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Was wollen die Globalisierungsgegner? / [Michael Ehrke] - [Electronic ed.] - Bonn, [2001 - 2] Bl. = 22 KB, Text. - (Politikinfo / Internationale Politik-Analyse)
Electronic ed.: Bonn : FES Library, 2001

© Friedrich-Ebert-Stiftung


INHALT





Was wollen die Globalisierungsgegener?

Der G8-Gipfel in Genua bot– nach den Ereignissen von Seattle, Prag, Davos, Göteborg usw. – eine weitere Bühne für die neue Rebellengeneration der Globalisierungsgegner. Deren Protest wird zum Politikum, weil er sich auf eine gewisse Grundsympathie in der Bevölkerung stützen kann: Ganz offensichtlich artikulieren die Globalisierungsgegner ein Unbehagen, das in den westlichen Gesellschaften weit verbreitet ist.

Die Ziele der Protestierer dagegen bleiben oft unklar. Dies geht darauf zurück, dass die Globalisierungsgegner selbst eine heterogene Koalition nicht ohne skurrile Beimengungen bilden. Gleichwohl tritt ihre Mehrheit für eine Reihe sehr konkreter Reformen ein, unter anderem (ohne Anspruch auf Vollständigkeit):

  • Eine strengere Regulierung des internationalen Finanzsystems, u. a. eine strengere Börsen- und Bankenaufsicht und eine Steuer auf finanzielle Transaktionen;

  • freier Zugang der Entwicklungsländer zu den geschützten Agrarmärkten der Industrieländer;

  • keine weitere WTO-Liberalisierungsrunde, kein Handelsabkommen zum Schutz geistigen Eigentums; kein globales Investitionsabkommen;

  • die Einführung von Sozial-, Umwelt- und Demokratiestandards in internationale Handelsabkommen

  • Schuldenerlass für die Entwicklungsländer;

  • Schließung von offshore-Steuerparadiesen;

  • Fortsetzung des Kyoto-Prozesses zum Welt-Klimaschutz;

  • Reform, demokratische Kontrolle und/oder Veränderung der Prioritäten der internationalen Finanzinstitutionen Weltbank und IWF.

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Angriffsziel „Globalisierung"?

Ein gemeinsamer Nenner all dieser Forderungen liegt darin, dass sie auch im Programm der etablierten Parteien aufgeführt sein könnten, in Talkshows zuverlässig Applaus auslösen und in internationalen Expertenzirkeln salonfähig sind. Ihr gemeinsamer Nenner liegt nicht darin, dass sie sich allesamt gegen die Globalisierung wenden:

1. Die Forderung nach Marktöffnung für Entwicklungsländer zielt auf ein Mehr an Globalisierung, auf das Schließen der letzten protektionistischen Reservate der Weltwirtschaft;

2. Ähnliches gilt für die Ablehnung strikt interpretierter geistiger Eigentumsrechte, die den Entwicklungsländern den Zugang zu bestimmten Technologien und Produkten verwehren oder unangemessen verteuern; die sogenannten Gegner der Globalisierung treten hier für weniger Restriktionen ein als deren Befürworter.

3. Einige Forderungen verhalten sich neutral zur wirtschaftlichen Globalisierung, etwa ein Schuldenerlass für Entwicklungsländer oder die Fortsetzung des Kyoto-Prozesses.

4. Forderungen, die auf die Kontrolle der globalen Finanzmärkte (für die sich unter anderem auch George Soros, Paul Volcker und Gerhard Schröder ausgesprochen haben) oder die Schließung von Steuerparadiesen (wie sie die OECD anstrebt) zielen, könnten als gegen ungezügelte Märkte gerichtet interpretiert werden – aber auch als notwendige Flankierung eines im Prinzip unumkehrbaren und akzeptierten Globalisierungsprozesses.

5. In der Ablehnung einer weiteren WTO-Runde lässt sich in der Tat eine explizit gegen den Freihandel gerichtete Initiative sehen. Angesichts des bereits erreichten Grades an freiem Handel allerdings gehen auch mainstream-Ökonomen davon aus, dass weitere Freihandelsrunden allenfalls marginale Effekte zeitigen würden.

6. Forderungen nach einer demokratischen Kontrolle bzw. veränderten Prioritätenbildung internationaler Organisationen und Institutionen füllen eine demokratische Legitimationslücke, die auch von vielen Politikern als Problem gesehen wird. Die Bewegung ist keine Bewegung gegen die Globalisierung und in ihrer Mehrheit keine gegen den Kapitalismus. Sie vertritt keine Alternative zur herrschenden Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. Ihre politische Kohärenz im Vergleich nicht nur zu sozialistischen Bewegungen der Vergangenheit, sondern auch zu den Grünen in ihrer Formationsphase ist, so scheint es, schwach. Gibt es überhaupt einen gemeinsamen politischen Nenner, der die Globalisierungsgegner von den Veranstaltern der Love Parade unterscheidet?

