FES HOME MAIL SEARCH HELP NEW
[DIGITALE BIBLIOTHEK DER FES]
TITELINFO


Arbeitsbeziehungen in Ostmitteleuropa zwischen Transformation und EU-Beitritt / Heribert Kohl ; Wolfgang Lecher ; Hans-Wolfgang Platzer. - [Electronic ed.]. - Bonn, 2000. - 23 S. = 92 Kb, Text . - (Politikinformation Osteuropa ; 85). - ISBN 3-86077-914-1
Electronic ed.: Bonn : FES Library, 2000

© Friedrich-Ebert-Stiftung


INHALT


[Seite der Druckausg.: 1-2 = Titelblatt/Umschlag]
[Seite der Druckausg.: 3]

1. POLITISCHER UND KULTURELLER HINTERGRUND DER ARBEITSBEZIEHUNGEN

Nichts wäre falscher, als die vier Vergleichsländer vor dem Hintergrund des Transformationsprozesses nur als ex-sozialistische Länder zu charakterisieren und ansonsten weitgehende Parallelen in ihrem Entwicklungs- und Modernisierungsprozess zu vermuten. Dies würde zu der anfänglich auch von der Beraterszene praktizierten Fehleinschätzung führen, es komme allein auf die richtigen und für alle Fälle zutreffenden allgemeinen Rezepturen an, um die notwendigen Anpassungsprozesse möglichst effektiv und reibungslos zu gestalten. Das Gegenteil ist der Fall: Bei genauerem Hinsehen zeigen sich sehr unterschiedliche Reaktionsweisen auf die Modernisierungszwänge in den einzelnen Ländern. Diese sind wiederum nicht beliebig im Sinne eines Voluntarismus politischer Couleurs in Abhängigkeit von jeweiligen Regierungsmehrheiten, sondern in kulturellen Verhaltensweisen und Traditionen angelegt, die in der Zeit vor und während des sozialistischen „Experiments„ maßgeblich waren.

Um dies zu verdeutlichen, stellen wir an den Anfang des inhaltlichen Vergleichs der Arbeitsbeziehungen in den nachfolgenden Kapiteln zunächst Kurzcharakterisierungen von bestimmenden Trends, die aktuelle Entwicklungen plausibler erklären helfen. Es sind dies jeweils Schlaglichter auf einzelne Elemente, die Kontinuitäten auch der aktuellen post-sozialistischen Ära aufzeigen oder den Hintergrund der landesspezifischen Ausprägungen der jeweiligen Arbeits- und Sozialbeziehungen erhellen.


Polen: Betriebliche Interessenvertretung in der Nachkriegszeit – eine lange Geschichte vielfältigster Wandlungen

Im Zuge der Befreiung vom Joch der hitlerdeutschen Besatzung bildeten sich in Polen spontan Fabrikkomitees, die bereits 1945 eine gesetzliche Grundlage durch die allgemeine Einführung einer gewählten Belegschaftschaftsrepräsentanz mit weitreichenden Kontroll- und Mitentscheidungsrechten erhielt. Nach ihrer schrittweisen Entfernung im Rahmen der Sowjetisierung Polens wurde dieser Ansatz erneut in der politischen Förderung des Gedankens der Arbeiterselbstverwaltung im Tauwetter nach 1956 aufgegriffen: Es folgte ein wiederum nur kurzes Intermezzo sog. Arbeiterräte mit experimentellem Status in einer Reihe von Großbetrieben, die aber von den traditionellen Hierarchien – dem Unternehmensdirektor im Zusammenspiel mit dem betrieblichen Parteisekretär und Gewerkschaftsvorsitzenden – rasch instrumentalisiert wurden. Die Folge war die Bildung sog. Arbeiterselbstverwaltungs-Konferenzen nach 1958, die nicht mehr wie zuvor von der Gesamtbelegschaft zu wählen waren. Zugleich wurde die Möglichkeit der Durchführung betrieblicher Referenden gestrichen.

Diese neue Struktur mit der Aufgabe einer gleichzeitig verstärkten Mitwirkung und Kontrolle des Managements erwies sich indessen als nicht fähig, Krisensituationen zu meistern und entstehende Probleme der Beschäftigten durch effektive Einflussnahme zu lösen. Das Gegenteil zeigte sich vielmehr in der Anfang der 80er Jahre entscheidenden Bewährungsprobe gewerkschaftlichen Handelns: ein positives Aufgreifen des Veränderungswillens der von Danzig ausgehenden Arbeiterproteste der Solidarnoœæ-Bewegung erwies sich im Rahmen dieser Strukturen letztlich als nicht möglich.

Als Folge der sich ausweitenden Arbeiterrevolte setzten sich vielmehr neue Formen der Arbeitnehmer-Beteiligung durch. Sie wurden 1981 in dem Gesetzespaket über die

[Seite der Druckausg.: 4]

Staatsunternehmen und die Selbstverwaltung der Belegschaft kodifiziert. Den Ausgangspunkt bildeten nun die jeweiligen Belegschaften als formal entscheidendes Subjekt im Unternehmen: Diese erhielten sogar das Recht der formalen Beschlussfassung über die Unternehmenspläne. Diese Selbstverwaltung der Arbeitnehmerräte basierte nicht auf den tradierten gewerkschaftlichen Strukturen, sondern sollte Reflex des direkten Basiswillens sein. Die Konsequenz war die Herausbildung gewerkschaftsunabhängiger Selbstverwaltungsgremien als duale Instanz neben der betriebsgewerkschaftlichen Vertretung mit erheblichen Rechten bei der Wahl und Kontrolle der Unternehmensleitung.

Nach 1989 folgte mit der notwendigen Restrukturierung und Privatisierung eine neue Etappe der Entwicklung und damit zugleich das Ende der neuen Formen der ursprünglich zur Systemrettung gedachten Arbeitnehmer-Repräsentanz. Denn durch ihre Mitentscheidung über die notwendigen Änderungen der Eigentumsstrukturen Hand in Hand oft mit den Direktoren der Staatsbetriebe gruben die Arbeitnehmerräte ihr eigenes Grab. Ihre Befugnisse wurden durch das Gesetz über die Privatisierung und Kommerzialisierung 1996 weitgehend außer Kraft gesetzt. In den noch verbliebenen Staatsbetrieben fristen sie gegenwärtig als „Auslaufmodell„ nur noch ein Schattendasein. Das Sagen haben jetzt allein die neuen bzw. alten Eigentümer, ohne dass ein gesetzlicher Ersatz für die verlorengegangenen Beteiligungsrechte geschaffen worden wäre. Im Gegenteil: Die Arbeitnehmerräte sind durch ihre aktive Involvierung in die Agonie des versinkenden Systems in der Mehrheitsmeinung Polens diskreditiert. Eine offensive Vorwärtsstrategie einer Beteiligungsorientierung gegenüber den neuen, die Arbeitnehmerinteressen vielfach ignorierenden Management-Trends – so notwendig sie unter den neuen Bedingungen auch wäre – fand und findet somit nicht statt. Einziges positives Überbleibsel erworbener Rechtsstrukturen ist die Repräsentanz von gewählten Arbeitnehmervertretern (nicht identisch mit gewerkschaftlichen Mandatsträgern!) in den bestehenden Aufsichtsräten, die sich im Zusammenhang mit der Herausbildung betrieblicher Kleinaktionärsgruppen in Polen einer Akzeptanz von allen Seiten erfreuen.


Tschechien: Nach dem Aufbruch des Prager Frühlings zivilgesellschaftliche Starre und politische Abstinenz

Der Prager Frühling animierte viele seiner Beteiligten und Sympathisanten zu großen Hoffnungen auf die Chancen eines demokratischen Humanismus und eines gewaltfreien Widerstands gegen unkontrollierbare Machtausübung. Mit dem gewaltsamen Zerbrechen dieser von einer breiten Bevölkerungsmehrheit getragenen Hoffnung senkte sich auf Jahrzehnte hinaus eine in bestimmten Bereichen bis heute noch nachwirkende Friedhofsruhe über das Land.

Statt Aufbruch bestimmte Attentismus das Leben in seinen unterschiedlichen Facetten: Nicht nur der Rückzug aus der Politik in die Privatsphäre war kennzeichnend für das gesellschaftliche Klima nach 1968. Auch das wirtschaftliche Leben verblieb anschließend, anders als etwa in Ungarn oder Polen, ohne innovative Impulse, die das sich zunehmend als ineffektiv erweisende System hätten in Frage stellen oder erneuern können. Private Wirtschaftstätigkeit und Experimentieren mit neuen Strukturen blieben in der Folge nahezu völlig aus. Zur Kalmierung dieses Zustands trug die Möglichkeit der kontinuierlichen Ausweitung des privaten Konsums durch bescheidenes, aber stetiges wirtschaftliches Wachstum nicht unerheblich bei.

[Seite der Druckausg.: 5]

Die mit einer solchen zivilgesellschaftlichen Starre weniger zufriedenen Tschechen etablierten sich in einer Art „zweiten Gesellschaft„, geprägt durch weitgehende Abstinenz von einem ohnehin aussichtslos erscheinenden öffentlichen Engagement und das Arrangement mit den nicht änderbaren monolithischen Strukturen nicht nur im staatlichen, sondern auch im wirtschaftlichen Bereich einschließlich der durch das „sozialistische„ Management und die Gewerkschaftskonföderation etablierten Arbeitsbeziehungen.

Die „samtene Revolution„ 1990/91 mit ihrem abrupten Übergang in ein neues Ordnungssystem eröffnete der kritischen Minderheit, die sich rasch mit dem zuvor attentistisch-apathischen Gros der Bevölkerung in einer den neuen mainstream unterstützenden Mehrheit wiederfand, neue Gestaltungschancen. Diese wurden aber gemäß dem in Tschechien verbreiten Sinn für Ordnung und Konsensfindung – im Gegensatz zu den stärker individualistisch geprägten Nachbarn Polen oder Ungarn – in tripartistischen großen Runden Tischen weitgehend austariert, ohne dass die Notwendigkeit radikaler wirtschaftlicher Reformen und eines weiterwirkenden politischen Veränderungswillens dabei entscheidende Impulse hätte auslösen können.

Die vorhandenen Strukturen wurden zwar im Rahmen der notwendigen neuen Systemkoordinaten reformiert und ihre Akteure an den Spitzen ausgewechselt und erneuert, aber nicht soweit in Frage gestellt, dass z.B. neue alternative Gewerkschaften oder eine breitere Beteiligung einzelner Gesellschaftsgruppen an lokalen bzw. regionalen Initiativen entstanden wären. Eine der Folgen dieser nicht konstanten evolutionären Entwicklung und des diese eher verhindernden „Fassadenkorporatismus„ ohne den gleichzeitigen Aufbau paritätischer Arbeitsbeziehungen auf autonomer Grundlage ist die nach der populären Coupon-Privatisierung erneut eintretende Konzentration des Aktienkapitals in den Händen des neuen Managements und insbesondere der von den Banken organisierten Investitionsfonds. Letztere halten mittlerweile über zwei Drittel des anfänglich breit gestreuten Aktienbesitzes in ihrer Hand.

