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UNGARN

Äußerlich scheint die Gewerkschaftslandschaft in Ungarn seit Beginn des Transformationsprozesses Ende der 80er Jahre nahezu unverändert geblieben zu sein. Der größte Teil der mehrere Hunderte zählenden Betriebs-, Berufs- und Branchengewerkschaften organisiert sich nach wie vor in den nach Mitgliederzahl unterschiedlich starken 6 Konföderationen. Daneben gibt es auch noch einer Reihe von Arbeitnehmerorganisationen, die keinem der reichlich vorhandenen Dachverbände anzugehören wünschen. Dieser sehr ausgeprägte Pluralismus macht eine abgestimmte Interessenvertretung der Arbeitnehmer auf allen Ebenen nicht gerade einfach und gelegentlich verhindert er sie sogar.

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Organisationsentwicklung der Gewerkschaften

Bei genauerer Betrachtung sind allerdings doch einige Veränderungen in der ansonsten solide erscheinenden Gewerkschaftsstruktur Ungarns auszumachen. Es gibt immer wieder Bewegungen von Mitgliedsgewerkschaften zwischen den Konföderationen. So trat beispielsweise die Gewerkschaft der Kinderkrippen und - gärten 1998 aus dem MSZOSZ (Ungarischer Gewerkschaftsbund) aus und in das SZEF (Gewerkschaftliches Kooperationsforum) ein. Ein beachtlicher Teil der Tabakarbeitergewerkschaft, der zu MSZOSZ gehörte, schloß sich im gleichen Jahr der Liga an. Die Eisenbahnergewerkschaft der Liga wiederum verlor fast gleichzeitig die Berufsgruppe der Streckenarbeiter, die augenblicklich keiner Konföderation angehört, aber mit dem Bund Autonomer Gewerkschaften (ASZSZ) sympathisiert. Vor einigen Jahren bereits verließ die Gewerkschaft der Techniker und Ingenieure die Autonome Konföderation, um sich ÉSZT ( Gewerkschaftliche Vereinigung der Intelligenz ) anzuschließen. Diese Bewegungen vollziehen sich fast unbemerkt und ohne öffentliches Aufsehen. Abwerbung von einer Konföderation zur anderen ist nie nachgewiesen worden.

Zu einer gewissen, sogar vertraglich geregelten Form der Abstimmung und Zusammenarbeit haben sich seit mehreren Jahren die ungarischen Mitgliedsgewerkschaften (Chemie, Bergbau, Papier, Energie, Baumaterialien) in der ICEM durchgerungen. Diese Organisationen gehören zwei verschiedenen Konföderationen, MSZOSZ und ASZSZ, an.

Im April 1998 unterzeichneten Liga und Arbeiterräte eine Vereinbarung, in der u.a. die engere Kooperation auf der Leitungsebene festgelegt und außerdem vereinbart wurde, bei den Betriebsratswahlen im November 1998 gemeinsame Kandidatenlisten aufzustellen. Über dieses Wahlbündnis hoffte man, die 10 % der Stimmen landesweit zu erreichen, die von der damals amtierenden Regierung mit Unterstützung der traditionellen Bünde als Kriterium für die Repräsentativität einer Gewerkschaft geplant waren. Nachdem aber nach den Parlamentswahlen im Mai 1998 die sozialistisch- liberale Regierung von einer konservativen Mehrheit abgelöst wurde und diese die Repräsentativität einer Organisation nicht vom Ausgang der Betriebs- und Personalratswahlen abhängig machen wollte, wurde es um das Bündnis von Liga und Arbeiterräten wieder sehr still.