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Was ist der gemeinsame Nenner des Protests?

Gibt es nicht

Eine erste denkbare Antwort: Die Protestbewegung ist in der Tat zu heterogen; die verschiedenen Gruppierungen verbindet lediglich eine kollektive Pawlowsche Reaktion auf internationale Gipfeltreffen, die den unstillbaren Drang auslösen, die entsprechenden Orte aufzusuchen und dort gewaltsame oder gewaltfreie Rituale aufzuführen. Die Bewegung ist nicht nur in Gewalttäter und Friedfertige, in erklärte Antikapitalisten und Reformer gespalten; auch die Reformkräfte differieren hinsichtlich der Reichweite der gewünschten Veränderungen. Einige wollen die Demokratisierung der WTO, andere den Verzicht auf eine weitere WTO-Runde, wieder andere wollen die WTO ganz abschaffen usw. Fazit: Die Bewegung ist zu vielgestaltig, als dass sie eine eindeutige Botschaft artikulieren könnte.

Emotionen

Eine zweite mögliche Antwort: Die Einheit der Bewegung liegt nicht in Forderungen, die rational begründet sind und die sich nicht fundamental von dem unterscheiden, was auch in den herrschenden Institutionen diskutiert wird. Kein Zwanzigjähriger wird an die verschiedensten Orte der Welt reisen und dort seine Gesundheit und – nach Genua – möglicherweise sein Leben riskieren, um zur Verbesserung der Börsenregulierung beizutragen. Der gemeinsame Nenner der Bewegung liegt nicht auf der rational-programmatischen, sondern auf der emotionalen Ebene. Was die Bewegung (und diese mit vielen anderen Bürgern) verbindet, sind Angst (vor einem ungewissen Prozess gesellschaftlichen Wandels, vor Orientierungs- und Identitätsverlusten usw.), Wut (über soziale Ungerechtigkeit o.ä.) oder Scham (über den Reichtum der Industrieländer o.ä.) – Gefühle also. Die oben erwähnten Forderungen dagegen wurden von einer intellektuellen Avantgarde formuliert, die für die Gesamtbewegung nicht repräsentativ ist.

Kulturkritik

Einender Faktor der Anti-Globalisierungsbewegung ist das Unbehagen mit einer von Firmenlogos wie Nike, McDonalds oder Coca Cola beherrschten MacWorld, in der Differenzen und Substanzen ausgelöscht sind, in der Supermärkte, Hotelzimmer, Verkehrsknotenpunkte usw. in Katmandu zunehmend genauso aussehen wie in Kairo und Köln. Länder- und kulturspezifische Besonderheiten lösen sich auf zugunsten weltweit angeglichener Konsummuster. So wie sich die Sprachen dieser Welt auf ein schlechtes New Economy-Englisch nivellieren, gleichen sich die Lebensumwelten einander an wie Flughafen-Interieurs.

Die Bewegung der Globalisierungsgegner ist eher kulturell/subkulturell als politisch motiviert. Gegen die globalisierte Kultur führt sie keinen Heiligen Krieg, sie setzt ihr kein einheitliches Fundamentalprinzip entgegen, sondern ein buntes Bündel an Gegenmotiven, die sich zum Teil – von den Aborigines bis zu den Zapatistas – an den Kulturen orientieren, die die MacWorld zu vernichten droht.

Neoliberalismus

Zu einer politischen Bewegung werden die Globalisierungsgegner durch ihre rationale und explizite Kritik am Neoliberalismus. Ziel der Kritik ist der Neoliberalismus nicht als wirtschaftswissenschaftliche Schule, sondern als politisches Projekt und als resignative Selbstaufhebung der Politik. Als politisches Projekt wird eine Strategie perzipiert, die – unter dem Etikett Washington-Konsens – auf die Vereinheitlichung der Welt zu einem globalen Markt zielt. Diese Strategie hat identifizierbare Protagonisten, die im IWF, der Weltbank, der WTO, der Wall Street, der U.S. Treasury, den großen Unternehmen und im Weißen Haus zu lokalisieren sind. Eine Selbstaufhebung der Politik dagegen wird dort registriert, wo Politiker, die sich nicht als neoliberal einstufen lassen, vor der Eigengesetzlichkeit globaler Märkte kapitulieren und die Anpassung der Politik an die Entscheidungen des Marktes als notwendig, weil alternativlos verteidigen.