Der gewerkschaftliche Dachverband spielt gleichwohl als ein mit vielen Hoffnungen ausgestatteter Ordnungsfaktor eine politisch starke Rolle – siehe die den Regierungswechsel 1997 mitauslösende gewerkschaftliche Massendemonstration mit über 100.000 Teilnehmern. Dieses latente Druckpotential wird aber zu aktiven Lohnkämpfen und Streikbewegungen auf Branchenebene nicht aktiviert. Eine der Folgen ist der eher resignative Grundzug gegenüber der künftigen Entwicklung einschließlich der Perspektive der EU-Integration, die mit zunehmender Reserve („Euro-Skepsis„) in der tschechischen Bevölkerung angesichts der hier noch zu bewältigenden Defizite gesehen wird.


Ungarn: Drang nach Freiheit und Vielfalt trotz vielfachen Scheiterns stets ungebrochen

Die Revolution gegen das monolithische Sowjetsystem 1956 hat in Ungarn auch die „freie„, gegen die uniformierte Nomenklatura gerichtete Gewerkschaftsbewegung hervorgebracht, die auf dem Programm einer Selbstverwaltung durch Arbeiterräte gründete. Genauer gesagt verstanden sich diese Arbeiterräte eher als Gegenmacht statt nur alternative Gewerkschaft, da sie zugleich die politische Alternative des sich selbst verwaltenden Gemeineigentums verkörpern wollten. Insofern kann diese erste breite Aufstandsbewegung nach dem 17. Juni auch als Vorbild für spätere ähnliche Erhebungen wie auch die der polnischen Solidarnoœæ angesehen werden.

[Seite der Druckausg.: 6]

Nach dem Scheitern der Revolution 1956 hat die ungarische politische Führung nach einigen Monaten des Verhandelns mit regierungsloyalen Arbeiterräten diese neue Bewegung endgültig verboten und ihren führenden Personen hohe Gefängnisstrafen auferlegt. Denn die politisch restituierte Macht hatte erkannt, dass auch aus dieser gewerkschaftlichen Bewegung eine politische Gegenmacht mit Sprengkraft werden kann. Der Gedanke der gewerkschaftlichen Organisationsfreiheit, übrigens gemäß ILO-Konventionen (87 und 98) auch in Ungarn schon 1957 ratifiziert, blieb immer virulent und brach schließlich 1988/89 mit ungebrochener Kraft erneut hervor.

Mittlerweile gab es im Zuge der nach 1968 zum Zweck der Wirtschaftsbelebung geförderten verstärkten Autonomie des jeweiligen Unternehmens-Management auch verstärkte und in der Tendenz autonome, da viel stärker von den Arbeitnehmerinteressen ausgehende gewerkschaftliche Einflussnahmen auf die Unternehmensleitungen und zugleich auch den Staat. Damit zugleich entstand auch die Chance zur Herausbildung einer pluralen Kraft, ungeachtet der weiterhin bestehenden politischen Dominanz der Einheitspartei und des Prinzips des „closed shop„ mit Zwangsmitgliedschaft in der Gewerkschaftsorganisation.

Erstaunlicherweise waren es die sich ab 1987 politisch formierenden Liberalen, die erneut den Begriff der Selbstverwaltung der Arbeitnehmer in die Debatte der Vorwendezeit mit einem Flugblatt zum Rousseau’schen „Gesellschaftsvertrag„ brachten und damit Dämme losbrechen halfen, die sie wohl selbst nie in dieser Intensität eines foudroyanten Gewerkschaftspluralismus erwartet hätten. Schlag auf Schlag bildeten sich, ausgehend von dem ersten Versuch einer Demokratischen Gewerkschaft der Wissenschaftler (Pal Fogas) folgende Dachverbände

  • Liga unabhängiger Gewerkschafter. Ihnen gesellten sich rasch Teile der aus der früheren Staatsgewerkschaft austretenden Branchengewerkschaften zu.
  • Die „Arbeiterräte„ formierten sich 1988 ebenfalls neu, wenn auch nie mit einer Chance der Realisierung des Selbstverwaltungsprogramms in der beginnenden kapitalistischen Restrukturierung. (Sie drifteten später zu den konservativeren christlichen Gewerkschaften und damit zur relativen Bedeutungslosigkeit ab.)
  • Die öffentlichen Bediensteten (Angestellten) formierten sich im Gewerkschaftlichen Kooperationsforum (SZEF) neu, um ihre Interessenvertretung unter den neuen Bedingungen der Differenzierung der Beschäftigten effektiver ausüben zu können.
  • Weiterhin bildete sich im öffentlichen Sektor eine Vereinigung der Gewerkschaft der Intelligenz (ESZT) aus wissenschaftlichen Einrichtungen und Hochschulen.
  • Hinzu kamen mit der Absicht, gegenüber der zunehmenden parteiorientierten Politisierung der Gewerkschaftsbünde ein Gegengewicht zu bilden, der Bund Autonomer Gewerkschaften (ASZSZ), der vor allem die alte Chemiegewerkschaft, Lokführer sowie andere öffentliche Dienstleister (z.B. Energieunternehmen) umfasste. Ihnen ging es um die Behauptung sozialer Leistungen trotz Privatisierung durch Tarifvertrag.
  • Die frühere Monopolgewerkschaft strukturierte sich als Antwort auf diese permanente Aufspaltung ebenfalls 1990 als MSZOZ neu mit einer im Vergleich zu allen Reformgewerkschaften nach wie vor zahlenmäßig dominierender Mitgliedschaft.

Der Pluralismus, der sich auch auf Arbeitgeberseite im gesellschaftspolitischen Spektrum Ungarns überaus deutlich zeigt, ist offensichtliche integrativer Bestandteil der ungarischen Sozialkultur. Seine spezifische „extreme„ Erscheinungsform ist auch als Antwort auf dessen vorherige gewaltsame Unterdrückung zu interpretieren. Dass selbst Effizienz-

[Seite der Druckausg.: 7]

überlegungen diese Tendenz kaum einzudämmen in der Lage sind, bestätigt diese Annahme.


Slowenien: Von der Arbeiterselbstverwaltung zum partizipativen demokratischen Staatswesen

Wenn die Arbeiterselbstverwaltung im vormaligen Jugoslawien irgendwo wenigstens näherungsweise funktionierte, da ihre Prinzipien ernst genommen und innovativ eingesetzt wurden, so war dies Slowenien, wie man sich zu damaliger Zeit leicht durch Betriebsbesuche überzeugen konnte. Das Element der unmittelbaren Demokratie – mit Urabstimmungen und Vollversammlungen, Rotationsprinzip oder auch imperativem Mandat – wirkte im übrigen nicht nur in den alle Beschäftigtengruppen einschließlich der leitenden Angestellten umfassenden Arbeiterräten der Unternehmen, sondern auch in den Gemeinden als organisatorische Grundlage der weiteren staatlichen Strukturen auf Republikebene: Überall existierte neben der politischen Repräsentanz auch eine zweite Kammer, bestehend auf kommunaler Ebene aus Vertretern der unterschiedlichen Arbeitskollektive am Ort, auf Republikebene aus Vertretern der Sektoren Wirtschaft, Bildung, Gesundheit und Soziales. Diese sich im Selbstverwaltungs-Sozialismus etablierenden demokratischen und pluralen Strukturen wurden auch nach der Wende und der schließlichen Erlangung der staatlichen Unabhängigkeit Sloweniens weitgehend unter Anpassung an die gewandelten Umfeldbedingungen zu erhalten gesucht.

Auch heute noch existiert auf staatlicher Ebene eine zweite Kammer der Legislative (Nationalrat aus Vertretern der relevanten sozialen Gruppen). Die Wirtschaftskammer als korporatives Organ der Selbstverwaltungs-Wirtschaft wurde ebenfalls weiter betrieben und übte nun eine wichtige Funktion bei der Einführung eines zuvor unbekannten Strukturelements aus: des sektoralen Flächentarifvertrags, der im System syndikalistischer Selbstverwaltung auf Unternehmensebene (mit jeweils eigener Verteilungskompetenz hinsichtlich Investitionen und Löhnen) keine Funktion hatte. Als Verhandlungspartner – neben dem Staat – für die Gewerkschaften funktionierte die Kammer solange, bis der mittlerweile nachgewachsene Juniorpartner der freien Vereinigung der Arbeitgeberverbände in der Lage war, diesen Part in Zukunft allein zu übernehmen.

Als weiteres tragendes Element der Kontinuität zeigt sich die Fortführung partnerschaftlicher, gleichberechtigter Arbeitsbeziehungen auf Unternehmensebene, basierend auf dem neu eingeführten Betriebsrat als allgemeines Vertretungsorgan neben den weiterhin starken betrieblichen Gewerkschaftsorganisationen, zuständig für Information, Konsultation, Mitbestimmung sowie den Abschluss von Betriebsvereinbarungen, zugleich Vorschlagsorgan für die Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat – „mindestens„ 50% der Sitze in Unternehmen ab 1.000 Beschäftigte – sowie auch den Arbeitsdirektor als Vertrauensperson der Belegschaft im Vorstand (in Unternehmen mit mehr als 500 Beschäftigten).

Der normative Anspruch auf partizipative Gestaltung besteht somit in einer sehr ausgeprägten Form, wenn auch seine Umsetzung im neuen marktwirtschaftlichen und europäischen Umfeld nicht einfach zu realisieren ist, angesichts Privatisierung, joint ventures, hoher Arbeitslosigkeit, Gewerkschaftspluralismus und rückläufigem Organisationsgrad. Dennoch: Krisenstimmung zeigte sich in Slowenien nie, nicht zuletzt dank wirtschaftlicher Erfolge (höchstes Prokopfeinkommen aller vormals sozialistischen Länder!), eher die Gewissheit: Wir gehör(t)en schon immer – trotz vorübergehender Anbindung an den Balkan – zu Europa!

Previous Item Page Top Next Item

[Seite der Druckausg.: 8]

2. DIE ÖKONOMISCH-POLITISCHE LAGE VOR DEM EU-BEITRITT

Im Vierländervergleich ergeben sich einige zentrale gemeinsame Tendenzen, aber auch bei einigen Indikatoren differenzierte nationale Profile. Bis auf Tschechien weisen die hier vorgestellten großen Reformvorreiter der ersten Beitrittswelle der EU durchaus günstige wirtschaftliche Wachstumstendenzen auf. Sie sind der Wachstumsmotor der MOE-Region. Nicht ganz so günstig sieht die Entwicklung auf den Kapitalmärkten aus. Die Privatisierung befindet sich in den Ländern in unterschiedlichen Stadien, wobei insbesondere Ungarn die größten Erfolge zu verzeichnen hat, während Tschechien nach der Anfangseuphorie nun die Nachteile der Coupon-Privatisierung erfährt und den ins Stocken geratenen Prozess erst mühsam wieder in Gang setzen muss.

Trotz günstiger Wachstumsraten ist aber auf dem Arbeitsmarkt noch nirgendwo ein entscheidender Durchbruch erreicht worden. Die Arbeitslosenquote liegt immer noch knapp im zweistelligen Bereich, und es dürfte aufgrund der noch nicht abgeschlossenen Restrukturierung der Wirtschaft schwierig sein, hier schnell signifikante Verbesserungen zu erreichen. Insbesondere in Polen mit seinem hohen landwirtschaftlichen Anteil und der Dauerkrise im Bergbau dürften weitere Rationalisierungsmaßnahmen voll auf den Arbeitsmarkt durchschlagen.