Vorausgegangen waren ab Mitte 1997 zunächst Gerüchte, dann aber offene Gespräche zwischen Autonomen und Liga, in denen von der Notwendigkeit einer neuen Struktur der gewerkschaftlichen Organisierung die Rede war. Höhepunkt dieser Kontakte zwischen den beiden Konföderationen stellte das Angebot des Liga- Vorsitzenden auf dem Kongreß der Autonomen im Dezember 1997 dar, offen für alle Formen der Zusammenarbeit bis hin zur Fusion zu sein. Weitere Gespräche wurden aber im Frühjahr 1998 vorerts ausgesetzt, um ungeklärte zu lösen. Nach Ansicht der Autonomen stand bei der Liga die Kooperation der Konföderationen zu stark im Vordergrund, während der engere Zusammenschluß von Betriebs- und Branchenorganisationen nachgeordnet blieb. Außerdem störten die Autonomen die gleichzeitigen Annäherungsversuche zwischen Liga und Arbeiterräten. Und schließlich mußte eine so gewichtige Mitgliedsorganisation der Autonomen, wie die Chemiegewerkschaft, ihr Verhältnis zu MSZOSZ berücksichtigen. Immerhin gehört fast ein Drittel ihrer Grundorganisationen nicht ASZSZ, sondern dem Ungarischen Gewerkschaftsbund MSZOSZ an. Und letzterer sah in jeder Annäherung zwischen Liga und Autonomen einen Angriff auf die eigene Existenz.

Kooperationsvereinbarungen zwischen verschiedenen ungarischen Gewerkschaftskonföderationen hat es immer wieder gegeben. Trotz teilweise bemerkenswerter Absichten bis hin zur gegenseitigen organisatorischen Unterstützung in den Regionen erfüllten sie landesweit in aller Regel nicht die in sie gesetzten Erwartungen. Eine Ausnahme ist allein die Kooperation zwischen SZEF und ÉSZT, den beiden Konföderationen des öffentlichen Dienstes, die zu funktionieren scheint. Ein ähnliches Abkommen zwischen SZEF und MSZOSZ scheiterte im Konflikt um die Besetzung der Selbstverwaltungspräsidien von Kranken- und Rentenversicherung.

Die Kontroversen mit der neuen Regierung, die nicht nur einen radikalen Umbau des sozialen Dialogs, sondern auch einschneidende Veränderungen des Arbeitsrechts anstrebt, haben die ungarischen Gewerkschaften in jüngster Zeit wieder enger zusammengeführt. Das betrifft aber zunächst einmal nur die Häufigkeit und den freundschaftlicher gewordenen Ton ihrer Treffen.

Allen Konföderationen ist zunehmend bewußt, daß die Folgen des sinkenden Organisationsgrades Konsequenzen für die gewerkschaftliche Tätigkeit haben. In den Medien wird regelmäßig die Frage gestellt, ob nicht 6 Konföderationen für ein Land wie Ungarn zu viel seien.

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Tripartismus- Tarifautonomie- Vertragsbeziehungen

Dem tripartiten Interessenabstimmungsrat (ÉT) - mit Vertretern der Regierung, der Gewerkschaften und der Arbeitgeberorganisationen - steht bisher die Aufgabe zu, den Minimallohn und den Orientierungsrahmen der Lohnentwicklung festzulegen. Darüber hinaus befaßt er sich im Plenum und mehreren Fachausschüssen mit allen Fragen, die die Welt der Arbeit betreffen. Für den öffentlichen Sektor gibt es ein entsprechendes Forum, den Interessenabstimmungsrat der Budgetinstitutionen (KIÉT), in dem u.a. die Lohnentwicklung im öffentlichen Sektor entschieden wird. Im Gegensatz zum ÉT sind im KIÉT laut Gesetz nur Gewerkschaften zugelassen, die bei den Personalratswahlen landesweit 10 % der Stimmen erreichen. Tripartite Foren gibt es darüber hinaus beim Beschäftigungsfonds, den regionalen Arbeitsmarkt- bzw. Entwicklungsräten.

