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Ulrich Borsdorf

Hans Böckler – eine historische Leitfigur der deutschen Gewerkschaften?


Die klassisch-idealistische Vorstellung der Bildung eines Menschen, der allmählichen Entfaltung seiner Anlagen bis zur vollen Blüte, ist wegen der Bruchstückhaftigkeit des zu Böckler Überlieferten für ihn nicht in einer kontinuierlichen Groß-Erzählung zu fassen. Deswegen wähle ich in der Überspitzung des Problems der Quellenarmut das Prinzip des pikarischen Romans (Grimmelshausens Simplicissimus ist das herausragende Beispiel dieser literarischen Gattung) und stelle eine Reihe von Umständen und Episoden vor, in der Arbeit und Leben Böcklers bedeutsam aufleuchten. In Ihren Köpfen entsteht dann hoffentlich ein Mosaik, in dem die Umrisse einer Leitfigur erkennbar werden.

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Am 26. Februar 1875 bekam eine ledige Tagelöhnerin im mittelfränkischen Trautskirchen einen zweiten Sohn, Johann Georg. Als sein Vater, ein Dienstknecht, in Fürth das Heimatrecht erlangte, durften die Eltern sich in der Stadt niederlassen und heiraten. Sie erfuhren das Schicksal des ländlichen Proletariats im Industrialisierungsprozess, das in die Städte geschwemmt wurde und dort die Armut und Rechtlosigkeit der städtischen Unterschichten erlebte.

Wie für einen noch nicht erwachsenen Mann der Verlust des Vaters wirkt – Böckler war dreizehn –, ist nur zu vermuten. Hans Böckler musste die Schule verlassen und nun, anstatt sich zum Mechaniker ausbilden zu lassen, zum Unterhalt der Familie beitragen. Er begann eine Lehre als Metallschläger. Als Unrecht empfundene Armut hinderte ihn daran, das zu erlernen, wozu er sich befähigt glaubte.

Die Arbeitsbeziehungen im Blattmetallgewerbe, dessen Zentrum der Nürnberg-Fürther Raum war, sind zwischen Heimindustrie und Manufaktur, im Verlagssystem, anzusiedeln. Einige der proletarisierten Klein-Meister waren selbst Gewerkschaftsmitglieder. Die Nähe

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zum Arbeitgeber und die teilweise Interessenidentität fanden im Schlägergewerbe schon früh in sogenannten Tarifgemeinschaften ihren Ausdruck. In ihnen ging es nicht nur um Fragen von Lohn und Arbeitszeit, sogar die Regelung der Produktion und der Preise konnten Gegenstand der Tarifvereinbarungen sein – ein zünftiger Kapitalismus.

1894 trat Hans Böckler in die SPD und in den Deutschen Metallarbeiter-Verband (DMV) ein. Nürnberg-Fürth war eine Hochburg der bayerischen Sozialdemokratie, ganz von der reformistischen Position Georg von Vollmars geprägt. Bayerns Wahlrecht erlaubte es, dass noch vor der Jahrhundertwende fünf Sozialdemokraten in den Landtag gelangten, nur in Sachsen waren es mehr.

Es waren die ehemals handwerklichen Berufe, die das Gros der Mitgliedschaft in den Gewerkschaften ausmachten. Sie hatten die am besten organisierten Verbände. Aber drei Industriegewerkschaften waren im Entstehen begriffen; der Protagonist des Industrieverbandsprinzips war der selbständige Metallschläger Martin Segitz aus Fürth. Segitz hatte sich auf dem Gründungskongress des DMV zum Wortführer eines Industrieverbands gemacht und sich durchgesetzt. Martin Grillenberger, ebenfalls ein väterlicher Freund Böcklers, gründete in Nürnberg das erste deutsche Arbeitersekretariat, eine sozialpolitische Hilfsstation für Arbeiter im Geiste eines programmatischen Reformismus.

Als Böcklers Mutter wieder heiratete, einen bedeutend jüngeren Mann, ging er nach seiner Lehre auf die Wanderschaft. Das Wandern und die mit ihm verbundene Bildung und Kommunikation, der sich dabei oft auch ergebende politische Zusammenhalt, gehören zu den wirksamen Sozialisationsfaktoren im Leben der beiden ersten Generationen der deutschen Arbeiterführer. Zurückgekehrt, heiratete Böckler die Tochter eines Tünchermeisters, Lona Müller. Drei Kinder zogen sie auf; die Ehe hielt das ganze Leben. Lona Böckler blieb immer auf den Haushalt und die Reproduktion der Arbeitskraft ihres Mannes eingeengt - ein Frauenschicksal in einer Arbeiterehe, die sich ganz der Arbeiterbewegung verschrieben hatte.