Das gleiche gilt für die Inflation. Zwar hat sich die Preisentwicklung nach dem ersten Teuerungsschock Anfang der 90er Jahre etwas beruhigt, doch sind alle hier vorgestellten Länder von echter Preisstabilität noch weit entfernt, auch wenn die Inflationsrate sich tendenziell unter die 10%-Marge bewegt. Am günstigsten liegt hier noch Slowenien, das aber seine restriktive Geldpolitik mit der höchsten Arbeitslosenquote der hier verglichenen Länder „bezahlt„. Bei einer beschleunigten Privatisierung in diesem Land dürfte diese sogar noch weit höher liegen.

Wiederum mit Ausnahme Tschechiens ist der politische Hintergrund und sind damit die Grundzüge der Wirtschaftspolitik in den Vergleichsländern relativ stabil. Wechselnde Couleurs der Regierungs(-koalitionen) gehen nicht mit tiefgreifenden ökonomischen Kurskorrekturen einher. Die vorgezeichneten Integrationsschritte in die EU und die dafür nötigen Maßnahmen werden auch weiterhin für Stabilität sorgen. Tschechien ist der negative Ausnahmefall, wo sich zwei extreme wirtschaftspolitische Auffassungen auch partei- und regierungspolitisch gegenseitig paralysieren.

Der Zustand der Arbeitsbeziehungen, der für den Aufbau einer Zivilgesellschaft nach westlichem Muster eine entscheidende Rolle spielt, lässt in allen Ländern zu wünschen übrig. Zwar konnten sich die Gewerkschaften überall mehr oder weniger von ihrem systemkonformen Schatten der Vorwendezeit befreien, doch geschah dies – hier mit positiver Ausnahme Tschechiens und letztlich nun auch in Slowenien – in der Regel um den Preis von Richtungsgewerkschaften (besonders extrem in Polen) und immer noch zunehmender betrieblicher Autonomie gegenüber der sektoralen und nationalen Vertretungsebene. Die Tendenz zur unkontrollierten Dezentralisierung und somit auch Deregulierung der Arbeitsbeziehungen im Vergleich zu den EU-Ländern, wo sektorale Verbandsorganisation und Tarifpolitik mit Ausnahme Großbritanniens immer (noch) das Rückgrat der Arbeitsmarkt- bzw. Tarifparteien bilden, ist deutlich stärker ausgeprägt. Auch auf nationaler Ebene ist die Position von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden gegenüber der Regierung aufgrund ihrer begrenzten institutionellen und organisatorischen Stärke als eher schwach einzuschätzen.

[Seite der Druckausg.: 9]

Auf eine knappe Formel gebracht: Der Staat dominiert in der Transformationsphase die Arbeitsbeziehungen, hat aber gegenüber der Vorwendezeit seine tentative Allmacht verloren und seine Position radikal geändert. Nun garantiert er die von der Bevölkerung gerade noch mehrheitlich akzeptierten neoliberalen Rahmenbedingungen zur Durchkapitalisierung (Marktorientierung) der Gesellschaft, ohne dass die beiden anderen Protagonisten der Arbeitsbeziehungen – Arbeitgeber(verbände) und Gewerkschaften – gleichwertige Mitspieler sind. Die Arbeitgeber müssen sich einerseits in dem neuen, sich rasch und ständig verändernden Umfeld zwischen Staatseigentum und Privatisierungsschüben orientieren und zunächst individuell positionieren, haben es andererseits aber aufgrund der ihnen konformen Grundausrichtung des Systems offensichtlich teilweise nicht nötig, sich zur Durchsetzung ihrer Interessen zusammenzuschließen.

Die Gewerkschaften sind mit der Aufgabe voll ausgelastet, die sozialen Folgeschäden der neoliberalen Marktöffnung für die Transformationsverlierer zu mildern. Angesichts dieser inzwischen festgeschriebenen Rollenverteilung müssen die tripartistischen Institutionen auf nationaler und ggf. regionaler Ebene politisch-konzeptionell und analytisch als "defizitärer Korporatismus" gefasst werden: Der Staat hat weite Areale seiner früheren gesellschaftlichen Gestaltungsmöglichkeiten geräumt, bleibt aber trotz seiner Schwäche als Garant des Transformationsrahmens der "leitende Spieler" im Arbeitsbeziehungssystem. Die Arbeitgeber(verbände) nutzen die ökonomisch-neoliberale Öffnung insbesondere auf dezentraler Ebene, sind aber – der anscheinenden Logik des neuen Systems folgend – nicht auf den Aufbau sektoral und national kompetenter und handlungsfähiger Organisationsformen angewiesen, obgleich dies keinesfalls marktregulierend wirkt: Gleiche Wettbewerbsbedingungen gibt es bei einem defizitären Tarifvertragssystem eben gerade nicht. Und die Gewerkschaften als potentielle Alternativen sind organisatorisch zu schwach und mit der Verteidigung der sozialen Restbestände des Status quo ante bereits überfordert. Eine Situation also, die eine gewisse Nähe zu Deregulierungstendenzen der Arbeitsbeziehungen in den gleichfalls unter neoliberaler Wirtschaftpolitik und Massenarbeitslosigkeit leidenden EU-Länder aufweist?

Previous Item Page Top Next Item

3. KOLLEKTIVES ARBEITSRECHT

In allen vier Vergleichsländern haben sich in den letzten Jahren bedeutende Anstrengungen der Anpassung und Modernisierung der die Arbeitsbeziehungen bestimmenden Normen vollzogen. Dabei war die Anfangsphase unmittelbar vor und nach der in den einzelnen Ländern mit unterschiedlicher Intensität einsetzenden Wende zwangsweise stärker von dem Bestreben gekennzeichnet, eine rasche Umstellung auf marktwirtschaftliche Erfordernisse im Arbeits-, wie auch im Gesellschafts- und Wirtschaftsrecht sowie eine Lösung von disfunktionalen monolithischen Strukturen und Öffnung hin zu Pluralismus und Wettbewerb auch bei den Arbeitsbeziehungen zu bewerkstelligen. Ebenso rasch setzte sich im Blick auf den avisierten späteren Beitritt zur EU auch das Bemühen durch, bei anstehenden Rechtsänderungen zugleich auch bestimmte Standards der EU-Richtlinien neben der unumgänglichen Anwendung von ILO-Konventionen zu berücksichtigen, wobei in den einzelnen Ländern durchaus unterschiedliche zeitliche „Vorläufe„ zu konstatieren sind.

Als durchgehend wirksames Strukturelement zeigen sich dabei in allen vier MOE-Ländern die aus der Tradition der Runden Tische der Wendephase hervorgegangenen tripartistischen Steuerungs- und Beratungsorgane (in Form unterschiedlich benannter Wirtschafts-

[Seite der Druckausg.: 10]

und Sozialräte) auf nationalstaatlicher Ebene. Ihnen kommt bei der möglichst konsensualen sozialen Flankierung des Wende-„Manövers„ und bestimmten Grundentscheidungen des Reform- und Modernisierungsprozesses eine offenkundig notwendige Funktion zu – insbesondere in den Bereichen der Gesetzesvorbereitung und -beratung des kollektiven Arbeitsrechts, aber auch bei Grundfragen der Einkommens-, Arbeitsmarkt-, Struktur-, Privatisierungs- und Sozialpolitik, in durchaus unterschiedlicher Qualität. Jedoch haben tripartistische korporative Institutionen offensichtlich weder das wünschenswerte beschleunigte Entstehen autonom agierender Arbeitgeberverbände befördern helfen noch zeigten sie sich bislang in der Lage, den z.T. ausufernden gewerkschaftlichen Pluralismus einzudämmen oder gar abzubauen. Entscheidende Impulse zur Gestaltung des Arbeitsrechts aus diesen Gremien heraus sind bisher kaum zu erkennen.

Unterschiedlich fielen in den Ländern hingegen bestimmte grundlegende Strukturentscheidungen des kollektiven Arbeitsrechts im Blick auf die betriebliche Interessenvertretung aus: Ungarn (1992) und Slowenien (1993) schlugen hier den Weg der dualen, arbeitsteilig organisierten Interessenvertretung im privaten wie auch im öffentlichen Sektor nach kontinentaleuropäischem Muster ein, während Polen und Tschechien diesen strukturellen Eingriff in die Tradition betriebsbezogener Alleinvertretung der jeweiligen Gewerkschaftsorganisation nicht vornahmen. Gleichwohl tauchen auch in den zuletzt genannten Ländern zunehmend Probleme des konkurrierenden Gewerkschaftspluralismus und schwieriger legaler Regelungsfragen auf (Definition der Repräsentativität in Bezug auf Verhandlungskompetenz, Zwang zu gegenseitiger Kooperation). Ganz abgesehen von der immer virulenter werdenden Frage des Wachsens „gewerkschaftsfreier„ Räume infolge Privatisierung sowie Firmen-Neugründungen. Rechtsdefizite zeigen sich darüber hinaus gegenüber der EU-Institution Euro-Betriebsrat (EBR) sowie nicht zuletzt auch in der Frage der dem »acquis communautaire« entsprechenden Minima an Informations- und Konsultationsrechten.

Analog dazu ist auch festzuhalten, dass Beteiligungsrechte für Vertreter der Arbeitnehmer in Aufsichtsräten in allen vier Vergleichsländern bestehen, allerdings in deutlich abgestufter Form aufgrund gesetzlicher Vorschriften. Dabei zeigen sich hier wiederum auch Unterschiede arbeits- und unternehmenskultureller Traditionen gemäß einem sehr unterschiedlichen Grundverständnis des vormaligen realen Sozialismus. In Polen und Tschechien finden dabei die einzigen Wahlakte aller Beschäftigten – also nicht nur von Gewerkschaftsmitgliedern – statt. Während in Polen, Tschechien und Ungarn jedoch jeweils nur eine Drittelbeteiligung von Arbeitnehmervertretern vorgesehen ist, besetzen in Slowenien in Betrieben über 1.000 Beschäftigte die Arbeitnehmer die Hälfte der Aufsichtsratsmandate mit jeweils vom Betriebsrat vorzuschlagenden Mitgliedern. Darüber hinaus hat die betriebliche Interessenvertretung in Slowenien auch ein Vorschlagsrecht zur Besetzung des Arbeitsdirektors in Unternehmen ab 500 Beschäftigten, also Beteiligungsrechte beim Management. Vorhergehende Traditionen wirken hier also fort: Das gesellschaftliche Eigentum im ehemaligen Jugoslawien war schließlich in grundsätzlich anderer Weise auf plurale Partizipation angelegt als das Staatseigentum sowjetischer Prägung.

