „Fortschrittsberichten„ der Europäischen Kommission zum Ausdruck kommt. Außer den ungenügenden Strukturreformen wird moniert, dass die Übernahme der EU-Bestimmungen besonders im Bereich der administrativen Umsetzung nur langsam vorankommt. Dieser Mangel hat seine Ursache zum einen in dem noch immer nicht gedeckten Bedarf an mit dem EU-Recht vertrauten Fachkräften; hier soll das PHARE-Pro-gramm durch den Schwerpunkt „institutioneller Aufbau„ helfen. Zum anderen aber liegt es an der verbreiteten Korruption in der Verwaltung. Diese wird u.a. dadurch befördert, dass die jeweils herrschenden Parteien alle Verwaltungsebenen und Regierungsagenturen kontrollieren und mit ihren Gewährsleuten durchsetzen. Diese Behandlung des Staates als Pfründe seitens der politischen Klasse vertieft wiederum das Misstrauen der Bevölkerung gegen den demokratischen Staat. Von dieser Vertrauenskrise ist aber nicht nur das Funktionieren des parlamentarischen Regierungssystems negativ betroffen, sondern auch die institutionelle Integrationsfähigkeit Polens in das Mehrebenensystem der EU, in dem neben den nationalen und regionalen Gremien auch die supranationalen politische Legitimität besitzen.

Die öffentliche Diskussion bezüglich der EU wird jedoch seit Monaten von zwei „griffigeren„ Themen als den schwierigen Strukturproblemen oder der Korruption beherrscht, nämlich dem Komplex der Freizügigkeit für polnische Arbeitnehmer und der Niederlassungsfreiheit für Unternehmer sowie der Frage des Landerwerbs durch EU-Ausländer. Die (negative) Attraktivität dieser Themen liegt darin begründet, dass sie sowohl die Individualrechte als auch die staatliche Souveränität berühren, zwei Wertbereiche, die beide in Polen argwöhnisch gehütet werden. Insoweit hier eine Beeinträchtigung infolge des EU-Beitritts befürchtet wird, sinkt automatisch die öffentliche Unterstützung für diesen Schritt. Auch wenn die Erweiterung in Polen und in der EU de facto längst beschlossene Sache ist, so bedarf es doch zum Funktionieren des Integrationsprozesses der inneren Zustimmung des Volkes.

Eine auch nur zeitweise Beschränkung der Freizügigkeit wird in der Öffentlichkeit als Einführung eines Zweiklassensystems und Verrat an den bürgerlichen Idealen des Westens denunziert. Dies mobilisiert ein in Mitteleuropa ohnehin verbreitetes Image der Westeuropäer als Materialisten, die vom Aufstand der Völker gegen den Kommunismus profitiert haben, jetzt aber deren vollwertiger Mitgliedschaft alle möglichen formalen Hindernisse in den Weg legen. In der Tat ist die Freizügigkeit eine der vier Grundfreiheiten der EU, die nur aus sehr guten Gründen eingeschränkt werden dürfen. Insbesondere geht es hierbei neben der wirtschaftlichen Bedeutung auch um die symbolische Bewegungsfreiheit der EU-Bürger im ungeteilten Binnenraum. Dieses Prinzip kollidiert mit besonders in Deutschland und Österreich vorhandenen Angstbildern einer „Flut„ polnischer Arbeitsuchender und damit verbundenen wirtschaftlichen und identitären Verlustängsten. Die vorläufig beschlossene Festlegung eines Zeitraums von sieben Jahren, in dem nach dem Beitritt Polens zur EU die Zulassung der polnischen Arbeitnehmer zum gemeinsamen Arbeitsmarkt schrittweise und flexibel erfolgen soll, dient grundsätzlich dem Schutz bestimmter Wirtschaftsbranchen vor Dumping und anderen unfairen Praktiken, sie ist aber zugleich als psychologische Schutzmaßnahme gedacht.

Die Freiheit der wirtschaftlichen Betätigung liegt auch an der Wurzel des anderen Problems: Man will EU-Ausländern (wobei vorrangig an Deutsche gedacht ist) den Erwerb von Grund und Boden solange verweigern – zumindest hinsichtlich „sensibler„ Gebiete wie Waldland -, wie die Polen sich selbst als nicht konkurrenzfähig gegenüber dem „westlichen Kapital„ betrachten und den schleichenden Verlust ihrer Souveränität befürchten. Auf das Unterlegenheitsgefühl gegenüber der Kaufkraft und dem verwirrenden bürokratischen System der EU wird durch den Rekurs auf anschauliche Ewigkeitswerte wie den „nationalen Besitzstand„ reagiert, wobei im Verhältnis zu Deutschland noch die besondere Geschichte des Zweiten Weltkriegs und der Oder-Neiße-Grenze hinzukommt. Die angestrebten Schutzbestimmungen – v.a. ein 18jähriges Verbot des Landverkaufs an Ausländer - gehen von der Vorstellung aus, den „nationalen Raum„ Polen als kollektiven Besitz des eigenen Volkes bewahren zu können.

Auf beiden Seiten hat man es mit überkommenen Vorstellungen von Volkstum und Souveränität zu tun. Während der Volksbegriff allmählich durch die betont „zivilgesellschaftliche„ Identität als EU-Bürger ergänzt werden sollte, muss das Souveränitätsverständnis, wie auch in den jetzigen EU-Ländern, in ein Gleichgewicht mit dem Prinzip des „pooling„ von Kompetenzen und Politiken gebracht werden. Das dabei obwaltende Prinzip ist der Schutz der Stellung des Individuums in seinen mannigfaltigen Eigenschaften, sei es als Wirtschaftsfaktor, Träger einer nationalen oder regionalen Kultur, politischer Willensträger usw. Der Nationalstaat – das hat auch die EU-interne Diskussion seit längerem gezeigt – soll dabei seine Funktion als vertraute Orientierungsbasis für die Menschen durchaus behalten, darf sich aber der Entfaltung des Einzelnen im EU-Raum nicht entgegenstellen.

Gerade in Polen zeigt sich das spannungsreiche Nebeneinander einer starken Tradition gesellschaftlicher Autonomie gegenüber staatlichen Strukturen einerseits und eines „schutzsuchenden„ Kollektivismus mit teilweise chauvinistischen Untertönen andererseits. Hinzu tritt spezifisch, dass die Polen sich als eine – auch im übertragenen Sinne - relativ „große„ und um Europa verdiente Nation betrachten, was ihnen im Westen (zumindest rhetorisch) auch immer wieder bestätigt worden ist. Daher bestehen sie auf einer aktiven Rolle bei der Ausgestaltung der EU und fällt es ihnen noch schwerer als den kleineren Bewerbern, ihre Ansprüche „taktisch„ zurückzustellen. Jene Schwierigkeiten hingegen, die die Polen ganz allgemein mit der supranationalen Natur der Europäischen Union haben, teilen sie mit den jetzigen EU-Mitgliedern; insofern bedeuten die hart geführten Verhandlungen ein gutes Training für die Zeit der Mitgliedschaft in einer größeren und komplexeren EU, die ihre eigene Positionsbestimmung noch großenteils vor sich hat.




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