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Auch weitere Aspekte der Sozialisation Hans Böcklers gehören in das kanonische Spektrum sozialdemokratischer Kultur. Er war Initiator und Mitgründer eines Arbeiter-Turnvereins und organisierte als Vorsitzender des Gewerkschaftskartells die Maifeiern. Maifeiern hatten in Fürth schon Tradition, als andernorts über sie noch heftig gestritten wurde. Martin Segitz war Teilnehmer des Internationalen Arbeiterkongresses 1889 in Paris gewesen, hatte die Geburtsstunde der II. Internationale also miterlebt.

Die in der Behandlung durch die Behörden, in der nur allmählich weichenden Verweigerung des Bürger- und Wahlrechtes, die in der niederdrückenden ökonomischen Lage sich äußernde Missachtung der Arbeiter durch die städtisch-bürgerliche Gesellschaft fand in den relativen Erfolgen, die von der Fürther Arbeiterbewegung mühsam errungen werden mussten, ein Widerlager. Alles in allem absolvierte Böckler die Schule des praktischen Reformismus.

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Erst siebenundzwanzigjährig in den Fürther Stadtrat gewählt, nahm er 1903 die Stelle eines DMV-Beamten im Saarrevier an. Der DMV hatte in den ersten zehn Jahren seines Bestehens eine stürmische Entwicklung seiner Mitgliederzahlen erlebt. Auch die Erweiterung der gewerkschaftlichen Aufgaben, die Notwendigkeit der Arbeitsteilung und Spezialisierung bei den Gewerkschaftsangestellten, machten Professionalisierung notwendig. Die Zahl der Gewerkschaftsbeamten musste ständig vergrößert werden, Böckler wurde nun einer von ihnen.

In der Festlegung auf den weiteren Ausbau ihrer Organisationen, in ihrer Fixierung auf die Tarif- und Sozialpolitik begannen die Gewerkschaften sich vom Führungsanspruch der Arbeiterpartei zu emanzipieren. Es kann sein, dass die Wogen der Auseinandersetzungen in und mit der SPD die Grundsee der Mitglieder und kleinen Funktionäre nur mäßig bewegten. Vielleicht war dies in den Hochburgen der Arbeiterbewegung so, wie im protestantischen Fürth – in ihren Diaspora-Gebieten ging es noch um andere Dinge.

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Im katholischen "Saarabien" jedenfalls – eine satirische Wortfügung Friedrich Naumanns für die "Pascha-Herrschaft" der Unternehmer – gingen die Uhren noch bis zum Ersten Weltkrieg anders. War im bayerischen Fürth die Arbeiterbewegung diskriminiert – an der Saar war sie mit einer Härte unterdrückt, wie sie im übrigen Reichsgebiet selbst während des Sozialistengesetzes (1878-90) kaum noch üblich gewesen war. Der vormalige Fürther Stadtrat Böckler musste hier gleichsam in die Illegalität. Das mit "Stickluft" gefüllte "Saarabische System" (Max Weber) war das Werk einer jahrzehntelang beherrschenden Figur, des Unternehmers Carl Ferdinand von Stumm-Halberg. Erst nach dessen Tod sahen die Arbeiterorganisationen eine Möglichkeit, auch dort Tritt zu fassen.

Das kleine Team der Gewerkschafter und Sozialdemokraten an der Saar war jung und dynamisch; aber auch bei optimistischer Einschätzung war mit einem organisatorischen Durchbruch der Arbeiterbewegung nicht so bald zu rechnen. Statt einer immer selbstbewusster werdenden Arbeiterschaft erlebte Böckler an der Saar die befriedeten Arbeiter der Schwerindustrie; an die Stelle der Chancen politischer Partizipation trat jetzt der Kampf gegen die offene Unterdrückung.

