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Kleinstaatliche Revolution in Sachsen 1830/31 - Volksbewegung und Obrigkeiten : Horst-Springer-Stiftung für Neuere Geschichte Sachsens in der Friedrich-Ebert-Stiftung ; Rede anlässlich der Verleihung des Horst-Springer-Preises 1995 / Michael Hammer - [Electronic ed.] - Bonn, 2001 - 45 B, Text & PDF-Files . - (Horst-Springer-Preisvorträge) Titel nur online veröffentlicht. Adresse: http://library.fes.de/fulltext/historiker/01132.htm © Friedrich-Ebert-Stiftung
1. Deutung, Voraussetzungen und Auftakt der Revolution 2. Typologie und Einordnung der Volksbewegungen 3. Die Rolle der Obrigkeiten in Wechselwirkung mit den Volksbewegungen 4. Generelle Einschätzungen zum revolutionären Prozess: Anhänge als PDF-Dateien: Horst-Springer-Stiftung für neuere Geschichte Sachsens in der Friedrich-Ebert-Stiftung Horst-Springer-Preisvorträge Michael Hammer Kleinstaatliche Revolution in Sachsen 1830/31. Rede anlässlich der Verleihung des Horst-Springer-Preises 1995 Titel nur online veröffentlicht 1. Deutung, Voraussetzungen und Auftakt der Revolution Die Jahre 1830/31 stellten einen deutlichen Einschnitt in der sächsischen Geschichte dar, nämlich das Ende des aus dem Feudalismus gewachsenen "ancien regime" und den entscheidenden Durchbruch auf dem Weg zu einer von bürgerlich-kapitalistischen Grundsätzen bestimmten Staats- und Gesellschaftsordnung. Zeitgenössische Wertungen sowie die Historiographie bis in die 1980er Jahre lassen zwei gegenläufige Tendenzen bei der Bewertung dieser Vorgänge deutlich werden. Die offiziöse sächsische Landesgeschichtsschreibung (C. D. von Witzleben, H. Kretzschmar, R. Kötzschke, W. Schlesinger) folgte der bereits 1830 von dem Jenaer Professor Karl Hase gegebenen Einschätzung, dass durch die Einleitung des Reformwerkes von oben die "Schrecken der Revolution" vermieden werden konnten. Unter Hervorhebung der Bedeutung der Reformpolitik der neuen Regierung nach dem 13. September 1830 und von Momenten der Kontinuität bei der Vereinbarung der Verfassung zwischen alten Ständen und Regierung wurde argumentiert, dass "die revolutionäre Lösung umgangen" worden sei und sich somit kein "Bruch mit der Vergangenheit, sondern Überleitung, Evolution, nicht Revolution" vollzogen habe. Neben einer prinzipiellen Ablehnung revolutionärer Lösungen waren für diese Wertungen auch die zu stark staatsrechtlich geprägte Sicht wie auch die methodische Trennung der als "revolutionäre Fieberschauer" bezeichneten Volksbewegung von der "Verfassungs- und Staatskrise der Jahre 1830/31" (H. Kretzschmar) kennzeichnend. Andererseits wurde bereits von Zeitgenossen, etwa in der ersten ausführlichen Revolutionsgeschichte von F. Stolle 1835 - wenn auch gelegentlich mit Zusätzen wie "merkwürdige" Revolution, Stadt-Revolution oder Verwendung von Anführungszeichen -, und in der späteren Geschichtsschreibung, so bei G. Schmidt und R. Forberger, aber auch in der sozialgeschichtlich orientierten Geschichte der wettinischen Könige von Albert Prinz von Sachsen, der Revolutionsbegriff angewandt. In den letzten Jahren hat sich die auf eine Anregung von H. Zwahr zurückgehende Kennzeichnung als "kleinstaatliche Revolution" in der sächsischen Landesgeschichtsschreibung weitgehend durchgesetzt. Diese Einschätzung beruht ganz wesentlich auf der Anerkenntnis der Volksbewegungen als Bestandteil und wichtiger Triebkraft der Revolution. Neben diesem methodischen Problem zeigte sich, dass eine erhebliche Erkenntnislücke in Bezug auf die Volksbewegungen außerhalb der großen Städte Leipzig, Dresden und Chemnitz bestand. Diese Lücke konnte durch intensive archivalische Studien geschlossen werden, wodurch ein genaueres Bild von Ausmaß und Charakter der Volksbewegungen gegeben und ihr Anteil am revolutionären Prozess bestimmt werden konnte. Dabei wurde sichtbar, dass sich auch in Sachsen 1830, wie bei allen Revolutionen, ein Nachvollzug großer Leiterhebungen, geprägt von den jeweiligen örtlichen Verhältnissen, in Gestalt vieler lokaler Erhebungen und Umstürze, ereignete. In diesen Volksbewegungen entluden sich die angestauten politischen, sozialen und ökonomischen Konflikte. Diese Bewegungen gaben der Revolution die breite soziale Grundlage, auf der sich grundlegender Wandel von Staat und Gesellschaft vollziehen konnte. Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts hatten von äußeren und inneren Impulsen angeregte langfristige wirtschaftlich-soziale wie auch politisch-ideologische Ursachen auf eine Überwindung der bestehenden Verhältnisse hingewirkt. (Übersicht: Vorgeschichte der sächsischen Revolution = Anhang 1) Da der Thronwechsel von 1827 nicht zu politischem Wandel von oben genutzt wurde, verhärteten sich die Fronten; die Reformbewegung verstärkte sich und kulminierte auf dem Landtag von 1830, mit dessen ergebnisloser Vertagung Anfang Juli 1830 die letzte Chance zu friedlichem Ausgleich vertan war. ( Ähnlich wie in der DDR 1989 war die Zeit vom Jahresbeginn bis zum Spätsommer 1830 in Sachsen eine Phase des Heranreifens revolutionärer Umwälzungen, bedingt durch die uneinsichtige Haltung der Machthaber.) Als kurzfristig-konjunkturelle Ursachen trugen zur Entstehung einer revolutionären Situation im Sommer 1830 bei: Wie hochgespannt der Konflikt zwischen Volk und Obrigkeiten war, zeigte sich darin, dass ein "Polterabendlärm" in Leipzig am Abend des 2. September 1830 zum Ausgangspunkt einer das ganze Land erfassenden Volksbewegung wurde, die auf kommunal- und staatspolitischer Ebene wesentliche Veränderungen erzwang. Die Volksbewegung war eine der drei Kräfte, die in gegenseitiger Wechselwirkung die Revolution gestalteten. Die Übersicht zur Entwicklung der verschiedenen Strömungen in der Revolution soll diese Konstellation verdeutlichen. (Siehe Anhang 2) Hier wie bei vielen folgenden Ereignissen wurde die große Bedeutung von Vorbilderhebungen bei der Ausbreitung der Unruhen deutlich. Sie gaben nicht nur den Impuls, selbst aktiv zu werden, sondern auch eine gewisse moralische Legitimation für das eigentlich ungesetzliche Vorgehen. Dem Bekanntwerden der Vorbilderhebungen folgte an vielen Orten eine Phase sich steigernder gesellschaftlicher Unruhe, die nach einigen Tagen in verschiedene Formen des aktiven Protestes überging. (Leipzig und Dresden als Leit- und Vorbilderhebungen lasse ich im Vortrag aus Zeitgründen unberücksichtigt, da auch über die dortigen Ereignisse, die geradezu mit der Revolution identifiziert wurden, viel mehr bekannt ist, als über die Volksbewegungen im Lande.) Der Aufstand in Dresden am 9. September machte schlagartig klar, dass die Fundamente des Staatswesens bedroht waren. Die sofortige Bildung von Kommunalgarden und die Einsetzung einer besonderen Regierungskommission unter Vorsitz von Prinz Friedrich August waren erste Zeichen eines bevorstehenden Wandels der Regierungspolitik. Dieser vollzog sich endgültig mit der Ersetzung des politisch reaktionären Kabinettsministers von Einsiedel durch den reformfreudigen liberalen Bernhard August von Lindenau und der auf Intervention von vier Geheimen Räten beim König erreichten Einsetzung des veränderungswilligen Prinzen Friedrich August zum Mitregenten. Mit diesen bedeutsamen Ereignissen endete am 13. September die erfolgreiche Auftaktphase der Revolution. Nach eingehender Untersuchung des Inhalts und Ablaufs der Ereignisse in Sachsen zwischen Ausbruch der revolutionären Unruhen Anfang September 1830 und Verfassungsgebung ein Jahr später ergibt sich m.E. die weiter unten dargestellte Periodisierung oder Phasengliederung der Revolution (Siehe Anhang 3): Die bejubelte Ernennung des Mitregenten stellte zweifelsohne einen wichtigen Schritt in der politischen Wende dar, führte jedoch nicht, wie es in der älteren Literatur dargestellt wurde, zu einer sofortigen Beendigung der Volksbewegungen und oppositionellen Regungen. Die Ausbreitung der Septembererhebungen in Form vieler "Lokalrevolutionen" über ganz Sachsen wurde damit nicht gestoppt und war Hauptcharakteristikum der zweiten Revolutionsphase. Nach den Erhebungen von Leipzig und Dresden ergriff die Volksbewegung trotz schnell gewährter Reformzusagen einem Flächenbrand gleich das ganze Land. Der gegen katholische Kaufleute, den Bürgermeister und das Amtsgefängnis gerichtete Chemnitzer Aufruhr vom 11. September wirkte als Signal für das Erzgebirge und das Vogtland. Hier erreichten die Volksbewegungen in der zweiten Septemberhälfte ihren Höhepunkt. Die folgende Aufstellung zeigt die zeitlichen Abläufe und Zielrichtungen in diesem Bereich:
Wichtige Volksbewegungen im Erzgebirge und Vogtland:
2. Typologie und Einordnung der Volksbewegungen Entsprechend den konkreten regionalen und lokalen Existenzbedingungen und Herrschaftsverhältnissen und daraus resultierenden Konfliktlagen ließen sich folgende Typen von Volksbewegungen unterscheiden: A) Radikale, gewaltorientierte, vorwiegend von Unterschichten getragene, gegen die Gerichtsherrschaften gerichtete Aktionen: "Leiterhebung" im Vogtland war die Zerstörung der "Fronfeste" in Treuen am 17. September 1830: Gerüchte über ein bevorstehendes Verbot des Holzsammelns und vom Gebrauch eines Schrotgewehrs durch den Gerichtsbeifron heizten die Stimmung an. Der Versuch des rührigen Stadtschreibers Todt, des späteren liberalen Politikers, aus den "besseren" Bürgern eine Bürgergarde zu bilden, verärgerte die übrigen Einwohner, die auf den Gassen und in Schenken ihre Beschwerden vorbrachten. Todts Bemühungen, beim Kreishauptmann die Publikation eines Urteils im Prozess der Hausgenossen mit der Herrschaft zu verhindern und die Entlassung des verhassten Gerichtsdieners zu erreichen, konnten den Ausbruch offenen Aufruhrs nicht aufhalten. Nach einem Vorspiel am Abend des 16. September wurden am nächsten Abend Fronfeste und darin befindliche Wohnung des Gerichtsdieners völlig zerstört. Der als hartherzig und brutal gekennzeichnete Gerichtsdiener, gegen den wüste Drohungen ausgestoßen wurden, hatte sich wie der Beifron und der Güterbeschauer den Angriffen durch Flucht entzogen. Seine zerstörten Sachen hatten einen Wert von 1400 Talern und umfassten auch etliche von "Forstfrevlern" und Schuldnern eingezogene Pfänder. Die Treuener Gerichtsdirektoren konstatierten: "Die Erbitterung gegen den Gerichtsdiener Müller, welcher in der Fronfeste seine Wohnung hatte, war grenzenlos. Alle seine Sachen, Mobilien und Effekten sind gänzlich vernichtet worden. Seine Person, welche er nur durch Entfernung sichern konnte, war in der größten Gefahr." Stadtschreiber Todt gelang es in der Nacht des 17. September als einzigem aktiven obrigkeitlichen Vertreter nur, einen Zug zu den Rittergütern zu verhindern und durch Einberufung einer Volksversammlung auf den nächsten Tag weitere Gewalttaten abzuwenden. Auf dieser Versammlung mussten die Gerichtsherren erhebliche Zugeständnisse (allerdings nicht kommunalpolitischer Art) protokollarisch niederlegen. Die obrigkeitliche Gewalt war zwar zunächst außer Kraft gesetzt, aber aufgrund fehlender Führung und Organisation blieb diese Art von Volksbewegungen auf dem erreichten Stand stehen und konnte dann mit Militäreinsatz niedergeschlagen werden. Wie groß das Gewaltpotential in Treuen war, zeigt die Tatsache, dass die Verhaftung der Aufrührer erst nach stabsmäßiger Planung mit großem Militäreinsatz am 12. Oktober erfolgte, wobei es zu energischem Widerstand der Bevölkerung und besonders der Handwerker kam, die sich im Ratskeller gegen das Militär verschworen. Weitere Aktionen dieses Typs waren: die Zerstörung der Gerichtsdienerwohnung in Rodewisch - eine von niedersten sozialen Schichten getragene Bewegung mit überörtlichen Tendenzen -, Angriffe auf Gerichtsverwalter und Gerichtsherrschaft in Neukirch (die sogenannte "Neukircher Hofrevolution") und die Aktion gegen den Rittergutspächter in Neumark. Die Zerstörung von Beamtenwohnungen und Bordellen sowie des Landhauses von Ratsbaumeister Erkel in Leipzig, des Polizeihauses in Dresden und des Hauses der Kaufleute Rompano und Sala in Chemnitz gehören vom Erscheinungsbild her auch in diese Kategorie. Auch hier wurden Symbole einer als ungerecht empfundenen Ordnung (polizeilicher und administrativer Druck, wirtschaftliche Benachteiligung