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Teildokument zu: Die EU und ihre armen Nachbarn

Ein Ring von halb reformierten Planwirtschaften und Rentenökonomien

In den Ländern der Peripherie der erweiterten EU kann man nur selten mit einer eindeutig entwicklungsorientierten Wirtschaftspolitik rechnen, die in ein rechtsstaatliches und demokratisches System eingebettet ist. Im Gegenteil: Viele Gesellschaften sind nach Jahren halbherziger Liberalisierung von einer brüchigen Mischung marktwirtschaftlicher Strukturen und klientelistischer Netzwerke gekennzeichnet. In Osteuropa versuchen Teile der alten Nomenklatur und südlich des Mittelmeers die das Renteneinkommen kontrollierenden Eliten ihre Macht zu erhalten, wobei sie formale Anstalten zur Demokratisierung und Wirtschaftsreform machen.

Die Länder Osteuropas sind durch Jahrzehnte der Planwirtschaft und Parteidiktatur geprägt. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, war die Abkehr von diesem System nicht das Werk demokratischer Oppositionsbewegungen, sondern die neuen Eliten strebten nach nationaler Unabhängigkeit oder alte Eliten versuchten einfach durch Etikettenschwindel ihre Herrschaft zu retten (so vor allem in vielen GUS-Republiken). Häufig sind sie in lokale Konflikte mit ethnischem Hintergrund verwickelt. Die Ausnahmeländer sind dank ihrer großen Reformfortschritte weitgehend diejenigen, die in einer ersten Erweiterungsrunde der EU (und teilweise auch der NATO) beitreten werden. Als östliche Nachbarn der erweiterten EU verbleiben überwiegend Länder mit verspäteten Reformen.

Die Teilliberalisierung und Privatisierung hat es oft Fraktionen der alten Eliten ermöglicht, sich rasch zu bereichern und wichtige Teile des Nationalvermögens unter ihre Kontrolle zu bringen. Selbst in den wenigen Fällen, wo sie nicht den Staatsapparat ebenfalls kontrollieren, sind Politik und Verwaltung kaum in der Lage, Rahmenbedingungen zu schaffen, die Entwicklung und Modernisierung fördern. Statt dessen versorgen sich die Netzwerke durch Zugriff auf die Banken und größeren Unternehmen gegenseitig, ohne daß es zu wettbewerbsfähigem Wachstum und einer umfassenden Modernisierung der Wirtschaft kommt.

Soweit die Länder tatsächlich demokratisiert sind, kann die enttäuschte Bevölkerung versuchen, Parteien an die Macht zu wählen, die wirkliche Reformen versprechen. Aber auch diese Kräfte stehen vor dem Dilemma, daß die Wähler nur bedingt zu länger anhaltenden Opferperioden bereit sind und die neuen Eliten über ein hohes Chaospotential zur Störung der wirtschaftlichen Entwicklung verfügen.

In den arabischen Mittelmeeranrainern gab es keinen dramatischen Systemwechsel. Die traditionellen Eliten unternahmen bescheidene Liberalisierungsschritte, als der Rückgang der Renten aus Öl, Transferzahlungen und anderen Quellen die bisher damit erkaufte innere Stabilität untergrub und außenwirtschaftliche Krisen auslöste. Die Strukturanpassung machte ebenso unterschiedliche Fortschritte wie die Demokratisierung, die auch durch die Angst vor der stärksten Oppositionskraft, dem politischen Islam, gebremst wurde. Während Tunesien und Marokko ihre Wirtschaft diversifizieren und ihre Fertigwarenexporte steigern konnten, leiden andere Länder weiter unter der Abhängigkeit von traditionellen Einkommensquellen und unter noch autoritäreren Regimen.

Das reichste Land der Region, Israel, hat auch die relativ beste Demokratie, die aber ihren arabischen Bürgern wichtige Rechte und Chancen vorenthält. Der ungelöste Konflikt mit den Palästinensern und den arabischen Nachbarn schränkt Israels wirtschaftliche Integrationsmöglichkeiten ein und erhöht seine Abhängigkeit von ausländischer, vor allem amerikanischer, Hilfe.