Neu für Böckler war auch eine Erkenntnis, die er in einer Agitationsbroschüre unter dem Titel "Es werde Licht. In ernster Zeit ein ernstes Wort an die Hüttenleute und Metallarbeiter!" so formulierte: "Da ist jeder Gewerkschafter ein Sozialdemokrat, ein Vaterlandsfeind, ein Gottloser, der die Religion abschaffen will." Von der Jahrhundertwende an hatte auch die Arbeit der christlichen Gewerkschaften eingesetzt und in ihrem Erfolg die Sozialdemokraten wohl schnell übertroffen. Böckler klagte: "Kollegen, gibt es denn im Saargebiet dreierlei Hunger und sind deshalb dreierlei Organisationen für die Hüttenarbeiter notwendig? Wir sagen: Nein! Und abermals: Nein!"
Zwar betrug der Zuwachs an DMV-Mitgliedern nach Böcklers Arbeit an der Saar 246 Prozent, in absoluten Zahlen eine Steigerung von 65 auf 225 Mitglieder. Die davon ausgehenden Frustrationen dessen, der versuchte, mit Idealismus und Einsatz hier eine Wende herbeizuführen, waren sicher schwer zu bewältigen. Böckler musste die, für die er sich einsetzen wollte, erst aus der Lethargie erwecken. Licht ward aber lange noch nicht.

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Als Böckler im Reichstags-Wahlkreis Saarburg-Merzig-Saarlouis 1907 erstmals kandidierte, war die Ausgangssituation der Sozialdemokraten der Saar denkbar ungünstig. Böckler musste gegen den Industriellen René von Boch, einen katholischen Nationalliberalen, und natürlich gegen einen Zentrumskandidaten antreten. Die Niederlage wurde von der sozialdemokratischen 'Saarwacht' so kommentiert: "Man darf nicht vergessen, dass die Arbeiter des Saarreviers politische Säuglinge sind, die sich von jedem politischen Gaukler [...] leithammeln lassen. Aber unsere Mitglieder sind ausnahmslos feuerfeste Sozialdemokraten, die dem Teufel nicht weichen, die auch aus Misserfolgen lernen; und aus diesen am meisten". Was zu beweisen sein würde.

Die Katholizität an der Saar hatte auch ihre Vorteile. Die Bewältigung der Wahlniederlage mündete in den Karneval, Böckler leitete den Festausschuss eines Unterhaltungsabends, auf dem sich die geschlagenen jungen Matadoren über den Richtungsstreit oben in der Partei lustig machten und es ablehnten, in den Feiern eine "Verzögerung der Revolution" zu erblicken. Indem die SPD in den Stichwahlen ihre zahllosen Wähler zur Wahlenthaltung aufgerufen hatte, fügte sie immerhin dem Zentrum Niederlagen zu, ohne allerdings damit die Revolution über Gebühr zu beschleunigen.

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Zwischen 1907 und 1920 hielt Böckler sich hauptsächlich in Frankfurt am Main, Breslau und Berlin auf. Die regionale Mobilität der Gewerkschaftsfunktionäre vor dem Ersten Weltkrieg war immens und im Sinne der Kontinuität ihrer Beziehungen zu den Mitgliedern dysfunktional. In der ehemaligen freien Reichsstadt Frankfurt herrschte eine relativ liberale Atmosphäre, mehrheitlich demokratisch, antipreußisch und föderalistisch. Böckler konnte sich in der örtlichen Arbeiterbewegung nicht exponieren; wäre nicht aus dieser Zeit die Anekdote überliefert, Böckler sei von der im Kollegenkreis beschlossenen Gründung eines Abstinenzlervereins – auch das ein wichtiger Bestandteil der Arbeiterkultur – wegen eines ausgiebigen "letzten" Alkoholgenusses in Form des Sachsenhausener "Äppelwois" sturz-

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betrunken nach Hause gekommen, wir wüssten über diese drei Jahre noch weniger.

In Breslau ähnelten die Probleme und politischen Konstellationen denjenigen, die er an der Saar kennengelernt hatte. Der DMV-Bezirk, den er jetzt leitete, gehörte zu den drei schwächsten des Reiches; die Mitgliederdichte zwischen Görlitz und Königshütte war gering. Böckler blieb auch hier ein Reisender in Gewerkschaftsdingen. Höhepunkt, aber auch schon Abschluss der Arbeit Böcklers in Schlesien war die Leitung eines sehr teuren, wochenlangen, allerdings letztlich erfolgreichen Angriffsstreiks bei den Waggonfabriken in Görlitz im Jahre 1912.