Unzufriedenheit über Funktionsmängel der tripartiten Interessenabstimmung herrschte schon seit geraumer Zeit bei beinahe allen Beteiligten. Fehlende Effektivität und nicht vorhandene Bemessungsgrundlage für die Repräsentativität von Arbeitgeberorganisationen und Gewerkschaften standen dabei im Vordergrund. Pläne der sozialistisch-liberalen Regierung, nur solchen Gewerkschaften im Interessenabstimmungsrat einen Platz einzuräumen, die landesweit bei den Betriebs- und Personalratswahlen 10 % der Stimmen erreichen, kamen nicht mehr zur Durchführung, da die Parlamentswahlen im Mai 1998 zum Regierungswechsel führten. Die neue Mehrheit nutzte auch die Uneinigkeit der Gewerkschaften- Liga und Arbeiterräte waren gegen die hohe Hürde von 10 % , die sie noch bei keiner Wahl hatten überwinden können -, um eine radikale Reform des sozialen Dialoges mit gänzlich neuen Foren anzustreben.

Vorgesehen sind u.a. Räte für Wirtschaft, Soziales und Gebietsentwicklung, in denen jeweils neben der Regierung, den Gewerkschaften und den Arbeitgeberorganisationen auch weitere Akteure der Wirtschafts-und Sozialpolitik, wie Wirtschaftskammern, ausländische Investoren, Bankenverein, Zivilorganisationen u.s.w. Platz und Stimme haben. Der Entwurf spricht auch von einem Europäischen Integrationsrat als tripartiter Institution. Bei den bisherigen Konsultationen ergaben sich Schwierigkeiten auf der Expertenebene, weil die Verbände der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer in ihren Apparaten solche Experten nicht zur Verfügung haben. An die Stelle des Interessenabstimmungsrates soll der Nationale Arbeitsrat in tripartiter Zusammensetzung treten.

Charakteristisch für alle diese Foren ist, daß sie der Konsultation und nicht der Mitbestimmung dienen sollen. Über die Pläne wird zur Zeit vor allem mit den Gewerkschaften heftig gestritten. Zur konkreten Richtung der Entwicklung läßt sich im Augenblick nichts sagen. Eines aber ist gewiß, daß der extreme Pluralismus der Arbeitgeberorganisationen und der Gewerkschaften der Regierung die Arbeit erleichtert. Heftige Reaktionen löste bei den Gewerkschaften ein weiterer Vorschlag der neuen Regierung aus, der den Betriebsräten in Betrieben, in denen es eine gewerkschaftliche Vertretung nicht gibt, das Recht einräumen möchte, über Betriebsvereinbarungen (nicht Tarifverträge) Löhne und Arbeitszeiten zu regeln.

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Sozial- und Arbeitsmarktpolitik

Nach Angaben des Statischen Zentralamts lag die Arbeitslosenrate Ende 1998 bei 7 %. Bei den Frauen fällt dieser Wert mit 6,3 % etwas besser als bei den Männern (7,6 %) aus. Nahezu jeder dritte Arbeitslose ist noch keine 25 Jahre alt, so daß sich eine spezifische Jugendarbeitslosigkeit von 12,6 % errechnen läßt. Etwas mehr als die Hälfte der Arbeitslosen findet seit einem Jahr keine Anstellung. Das Beschäftigungsniveau hat im Jahre 1998 wieder den Stand von 1995 erreicht und nähert sich 3,8 Millionen an. Im Jahresverlauf 1998 entstanden netto etwa 130 000 neue Arbeitsplätze, während die Zahl der Erwerbslosen um ca. 60 000 zurückging.

Seit 1990 haben sich die Beschäftigtenzahlen um rund 1,3 Millionen verringert. Davon betroffen waren vor allem die Landwirtschaft und der gewerbliche Sektor. Massive Umstrukturierungen fanden bei Kohle und Stahl statt. In der Beschäftigungs- und Einkommenssituation zeigen sich deutliche regionale Unterschiede. Während das Einkommensniveau in Budapest um mehr als das Doppelte über dem Landesdurchschnitt liegt, erreicht es im nördlichen Bezirk Nógrád nur 67 % davon.