Das einzig islamisch geprägte Mittelmeerland mit - wenn auch gebrochener - demokratischer Tradition in der Region ist die Türkei. Ihre ursprünglich stark staatlich gelenkte und auf Importsubstitution ausgerichtete Wirtschaft hat sich im Zuge von Strukturanpassung und Westintegration schon deutlich geöffnet und liberalisiert. Die fortdauernden Spannungen mit Griechenland wegen der Ägäis und Zypern sowie das Kurdenproblem erschweren eine Vertiefung der Beziehungen zur EU über die 1996 vereinbarte Zollunion hinaus.

Das Gesamtbild der EU-Nachbarschaft ist wenig ermutigend. In kritischen Teilregionen wie dem Balkan, Kaukasus und Palästina/Israel ist ohne sicheren Frieden kaum an weitere Demokratisierung und Modernisierung zu denken. Die Eliten der meisten Nachbarländer sind - über rhetorische Verlautbarungen hinaus - nicht von der Notwendigkeit politischer und wirtschaftlicher Reformen überzeugt. Damit fehlt in den meisten Ländern die wichtigste Voraussetzung für rasches Wachstum und Entwicklung, wie sie von erfolgreich aufholenden Schwellenländern mit dem oben umrissenen policy mix erzielt wurde.

Die Opposition erscheint oft auch nicht als erfolgversprechende Alternative, sondern gewinnt ihre Identität häufig aus fundamentalistischen oder nationalistischen Überzeugungen. In vielen Ländern droht die Gefahr, daß gesellschaftliche Gruppen, die unter der wirtschaftlichen Liberalisierung und Strukturanpassung leiden (Beschäftigte im Staatssektor, Transfereinkommensbezieher), sich diesen Kräften anschließen und ihr Heil im "Heiligen Krieg" gegen die ökonomisch und kulturell vermeintlich vom Westen dominierte "McWorld" suchen. Sie sehen in der EU den Gegner und in jeder Öffnung eine Kapitulation vor der Ausbeutung durch das reiche Zentrum.

Wenn Länder in Europas Peripherie trotz allem diese Erfolgsstrategie einschlagen wollen, welcher außenwirtschaftliche Rahmen wäre dazu nötig oder zumindest förderlich ? Inwieweit kann und soll die EU versuchen, ihre armen Nachbarn zu dieser Strategie zu ermuntern ? Welche Lehren kann die EU dabei aus den Erfolgen und Problemen der anderen Räume in den Bereichen Handel, Kapitalströme, Migration und politische Kooperation ziehen ?

Die Vielfalt der europäischen Nachbarschaft legt nahe, unterschiedliche und auf die Probleme einzelner Ländern oder Teilregionen zugeschnittene Politiken zu verfolgen. Die EU selbst verfügt gegenwärtig über zwei bis drei Ansätze: das Barcelonamodell für den Süden und die Assoziierung plus PHARE sowie Handels- und Kooperationsabkommen plus TACIS für Osteuropa. Aber diese Differenzierung ist kaum sachlich zu begründen. Vor allem die Mittelmeerpolitik deckt mit dem gleichen Prinzip sehr unterschiedliche Länder ab. Andererseits ist die Einordnung der osteuropäischen Länder in Beitrittskandidaten der ersten Runde, Assoziierte mit Beitrittsanspruch und Rest relativ willkürlich und umstritten. Dagegen sprechen in anderen Bereichen wie z.B. Handel gute Gründe für ein einheitliches Liberalisierungskonzept.