Kurz darauf siedelte die Familie Böckler nach Berlin über. Böckler konnte die Früchte seiner Leistungen in Breslau nicht mehr ernten. Die Fertigstellung eines von ihm mitgeplanten Gewerkschaftshauses konnte er nicht mehr mitfeiern, und als dort 1913 zum ersten Mal eine Generalversammlung des DMV im "östlichsten Vorposten [...] der Organisation" tagte, war er nicht dabei. Man wird den - mündlich überlieferten - Grund für den Wechsel nach Berlin akzeptieren müssen, dass Böckler offenbar einer bürotechnischen Entwicklung erlegen war, der Einführung der Schreibmaschinen auch in den Gewerkschaften, die das Eintreten von Frauen in die Büros der Gewerkschaften begünstigte. Und in der deutschen Arbeiterbewegung wurde der Moralkodex sicher nicht weiter gefasst als in anderen gesellschaftlichen Schichten – im Gegenteil.

Die Böcklers schienen die Berliner Station als etwas Endgültiges aufzufassen. 1913 erwarb der Bayer Böckler auf eigenen Antrag die preußische Staatsangehörigkeit. Damit war auch einer Rückkehr in seine Heimat, die vorher noch wünschenswert erschienen sein mochte, eine subjektive Barriere vorgeschoben. Alles hatte den Anschein, als ginge es nun – Böckler war Ende dreißig – in gefestigten Bahnen.

Die Entfesselung des Ersten Weltkrieges machte die Perspektiven des mählichen Fortschritts jedoch zunichte. 1914 wurde Hans Böckler zum Landsturm eingezogen; er erlitt Ende 1915 einen Fußdurchschuss; der vierzigjährige Unteroffizier wurde als nicht mehr "feld-

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dienstverwendungsfähig" entlassen. Der Feld-Dienst in den Gewerkschaften ging weiter.

Böckler hat später zum Kriegsausbruch mit einem apologetischen Unterton Stellung genommen: "Lassen Sie uns dann und wann doch einmal an das Riesenmaß von politischer Dummheit, von politischer Gleichgültigkeit, ja Ignoranz denken, das wir damals zu verzeichnen hatten, als das große Unglück losbrach. Ich bitte inständigst jeden und jede, sich doch einmal auf die eigene Haltung in jenen kritischen Tagen des Jahres 1914 zu prüfen."

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Der Weltkrieg brachte in den Freien Gewerkschaften neue Strukturen hervor. Das galt sowohl für die innerorganisatorischen Verhältnisse und die Beziehungen zur SPD als auch für die Funktionen der Gewerkschaften gegenüber Staat und Unternehmern. Die latenten Spannungen zwischen den Praktizisten in den Gewerkschaftsführungen und jenen, die über Tageserfolge hinaus auch in und mit gewerkschaftlicher Aktion die Überwindung des kapitalistischen Systems konsequent betrieben sehen wollten, weiteten sich nun zu einem offenen Konflikt aus. Der Riss in der SPD musste auch das Verhältnis der Gewerkschaften zur Partei verändern: Der Neutralitätsgedanke in den Gewerkschaften brach sich einerseits noch stärker Bahn, die Differenzen griffen andererseits in den gewerkschaftlichen Bereich über, eine Spaltung der Gewerkschaften blieb jedoch aus.

Die vom Ersten Weltkrieg eingeleitete Veränderung in der Mitgliedschaft - ein mehr als nur quantitativ bedeutender Mitgliederzuwachs vor allem aus dem Bereich der Großindustrie, die stärkere Einbeziehung von Frauen und die weiter steigende Fluktuation - hob den gewerkschaftlichen Apparat noch deutlicher von der Masse der Mitglieder ab. Unter ihnen nahm die Zahl der gewerkschaftlich nicht Erfahrenen zu. Für die Spitze wurden diese immer schwerer kalkulierbar. Teile der Mitgliedschaft waren im Verlauf des Krieges nicht mehr bereit, die Kompromisse mitzutragen, die von den Gewerkschaftsführungen geschlossen wurden. Die Erfolge, deretwegen diese Kompromisse eingegangen wurden, die Abwendung von Schlimme-

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rem und eine schrittweise Anerkennung der Gewerkschaften zunächst durch den Staat und schließlich auch durch die Unternehmer, konnten weder den Hunger noch die unbestimmten Sehnsüchte nach einer grundsätzlichen Erneuerung der in scheinbarer Agonie befindlichen kapitalistischen Gesellschaft stillen.