Die Arbeitslosigkeit ist in den westlichen Landesteilen und in Budapest am niedrigsten und in den östlichen Bezirken am höchsten. In den westlichen Regionen werden qualifizierte Arbeitskräfte gesucht. Die Mobilität aus dem Osten des Landes in den Westen hält sich aber in Grenzen. Die Arbeitslosigkeit der Roma liegt beträchtlich über dem Landesdurchschnitt.

Die Kosten für Sozialversicherung werden überwiegend aus Beiträgen und erst in zweiter Linie aus Steuern finanziert. Der Arbeitgeberanteil ist verhältnismäßig hoch. Die Sozialversicherung (Kranken- und Rentenversicherung) wurde 1993 unter Selbstverwaltung der Arbeitgeber und Gewerkschaften gestellt. Die neue Regierung hat unmittelbar nach der Wahl die Selbstverwaltungen suspendiert und die Sozialversicherung unter die Aufsicht einer Regierungskommissarin gestellt.

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Privatisierung und Umstrukturierung der Wirtschaft

Der Privatsektor hat sich in Ungarn nicht nur durch Privatisierung, sondern auch durch Neugründungen von Unternehmen im letzten Jahrzehnt geradezu explosionsartig entwickelt. Von den etwa 800 000 Unternehmen beschäftigen mehr als 90 % weniger als 10 Arbeitnehmer. Für die ungarische Unternehmensstruktur wird auch in den kommenden Jahren der große Anteil an sehr kleinen Unternehmen charakteristisch bleiben. Verglichen mit anderen Ländern der Region ist Ungarn in der Privatisierung und Umstrukturierung weiter fortgeschritten. So ist im Telekombereich und im Energiesektor bereits das in EU-Ländern übliche Niveau privatwirtschaftlichen Engagements übertroffen.

Die Auslandsbeteiligungen in der chemischen und in der Pharmaindustrie sind beträchtlich. Die ungarische Pharmaindustrie ist die erfolgreichste und technologisch fortschrittlichste in der Region. Hohe Auslandinvestitionen aus EU und USA sind in den Maschinenbau und die Elektrotechnik geflossen. Zu den am schnellsten wachsenden Sektoren gehört die Automobilindustrie. Für einige westliche Hersteller wurde Ungarn zum Zentrum des Motorenbaus. In der Nahrungsmittelindustrie, die etwa die Hälfte ihres Außenhandels mit der EU abwickelt, hat ein bemerkenswerter Transfer moderner Produktionstechnologien stattgefunden.

Die gewerkschaftliche Organisationsfähigkeit erstreckt sich auf die etwa 6.000 bis 8.000 mittleren und größeren Unternehmen des Landes , die mehr als 50 Arbeitnehmer beschäftigen. Kollektivverträge gibt es nicht einmal bei 500 von ihnen.

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Integration in internationale Gewerkschaftsorganisationen

Durch Aufnahme von Autonomer Konföderation und SZEF in den EGB und der Autonomen Konföderation in den IBFG Ende 1998 ist der Prozeß der Integration ungarischer Gewerkschaften in die internationalen Strukturen beinahe als abgeschlossen zu betrachten. Außer den beiden genannten Bünden gehören noch MSZOSZ, Liga und Arbeiterräte dem EGB, MSZOSZ und Liga dem IBFG und die Arbeiterräte dem WVA an.

Die Einbeziehung der größeren Branchenorganisationen in die Internationalen Berufssekretariate und europäischen Gewerkschaftsverbände ist ebenfalls sehr weit fortgeschritten und hatte schon früher begonnen als die Integration der Konföderationen.

Eine Ausnahme bilden die Mitgliedsorganisationen des SZEF, die aber in letzter Zeit ihr Interesse an einer möglichen Mitgliedschaft in EGÖD und IÖD signalisiert haben.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Juni 1999

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