Ein weiterer offenbar damit korrespondierender Unterschied ist die Existenz von Arbeitsgerichten. Diese im Status quo ante nicht vorhandene Instanz zur richterlichen Kontrolle der Einhaltung arbeitsrechtlicher Normen ist gleichfalls nur in den auf diesem Sektor strukturell innovativeren Ländern (Slowenien und Ungarn) mit stärker gesetzlich definierten Beteiligungsrechten eingeführt worden: gleichsam als juristischer Reflex der allgemeinen Repräsentation der Interessen der Beschäftigten durch gewählte Vertreter unabhängig von ihrer Gewerkschaftszugehörigkeit. Demgegenüber setzen die in diesem Sinne als strukturkonservativ zu bezeichnenden Länder (Tschechien und Polen) eher auf eine Fort-

[Seite der Druckausg.: 11]

entwicklung der früheren Konfliktlösungs- und Schieds-Instrumente unter maßgeblicher Beteiligung der Gewerkschaften. Die nächsthöhere Appellationsebene ist in diesem Fall dann die allgemeine professionelle Gerichtsbarkeit – ohne eine Beteiligung von Vertretern der Sozialparteien (durch ehrenamtliche Arbeitgeber- und Gewerkschaftsvertreter). Dieses erweist sich letztlich nicht nur als eine juristische Spezialfrage, sondern als eine für die Rechtswirklichkeit und die Überprüfung des Normenvollzugs in der Arbeitswelt durchaus nicht unmaßgebliche Angelegenheit.

Die Rechtsanpassung erfolgte in allen Ländern sehr dezidiert im Blick auf potenzielle und erwünschte Investoren, durch die starke wirtschaftliche Impulse und verbesserte Handelsbeziehungen erwartet werden. Im Blick auf die Anpassung an EU-Recht sind erhebliche Bemühungen, aber ein in Einzelfragen durchaus unterschiedlicher Status (z.B. im Bereich Arbeitszeit oder Arbeitschutz) sowie auch Grad der jeweiligen Umsetzung in den einzelnen Ländern festzustellen. Darüber können u.a. auch die periodischen Screening-Verfahren der EU unter mehr oder weniger intensiver Beteiligung der betroffenen Länder und der organisierten Akteure der Arbeitsbeziehungen Auskunft geben.

Unterschiedlich ist schließlich auch die Rolle des Individuums im Arbeitsrecht: Es existieren in allen Ländern im Vergleich zu Westeuropa sehr enumerativ ausgeprägte legale Kompetenzen in den jeweiligen Arbeitsgesetzbüchern (einschließlich dem Neuentwurf des Gesetzes über die Arbeitsverhältnisse in Slowenien), die durchaus in Konflikt mit einer perspektivisch auszuweitenden Tarifautonomie stehen können, die dadurch deutliche Einschränkungen erfährt. Eine gewisse Sonderrolle nimmt dabei Ungarn ein: Hier besitzen die Inhalte der individuellen Arbeitsverträge eine vergleichsweise große Bedeutung, bedingt durch die Schwäche der Arbeitsbeziehungen auf der Meso-Ebene der Branchen-Kollektivverträge. Im Verein mit einem neoliberalen, stärker auf das Individuum bezogenen als auf vereinheitlichende, einem vermeintlichen „Kollektivismus„ Vorschub leistenden Regelungs-Verständnis sind hier reale Mindeststandards und deren ständige Verbesserung dann schwierig durchsetzbar.

In jedem Falle ist für eine realistische Einschätzung immer die jeweilige Rechtswirklichkeit auf sämtlichen Ebenen der Arbeitsbeziehungen in Betracht zu ziehen. Die besten Normen nützen bekanntlich ohne die Bereitschaft, den Willen und die Durchsetzungsfähigkeit der wesentlichen Akteure als Adressaten ihrer Implementierung wenig. Die tatsächlich praktizierten Unternehmens-, Arbeits- und Sozialkulturen sind daher – gegenüber dem allgemeinen Maßstab des jeweiligen differenzierten Arbeitsrechts – für die vergleichende Beurteilung der Arbeitsbeziehungen als bestimmendes Element des Wirtschaftslebens jeweils maßgebend. Ihnen ist daher, soweit es die Quellenlage erlaubt, besondere Aufmerksamkeit zu schenken.

Previous Item Page Top Next Item


4. Betriebliche Arbeitsbeziehungen

Auf der betrieblichen Ebene zeigen sich in allen Vergleichsländern quasi modellartig unterschiedliche Ausprägungen der Arbeitsbeziehungen. Sie lassen sich von der institutionellen wie auch faktischen Lage her zunächst wie folgt skizzieren:

Es gibt in den MOE-Ländern entweder eingliedrige oder aber auch duale Interessenvertretungen auf der dezentralen Ebene.

Innerhalb dieser grundsätzlichen Ambivalenz zeigen sich wiederum bedeutende Unterschiede:

[Seite der Druckausg.: 12]

  • Fortführung der bisherigen Struktur der Interessenvertretung im Unternehmen unter Anpassung an neue Bedingungen, aber vornehmlich defensiv bei der Verteidigung mittlerweile durch den Transformationsprozess zur Disposition gestellter Besitzstände und Einflusssphären. Bei raschem Strukturwandel kann diese Strategie nur bedingt erfolgreich sein (z.B. bei Massenprivatisierung). Zu viel Kraft wird absorbiert für die Erhaltung des Bestehenden, dabei finden gleichzeitig permanent Verluste an der Lohnfront statt, der notwendige politische Gestaltungswille der Gewerkschaft insgesamt trotz einzelner positiver Unternehmensbeispiele in Großbetrieben erlahmt. (Beispiel: Tschechien)

  • Beibehaltung traditioneller Strukturen, aber deren politische Duplizierung: Die Gewerkschaftsbewegung teilt sich in zwei große, nicht-kooperationsfähige Blöcke auf mit jeweils starkem betrieblichem Rückhalt (d.h. ggf. „duale„, parallele Interessenvertretung zweier Gewerkschaftsblöcke in einem Betrieb) einerseits, politische Anbindung an Parteien (Symbiosen) andererseits. Auch dies erschwert Anpassungsfähigkeit und Modernisierung im Sinne der Entfaltung gewerkschaftlicher Gestaltungskraft. Die Folge: teilweise Erosion und Marginalisierung atomisierter Gewerkschaftsorganismen, teilweise neue Fragestellungen, die die Gewerkschaft herausfordern, auf die jedoch keine Antworten erfolgen (z.B.: Welche Position soll gegenüber einem Management mit einem HR-Ansatz eingenommen werden? – Kooperation oder Konfrontation?). Eine erste Änderung dieser Politisierung zeichnet sich durch die im Dezember 1999 erfolgte Grundentscheidung eines der großen Gewerkschaftsbünde (Solidarnoœæ) ab, sich aus der Parteipolitik künftig zurückzuziehen und auf die Interessenvertretung der Arbeitnehmer zu konzentrieren. (Beispiel Polen)

  • Einführung eines dualen Systems der Interessenvertretung durch den Staat ohne Konsens seitens der Gewerkschaften. Faktisch entsteht daraus eine konfligierender Dualismus, den die Gewerkschaften als Konkurrenzorgan in Gestalt des Betriebsrats empfinden, gerade angesichts ihrer eigenen extremen Konkurrenzsituation im Rahmen eines überbordenden Gewerkschaftspluralismus, der sich dann auch bei den Betriebsratswahlen widerspiegelt. Dies belastet bis auf Ausnahmen, wo die Interessenvertretung dann doch funktioniert, das Verhältnis und die mögliche Kooperations-Funktion zwischen beiden Vertretungsformen. Umgekehrt benötigen die in diesem Fall auch mit schwachen Rechten ausgestatteten Betriebsräte dringend der Beratung , Schulung und externen Unterstützung, um ihre Rolle adäquat ausfüllen zu können. Dies um so mehr, als es von Managementseite auch ziemlichen Widerstand gegen den Dualismus als einer bloßen „Duplizierung„ der Interessenvertretung gibt, ohne dass sie die Vorteile des Arbeits- und Betriebsfriedens als Gegensatz zum Arbeitskampf adäquat einschätzen würde, der die Herausbildung eines sozialen Dialogs und kooperativer Unternehmensstrukturen zum wechselseitigen Vorteil erst ermöglichen kann. Die hier momentan vorherrschende Patt-Situation repräsentiert in all seiner Potenzialität Ungarn.

  • Ein komplementäres duales System mit aktiver Kooperation zwischen Gewerkschaft und Betriebsrat als weiteres Modell zeigt zugleich auch Ansätze für veränderte Arbeitsbeziehungen: Hier geht es für das Management dann nicht mehr nur um neue Verhandlungssysteme, sondern im günstigen Falle auch um die Erörterung und Erarbeitung gemeinsamer Gestaltungskonzepte (bis hin zum Co-Management mit dem Arbeitsdirektor). Die dahinterstehende Zielsetzung ist die auch laut Verfassung intendierte Wirtschafts-Demokratie. Institutionelle Voraussetzung dafür ist eine Ausstattung der gewerkschaftlichen Interessenvertretung mit starken Beteiligungsrechten und die Unterstützung der Betriebsräte durch ihre Gewerkschaften ebenso wie auch das Zu-

    [Seite der Druckausg.: 13]

    sammenspiel zwischen Tarifvertrag und Interessenvertretung, wodurch auch die Präsenz der Gewerkschaft im Betrieb verbessert werden kann (Beispiel Abkommen über Vertrauensleute). Diese Tandem-Lösung bringt Vorteile für alle: hohe Produktivität und hohe Löhne (zudem ohne größere Streikbewegungen). Dafür steht das Beispiel Slowenien.

Allerdings: In keinem der Länder spielen Streiks in den letzten Jahren eine größere Rolle, so dass die Vorteile des Arbeitsfriedens als eines hohen Gutes von Arbeitgeberseite nicht entsprechend honoriert zu werden brauchen. Defizite der praktizierten Interessenvertretung sind andererseits zu konstatieren: Informations- und Konsultationsrechte der Arbeitnehmervertretung kommen nicht ausreichend zum Zuge und werden in den EU-Screenings auch immer wieder bei den Regierungen angemahnt (insbesondere im Falle von Polen und Tschechien). Hier versagt offensichtlich doch die gewerkschaftliche Kraft einer traditionellen Herangehensweise.

Frappierend ist andererseits die bei manchen Gewerkschaftsvertretern feststellbare quasi „agnostische„ Haltung, die Praxis der gewählten Interessenvertretung in Form westeuropäischer Betriebsräte nicht zur Kenntnis nehmen und daraus praktische Schlüsse ziehen zu wollen. Das Wirken der EBR kann hier ggf. zukünftig eine positive Anstoßfunktion ausüben, der man sich im Vorfeld des EU-Beitritts wohl kaum zu entziehen vermag.

Interessant erscheint in diesem Zusammenhang, dass es in allen Vergleichsländern bereits eine weitere Interessen-Repräsentanz auf Unternehmensebene auf einer von allen Beschäftigten durch Wahlakt geschaffenen Grundlage gibt: ein mehr oder weniger starkes Quorum von Arbeitnehmervertretern wird jeweils in die Aufsichtsräte entsandt (üblicherweise ein Drittel bis maximal die Hälfte). Dies kann wohl durchaus als Reflex auf die früheren Eigentumsstrukturen angesehen werden. Inwieweit diese Vertreter ihre Informationschancen auch für die betriebliche Interessenvertretung – ob dual oder nicht (oder ob es dabei auch um die Interessen von Belegschaftsaktionären geht oder nicht) – bewusst nutzen, wie dies z.B. in Deutschland der Fall ist, oder auch nicht – auch dies ist eine der Fragen der künftig weiterzuentwickelnden Arbeitsbeziehungen im Unternehmen.