Ansässiger, ungerecht erworbener Reichtum) von größeren Menschenmengen angegriffen und rituell demoliert: Die aktivsten Zerstörer drangen in die angegriffenen Gebäude ein, zerschlugen die Einrichtung und warfen Teile oder ganze Stücke aus den Fenstern, die unter dem Beifall von Zuschauern weiter zertrümmert oder auch angezündet wurden. Gegen die verhassten Personen, die sich meist durch Flucht den Auseinandersetzungen entzogen hatten, wurden wohl starke Drohungen ausgestoßen, aber nur selten ernsthafte tätliche Gewalt angewandt. Die Akteure gewalthafter Proteste waren vorwiegend Angehörige der Unterschichten, wobei von verelendeten Hauswebern, Gesellen, Tagelöhnern und Handarbeitern das meiste Protestpotential ausging. B) Kommunale Bewegungen gegen alte Stadträte, deren Abgeschlossenheit und Eigenmächtigkeit sowie selbstherrliches und ungerechtes Amtieren, gegen städtische Exekutivbeamte wie Stadtrichter und Schreiber sowie gegen veraltete Formen der Bürgerrepräsentation, für erweiterte bürgerliche Mitbestimmung. Die kommunalpolitischen Beschwerden und Forderungen des September 1830 wurden fast vollständig auf der stürmischen Volksversammlung am 18. September in Crimmitschau vorgetragen. Nach dem Bericht eines Beteiligten warfen die etwa 100 Bürger und Einwohner dem Gerichtsdirektor und dem Stadtrat "Bedrückungen aller Art, unrechtliche Forderungen bei Erteilung des Bürgerrechts sowie bei anderen Gelegenheiten und dadurch erreichte unredliche Bereicherung auf Kosten der Bürgerschaft und Einwohner, schlechte Verwaltung des Kommunalvermögens, Vorenthaltung der diesfallsigen Rechnungen und Verfälschung der vorgelegten, nicht minder Verhaftung rechtlicher und unschuldiger Personen, eigenhändige und unnötige Züchtigung eines Inhaftaten laut und stürmisch vor. Sie beklagten sich über das zu hohe Schulgeld und zu harte Eintreibung des rückständigen und verlangten, dass der obgedachte Gerichtsdirektor ebenso wie der gesamte Stadtrat mit dem Stadtschreiber, dem Ratsdiener und allen Kommunalrepräsentanten augenblicklich abgesetzt und an deren Stelle andere Personen von und aus der Mitte der Bürgerschaft ohne Konkurrenz der Gerichtsherrschaft erwählt werden sollten." Wie in vielen anderen kommunalen Bewegungen wurden die Ziele der unzufriedenen Bürger schnell und umfassend verwirklicht. Am 22. September vollzogen der königliche Kommissar Gruner und Kreishauptmann von Wietersheim (ein führender Vertreter der Reformpartei) vor Ort den kommunalpolitischen Machtwechsel. Die Beschwerden wurden in den kommunalen Bewegungen meist in tumultuarischer Form unter Gewaltandrohung in oder vor den Rathäusern vorgebracht, wobei jeweils Führungspersonen hervortraten, die die kommunalpolitischen Ziele mit größerem taktischen Geschick verfolgten, als es bei den vorrangig gegen die Gerichtsherrschaften gerichteten gewaltsamen Volksbewegungen der Fall war: Webermeister Albert in Mylau und Kaufmann Schwedler in Crimmitschau hatten bereits vor Ausbruch der Unruhen Anhänger einer antimagistratischen Opposition um sich geschart und gegen den alten Rat agitiert. Drohende gewalttätige und nicht mehr kontrollierbare Unterschichtenproteste dienten als Druckmittel der bürgerlichen Opposition, die ihre Ziele mitunter sogar im Zusammengehen mit den Obrigkeiten erreichen wollte (Mylau, Reichenbach). Ausgeprägt kommunale Bewegungen ereigneten sich in Crimmitschau, Frankenberg, Meerane, Reichenbach, Adorf, Hartha. Besonders die Stadtschreiber waren Gegenstand von Protesten in Lößnitz, Stollberg, Zwönitz, Glauchau, Kirchberg, Hayn, Borna, Werdau. Die Kämmerer wurden außer in Reichenbach und anderen bereits genannten Städten auch in Hayn, Dahlen und Döbeln angegriffen. Es gibt in den Quellen beeindruckende Schilderungen dieser "Rathaustumulte", die verdeutlichen, warum diese von den Zeitgenossen auch als "Stadtrevolution" bezeichnet wurden. In vielen Vasallenstädten war das Ringen um breitere bürgerliche Mitbestimmung an Auseinandersetzungen mit der Gerichtsherrschaft gekoppelt und überschnitt sich mit sozial-ökonomischen