Die Überzeugung, Deutschland führe einen Verteidigungskrieg, kam auch in den Gewerkschaften bald ins Wanken. Im DMV regte sich Opposition gegen die Linie der Verbandsführung immer stärker. Die Gewerkschaftsführungen ordneten sich mit der Zustimmung zum Kriegshilfsdienstgesetz dem Gebot des Krieges, der militärischen Mobilisierung und zivilen Immobilisierung, unter. Die Funktion der Gewerkschaften wurde in Richtung auf eine Arbeitskraftverwaltung in einem (immobilen) System mit korporatistischen Zügen verändert. Die Führungen mussten die wachsende Opposition einhegen, die sich auch gegen das Kriegshilfsdienstgesetz richtete, und gegen die Unternehmer zu argumentieren, die sich weigerten zu verwirklichen, was die Gewerkschaftsführungen für ihre bahnbrechenden Erfolge hielten.

Böckler geriet zwischen diese Fronten. Er hatte bis zu diesem Zeitpunkt seine Erfahrungen mit den bisher organisationsresistenten, jetzt sich radikalisierenden Arbeitern gemacht, so dass es nicht nur Opportunismus war, der ihn zu einem konsequenten Verfechter der offiziellen DMV-Linie werden ließ. Die Zugehörigkeit zu seiner Generationskohorte und seine Sozialisation hätten einen Wechsel zur USPD-Fraktion im DMV ganz unwahrscheinlich, später zur KPD undenkbar gemacht.

Böckler wurde in der Folge Sekretär der Zentralarbeitsgemeinschaft (ZAG), und bekleidete zahlreiche Posten in den Institutionen dieses unverwechselbar deutschen Anlaufs zu einer Strukturreform der Wirtschaft. Er erlebte sie auf einer Ebene, auf der viel gerungen und endlos taktiert, aber wenig entschieden und schließlich doch nichts erreicht wurde
An der ZAG schieden sich im DMV die Geister. Auf dem politisch aufgeladenen DMV-Kongress von 1919 nahm Böckler zur Arbeitsgemeinschaft mit der Bemerkung Stellung: "Ich zähle nicht zu den Vätern der Arbeitsgemeinschaft und leider auch nicht zu den führe-

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nden Männern. Ich bin rein zufällig zur Arbeitsgemeinschaft gekommen und das subalterne Verhältnis ermöglicht mir eine vollständig objektive Stellungnahme zu den Dingen." Die ironische Logik dieses Zusammenhangs blieb dunkel, doch Böckler steuerte sogleich den zentralen Punkt an: Es gehe bei der ZAG nicht um eine Interessengemeinschaft oder gar -identität, mit der Arbeitsgemeinschaft höre der Klassenkampf nicht auf. Seine persönlichen Erfahrungen mochten ihm dies nahegelegt haben, doch für die zur Mehrheit gewordene Minderheit im DMV konnte das kaum plausibel sein.

Gegen die Meinung, der Kapitalismus liege am Boden, wandte er ein: "Mit dem Herzen betrachtet" könne man dem zustimmen, doch "mit dem Verstande gesehen, habe man zwar einen beinahe völligen Zusammenbruch unserer deutschen Volkswirtschaft" erlebt, in Wirklichkeit aber habe sich der "Industriekapitalismus in der Kriegszeit vollgesogen bis nahezu zum Platzen".

Eine Dolchstoßlegende der Arbeiterbewegung kreierend, schilderte er die revolutionären Ereignisse des vorangegangenen Jahres so: "Der Kapitalismus steht immer noch auf beiden Füßen [...] er hatte für ihn recht bedrohliche Stunden [...] in den ersten Tagen des November, als sich die Millionen in Marsch gesetzt hatten und die Front genommen hatten gegen den Kapitalismus auf der ganzen Linie. Da konnte dem Kapitalismus wahrhaftig nicht recht geheuerlich zumute sein. Aber in dem Augenblick, wo der linke Flügel dieses Millionenheeres, das sich mit der Front gegen den Kapitalismus in Marsch gesetzt hatte, einschwenkte und seinen Stoß statt gegen den Kapitalismus, gegen das Zentrum und den rechten Flügel der anmarschierenden Front des Proletariats richtete, in dem Augenblick konnte sich der Kapitalismus gratulieren zu dem, was ihm gegen all seine Hoffnung so unerwartet in den Schoß fiel." Das war angesichts der Mehrheitsverhältnisse nicht gerade eine opportunistische Darstellung, sie brachte ihm aber noch nicht einmal Beifall von der eigenen Fraktion.