Previous Item Page Top Next Item


5. Sektorale Arbeitsbeziehungen

Diese Ebene weist offensichtlich die größten Differenzen (= Defizite) gegenüber der in der EU vorherrschenden Praxis auf. Der Grund dafür ist, dass in den Vergleichsländern – mit Ausnahme von Slowenien – Branchentarifverträge weit weniger den in der EU noch üblichen Stellenwert besitzen, sondern die Ausnahme gegenüber einer sonstigen Praxis sind, die eher an japanische oder auch amerikanische Modelle erinnert. Dieses „Loch in der Mitte„ der Arbeitsbeziehungen zwischen der betrieblichen und der nationalen Ebene erscheint als konstitutiv für Länder, in denen, aus welchen sozialkulturellen Traditionen auch immer, es die Gewerkschaften entweder nicht anstreben oder auch nicht schaffen, vereinheitlichende Bedingungen und damit Voraussetzungen für die Entfaltung von unternehmensübergreifender Branchensolidarität und damit auch mehr Druck zur Durchsetzung der eigenen Verteilungsforderungen in der Breite zu entwickeln. Letzteres hängt gewiss auch mit der Streikfähigkeit und bisherigen vorhandenen oder auch nicht vorhandenen Streikerfahrungen zusammen.

Auffallend ist jedenfalls, dass in allen MOE-Ländern nach einem anfänglichen Aufflackern zur Zeit der „Wende„ und unmittelbar danach Arbeitskämpfe die große Ausnahme gewor-

[Seite der Druckausg.: 14]

den sind, obwohl laufend reale Kaufkraftverluste bei gleichzeitig – in der Regel bereits seit Mitte der 90er Jahre – permanentem Wirtschaftswachstum stattfinden.

Die sich hier offenbarende Schwäche der Gewerkschaften ist mehreren Faktoren geschuldet:

  • einmal einer starken gewerkschaftlichen Aufspaltung (mit Ausnahme Tschechiens, wo dies aber keineswegs eine komparative Stärkung der Organisation bedeutet) und damit dem Fehlen von übergreifender Solidarität;
  • einer bewussten Schwächung der Gewerkschaft durch sich liberal verstehende Regimes oder aber zumindest einer Neutralisierung ihres Druckpotentials durch das „Appeacement„-Instrument des Tripartismus;
  • fehlenden Arbeitgeber-Vereinigungen bzw. da, wo sie sich bereits gebildet haben, ihrer Ablehnung von Kollektivvertrags-Verhandlungen oberhalb der betrieblichen Ebene;
  • dem allgemeinen Druck stets wachsender Arbeitslosigkeit im Zuge von Modernisierung und Privatisierung und dadurch bedingten lohnpolitischen Rücksichtnahmen.

Die Arbeitgeberseite wiederum ignoriert auch den von westeuropäischen Dachverbänden (einschließlich UNICE) hochgehaltenen Nutzen vergleichbarer Lohnkosten (Standardlöhnen), da sie Unterschiede auch zur Personalrekrutierung (= Abwerbung) ebenso wie auch regionale Unterschiede auszunutzen gewillt sind mit entsprechenden Konsequenzen für ihre individuellen Wettbewerbs- und Gewinnchancen. Die Arbeitgeberorganisationen verstehen sich damit vielfach weniger als Sozialpartner denn als Lobby-Organisation gegenüber der Regierung.

Der Tripartismus kann demgegenüber keinen Ersatz darstellen, da er allenfalls Rahmen-Empfehlungen auszusprechen in der Lage ist und überdies deren Verbindlichkeit für die betrieblichen Akteure immer in Frage steht. Die bilaterale primäre Eben der Lohn- und Kollektiv-Regelungen auf Unternehmensebene kann allenfalls solange als Ersatz herhalten, als es im Einzelbetrieb auch eine gewerkschaftliche Vertretung mit der notwendigen Durchsetzungskraft gibt. Für Neugründungen, Aufspaltungen und kleinere und mittlere Unternehmen gilt dies generell wohl kaum.

Glücklicherweise gibt es in allen Ländern in Einzelbranchen auch für die Zukunftsentwicklung maßgebliche Positivbeispiele (wie z.B. in der Bauwirtschaft Tschechiens, in der mittelständischen geprägten Bekleidungsindustrie sowie im Handel in Ungarn und ähnlich auch in bestimmten Branchen in Polen), deren Effekte Schule machen sollten. Ein Positivbeispiel als Gesamtland ist Slowenien mit seiner für EU-Verhältnisse vergleichsweise extrem hohen Deckungsrate der Flächentarifverträge von über 90%. Dafür sind aber auch, wie beschrieben , eine Reihe begünstigender Sonderfaktoren und der fortschreitende Ausbau eines nahezu lückenlosen Kollektiv-Vereinbarungssystems verantwortlich.

Vergleicht man die Deckungsraten der Tarifverträge der einzelnen Mitgliedsstaaten der EU mit den vier hier behandelten Beitrittskandidaten, so finden sich ihre Vertreter sowohl im oberen Drittel der europäischen Spitzengruppe mit Werten zwischen 85 und 95% (Finnland, Griechenland, Österreich, Slowenien, Belgien, Luxemburg, Italien und Frankreich) ebenso wie im unteren Drittel mit überwiegenden Firmentarifverträgen und einer Regelungsdichte deutlich unter 50% (Irland, Tschechien, Großbritannien, Polen und Ungarn), während im Mittelfeld zwischen 70 und 80% die bisherigen Mitgliedsländer unter sich bleiben (Schweden, Portugal, Dänemark, Deutschland, Niederlande und Spanien). Diese Verteilung ist allerdings keineswegs jeweils ein Reflex des gewerkschaftlichen Organisationsgrads oder gewerkschaftlicher Stärke, die in allen diesen Gruppen auch äu-

[Seite der Druckausg.: 15]

ßerst niedrig oder vergleichsweise hoch sein können. Eine wesentliche Rolle für eine weiterreichende Geltung von Kollektivvereinbarungen auch über den Kreis der unmittelbaren Mitglieder von Wirtschaftsverbänden oder Gewerkschaften hinaus spielt dabei die Allgemeinverbindlicherklärung von vorhandenen Regelungen durch den Staat mit ihrer in den MOE-Ländern ebenso wie in der EU äußerst differierenden Praxis.

Previous Item Page Top Next Item

6. PRAXIS DES TRIPARTISMUS

In Polen hat sich der Tripartismus auf nationaler Ebene angesichts der fundamentalen Aufspaltung in zwei relativ unversöhnliche Gewerkschaftsblöcke und des Fehlens organisierter Arbeitgebervereinigungen erst relativ spät herausgebildet (1994). Bilaterale Arbeitsbeziehungen sind dennoch auch hier im Vergleich nicht weiter entwickelt. Die Gewerkschaften stehen tripartistischen Veranstaltungen eher skeptisch gegenüber. Einer der Gründe ist die bis in die jüngste Zeit stark ausgeprägte parteipolitische Affinität der großen Gewerkschaftsblöcke. Im Sommer 1999 führte dies gar zu einem Auszug der OPZZ und damit zur Lahmlegung der Tripartiten Kommission wegen Nichteinhaltung von Beteiligungsrechten und lediglich „Vortäuschung eines sozialen Dialogs". Gravierender Hintergrund dieses Konflikt ist die praktisch nicht mögliche Abstimmung zwischen den großen Gewerkschaftsbünden (Solidarnoœæ und OPZZ haben sich bis dato noch nicht offiziell anerkannt und wechselseitige Verhandlungen geführt!) und die Bevorzugung von Solidarnoœæ durch die augenblickliche Regierung. Diese bevorzugt eher bilaterale Gespräche. Die ILO wurde in diesem Konflikt von OPZZ im Sommer 1999 um Hilfe ersucht, verbunden mit einer Klage gegen die polnische Regierung, nachdem Schlichtungsbemühungen der Arbeitgeberseite erfolglos geblieben waren. Eine Lösung könnte eine gesetzliche Verankerung des Tripartismus sein, der bisher nur aufgrund wechselseitiger Verträge funktioniert.

In Tschechien hingegen existierten tripartistische Strukturen als Fortsetzung der Tradition der Runden Tische der Wendezeit schon von Anfang an in anschließend rasch institutionalisierter Form, ohne jedoch besonders effizient zu arbeiten. Ob diese Form eines unechten, da gerade von der Regierung zeitweilig halbherzig betriebenen Tripartismus („Fassadenkorporatismus„) bilaterale Arbeitsbeziehungen in seiner autonomen Weiterentwicklung verhindert hat, ist wegen der Schwäche der Arbeitgeberseite nicht ausgemacht. Dennoch ist letztere zweifellos auch Reflex der besonderen Form des tripartistischen Procedere, das letzten Endes gewollt oder ungewollt auch auf eine Schwächung der Gewerkschaften und einer tarifautonomen Politik hinauslief.

Ungarn hingegen weist ein ausreichend differenziertes Set pluraler Arbeitgeberverbände auf (neun Dachverbände) – aber diese sind zu atomisiert, um zu einer gemeinsamen Strategie und Tarifpolitik kommen zu können. Das Ergebnis ist ein schwach ausgebautes Tarifvertragswesen. Der Staat musste aus seiner Tradition der Vorwendezeit den Tripartismus von Anfang an hegen und hat ihn, auch wenn ihm dezentrale Arbeitsbeziehungen heutzutage dezidiert lieber wären, neuerdings sogar noch institutionell durch eine Vielzahl neuer dreigliedriger Gremien ausgeweitet. Als Vehikel eines reibungslosen Übergangs zu den angestrebten Zielen auf unterschiedlichen Ebenen scheint er hier auch besonders nützlich.

Slowenien wiederum hat den Spagat geschafft und kann in gewissem Maße als Gegenbeweis dafür herhalten, dass beides geht: allmählich besser funktionierende bilaterale Arbeitsbeziehungen durch Aufbau flächendeckender Branchentarifverträge auf der Meso—

[Seite der Druckausg.: 16]

Ebene und Tripartismus. Aber es gibt hier einen besonderen Hintergrund: Die Kammern, die aus der Tradition des Selbstverwaltungssozialismus herrührten und auf eine vorherige längere Geschichte zurückblicken können, waren bedeutende Geburtshelfer und Lehrmeister für eine effektive Tarifverhandlungspolitik. Ohne ihre Intervention wären die Ergebnisse bei fehlenden Arbeitgebervereinigungen sicherlich nicht die gleichen. Entscheidend ist hier aber auch, dass die marktordnende Funktion des Tarifvertrags funktioniert (Deckungsrate über 90%, automatische Allgemeinverbindlicherklärung), was Eskapaden einzelner Arbeitgeber eher unmöglich oder auch riskant macht. Das Ziel ist jedenfalls klar: bilaterale Arbeitsbeziehungen haben Vorrang, der Tripartismus dient eher der politischen Flankierung und der Absprache über besondere dringliche spezielle Problemlösungen.