In den Augen der Globalisierungskritiker vertieft die neoliberale Politik, sei sie fröhlich-aktiv oder resignierend-realistisch, die Spaltung sowohl der Welt in arme und reiche Länder als auch der Gesellschaften in arme und reiche Bevölkerungsgruppen. Sie nimmt bereits erzielte Relativierungen der sozialen Gegensätze, etwa in der Form des Sozialstaats, wieder zurück; der alte Gegensatz zwischen Arm und Reich, der im nationalen Rahmen hatte verarbeitet werden können, wird um eine Dimension erweitert: Einer Bevölkerungsmehrheit, die territorial gebunden und auf den Staat angewiesen bleibt, steht eine mobile globalisierte Oberschicht gegenüber, die ihre Ressourcen dem Gemeinwesen jederzeit zu niedrigen Kosten und mit geringen Risiken entziehen kann.

Gegen den Neoliberalismus führen die Globalisierungskritiker die normative Priorität demokratischer Politik über die Eigengesetzlichkeiten des Marktes ins Feld. Märkte können sich nur in dem Maße entfalten, das dem politischen Willen der Bürger entspricht. Sie funktionieren nicht automatisch zum Nutzen aller, wie die Existenz von Märkten für Sklaven, Drogen und Schutzgeld zeigt. Die Kriterien, unter denen Märkte einzuschränken sind, werden aber nicht vom Markt selbst bereit gestellt. Es gibt auch keine anderen vorgegebenen Bewertungssysteme, aus denen sich solche Kriterien verbindlich ableiten ließen (wie Religionen oder wissenschaftliche Systeme), sondern nur die vom Ergebnis her offenen Verständigungsprozesse der Bürger, deren Resultate über die demokratischen Institutionen in staatliche Handlungen umgesetzt werden. Die Globalisierungskritiker fordern die Bürger und ihre Repräsentanten auf, den politischen Gestaltungschancen und der Gestaltungspflicht der Demokratie nachzukommen, ökologische, soziale und moralische Prioritäten zu definieren und diese auch gegen die Eigendynamik der Wirtschaft durchzusetzen.

Der Egoismus der Mächtigen

Der Neoliberalismus ist letztlich nicht mehr als eine Strohpuppe, deren Verbrennen allenfalls symbolische Bedeutung hat. Er erklärt weder das Funktionieren der globalen Wirtschaft, noch ist er – trotz der verbalen Attacken – die eigentliche Zielscheibe der Globalisierungskritik. Denn globale Wirtschaft und Politik funktionieren nur zum Teil nach den Gesetzen des Marktes, zum wichtigeren Teil aber nach denen der Macht. Auch Märkte sind vermachtet. Die Rationalität des Marktes wird bemüht, wenn es den Interessen der Mächtigen (Menschen, Unternehmen, Staaten) entspricht, und sie wird unterlaufen, wenn sie mit deren Interessen nicht mehr übereinstimmt. Unternehmen treten über ihre Verbände für den freien Markt ein, jedes einzelne Unternehmen wird jeden Wettbewerbsvorteil suchen und wahrnehmen – und sei dieser nur in der schändlichsten Form staatlicher Intervention zu erzielen. Die Frage ist nicht, ob reguliert oder dereguliert werden soll, sondern wer aus Regulierung oder Deregulierung Gewinn zieht.

Herausragendes Beispiel sind – wieder – die Agrarmärkte der Industrieländer, die viele Jahrzehnte lang nicht nur ökonomisch, ökologisch und sozialpolitisch motivierte, sondern auch liberale und neoliberale Attacken zu hundert Prozent unbeschädigt überstanden haben. Ihre Legitimität in jedem denkbaren Bezugssystem ist Null, ihre einzige Existenzberechtigung ist die Macht derjenigen, die von ihnen profitieren. Ein anderes Beispiel sind Standortdebatten bzw. Standortpolitiken, die im Bezugssystem des Neoliberalismus sinnlos sind, und in denen der praktische Egoismus der Staaten eindeutigen Vorrang vor der Autonomie des Marktes hat.