Brüsseler Handelspolitik: eine Pyramide mit Nabe und Speichen

Die EU-Außenhandelspolitik wird gern als Pyramide von Zollpräferenzen beschrieben. An ihrer Spitze befinden sich die Mitgliedsstaaten, die den Binnenmarkt bilden. Den nächstbesten Marktzugang haben Mitglieder des Europäischen Wirtschaftsraums, der sich nach der EFTA-Erweiterung auf Norwegen, Island und Liechtenstein beschränkt (die Schweiz entschied sich in einem Referendum dagegen). Dann folgt die Türkei, mit der der Handel zumindest im Endzustand des Ausbaus der Zollunion am stärksten liberalisiert wäre. Auf der nächsten Ebene folgen die assoziierten Länder Mittel- und Osteuropas, des Mittelmeerraums und die AKP-Staaten. Die Handels- und Kooperationsabkommen mit den osteuropäischen Ländern sehen ebenfalls Freihandel für Fertigwaren vor. Darunter gibt es weitere spezielle Abkommen teils bilateraler, teils multilateraler Natur - letztere mit anderen regionalen Integrationsräumen. Nicht assoziierte Entwicklungsländer kommen in den Genuß des Allgemeinen Präferenzsystems (APS). Andere Industrieländer unterliegen als WTO-Mitglieder der Meistbegünstigungsregelung. Darunter verblieben früher nur die Planwirtschaften des Rates für Gegenseitige Wirtschaftshilfe und nach dessen Ende gibt es kaum noch schlechter gestellte Staaten mit Ausnahme einiger Länder, die weder der WTO angehören, noch das APS in Anspruch nehmen können, z.B. reiche Ölexporteure.

Die Höhe und das Gefälle dieser Präferenzpyramide haben im Lauf der Jahre stark abgenommen. Die Liberalisierungsrunden im Rahmen des GATT, zuletzt im Zuge der Uruguay-Runde, haben die durchschnittliche Protektion soweit abgesenkt, daß nur wenig Raum für die Präferierung von einzelnen Handelspartnern bleibt. Die Masse der Handelspartner befindet sich auf einer weitgehend ähnlichen Präferenzstufe, nämlich der der assoziierten Länder. Diesen gewährt die EU zollfreien Zugang zu ihrem Markt bei industriellen Fertigwaren mit Ausnahme einiger sensibler, besonderes regulierter Bereiche wie Textil und Stahl. Ebenfalls geschützt ist der für viele Nachbarländer besonders wichtige Agrarmarkt der EU. Zwar hat die EU in vielen Fällen eine asymmetrische Marktöffnung gewährt, die es den ärmeren Handelspartnern erlaubt, auch ihre Märkte für Industrieprodukte weiter zu schützen; aber in zunehmenden Maße erwartet die EU von ihren Nachbarn freien Marktzugang für ihre Fertigwarenexporte. Obendrein sehen viele der Verträge für die EU Schutzklauseln vor, die sie im Bedarfsfall gegen Exporte der Nachbarn anwenden kann.

Die einzelnen Handelsregelungen bilden ein System, das gern als "hub and spoke" (Nabe und Speichen = NUS) beschrieben wird (Wonnacott, Enders, Baldwin). Die EU als Nabe verfügt über mehrere Speichen, nämlich die Handelsabkommen mit den verschiedenen Partnern. Jeder Partner hat dabei in der Regel nur eine Beziehung zur EU-Nabe, aber nicht direkt zu anderen Speichen, wenn man von einigen regionalen Kooperationsregelungen (CEFTA = Zentraleuropäische Freihandelszone, UMA = Union du Maghreb Arabe) absieht. Dieses NUS-Modell kontrastiert mit der Alternative einer großen Freihandelszone, der die EU und ihre Partner gleichberechtigt angehören.

Das NUS-Modell bevorzugt einerseits die Nabe zu Lasten der ärmeren "Speichenpartner", andererseits vermindert es die Wachstumschancen der Gesamtregion im Vergleich zur großen Freihandelszone. Unternehmen aus der Nabe haben nämlich Zugang zu billigeren, weil zollfreien Inputs aus der Gesamtregion sowie freien Absatz in diesem Gebiet, während ihre Konkurrenten in den Speichen nur aus der Nabe günstig beziehen können und auf den Speichenmärkten Zollschranken überwinden müssen. Damit wird die Nabe auch attraktiver als die Speichenstandorte für Investoren, insbesondere aus Drittländern. Insgesamt bietet eine NUS-Region im Vergleich zu einer großen Freihandelszone geringere "economies of scale", erhöht Transport- und Verwaltungskosten und bietet mehr Anreize für protektionistische Praktiken.