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Der DMV der zwanziger Jahre wurde eine andere Organisation als die, in der Böckler zwei Jahrzehnte vorher seine Laufbahn begonnen hatte. Die Zusammensetzung der Mitgliedschaft, die Aufgaben in Wirtschaft und Politik wandelten sich. Die Spaltung der Arbeiterbe-

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wegung in verschiedene politische Lager wurde tägliche Wirklichkeit auch der gewerkschaftlichen Arbeit. Böckler entwickelte angesichts der politischen Fraktionierung des DMV eine zentristische Position. Sie war im sozialdemokratischen Spektrum wohl eher rechts anzusiedeln und sah in der Organisation das höchste Gut der Arbeiterbewegung, was mit einem latenten Misstrauen gegen die immer wieder in Erscheinung tretende Radikalität von Teilen der Arbeiterschaft einherging. Der DMV war von dem riesigen Zustrom und anschließenden Exodus von Mitgliedern in den politischen Folgen des Kapp-Putsches und der Inflation und dem schleichenden Generationenkonflikt zwischen Apparat und Basis zum Zerreißen gespannt.

Die Niederlage der alten DMV-Führung traf Böckler tief, zumal offenbar auch er das Scheitern der ZAG als größte Enttäuschung seines bisherigen politischen Lebens verbuchen musste. Zu unbedeutend, um mit einem gewichtigen Posten "abgefunden" werden zu müssen, und politisch zu sehr festgelegt, um im DMV auf jetzt höherer Ebene tragbar zu sein, zu alt und zu sehr Gewerkschaftsbeamter, blieb ihm wohl nichts, als wieder die Arbeit zu tun, die ihm vertraut war: als Funktionär "vor Ort".

Im rheinischen Köln, von 1920 an Böcklers Heimat, der Hochburg des politischen Katholizismus, konkurrierte die sozialdemokratische Arbeiterbewegung mit dem linken Flügel des Zentrums und den christlich-katholischen Gewerkschaften. Die Erfahrung dieser Überschneidungen auf der einen Seite und die Distanz zu den Kommunisten auf der anderen – sie waren vom Beginn der zwanziger Jahre an im Kölner Stadtrat die zweitstärkste politische Kraft – erforderten großes politisches Geschick. Die beherrschende Figur der Kölner Sozialdemokratie war der sechs Jahre jüngere Redakteur der Rheinischen Zeitung, Wilhelm Sollmann. Böcklers Vorgänger war Exponent des 1919 in die Minderheit geratenen rechten Flügels des DMV gewesen. Indem Adenauer diesen in das Amt eines Beigeordneten der Stadt Köln berief, schuf er die Voraussetzungen für Böcklers Wechsel nach Köln.

Man gewinnt den Eindruck, als habe Böckler sich im Stadtparlament die besondere Achtung nicht nur seiner Fraktionskollegen, son-

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dern "der Herr Böckler" hatte auch die Konrad Adenauers erworben. Er war sowohl in der Lage, den eifernd-treuherzigen Radikalismus der Kommunisten als auch die unverblümte Interessenpolitik der bürgerlichen Stadtverordneten ironisch aufzuspießen und deren christlichem Teil ans moralische Portepée zu fassen. Böckler war auch imstande, der arroganten Spitzfindigkeit Adenauers, hinter der sich fast immer eine taktische Variante autoritär-konservativer Verwaltungslist verbarg, eine in sich souveräne, bedächtig-ehrliche Position entgegenzusetzen. Die Innigkeit der freundlichen Gegnerschaft dieser beiden Politiker, geniale Simplizität, gerissene Geschicklichkeit und Durchsetzungskraft auf der Seite des einen, humorvolle Schlichtheit, moralischer Ernst und Beharrungsvermögen auf der des anderen, sind biografische Anteile eines Abschnitts der Geschichte, den sie mitgeprägt haben.