Angriffsziel der Globalisierungskritiker sind weniger der Neoliberalismus und seine Protagonisten als in einem sehr allgemeinen Sinne „die Mächtigen", ob deren Macht auf dem Markt basiert oder nicht. Hierzu werden auch die Politiker der mächtigen Staaten (also G8) gerechnet, die sich ihrer demokratischen Pflicht entziehen, die weniger Mächtigen zu schützen. Gegen den Egoismus und Opportunismus der Mächtigen wird eine öffentliche Moral ins Feld geführt, die offen als Skandal brandmarkt, was dem normativen Grundkonsens der Demokratien widerspricht, aber in der politischen Routine als gegeben akzeptiert wird. Wenn – zum Beispiel – die bezahlbare Versorgung AIDS-kranker Menschen in Afrika mit Medikamenten nur dann möglich ist, wenn die Patentrechte internationaler Pharma-Konzerne nicht tangiert werden, ist dies zwar ökonomisch plausibel, steht aber – so ließe sich argumentieren – im Gegensatz zu jeder denkbaren Gemeinschaftsmoral, ohne die letztlich auch keine Märkte funktionieren würden.

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Fazit: Die Grünen der Zukunft

Die Bewegung der Globalisierungsgegner ist so schillernd, dass alle hier erwähnten Motive in irgendeiner Weise charakteristisch für sie sind. Es ist nicht ausgeschlossen, dass die Bewegung an ihrem auffälligsten inneren Gegensatz – zwischen Gewaltgegnern und Gewalttätern – zerbricht. Es ist wahrscheinlich, dass sie sich (wie jede politische Bewegung) zu einem hohen Anteil eher aus emotionalen Energien bzw. einer subkulturellen Ästhetik speist, als dass sie in ihren rationalen politischen Forderungen aufginge. Die Protagonisten selbst würden wahrscheinlich im Neoliberalismus den gemeinsamen Gegner sehen, stehen aber in der Gefahr, einen Buhmann aufzubauen: Im strengen Sinne neoliberal sind einige Ökonomieprofessoren, nicht die Mehrheit derjenigen, gegen die sich die Globalisierungsgegner wenden. Der Widerspruch zwischen einer zumindest rudimentär gültigen öffentlichen Moral und einer dieser hohnsprechenden Realität schließlich ist ein zentrales normatives Motiv der Globalisierungsgegner, es richtet sich aber gegen einen schwer zu definierenden Gegner – denn letztlich sind es auch die Lebensstile von Mehrheiten in den Industrieländern, die den denunzierten Skandalen zugrunde liegen.

Hat die Bewegung der Globalisierungsgegner eine Perspektive, vergleichbar mit der der Grünen in ihrer Formationsphase? Entsteht hier eine neue politische Kraft, die sich in Zukunft einmal als eigenständige Partei formieren könnte und/oder Themenfelder öffnet, die alle Parteien einmal besetzen und beackern müssen – so wie heute keine Partei ohne umweltpolitische Programmpunkte auskommt?

Grüne wie Globalisierungsgegner weisen auf von Menschen erzeugte Trends hin, deren unkontrollierte Fortsetzung in die Katastrophe führen würde. Beide Bewegungen haben gemeinsam, dass sich ihr Thema nie erledigen wird: So wie es immer Umweltkatastrophen geben wird, wird auch die weltwirtschaftliche Entwicklung immer wieder von Katastrophen begleitet sein. Darüber hinaus aber haben die Globalisierungsgegner gegenüber den Grünen zwei Vorteile. Sie vertreten ein Anliegen, das sich nicht wie das Umweltthema als Spezialproblem kleinarbeiten lässt; ihre Kritik und ihre Forderungen zielen auf die Kernbereiche des wirtschaftlichen und politischen Systems der Industrieländer. Zweitens sind die Globalisierungsgegner dem mainstream der Politik und Gesellschaft näher als es die Grünen in den siebziger Jahren waren. Sie vertreten kein fundamentales Gegenprinzip gegen die herrschende Ordnung, sondern argumentieren in deren Begriffen. In dramatisierender Form machen sie auf Konflikte aufmerksam, die auch von den Repräsentanten dieser Ordnung wahrgenommen werden. Sie unterliegen daher weniger als die Grünen der gefährlichen Alternative zwischen fundamentalistischer Politikunfähigkeit und realistischem Substanzverlust.

Die westlichen Demokratien waren in der Lage, die grünen Bewegungen zu absorbieren – zum Nutzen dieser Demokratien. Sie sollten sich nun auf eine neue Herausforderung einstellen.

Michael Ehrke

Eine ausführliche Darstellung und Kommentierung von Arbeiten zum Thema Globalisierung finden Sie im Fokus „Globalisierung und Gerechtigkeit" unter http://www.fes.de/indexipa.html

Friedrich-Ebert-Stiftung, 53170 Bonn, fax: 0228 / 883 625, e-mail: ehrkem@fes.de


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