Diese Handelspolitik stellt sicher keine optimale Umgebung für die nachholende Entwicklung der Nachbarn dar. Die latente Drohung des immer wieder zuschlagenden Detailprotektionismus der EU und die Negativeffekte des NUS-Systems verringern die Neigung einheimischer Unternehmer und ausländischer Investoren zum Aufbau export-orientierter Produktion in den Nachbarländern. Die Marktöffnungszwänge für die Nachbarn andererseits wirken in eine ähnliche Richtung, vor allem für Investitionsprojekte mit einer wenig steilen Lernkurve, die mit einer längeren Anpassungsphase bis zur internationalen Wettbewerbsfähigkeit rechnen müssen. Nicht zufällig haben die meisten westlichen Automobilfirmen ihre Investitionsentscheidungen in Mittel- und Osteuropa von der - vorübergehenden - Einführung von Schutzzöllen abhängig gemacht.

Einige Probleme könnten die Speichen-Länder selbst lösen, indem sie autonom ihre Zölle gegenüber anderen Speichen-Anbietern senken oder ganz abbauen. Damit wären ihre Unternehmen zumindest beim Bezug von Inputs nicht mehr in einem Kostennachteil gegenüber denen der Nabe. Andere Schritte müßte die EU übernehmen. Hier wäre an eine Änderung der Ursprungsregelungen zu denken, die in den bilateralen Abkommen angewandt werden. Würde die weitgehende Akkumulation von Wertschöpfungskomponenten aus allen NUS-Mitgliedern zugelassen, so wäre damit das NUS-System einer Freihandelszone anzugleichen. Angesichts des im Verhältnis zum EU-Markt geringen Gewichts aller Speichen-Märkte (nämlich etwa der italienische Markt) sollten die Nachteile des NUS-Systems ebenso wie die Vorteile seiner Ablösung durch eine Freihandelszone aber nicht überschätzt werden.

Welche Anregungen bieten die ostasiatischen und nordamerikanischen Erfahrungen im Bereich der Handelspolitik ?

Geht man von den Erfahrungen der erfolgreichen "Tiger"-Ökonomien aus, so sollte die EU ihren armen Nachbarn die Möglichkeit zu einer Politik der "geschützten Exportförderung" einräumen, also ihnen den Schutz ihrer Unternehmen gestatten. Es ist allerdings zweifelhaft, ob dies Investition, Innovation und Wettbewerbsfähigkeit in den Nachbarwirtschaften fördern würde. Denn unter den Bedingungen klientelistischer Wirtschaftspolitik nutzen Verwaltung und Unternehmen dann verfügbare Instrumente wie Handelsbarrieren und Subventionen kaum dazu, die Betriebe zu einer raschen Anpassung an Weltmarktbedingungen zu zwingen, sondern Anpassungsverweigerung zu decken und Pfründe zu alimentieren.

Außerdem könnte die EU darauf verzichten, die im Erfolgsfall daraus resultierenden Exportoffensiven abzuwehren. Als Minimum wäre ein Abbau des Schutzes sensibler Branchen innerhalb der EU einschließlich der Landwirtschaft angezeigt, der allerdings sicher auf massiven politischen Widerstand der betroffenen EU-Sektoren stoßen würde. Japan hat bezeichnender Weise seine Märkte immer nur soweit geöffnet, wie es nötig war, um Vorprodukte kostengünstig zu importieren. Mit der Yen-Aufwertung zählten ab Mitte der 80er Jahre dazu aber nicht nur - wie bis dahin - Rohstoffe, sondern auch arbeitsintensive Industrieprodukte, die vor allem die im Zuge massiver Auslandsinvestitionen entstandenen japanischen Tochterunternehmen in Südostasien herstellen. Allerdings stand der US-Markt den südostasiatischen Ländern immer relativ weit offen.