Der Vergleich in diesem breiten Spektrum von Verfahrensweisen zeigt Schwächen und Stärken des Tripartismus. Die hier auftretenden Probleme sind insbesondere: ungeklärte rechtliche Kompetenzen, fehlende rechtliche Grundlagen der Beteiligung sowie ein vorgetäuschter Fassaden-Dialog ohne praktische Folgen und unmittelbaren Vollzug, damit auch die Frage der Verbindlichkeit gegenüber der Legislative. Positiv kann sich der Zwang zu Absprachen auswirken als mögliche Vorstufe und Einübung bilateraler Verhandlungsstrukturen und Arbeitsbeziehungen, und zwar dann, wenn dies vom Hauptakteur, dem Staat, bewußt intendiert ist. Er müsste dann aber auch den Tripartismus als dynamisches Instrument konzipieren, das jeweils bestimmten Entwicklungsstufen anzupassen ist.

Wenig erkannt und bewusst genutzt ist in den vier Vergleichsländern bisher eine weitere Funktion einer tripartistischen Praxis: die der Projektgenerierung im Zuge des sozialen Dialogs z.B. für regionale Strukturentwicklung oder die Modernisierung von Branchen und Unternehmen im lokalen und regionalen Kontext, die im Rahmen der Heranführung an sowie die Harmonisierung innerhalb der EU als wichtig erachtet und beispielsweise im Rahmen der Agenda 2000 bzw. des PHARE-Programms auch durch spezielle Projekt-Förderung in den Beitrittsländern finanziell unterstützt werden kann. Diese Chance des Tripartismus könnte und sollte aufgrund der vorhandenen Strukturen und Erfahrungen im wechselseitigen Interesse offensiv genutzt werden.

Previous Item Page Top Next Item

7. IM VORFELD DER EU-INTEGRATION

Sämtliche hier behandelten MOE-Länder befinden sich in einem Prozess einer zunehmend aktiven Einstellung zur Heranführungs-Strategie an die EU mit allerdings unterschiedlichem Engagement der einzelnen Akteure der Arbeitsbeziehungen. Diese Unterschiede dürften sich gleichwohl mit wachsender Annäherung der Beitrittstermine künftig im Rahmen der jeweiligen Landes- und Sozialkulturen deutlich abbauen.

Die dabei im einzelnen entstehenden Probleme allgemeiner Art haben Ihre Ursache z.T. wiederum im Bereich der Arbeitsbeziehungen – wenn auch eher indirekter Natur.

  • Soweit dies Fragen der Wettbewerbsfähigkeit betrifft, die aus Produktivitätsunterschieden herrühren, so erzeugen neben Anreizen seitens eines intensivierten Marketing und technischer Innovationen einen fühlbaren Druck auf eine kontinuierliche Wirtschaftsentwicklung normalerweise auch die die Kaufkraft jeweils erhöhenden Lohnbewegungen. Soweit deren Dynamik fehlt (was insbesondere in den vergangenen Jahren für Tschechien und Ungarn gilt), bleiben dabei auch die übrigen wirtschaftlichen Aggregate prekär. Für Polen gilt dies weniger, für Slowenien gar nicht. Damit allerdings verliert gerade das letztgenannte Land wiederum den bisher noch zutreffenden Vorteil der (negativen) Lohnkostenunterschiede, so dass es nun voll in den inter-

[Seite der Druckausg.: 17]

    nationalen Qualitätswettbewerb einzutreten gezwungen ist und Billiglohnprodukte (z.B. der Textilbranche) abwandern.

  • Das größte Problem aller Länder ist derzeit aber offensichtlich in der Wahrnehmung der Bevölkerung die Gefährdung der Beschäftigung durch eine z.T. schleppend, z.T. noch kaum zurückgehende Arbeitslosigkeit auf einem durchschnittlich oberhalb des westeuropäischen liegenden hohen Niveau, welche zunehmend auch im Blick auf den kommenden EU-Beitritt gesehen wird (s. oben insbesondere Polen). Die im Zuge der EU-Integration zu erwartende erweiterte Migration kann dafür jedoch nur sehr begrenzt eine Lösung darstellen.
  • Dieses Problem hängt indirekt auch zusammen mit der Art und Weise der seit Anfang der 90er Jahre durchgeführten Privatisierung der Wirtschaft, für die in den einzelnen Ländern deutliche Unterschiede mit entsprechenden Folgen konstatiert werden können. Die wirtschaftliche Transformation erfolgte in Tschechien sehr abrupt und in einer gewissen Radikalität, ohne neben dem Eigentum auch das Management und die Arbeitsbeziehungen insgesamt umzustrukturieren. In Polen und Ungarn dagegen eher evolutionär – wobei der Preis für die erreichte höhere Arbeitsproduktivität in Ungarn auch eine höhere Arbeitslosigkeit ist. Slowenien indessen hat zunächst einen konsequenten Übergang zur Demokratie betrieben und sah sich zugleich vorrangig gezwungen, seine Absatzmärkte von Süd nach Nord und West (Deutschland, Österreich, Italien) in kürzester Frist umzudirigieren. Als Folge davon ließ sich dieses Land allerdings am längsten mit der immer noch nicht komplett abgeschlossenen Privatisierung Zeit. Die Arbeitslosigkeit konnte damit gebremst werden, verharrt aber auf hohem Niveau (aber dennoch deutlich unter den aktuellen Durchschnittswerten z.B. in Ostdeutschland mit seinem zwischen 1990 und 1994 äußerst forciert betriebenen Privatisierungsprozess).
  • Am wenigsten Probleme bereiten nach dem jüngsten Screening-Verfahren der EU 1999 die formalen Arbeitsbeziehungen und das Arbeitsrecht selbst. Hier sind – mit Ausnahme der Informations- und Konsultationsrechte (die von der Kommission insbesondere für Tschechien und Polen angemahnt werden) – schon intensive Vorarbeiten gelaufen bzw. derzeit im Prozess. Defizite zeigen sich vor allem in der teilweise noch nicht stabilisierten Position der Sozialpartner selbst, bei den Gewerkschaften und insbesondere auf der Seite der Arbeitgeber. Hier besteht in allen Transformationsländern zugegebenermaßen der größte Nachholbedarf und damit die größte Kooperations-Notwendigkeit mit den entsprechenden Partnern aus Westeuropa, aber auch ein gesteigerter Bedarf eines intensivierten Erfahrungsaustauschs über gelungene Prozesse.

Teilweise wird diese Aufgabe schon seit Jahren u.a. über die entsprechenden EU-Programme (z.B. PHARE-Programm) zu leisten versucht, mit ersten, aber noch keineswegs ausreichenden Erfolgen. EGB und UNICE werden hier künftig noch stärker gefragt sein und vermehrte Hilfestellung zu leisten haben. Auch sollte der entsprechende transnationale Erfahrungsaustausch zwischen den Beitrittskandidaten selbst viel stärker von ihnen selbst sowie durch Förderung von außen angepackt werden, da sie vielfach erwiesenermaßen mit analogen Problemen konfrontiert sind.

Dieses Feld ist zu intensivieren, nicht zuletzt, da die Mittel der Agenda 2000 erneut auch für die Zwecke der Modernisierung der Wirtschaft und der Unternehmens- und Sozialbeziehungen für die kommende Periode bis 2006 aufgestockt worden sind. Voraussetzung ist hierbei u.a. auch eine gemeinsame Projektgenerierung im Wege des sozialen Dialogs. Lern- und Austauschprozesse (etwa über ADAPT- bzw. EQUAL- oder vergleichbare EU-

[Seite der Druckausg.: 18]

Projekte) auf diesem Feld wären vielversprechend.

In dem Maße, wie dies in den MOE-Ländern als positive Chance des Wandels bekannt gemacht werden kann, dürfte dies auch das öffentliche Interesse an dem EU-Beitritt steigern und die jetzt vorherrschenden verständlichen Phobien zugunsten konkreter Veränderungsstrategien ablösen helfen.

Previous Item Page Top

8. BILANZ UND AUSBLICK

Mit der Nominierung von nunmehr zehn Beitrittskandidaten aus dem mittel-osteuropäischen Raum steht das EU-Projekt vor der größten Herausforderung seiner Geschichte. Die geplante, vor allem politisch gewollte Erweiterung wird nicht nur die Gewichte innerhalb der Gemeinschaft verschieben, sondern auch deren interne Strukturen verändern. Die Dimension dieser Aufgabe erfordert den vollen Einsatz staatlicher und zivilgesellschaftlicher Ressourcen sowohl der EU als auch der Beitrittsländer. Arbeitsbeziehungen als Schnittpunkt der Handlungsfelder von Gewerkschaften, Arbeitgeberverbänden und staatlichen Institutionen sind ein Kernelement dieser Ressourcen, das in den EU- und MOE-Ländern sowie auf der EU-Ebene selbst unterschiedlich entwickelt und strukturiert ist

Die hier vorgelegte vergleichende Analyse von Entwicklung und aktuellem Stand der Arbeitsbeziehungen in vier der im Heranführungsprozess an die EU befindlichen MOE-Ländern zeigt, dass diese mit einem mehrfachen "Dilemma der Gleichzeitigkeit" zu kämpfen haben. Zum einen ist die Transformation staatssozialistisch deformierter zu marktwirtschaftlich definierten Arbeitsbeziehungssystemen noch nirgendwo abgeschlossen. Dies zeigt sich auf der betrieblichen Ebene im Vertretungsdefizit der Verbände in der Privatwirtschaft und hier insbesondere bei unternehmerischen Neugründungen, auf sektoraler Ebene in der – mit Ausnahme Tschechiens – vielfachen Zersplitterung der Gewerkschaften und der unzulänglichen Organisationsbereitschaft und -fähigkeit der Arbeitgeber und auf der regionalen und nationalen Ebene im Einfluss des transformierten Staates als Repräsentant des "politischen Kapitalismus" in den tripartistischen Gremien.

Gleichzeitig müssen sowohl demokratische Staats- und Politikstrukturen als auch in einem korporatistischen Prozess neue Arbeitsbeziehungssysteme und ein – unter den alten Bedingungen so nicht existentes – kollektives Arbeitsrecht entwickelt werden. Tripartismus und autonom-bipartistische Beziehungen können sich dabei paralysieren.

Zugleich stehen die sich konfigurierenden Arbeitsbeziehungssysteme grundsätzlich vor den gleichen Problemen wie diejenigen der westlichen Industrieländer, die sich immer noch überwiegend am fordistischen Modell der Arbeitsbeziehungen und des ihm entsprechenden Arbeitsrechts orientieren. Sie sehen sich aber zunehmend mit Herausforderungen konfrontiert, die infrage stellen, was jahrzehntelang gültig war. Dazu gehören die Erosion des klassischen Betriebs durch interne und externe Flexibilisierung, die Problematik, in einem immer enger werdenden Arbeitsmarkt die Interessen atypischer Arbeitnehmer und der Arbeitslosen mitzuvertreten und zugleich auf die neuen Bedürfnisse des Typs „qualifizierter Wissensarbeiter„ bzw. Dienstleister einzugehen. Insbesondere die Gewerkschaften sind gefordert, nicht nur die Interessen der Stamm-, sondern auch der immer größer werdenden Anzahl der Peripherbelegschaften und der potentiell Erwerbswilligen effektiv mitzuvertreten. Dies erfordert aber nicht nur die eigene Umorientierung, sondern auch eine Neupositionierung der Arbeitgeberverbände und die Öffnung beider

[Seite der Druckausg.: 19]

für eine umfassende gesellschaftliche Zukunftsdiskussion. Der bisher gezeigten Tendenz der MOE-Länder, sich an den etablierten Arbeitsbeziehungen in den EU-Ländern sei es punktuell, sei es pauschal zu orientieren, stellen sich in einem solchen Zukunftsszenario neue Herausforderungen.