Forderungen und Bewegungen. Die kommunalen Bewegungen erzielten die größten Erfolge, sie wurden oft nicht juristisch geahndet und mündeten direkt in die Wahlen provisorischer Kommunalrepräsentanten in allen sächsischen Städten 1831 und die Städtereform von 1832. C) Neben Gerichtsherrschaften und Stadträten waren hauptsächlich Steuer- und Akziseeinnehmer sowie Förster Angriffen der Volksbewegungen ausgesetzt. Die Aktionen hatten unterschiedliche Ausmaße von Gewaltandrohung bis -anwendung: Es kam zu Volksansammlungen vor Chausseehäusern, Fenstereinwerfen und Schlagbaumabsägen, Pfänderwiederholen, Bäumeabsägen und Angriffen auf Forstpersonal. Neben Langenchursdorf, Werdau, Penig, Reichenbach, Hartmannsdorf, Falkenstein sind besonders die obererzgebirgischen Orte Schwarzenberg, Carlsfeld, Bockau, Elterlein, Oberwiesenthal, Scheibenberg, Schneeberg, Hohnstein zu nennen. An den Forstunruhen im oberen Erzgebirge waren Bergleute besonders stark beteiligt. Die Angriffsziele verwiesen auf drängende Probleme des Sozial- und Wirtschaftslebens: Die Versorgung mit Holz als existenznotwendigem Brennstoff spielte besonders in den mit starker gewerblicher Bevölkerung durchsetzten gebirgigen Gegenden eine wichtige Rolle; die vielfältigen Steuerabgaben und die Akzise als Handelshindernis waren ebenfalls wichtige Ursachen der Unruhen von 1830. Als die Leipziger und Dresdener Volksaufstände die Dämme des Gehorsams gebrochen hatten, drückte sich die Unzufriedenheit auch mit diesen eine Modernisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse behindernden Zuständen in aktionistischen Protesten aus. D) Eine Sonderstellung nehmen die von größeren Gruppen sozialökonomisch gleichgestellter Personen getragenen Volksbewegungen ein, die häufig durch gemeinschaftliches Vorgehen in Beratungen sowie mehr oder weniger organisierte Züge gekennzeichnet waren und trotz der solchen Aktionen innewohnenden Gefahr einer Radikalisierung meistens friedlich verliefen. Durch das massive Auftreten sollten vorrangig ökonomische Ziele (Befreiung von Stuhlzins, Lohnerhöhung, Erleichterung von Abgaben und Leistungen) errungen werden. Adressaten waren die für die Abgaben verantwortlichen Gerichtsherren bzw. Behörden, im Falle Zittau auch eine Stadt. In diese Kategorie fallen die Demonstration von Hunderten von Bergleuten bei Freiberg, der verabredete Beschwerdezug in dem durch Strumpfwirkerei gekennzeichneten Fabrikdorf Oberlungwitz sowie die Proteste gegen Stuhlzins und Gerichtsherrschaft in dem Strumpfwirkerdorf Limbach. Hier forderten die Strumpfwirker und Hausgenossen anlässlich der Publikation der Rechtsgrundsätze in Fron- und Dienstsachen und der gleichzeitigen Rechnungslegung über Gemeindekosten die Verminderung des Stuhlzinses. Gerichtsdirektor Schink gelang es durch geschicktes Taktieren, radikale Stimmen zu beruhigen und den kollektiven Unmut in die Aufstellung von Beschwerden durch einen Ausschuss abzulenken. Die vom in Dresden weilenden Gerichtsherrn Graf von Wallwitz in patriarchalischer Manier verfasste "Entgegnung" wurde am 27. September im Gasthof publiziert, konnte aber die Gemüter nicht völlig beruhigen. Noch am 4. Oktober forderte eine Kommunalversammlung die Absetzung des Ortsrichters. Geradezu exemplarisch erscheint dieser Typ der Volksbewegung in den Protestaktionen der Hausweber in den Zittauer Ratsdörfern gegen den Stuhlzins. Hier gelang es ebenfalls einem mit den örtlichen Verhältnissen vertrauten Vertreter der Obrigkeit, Ortsinspektor Porsche aus Zittau, die Bewegung abzuwiegeln und den Zug von 800 Seifhennersdorfern nach Zittau zu verhindern. Aus den eigentlich gewalthafter angelegten Langenchursdorfer Forstunruhen erwuchs unter starker Beteiligung von Strumpfwirkern der Plan eines Zuges nach Waldenburg, der ebenfalls diesem Typ zugehört. Die Versuche der Maschinenstürmerei in Leipzig konnten durch Zureden verhindert werden; sie gehörten, wie die anderen hier genannten Volksbewegungen, zu einem ökonomisch determinierten Protestverhalten, ebenso die in Absatzschwierigkeiten und daraus resultierender Arbeitslosigkeit begründeten Unruhen unter der für "Fabrikanten" arbeitenden Weberbevölkerung der Gegend um Auerbach und Falkenstein. Die Unruhen unter den zu Notstandsarbeiten eingesetzten Arbeitslosen bei Auerbach und bei Dresden sind frühe Formen von Arbeitskämpfen, wie sie später etwa unter Eisenbahnbauarbeitern in Erscheinung traten. 