NAFTA hat handelspolitisch einiges zu bieten. Mexikos Exporte in die USA wuchsen in den drei ersten NAFTA-Jahren um 83%, womit der Anteil an den US-Importen von 6,8% auf 9,2% stieg. In mehreren Branchen überholte Mexiko prominente Konkurrenten wie Taiwan, Brasilien und Korea in der Stahlbranche oder Deutschland bei den Kraftfahrzeugen. Dabei diversifizierte Mexiko seine Exportproduktpalette erheblich. Diese Exportleistungen basieren auch auf den stark angestiegenen Direktinvestitionen, bei denen Mexiko dank NAFTA zum zweitgrößten Empfänger unter den Entwicklungsländern (nach China) aufstieg.

Der mexikanische Erfolg ist aber wahrscheinlich nur zum kleineren Teil unmittelbar den NAFTA-Handelsregelungen geschuldet, zum größeren Teil beruht er auf deren Auswirkungen auf das Investitionsverhalten und auf den Bestimmungen, die unmittelbar die Direktinvestitionen regeln. Handelspolitisch schließt NAFTA den Agrarhandel weitgehend mit ein, setzt der Anwendung von Schutzklauseln engere Grenzen und regelt auch technische Handelsbarrieren sowie den Zugang zu öffentlichen Beschaffungsmärkten. Hinzu kommen umfangreiche Vereinbarungen zum Schutz von Investoren, zum Handel mit Dienstleistungen, zur Wettbewerbspolitik und zum Schutz geistigen Eigentums. Diese Regelungen geben Investoren mehr Spielraum und vermindern Risiken. NAFTA verfügt über ausführliche Bestimmungen zu Umwelt und Arbeitsbeziehungen, die Gründe für protektionistische Forderungen seitens Umweltgruppen und Gewerkschaften vermindern und deren Formen zugunsten institutionalisierter Verhandlungslösungen verändern.

Das NAFTA-Modell bietet somit eine Reihe von Anregungen, die eine EU-Handelspolitik gegenüber den armen Nachbarn berücksichtigen könnte. Allerdings gilt auch hier, daß der tatsächliche Effekt stark von Anstrengungen in den Partnerländern abhängt. Das enge NAFTA-Gerüst läßt den Regierungen weniger Spielraum, Reformen zu unterlassen oder versprochene Maßnahmen nicht wirklich umzusetzen, als die weicheren Verträge traditioneller Machart, wie sie die EU mit ihren Nachbarn abgeschlossen hat. Bei Beitrittskandidaten mag dies ausreichen, da sie zur Vorbereitung der Vollmitgliedschaft einem noch erheblich härteren Reformdruck ausgesetzt sind. Für langfristig außerhalb der EU verbleibende Länder wäre jedoch ein klarerer vertraglicher Rahmen potentiell nützlicher.

Der wohl weitreichendste Schritt wäre eine Ausdehnung des Europäischen Binnenmarkts auf die Nachbarländer unter zusätzlicher Einbeziehung der Landwirtschaft, womit noch die Integrationstiefe des EWR übertroffen würde. Die Nachbarn müßten sich dabei in vielen technischen und sonstigen Regulierungen (Normen, Sicherheits- und Gesundheitsstandards etc.) europäischen Mindestanforderungen unterwerfen. Andererseits müßte die EU im Sinne der gegenseitigen Anerkennung dann die Einfuhr von Erzeugnissen, die die (angepaßten bzw. harmonisierten) Vorschriften des Peripherielandes erfüllen, ohne Beschränkung zulassen.