Schließlich erfordert die Antizipation der EU-Integration und die Übernahme des »acquis communautaire« von den Beitrittsländern neue und wiederum anders gelagerte Anstrengungen, ihre Arbeitsbeziehungen zu effektivieren. In den vorhandenen tripartistischen Institutionen geht es nicht mehr nur um das Transformations- und Modernisierungsthema, sondern es geht mit dem Näherrücken des Beitrittsdatums immer mehr auch um den Konsens der Arbeitsmarktparteien, die Schwierigkeiten und Risiken der geplanten EU-Integration verlässlich einzuschätzen und gemeinsam mit den anderen großen gesellschaftlichen Gruppen zu meistern.

Nach einem Jahrzehnt der Transformation – was angesichts der komplexen Problemstellung ein kurzer Zeitraum ist – haben sich sowohl Gemeinsamkeiten wie auch Unterschiede in Struktur und Leistungsfähigkeit der hier behandelten Länder entwickelt. Es ergibt sich ein nach Untersuchungsländern und den verschiedenen Ebenen der Arbeitsbeziehungen sowie im Arbeitsrecht differenziertes, insgesamt immer noch labiles Übergangsstadium mit fragmentierten Strukturen und Funktionsdefiziten. In den analytischen Kapiteln wurden Probleme mit dem Auf- und Ausbau der Mikro-, Meso- und Makroebene sowie Defizite im Bereich der Akteure selbst diagnostiziert.

Auf betrieblicher Ebene gibt es Handlungsprobleme, die bei niedrigem Organisationsgrad, gewerkschaftlicher Zersplitterung und dualem Interessenvertretungssystem (Ungarn) kumulieren. Auf der Meso-Ebene der sektoralen Arbeitsbeziehungen und ihrem tarifpolitischen Kern ist die Differenz zu den meisten EU-Ländern (Ausnahme Großbritannien) besonders ausgeprägt. Die sektorale Ebene ist in den MOE-Ländern – mit Ausnahme Sloweniens mit seinen anderen Ausgangsbedingungen (Wirtschaftskammer) – generell am schwächsten entwickelt und wird ihrer primären Aufgabe, Arbeitsbedingungen und Lohnkonkurrenz auf einem der jeweiligen Branchenlage angemessenen Niveau zu halten, kaum gerecht.

Auf der Makroebene, die nach anfänglichem staatlichen Desinteresse in Polen – und interimistisch auch in Tschechien – gegenwärtig in allen Untersuchungsländern dem tripartiten Schema folgt, sind die Unterschiede zur EU und den dort in vielen Ländern zur Zeit laufenden „Bündnissen für Arbeit„ formal am geringsten. Zwar setzt hier – weniger ausgeprägt in Slowenien – der Staat die entscheidenden Rahmenbedingungen, und insbesondere die Gewerkschaften äußern immer wieder mit gutem Grund die Befürchtung, dass sie in diesen Gremien nur legitimatorisch missbraucht würden. Doch ist dies ein Problem aller tripartiten Arbeitsbeziehungen, das auch im Westen nicht unbekannt ist und mit dem Verfall gewerkschaftlicher Macht weiter zunimmt. Die Ziele der tripartiten Bündnisse sind aber unterschiedlich. Geht es im Westen insbesondere um die Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit, steht im Osten nach wie vor die Systemtransformation, in den Beitrittsländern zunehmend aber auch die EU-Integration im Vordergrund. Nach wie vor ungeklärt ist in den MOE-Staaten auch die Frage der Abgrenzung von tripartiten zu zweiseitig zu behandelnden Themen sowie der möglicherweise negative Einfluss des Tripartismus auf die Formierung von Arbeitgeberverbänden.

[Seite der Druckausg.: 20]

Schließlich ist ein viertes relevantes Funktionsdefizit im Bereich der Akteure selbst auszumachen, wie allgemein niedriger Organisationsgrad, schlechte Vertretung in Mittel- und Kleinunternehmen, fehlende Akzeptanz bei den Belegschaften und mangelhafte Kooperationsfähigkeit der Protagonisten von Kapital und Arbeit mit anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen. Auch hier gilt, dass in den Ländern der EU diese Probleme gleichfalls zunehmen. Gewerkschaftliche Organisationsquoten von unter 10 % (Frankreich) rückläufige Arbeitgeberorganisationsquoten (Deutschland), die verbreiteten Schwierigkeiten der Gewerkschaften mit der Rekrutierung und Vertretung der neuen „Wissensdienstleister„ und nur schwache und wenig belastbare Beziehungen zu Nichtregierungsorganisationen wie Arbeitslosen- und Umweltverbänden, Netzwerken und Kooperativen sowie den dezentralen und oft nur punktuell-kurzfristigen Aktionsgruppen etwa der Jugendlichen, weisen perspektivisch eher auf Gemeinsamkeiten als Differenzen hin. Dabei ist dieser zivilgesellschaftliche Unterbau in den MOE-Staaten durchweg schwächer entwickelt als im Westen.

Aus diesem Befund lässt sich folgender Schluss ziehen. Zwar sind die nationalen Arbeitsbeziehungssysteme in den MOE-Ländern grundsätzlich lückenhafter als diejenigen in den EU-Ländern, doch weisen die Probleme in die gleiche Richtung. Dezentralisierung, Deregulierung, Individualisierung und die Exklusion relevanter Belegschaftsteile aus der Verbandsvertretung gehen einher mit postfordistischen Regulierungsansätzen in der Politik. In West und Ost laufen daher die Verbände von Arbeit und Kapital Gefahr, Effizienz und demokratische Legitimation ihrer Politik und damit perspektivisch ihre autonome Handlungsfähigkeit zu verlieren (EU) oder gar nicht erst zu erlangen (MOE). In dieser kritischen Situation geht es nicht mehr darum, dass – wie viele meinen – die Verbände durch ihre vermeintliche Herrschaft staatliche Steuerung behindern, sondern dass allein durch die Verbände von Kapital und Arbeit und einen neoliberal amputierten Staat das „soziale Kapital„ moderner Gesellschaften nur noch unvollkommen repräsentiert wird.

Für die Weiterentwicklung der Arbeitsbeziehungen in den MOE- und den EU-Ländern kommt es daher auch in der Europäisierungsperspektive darauf an, den zivilgesellschaftlichen Aspekt der Arbeitsbeziehungen zu betonen und sie dadurch für Belegschaften und Bürger anschlussfähig zu machen. Dafür können zwei zentrale Andockpunkte der Arbeitsbeziehungen auf europäischer Ebene identifiziert werden. Einmal die europäischen Dachorganisationen wie Europäischer Gewerkschaftsbund (EGB) und die Union der Industrie- und Arbeitgeberverbände Europas (UNICE) sowie ihre Bezüge zur Europäischen Kommission und deren Untergliederungen.

Eine wesentliche Orientierung vermag zum anderen mit seiner institutionalisierten zivilgesellschaftlichen Komponente der dem Europäischen Parlament vorgelagerte Wirtschafts- und Sozialausschuss (WSA) zu liefern. Dieser ist in seiner pluralen, zivilgesellschaftlichen Zusammensetzung von Arbeitgebern, Gewerkschaften und weiteren Nichtregierungsorganisationen ein neben den klassischen Verbandsschienen und unter Berücksichtigung der genannten existenzbedrohenden Defizite der Protagonisten der Arbeitsbeziehungen besonders geeigneter Partner der Beitrittsländer auf ihrem Weg in die EU.

Die beiden wichtigsten "Ost-West-Gelenke" der Arbeitsbeziehungen sind also die Institutionen und die arbeitsbezogenen Verhandlungsthemen des bilateralen sozialen Dialogs sowie des im WSA formalisierten Tripartismus auf europäischer Ebene. Beide sind tragende Elemente eines europäischen zivilgesellschaftlichen Entwicklungsmodells. Geht man von der in der diskursiven Demokratietheorie üblichen Definition einer organisierten

[Seite der Druckausg.: 21]

Zivilgesellschaft als der Gesamtheit aller Organisationsstrukturen aus, deren Mitglieder über einen demokratischen Diskurs- und Verständigungsprozess dem allgemeinen Interesse dienen, und die auch als Mittler zwischen öffentlicher Gewalt und dem einzelnen Bürger auftritt, dann sind deren Akteure sowohl in den hier untersuchten MOE-Ländern, aber auch auf EU-Ebene nur schwach entwickelt. Dies ist dann besonders kritisch, wenn die Themen für einen gesamtgesellschaftlichen Diskurs wie etwa die Entwicklung eines neuen Arbeitsbegriffs, eine neue Arbeitszeitgestaltung im Rahmen von Arbeitsumverteilung und eine auf die immer schnellere Kumulation von Wissen eingehende Bildungspolitik bereits definiert sind, ohne dass entsprechende Umsetzungsschritte mit konkreten Auswirkungen (Richtlinien, Verordnungen) auf den »acquis communautaire« – und damit tendenziell auch auf die Beitrittsstaaten – erkennbar sind.

Das Verhältnis der europäischen Sozialpartner untereinander und ihr Verhältnis zu den supranationalen EU-Institutionen ist als sozialer Dialog zwar auf allen drei Arbeitsbeziehungsebenen – Unternehmen bzw. hier europäischer Konzern, sektoraler und multisektorieller Dialog – anzutreffen, doch was Themenhorizont und Verbindlichkeit der gemeinsamen Stellungnahmen betrifft, bisher nur sehr begrenzt effektiv. Dieser soziale Dialog ist seinem Wesen nach ein auf Konsens angelegtes Entscheidungsverfahren, dessen Teilnehmer seit Inkrafttreten des Vertrags von Amsterdam auf quasi verfassungsmäßiger Basis agieren. Seine Bedeutung für die Sozial- und Arbeitspolitik und damit die Arbeitsbeziehungen auf europäischer Ebene ist aber im Vergleich zu seiner nationalstaatlichen Bedeutung (Bündnisse für Arbeit, Projekte im Rahmen der Europäischen Struktur- und Regionalfonds) noch immer rudimentär.

Auf betrieblicher Ebene ist zwar mit der Einrichtung einer originär europäischen Institution „Euro-Betriebsrat„ ein gewisser Fortschritt gelungen, doch ist deren Auswirkung auf eine Europäisierung der Arbeitsbeziehungen bisher noch offen. Die empirische Spannbreite reicht dabei von den (vielen) nur symbolischen bis zu den (wenigen) ansatzweise bereits transnational-europäisch denkenden und handelnden beteiligungsorientierten EBR.