1830 führte die Konzentration großer Mengen doppelt von feudalen und kapitalistischen Abhängigkeiten bedrückter ländlicher Lohnarbeiter in den Fabrikdörfern während einer wirtschaftlichen und politischen Krisensituation zu relativ gut organisierten Protestbewegungen unter Beteiligung Hunderter an Verlag oder zerstreuter Manufaktur gebundener ländlicher Heimarbeiter. E) Der Versuch einer Typologie der Volksbewegungen muss noch den Sonderfall des aus der entstandenen gesellschaftlichen Unruhe erwachsenen rebellischen Verhaltens einzelner Personen berücksichtigen. Hierbei äußerte sich ein besonderer Hang zu renitentem Verhalten bei verabschiedeten Soldaten. Nicht nur zeitlich, sondern auch von Inhalt und Formen her betrachtet, lagen die Volksbewegungen von 1830/31 zwischen dem kursächsischen Bauernaufstand von 1790 und der bürgerlich-demokratischen Revolution von 1848/49, welche einen weit höheren Grad politischer Organisiertheit und Bewußtheit der handelnden Kräfte aufwies. Entscheidend für die im Unterschied zu 1790 nunmehr revolutionierende Wirkung der Volkserhebungen war, dass diese in den städtischen Zentren Leipzig, Dresden und Chemnitz zuerst ausbrachen, eine hohe Massenbeteiligung und schnelle Erfolge zunächst auf kommunaler Ebene erzielten. Da nunmehr in maßgebenden Kreisen von Bürgertum und Staatsbürokratie die Notwendigkeit einer grundlegenden Veränderung von Agrar-, Kommunal- und Staatsverfassung anerkannt wurde, nutzten diese Reformkräfte den von der Volksbewegung erzwungenen Machtverlust der herrschenden Adelsschicht zur Einleitung systemverändernder Umgestaltungen. Aufgrund des sehr geringen Ausgangsniveaus allgemeiner Politisierung und Ideologisierung agierten Volksbewegung und bürgerliche oder gar adlige Opposition weitgehend nebeneinander. Es konnte allerdings nachgewiesen werden, dass der Charakter der Revolution wesentlich durch aktives und wirksames Eingreifen bürgerlicher Kräfte mitbestimmt wurde. (siehe nochmals Anhang 2: bürgerliche Opposition) Der Charakter der Volksbewegung war noch entscheidend vom Erfahrungsalltag des spätfeudalen Gesellschaftssystems geprägt, Bewusstheit und Organisiertheit als Merkmale einer höheren Ebene politischer Bewegung waren noch gering entwickelt. Die Volkserhebungen in der sächsischen Revolution von 1830/31 trugen daher die typischen Züge der für den Vormärz dominierenden Protestform, der "tumultuarischen Volksunruhe": Politisch unmündige Teile des Volkes drückten mit normverletzenden Aktionen ihre Ablehnung bestehender Verhältnisse aus und brachten nur sehr begrenzt alternative Gestaltungsvorschläge zum Ausdruck. Sie schufen aber den Freiraum für die Durchsetzung der umfangreichen Forderungskataloge des Bürgertums. Allerdings ist gewalthafter, kollektiver, illegaler Sozialprotest von Unterschichten nur eine Komponente der sächsischen Volksbewegung von 1830/31. Diese waren Bestandteil eines revolutionären Prozesses, waren - auf ganz spezifische Weise - Volksbewegungen in einer Revolution; sie reichten in ihrer Vielfalt von egoistischen bis zu staatspolitischen Dimensionen und wirkten als Triebkraft einer gesellschaftsverändernden Reformbewegung. 