Wachstums- und Währungspolitik sind die beste Handelspolitik

Auch eine EU-Handelspolitik, die die EU-Märkte weiter öffnet, Exporteuren der Nachbarländer mehr Chancen und Sicherheit bietet, hätte nur einen beschränkten Effekt auf die Entwicklung des tatsächlichen Handelsvolumens. Denn die Zölle sind - von Ausnahmefällen abgesehen - im Durchschnitt so gesunken, daß ihre weitere Senkung oder Aufhebung die Wettbewerbsverhältnisse auf den einschlägigen Märkten nur in einem Maße beeinflußt, das durch andere Einflußfaktoren wie Wechselkurs, unterschiedliche Inflationsraten und/oder Produktivitätsdifferenzen mehr als ausgeglichen wird.

Betrachtet man die Entwicklung der Handelsströme zwischen der EU und Mittel- und Osteuropa oder zwischen den USA und Mexiko, so wird deutlich, daß die wichtigsten Bestimmungsgründe im Wachstum des Volkseinkommens insgesamt und der Sparquote im besonderen sowie in der Entwicklung des realen, also um die Inflationsdifferenz bereinigten, Wechselkurses zu suchen sind. Handelspolitischer Problemdruck, aber auch politische Krisen entstehen auf dem Hintergrund von Veränderungen der Handelsbilanz oder der Lohnkostenrelationen, die durch diese Faktoren ausgelöst werden.

Für die Nachbarn wäre eine rasch expandierende EU-Nachfrage die beste Wachstumsvoraussetzung. Leider zeichnet sich die EU seit Beginn der 90er Jahre durch niedrige Wachstumsraten aus. Kritiker des Vertrages von Maastricht machen die dort festgelegten Stabilitäts- und Konvergenzkriterien verantwortlich, die die Mitgliedsstaaten zu einer sparsamen Haushaltspolitik zwingen. Andere halten dem entgegen, daß Defizite von über 3% des Bruttosozialprodukts Zeichen einer eher expansiven Fiskalpolitik sind und das Defizit und die damit verbundene Neuverschuldung Kapital binde, das dann nicht mehr für Investitionen, der Grundlage neuen Wachstums, zur Verfügung stehe.

Aber auch Anhänger einer solideren Haushaltspolitik können sich eine mehr wachstumsorientierte Wirtschaftspolitik in Gestalt einer weniger restriktiven Geldpolitik vorstellen. Dabei erhoffen sich die einen von staatlicher Sparsamkeit eine Entlastung der Kapitalmärkte mit entsprechender Zinssenkung, die anderen wünschen eine Senkung der Zinsen durch die Zentralbanken, um dadurch die Investitionen anzuregen, aber auch die Zinslast der öffentlichen Haushalte zu vermindern. In beiden Fällen gilt das Zinsniveau, das in Europa höher als in Japan oder den USA liegt, als hauptverantwortlich für die europäische Wachstumsschwäche.

Die Politik der Deutschen Bundesbank verhindert in den Augen vieler Beobachter eine solche Wachstumspolitik, um eine Geldwertstabilität zu sichern, die vielleicht - dafür spricht die niedrige Inflation in den USA und Japan - gar nicht bedroht ist. Andererseits würde es schon ausreichen, wenn Europa wieder auf den Wachstumspfad zurückfände, den es 1986-1990 eingeschlagen hatte, ohne daß die auch damals stabilitätsbedachte Bundesbankpolitik gestört hätte. Die künftige Europäische Zentralbank könnte dazu beitragen, das Wirtschaftswachstum in der Währungsunion zu beschleunigen, da sie sich angesichts der geringeren Bedeutung des Außenhandels für die Euro-Zone weniger um einem Inflationsimport sorgen muß.

Die relative Geschlossenheit der Euro-Zone verringert auch die Währungsturbulenzen, die vor allem exportgeleitetes Wachstum immer wieder gestört haben. Ein neuer europäischer Wachstumsprozeß könnte sich auf währungspolitische Stabilität, solide Haushaltspolitik und niedrige Zinsen stützen. Die Zentralbank hätte dann weder externe noch interne Anlässe, das Wachstum im Interesse der Stabilität abzuwürgen, wenn sich zusätzlich die Lohnpolitik maßvoll am Produktivitätsfortschritt orientiert, wie sie es in den 90er Jahren weitgehend tat.