Das Verhältnis Adenauer-Böckler wird nirgends besser greifbar als in einer kommunalpolitischen Episode, dem Kölner Brückenstreit: 1927 sollte bei Köln-Mülheim mit dem Bau einer Rheinbrücke begonnen werden. Ein spezieller Ausschuss – dem Böckler vorsaß – wurde gebildet, eine Jury eingesetzt, die sich beide für eine Bogenbrücke entschieden. Ein Beschluss, eine solche Brücke bei der Firma Krupp in Auftrag zu geben, schien nur noch eine Formsache zu sein. Doch Konrad Adenauer, der sich in den Vorberatungen nicht für eine Bogen-, sondern für eine Hängebrücke eingesetzt hatte, ließ von seinem Plan nicht ab. Adenauer hatte im Rat seine Ausführungen mit einem Gedanken zur Ästhetik von Brücken eingeleitet: "Das Wesentliche einer jeden Brücke besteht in der Herüberführung einer Straße über einen Fluß." Das war schwer zu widerlegen. Nur eine Hängebrücke, so Adenauer, könne dieses Wesentliche zum Ausdruck bringen, und nur sie passe in das Kölner Rheinpanorama. Wichtiger als dies schien ihm aber wohl die Tatsache, dass für eine Hängebrücke Kabel von der Köln-Mülheimer Fabrik Felten & Guilleaume geliefert werden konnten. Der Direktor dieses Unternehmens war Mitglied der Zentrumsfraktion des Kölner Stadtparlaments.
Adenauer konnte sich bei der bevorstehenden Abstimmung wohl noch nicht einmal der ihm nahestehenden Fraktion sicher sein. Deshalb suchte er verlässliche Bündnispartner, die er bald fand: Die KPD beteuerte zwar, Adenauer sei "einer der geschworendsten [!] Arbeiterfeinde, die es gibt" und "ein Beauftragter der kapitalistischen Gesell-

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schaft", trotzdem trete sie – entgegen ihrer ursprünglichen Stellungnahme – nun für eine Hängebrücke ein. Das Argument, diese sei teurer als eine Bogenbrücke, sei für die KPD nicht gewichtig. Man wolle die beste aller nur möglichen Brücken, da die "heutige Gesellschaftsordnung in Deutschland keine Ewigkeitsdauer" habe und man wolle nachher, "im proletarischen Staate", nicht gezwungen sein, "den Neubau sämtlicher Brücken vorzunehmen". Außerdem wies der KPD-Sprecher darauf hin, "daß von den sechs Brücken, die in Leningrad über die Newa führen, keine einzige eine Bogenbrücke ist". Dieses Argument soll Adenauer der KPD-Fraktion souffliert haben, doch ist dies genausowenig erwiesen wie die Behauptung, es habe zwischen dem Direktor von Felten & Guilleaume und den Kommunisten, die in der Arbeiterschaft dieses Unternehmens stark waren, eine Unterredung gegeben.

Als Böckler in die Debatte eingriff, verließ Adenauer "fluchtartig" den Verhandlungssaal. In Anspielung auf die nach Einmischung von Wilhelm II. als Bogenbrücke gebaute Hohenzollern-Brücke sagte er: "Es ist uns allesamt nicht zur Freude gewesen, daß, wenn früher der Alleröberste pfiff, dann das ganze Bürgertum gehorsamst einschwenkte. Aber hier auf diesem Stuhle (zeigt auf den Stuhl des Oberbürgermeisters) saß eben noch einer und wird sich gleich wieder jemand einfinden, der es in bezug auf Selbstherrlichkeit mit dem selig entschlafenen Herrscher des führenden Deutschlands doch sehr wohl aufnimmt." Böckler ließ es sich nicht entgehen, die ungewöhnlichen Koalitionspartner Adenauers zu verspotten: "Heute pfeift hier der Oberste, da schwenkt nur die Hälfte des Bürgertums ein; damit der Oberste aber zu seinem Willen kommt, füllen die Kommunisten die Lücke". Das Protokoll verzeichnet an dieser Stelle lebhaftes Bravo und stürmische Heiterkeit.

Es gelang Böckler nicht, die Hängebrücken-Koalition auseinanderzubringen. Die Kommunisten verweigerten eine Aufhebung des Fraktionszwanges mit dem Hinweis auf den demokratischen Zentralismus in ihrer Partei. Ihm verdankte Adenauer seinen Sieg. Fortan hing die Reinzeichnung des Bogenbrücken-Entwurfs gerahmt über Böcklers Schreibtisch. Im "Circus Adenauer", wie das Stadtparlament spöttisch genannt wurde, ergriff er aber fortan nicht mehr das Wort.

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Im Sommer 1927 führten die Kölner Metallarbeiter unter Böckler einen erbitterten Arbeitskampf, der um die Rückkehr zum 8-Stunden-Tag, von den Unternehmern mit dem Willen zu kategorischer Ablehnung dieser Forderung geführt wurde. Die Kölner Metallindustriellen waren bereit, einer Verkürzung der Arbeitszeit zuzustimmen, entschieden lehnten die Unternehmer jedoch den Lohnausgleich ab. Der Spruch des Schlichtungsausschusses kam den Gewerkschaften in der Arbeitszeitfrage ein wenig entgegen, den Unternehmern jedoch ein wenig weiter, ein Lohnausgleich war nicht vorgesehen. Als die Tarifkommission beschloss, den Schiedsspruch abzulehnen, verhängten die Arbeitgeber die Aussperrung der etwa 16.000 Kölner Metallarbeiter.