3. Die Rolle der Obrigkeiten in Wechselwirkung mit den Volksbewegungen Unter den Bedingungen noch bestehender feudaler Bindungen und patriarchalischer Abhängigkeiten sowie geringer Politisierung und Ideologisierung kam den obrigkeitlichen Reaktionen eine besondere Bedeutung für den Verlauf der Volksbewegungen zu. Im Sinne einer ganzheitlichen Sicht auf den revolutionären Prozess habe ich diese Wechselwirkungen (die nicht als reines Gegeneinander zu beschreiben sind) in meinem Buch Volksbewegung und Obrigkeiten. Revolution in Sachsen 1830/31", Böhlau Verlag, Köln/Weimar 1997 (= Geschichte und Politik in Sachsen 3) auf mehreren Ebenen von oben nach unten untersucht: Ich kann aus Zeitgründen hier nur auf einige Aspekte des Wirkens der Kommissare und der örtlichen Beamten als bisher weitgehend unbekannte Vorgänge eingehen: Während man ursprünglich davon ausgegangen war, dass sich nach Leipzig und Dresden keine weiteren schweren Unruhen im Lande ereignen würden, sah sich die außerordentliche Regierungskommission schon am 13. September zur Entsendung des Hof- und Justizrates Gruner nach Chemnitz veranlasst. Da in den folgenden Tagen das Erzgebirge und das Vogtland fast flächendeckend von Volksbewegungen erfasst wurden, wurde am 26. September eine förmliche Kommission für diese Landesteile mit besonderem Auftrag und Truppenunterstützung versehen. Nachdem Kommissar Gruner vom 23. bis 26. September mit Hilfe des Militärs die obrigkeitliche Gewalt im Vogtland weitgehend wieder hergestellt hatte, wandte er sich mit seinem Kollegen von Mangoldt dem Erzgebirge zu. Die Kommissare regelten kraft ihrer Autorität und bei wichtigen Dingen in Abstimmung mit der Dresdner Kommission viele Angelegenheiten gleich vor Ort und waren dabei immer darauf bedacht, Konfliktstoff zu entschärfen. So vermittelte Gruner in der energischen antimagistratischen Bewegung in Crimmitschau den Rücktritt der angegriffenen Ratsmitglieder, verhinderte aber die von der Opposition geforderten sofortigen Neuwahlen und setzte stattdessen selbst neue Stadträte ein. Gedeckt von der Regierung, legitimierte er den faktischen kommunalen Machtwechsel und stützte sich dabei sogar bis zu einem gewissen Grad auf den Oppositionsführer Schwedler, der ihm dafür die Erhaltung der Ruhe garantierte! Besonders in den unruhigen Gebirgsgegenden gelang es den Kommissaren, mit rücksichtsvollem Vorgehen die Unruheherde einzudämmen. Mangoldts Anweisung an den Gerichtsdirektor zu Beierfeld, "alles zu vermeiden, was Aufsehen macht und Erbitterung erregen kann", belegt sehr anschaulich die Absichten der Kommissare im Erzgebirge und im Vogtland. In diesen gewerbe- und bevölkerungsreichen Regionen, wo die Unzufriedenheit recht massiv zutage getreten war und noch weiter schwelte, war in erster Linie Schadensbegrenzung nötig. Dazu musste man auf die örtlichen Verhältnisse eingehen und vor allem die wirtschaftliche Krisen- und daraus folgende soziale Notlage berücksichtigen. In Abstimmung mit den lokalen und regionalen Beamten wurden deshalb solche Maßnahmen wie Straßenbauarbeiten, Holzbereitstellung, Finanzhilfen an Fabrikanten zur Aufrechterhaltung der Produktion, Aussetzung oder Erlass von Abgaben und Strafen, aber auch Absetzung verhasster lokaler Exekutivbeamter und Klärung von Missständen in der Kommunalverwaltung ergriffen. Die Einsetzung besonderer Kommissare für die am stärksten von den Unruhen erfassten Regionen auf dem Höhepunkt der dortigen Protestbewegungen erwies sich als eine sehr geschickte und wirksame Maßnahme. Auch die persönlichen Eigenschaften und Intentionen der Kommissare trugen wesentlich zum Erfolg dieser Mission bei. Sie erkannten den Zusammenhang vieler Proteste mit der Veränderungsbedürftigkeit der bis dahin herrschenden gesellschaftlichen und politischen Zustände und setzten Ausgleich und Beschwichtigung vor Repression. Damit trugen die Kommissionen als außerordentliche Einrichtungen des Staates entscheidend zur Eindämmung, Unterdrückung oder Kanalisierung der Volksbewegungen und auch zur Umformung der Protest- in Reformenergien bei. Am intensivsten waren die Wechselwirkungen von Volksbewegung und Obrigkeiten auf der untersten Ebene. Während ein großer Teil dieser unteren Amtspersonen als Protestobjekte Zielscheiben des Volkszornes waren, gelang es einem anderen, kleineren Teil, mit taktisch geschickten Gegenmaßnahmen die Volksbewegungen einzudämmen und teilweise in gewaltlose Bahnen zu kanalisieren. Dabei kam ihnen die Kenntnis der lokalen Verhältnisse und der Mentalität der Leute zugute. Die Gerichtsdirektoren Schink in Limbach, Beutler in Mylau, Ackermann in Elsterberg, Beyer in