Im sektoralen Sozialdialog ist insbesondere aufgrund der Unbeweglichkeit der Arbeitgeberverbände und deren Verweigerung der Mandatierung ihrer europäischen Organisationen, aber auch aufgrund gewerkschaftlicher Bedenken bezüglich der Übertragung von Handlungsmacht (insbesondere der Tarifpolitik) auf die europäische Ebene in den letzten Jahren nur ein mühsamer Fortschritt zu verzeichnen. Und auch die wenigen konkreten Ergebnisse von im Sozialdialog verhandelten und verabschiedeten Richtlinien auf multisektorieller Ebene halten den in sie gesetzten Erwartungen nur zum Teil stand. Auf ähnliche Schwierigkeiten trifft die Arbeit des Wirtschafts- und Sozialausschusses als Beratungsorgan des Europäischen Parlaments. Seine Stellungnahmen sind unverbindlich und an eine Institution gerichtet, deren Stellenwert im Zusammenspiel der europäischen Institutionen auf Quasi-Staats-Ebene zwar zunimmt, aber immer noch sehr begrenzt ist. Doch könnte sich dies aber in absehbarer Zeit mit den bereits vorliegenden Änderungsvorschlägen mit dem Ziel einer Ausweitung der Mehrheitsentscheidung im Rat und einer damit verbundenen Aufwertung des EU-Parlaments im Zuge des Beitritts der MOE-Länder ändern.

Trotz dieser hier nur angedeuteten Defizite kann man davon ausgehen, dass der dreigliedrige Sozialdialog in der EU nicht nur eine gewisse Vorbildfunktion für die Einrichtung von tripartiten Gremien in den MOE-Ländern hat, sondern dass mit der verbandlichen Integration von Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften der MOE-Beitrittskandidaten in

[Seite der Druckausg.: 22]

die Dachorganisationen EGB und UNICE und damit zumindest auf Gewerkschaftsseite zugleich auch in die sektorale Verbandsvertretung ein institutionelles Gelenk zwischen beiden geschaffen wurde, das schon heute den Diskurs und Austausch über die Perspektiven des MOE-Beitritts und entsprechender Auswirkungen auf die EU und die ihr vorgelagerten Institutionen ermöglicht. Hinzu kommt, dass einige (wenige) Europäische Betriebsräte schon heute Arbeitnehmervertreter aus den EU-Beitrittsländern bzw. aus den Töchtern der dort ansässigen Konzerne zulassen. Dies könnte zu einer weiteren Diffundierung der Arbeitsbeziehungen auf betrieblicher Ebene führen, hängt allerdings wesentlich von der Unternehmensphilosophie des jeweiligen Konzerns ab. So gibt es das Beispiel VW/Skoda in Tschechien, das eine gute west-östliche Integration des EBR – gestützt auf die kooperative Arbeitsbeziehungskultur der Mutter – belegt. Andererseits sind die Arbeitsbeziehungen etwa bei FIAT-Polski – wo den polnischen Arbeitnehmern keine Vertretung im EBR zugestanden wurde – aufgrund des extrem konfliktorientierten Arbeitsbeziehungsmodells der italienischen Mutter so verhärtet, dass hier allenfalls negative spin-off-Effekte betrieblicher Arbeitsbeziehungen zu beobachten sind.

Praktische Ansätze der Kooperation existieren aber auch im WSA: In gemischten beratenden Ausschüssen arbeitet dieser mit jenen Instanzen der Beitrittsländer zusammen, die analoge Strukturen und Arbeitsinhalte der Europäisierung aufbauen wollen. Dies führt bis zu gegenseitigen Besuchsprogrammen und praktischer Hilfe in technischen und administrativen Detailfragen. Solche Beziehungen sollten nicht nur unter altruistischen Gesichtspunkten aus EU-Perspektive beurteilt werden, sondern auch im wohlverstandenen eigenen Interesse der sich ausweitenden EU. Wenn es nicht gelingt, die demokratische Legitimation zivilgesellschaftlicher Organisationsstrukturen in diesen Ländern durch einen Auf- und Ausbau zu stärken und zu sichern, wächst die Gefahr, dass deren aktuelles, gegenüber den EU-Ländern deutliches Defizit unter neoliberalem Wirtschaftsdruck weiter fortschreitet und so mit dazu beiträgt, die bisher erreichten Ansätze zur Formierung einer staatliche bzw. quasi staatliche Institutionen stützende und entlastende Funktion der Zivilgesellschaft zu konterkarieren. Dies kann im Verbund mit den nach wie vor zahlreichen EU- sowie zunehmend auch MOE-internen Kritikern auf Dauer sowohl den Erweiterungs- als auch den Vertiefungsaspekt der EU unterminieren.

Die Unzufriedenheit der EU-Bürger mit den sozial- und arbeitspolitischen Defiziten der Gemeinschaft könnte sich dann mit den teilweise berechtigten Befürchtungen der neuen Beitrittsländer vor einem nur neoliberal-ökonomischen Großprojekt EU ohne arbeits-, sozial- und beschäftigungspolitische Flankierungs-Maßnahmen zu einer gefährlichen Brisanz mischen. Auf der Agenda sowohl der „alten„ EU-Staaten wie auch der neu hinzustoßenden Aspiranten sollte deshalb das Thema „Entwicklung der Arbeitsbeziehungen im Rahmen einer organisierten Zivilgesellschaft„ einen bedeutenden Stellenwert in der politischen und öffentlichen Aufmerksamkeit erhalten.

Zur Umsetzung dieses Desiderats bieten sich konkrete Ansatzpunkte auf allen drei Ebenen der Arbeitsbeziehungen an. Zum einen sollten Europäische Betriebsräte in ihren Vertragsverhandlungen zur Konstituierung darauf dringen, dass bei Existenz von Töchtern in den MOE-Ländern deren Vertreter bereits im Vorgriff auf die EU-Erweiterung zumindest als Gäste, besser als Vollmitglieder aufgenommen werden. Die dadurch wenigstens arbeitnehmerseitig institutionell gesicherte Information und Konsultation liegt insbesondere bei den nicht zu Unrecht hoch bewerteten Standortproblematiken im Interesse beider Seiten und sollte von einem intelligenten Management als ein nützlicher Beitrag zur konzernpolitischen Integration betrachtet werden. Darüber hinaus wird nach den vor-

[Seite der Druckausg.: 23]

liegenden Erfahrungen mit EBR-Arbeit in der EU der direkte Kontakt mit Vertretern unterschiedlicher nationaler Arbeitsbeziehungsmuster mehr für das gegenseitige Verständnis, aber auch für die Bewertung der Praxistauglichkeit der jeweiligen Arbeitsbeziehungen in europäischer Perspektive leisten als jede theoretische Schulung. Eine sektorale oder aufgrund der gemeinsamen Themenstellung „EU-Integration„ auch übersektorale Vernetzung dieser Betriebsräte auf nationaler oder gar perspektivisch gedacht der gemeinsam zum EU-Beitritt anstehenden Länder könnte die Effizienz weiter erhöhen.

Zum zweiten sollten Fragen der Europäisierung der Tarifpolitik nicht nur auf der westeuropäischen Schiene – wie derzeit z.B. im Verbund der Metallgewerkschaften zwischen Deutschland (Nordrhein-Westfalen), Belgien und Holland – angepackt, sondern auch im erweiterten mittel- und osteuropäischen Raum gesehen und entsprechend vorangetrieben werden. Positive Ansätze liegen hier beispielsweise in der Kooperation zwischen IG Metall (Bayern) und den Metallgewerkschaften Tschechiens sowie Österreichs vor, die neben dem Erfahrungsaustausch über die allgemeine Interessenvertretung auch die tarifpolitische Dimension umfasst.

Drittens sollten die ansatzweise bereits vorhandenen Bezüge zwischen den vorhandenen tripartiten Organen auf EU-Ebene und den in den MOE-Ländern tätigen tripartistischen Gremien auf das Thema des Beitritts konzentriert werden. Denn die EU-Integration neuer Mitglieder erfordert neben der rechtlichen und wirtschaftlichen Angleichung an den dann gemeinsamen »acquis communautaire« eine weitergehende soziale und politische Übereinstimmung sowie Strukturen, die die Umsetzung und langfristige Stabilisierung einer gemeinsamen Werteordnung ermöglichen – kurz: die Etablierung einer organisierten Zivilgesellschaft. Erste wichtige Schritte dahin sind die zum Teil schon angelaufenen und genannten wechselseitigen Besuchsprogramme, die Unterstützung in organisatorischen und administrativen Fragen, runde Tische mit gemischten Expertengruppen zu Erweiterungsaspekten mit anschließender gemeinsamer Stellungnahme, die Intensivierung der Öffentlichkeitsarbeit auch zum Reformbedarf der EU-Institution selbst, die Stärkung der mit den Problemen der EU-Erweiterung befassten tripartistischen Untergliederungen in den MOE-Ländern z.B. durch Bildung gemeinsamer Ausschüsse, und Rat sowie materielle Hilfe beim Auf- und Ausbau des bisher nur in Ansätzen vorhandenen, über den Kern an Arbeitsbeziehungen hinausgehenden zivilgesellschaftlichen Institutionen- und Arbeitsnetzes. Gerade hier sind in allen Beitrittsländern aktuell erhebliche Defizite zu verzeichnen, nachdem mit der Wende der durch gemeinsame Initiativen organisierte Widerstand gegen die alten Regimes zunehmend ins Leere stieß. Symptomatisch ist für diese Länder der Rückzug ins Private einerseits und zunehmende Staatsverdrossenheit andererseits. Diese „Unlust an der Gesellschaft„ trifft im übrigen auch die Arbeitsbeziehungen als dem nach wie vor wichtigsten Teilstück zivilgesellschaftlicher Organisationsformen gleichfalls hart. Viertens können durch gezielte Regionalentwicklung im Rahmen der Kohäsions- und Strukturfonds der EU in Verbindung mit einem erweiterten sozialen Dialog auf dieser Ebene auch die Arbeitsbeziehungen auf der dezentralen wie auch der regionalen Ebene positiv befördert werden. Insbesondere kann dadurch auch ein erheblicher Nutzen für die Beschäftigungspolitik entstehen. Als ein besonderes Aktionsfeld für diese Bemühungen können sich hier die verschiedenen grenzüberschreitenden Eu-Regio erweisen, die es auch schon zwischen EU- und MOE-Ländern gibt.

Wenn die Europäische Union auf lange Sicht mehr sein soll als ein nur ökonomisch integrierter Staatenverbund, dann muss ihre sozial- und arbeitspolitische Schieflage sukzessive ausgeglichen werden, was den Aufbau einer organisierten Zivilgesellschaft mitbein-

[Seite der Druckausg.: 24]

haltet. Die Zäsur, die die Aufnahme von MOE-Staaten für die EU bedeutet, kann daher auch als Chance zur Diskussion der Zielperspektive ihrer Entwicklung genutzt werden. Gerade weil die Neuaufnahme von vielen und nach den hier vorgenommenen Beurteilungskriterien teilweise schwierigen Kandidatenländern das überkommene Selbstverständnis und die herkömmlichen Institutionen der EU-Akteure nicht unberührt lassen wird, besteht Grund und Chance zur Revision. Dies gilt besonders für die Arbeitsbeziehungen, deren Handlungsfähigkeit und zivilgesellschaftliche Autonomie in den alten und künftigen EU-Ländern unter erheblichem Veränderungsdruck steht und deren Europäisierung mit der Entwicklung des Binnenmarkts und der Währungsunion bisher keineswegs Schritt hält, sondern sich davon zunehmend abzukoppeln droht.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Dezember 2000