Unabhängig von dem für die Nachbarn vorteilhaften Wachstum in der EU selbst muß es aber um das Wachstum der Nachbarökonomien gehen. Der Handel mit der EU stellt für dieses Wachstum eine wichtige Voraussetzung dar, nicht nur als Absatz für Exporte, sondern auch durch die wachstumsbedingte Importnachfrage, deren Finanzierbarkeit das Wachstum beschränkt. In vielen Fällen schlittern Wirtschaften bei nachholender Entwicklung hier in einen krisenhaften Zyklus:

  • In der günstigen Phase wächst die Wirtschaft des Peripherielandes rasch. Dank leicht unterbewerteter Währung steigen die Exporte und der Zufluß ausländischer Investitionen. Die "Märkte" beurteilen das Land positiv als wettbewerbsfähigen, aussichtsreichen Standort.
  • Als Folge des guten Wachstums und der relativ hohen Importelastizität der Nachfrage nehmen die Importe stärker als die Exporte zu. Das Leistungsbilanzdefizit schwillt an, ist aber dank der Kapitalimporte noch zu finanzieren. Die Inflation nimmt zu, die Währung bleibt aber wegen des guten Rufes hart oder wertet sich sogar noch auf, wodurch in jedem Fall eine reale Aufwertung stattfindet. Damit sinkt die preisliche Wettbewerbsfähigkeit und die Exporte kommen weiter unter Druck.
  • Ohne wirtschaftspolitische Gegensteuerung (verstärktes Sparen, Abwertung) setzt sich der Trend fort, bis die Kapitalmärkte ihre Bewertung ändern. Die Währung kommt unter Druck. Es kommt zu einer plötzlichen Abwertung und zu starken Kapitalabflüssen. Das Land erlebt eine massive Krise, die zu scharfen Einschnitten zwingt, die auch die Importe aus dem Zentrum senken und die Liquidität seiner Investoren gefährden. Im Extremfall sieht sich das Zentrum zu Rettungsaktionen veranlaßt.
  • Nach erfolgter Abwertung und Sanierung des Haushaltes ist die preisliche Wettbewerbsfähigkeit und - mit Verzögerung - das Vertrauen der Investoren wiederhergestellt, Exporte nehmen rasch, die Direktinvestitionen langsamer wieder zu. Das Land beginnt einen neuen Zyklus.

Dieses Muster war - mit sicher bedeutenden Variationen - in Mexiko 1994/5, in Tschechien und in Thailand 1996/7 zu beobachten. Besonders fatal an diesen Krisen ist ihr Ansteckungscharakter, der andere - an sich nicht betroffene Länder - in den kumulativen Vertrauensverfall der Märkte einbezieht, wie es z.B. 1994 in Lateinamerika oder 1997 in Südostasien der Fall war.

Es ist im Interesse der Zentren wie der Peripherie, derartige Krisenzyklen zu vermeiden oder wenigstens in ihren Ausschlägen zu begrenzen. Denn die Krisen reduzieren nicht nur die Exporte aus dem Zentrum, sondern destabilisieren auch die Kapitalmärkte, wenn Investitionen in der Peripherie plötzlich notleidend werden. Außerdem bedrohen derartige Krisen nicht nur die gewünschte Prosperität, sondern auch die politische Stabilität in den Nachbarländern.

Traditionell kümmert sich der Internationale Währungsfonds (IWF) um diese Probleme. Er überwacht die Wirtschaftspolitik seiner Mitgliedsstaaten und warnt vor krisenhaften Entwicklungen. Im Fall von Zahlungsbilanzkrisen stellt er Kredite bereit, die ab einer bestimmten Höhe an Auflagen zur Veränderung der Wirtschaftspolitik gebunden sind. Aber angesichts der gewaltigen Transaktionsvolumen auf den globalen Finanzmärkten sind seine Mittel zu beschränkt, um spekulative Angriffe auf Währungen abwehren zu können.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | März 1998

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