Auerbach, Ortsinspektor Porsche in Seifhennersdorf/Zittau, Stadtrichter Speck in Reichenbach oder Stadtschreiber Todt in Treuen fingen mit bemerkenswertem Engagement für die in der Regel passiven und verunsicherten lokalen Herrschaften den Anprall der Volkserhebungen ab. Die genannten lokalen Unterbeamten wiesen persönliche Eigenschaften auf, die sie in die Lage versetzten, auch in zugespitzten Situationen Einfluss auf andere Menschen ausüben zu können: Tatkraft, Entscheidungsfähigkeit und -freudigkeit, Intelligenz, Verständnis gesellschaftlicher Zusammenhänge, taktisches Geschick, persönliche Integrität und daraus folgende Autorität. Ihre Hauptziele in der Konfliktbewältigung waren die Vermeidung oder Zurückdrängung gewalttätiger Aktionen, das Ablenken des Protestpotentials in friedliche Bahnen, etwa den Weg der Beratung von Beschwerden und anschließender förmlicher Petition oder der Gewährung einstweiliger Zugeständnisse zur Beruhigung der Gemüter. Dabei spielte durchaus die patriarchalische Vorstellung eine Rolle, härtere obrigkeitliche Strafmaßnahmen von den unbesonnenen Untertanen abwenden zu wollen. 4. Generelle Einschätzungen zum revolutionären Prozess: Zwischen dem 2. September 1830 und dem 4. September 1831 wurden im Wechselspiel von Volksbewegung und angestrengter Reformtätigkeit von oben die Grundlagen für die dringend notwendige Modernisierung von Staat und Gesellschaft in Sachsen gelegt. Im Verlauf dieses Jahres vollzog sich eine erhebliche Mobilisierung breiter Bevölkerungskreise für öffentliche Angelegenheiten. Nach den spontanen Aktionen der Straße waren es Beratung von Beschwerden und Wünschen sowie deren mündlicher und schriftlicher Vortrag, Engagement in den Kommunalgarden und Kommunerepräsentantschaften, Wahlhandlungen, Versammlungen und vereinzelte Vereinsbildung, Presse und Flugschriften, Polenbegeisterung und -hilfe. Die Gesellschaft war in Bewegung geraten, die Obrigkeiten waren zeitweise nicht mehr Herr der Lage und zu erheblichen Zugeständnissen gezwungen, Politisierung und Ideologisierung breiterer Schichten wurden eingeleitet. Nach dem letzten Aufbäumen einer eigenständigen Protestbewegung mit den Leipziger Kommunalgardenunruhen Ende August 1831 bildete die Verkündung der Verfassung vom 4. September 1831 den Abschluss des unmittelbaren revolutionären Prozesses, der Revolution im engeren oder eigentlichen Sinn als räumlich-zeitlich begrenztem historischen Ereignis. Damit war ein wesentlicher Schritt bei der Überwindung spätfeudaler Zustände getan und -bei allen durch das konservative Wahlgesetz bedingten Einschränkungen - eine auf konstitutionellem Boden vollziehbare Durchführung weiterer grundlegender Staats- und Gesellschaftsreformen möglich geworden. Die in planmäßiger Verwaltungsarbeit ohne wesentliche politische Turbulenzen seit Ende 1831 durchgeführten Reformen veränderten Staatswesen und Gesellschaft Sachsens grundlegend. Die Revolution von 1830/31 leitete diesen Prozess ein, sie brach die Macht der altadligen Kräfte, welche die längst angedachten und notwendigen Strukturveränderungen blockierten, und machte den Weg frei für die Reformer, die ihren Kurs gegen den Druck weitertreibender Volksbewegungen, hemmender Anhänger der alten Ordnung und äußere Mächte im Konsens mit der Mehrheit des Bürgertums durchsetzten. Der Einschnitt des September 1830 war in der Tat revolutionär: Volksaufstand, Regierungswechsel und Ankündigung grundlegender Staatsreformen bedeuteten einen - den gegebenen Verhältnissen entsprechend optimalen - Bruch mit der Vergangenheit, auch wenn die Verfassung vom 4. September 1831 starke Kontinuitätsstränge zur altständischen Verfassung erkennen ließ. Der Umbruch von spätfeudalen zu bürgerlichen Verhältnissen wurde nicht mit einem Schlag vollzogen. Die Revolution von 1830/31, die allerdings, wie Karl Czok zu Recht feststellte, "unausgereifte Charakteristika" einer Bürgerlichen Revolution trug, bedeutete einen entscheidenden Durchbruch in diesem Prozess. (Siehe auch Anhang 4) © Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Oktober 2001 |