An diesem Punkt schaltete sich Adenauer – vielleicht auf Böcklers Veranlassung – in den Konflikt ein. Adenauer telegrafierte dem Reichsarbeitsminister Brauns, der ernannte einen Beamten seines Ministeriums zum Sonderschlichter, welcher sofort in Aktion trat. Praktisch schlichteten auf diese Weise der Reichsarbeitsminister und Adenauer selbst den Kölner Arbeitszeitkonflikt. Die gewerkschaftliche Tarifkommission lehnte seinen Schiedsspruch als "Geschenk an die Arbeitgeber" ab, der tags darauf für verbindlich erklärt wurde. Nach vier Wochen Streik und drei Wochen Aussperrung wurde die Arbeit wieder aufgenommen.
Der Kölner Metall-Arbeitskampf des Jahres 1927 - an einem der "neuralgischen Punkte der Weimarer Sozialverfassung", dem 8-Stunden-Tag, geführt - hatte exemplarische Bedeutung; er war eine Generalprobe: Der Ruhreisenstreit warf seine Schatten voraus. Die Arbeitgeber fassten eine Woche nach dem Kölner Schiedsspruch den Entschluss, einen Kampffonds einzurichten. Sie bereiteten sich planmäßig auf eine große Auseinandersetzung vor.

Böckler wurde es im "Kölner Klüngel" zu eng, ihn zog es wieder zu "höheren" Aufgaben. Er übernahm die Leitung des Bezirkes Rheinland-Westfalen der Freien Gewerkschaften, der mit etwa 450.000 Mitgliedern einer der bedeutendsten des ADGB war. Böckler hatte nun die ganze Bandbreite gewerkschaftlicher Organisationsprobleme vor sich: die Großbetriebe der Schwerindustrie und der Chemie mit

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ihren ausgeprägten Konzepten betrieblicher Sozialpolitik, die Zechen des Ruhrgebiets und der Emscherzone, mit einem "Radikalitätsgefälle" von Hamborn nach Hamm – ähnlich dem Unterschied zwischen den Metallarbeitern in Solingen/Remscheid und denen in Bielefeld. Böckler war der direkten gewerkschaftlichen Aktion allerdings jetzt entrückt und nahm gewissermaßen eine allgemein-gewerkschaftspolitische Funktion wahr. Dass ihn eine weitere Karriere reizte, ist offensichtlich:

Für die Reichstagswahlen des Jahres 1928 hatte sich Böckler, wie auch 1924, an dritter Stelle der SPD-Liste plazieren können, dieses Mal hatte er Erfolg. Das fällige Überhangmandat ging an den Drittplazierten. Das war nicht gerade glanzvoll; eher war es das Ende einer Reihe von Niederlagen. Böckler hatte binnen eines Jahres den Wechsel von der DMV-Ortsverwaltung zum ADGB–Bezirk, von Köln nach Düsseldorf und vom Kölner Stadtparlament zum Reichstag, von Köln nach Berlin vollzogen.

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Die Laufbahnen von Partei- und Gewerkschaftsfunktionären, die noch um die Jahrhundertwende eng zusammenhingen, verselbständigten sich spätestens in der Zeit der Weimarer Republik. Ein Wechsel dieser Laufbahnen – etwa ein Drittel aller sozialdemokratischen Abgeordneten hatte irgendwann einmal eine hauptamtliche Gewerkschaftsfunktion wahrgenommen – verlief stets nur in einer Richtung, nämlich von der Gewerkschaft zur Partei.
Der SPD-Reichstagsfraktion gehörten elf Spitzengewerkschafter an, Mitglieder des ADGB-Vorstandes und Vorsitzende von einzelnen Verbänden. Die Gewerkschaftsgruppe in der SPD-Fraktion von 1928 war noch ein wenig älter als die Gesamtfraktion; das Durchschnittsalter insgesamt betrug 52,5 Jahre, bei den Gewerkschaftern lag es bei 56 Jahren. Es ist wenig zweifelhaft, dass auch die Gerontokratie in der SPD und in den Gewerkschaften, zusammen mit anderen Bedingungen der Apparatstruktur, die Flexibilität dieser Organisationen, ihre Integrations- und Innovationskraft nicht gestärkt hat, so dass sie auch von daher den sich neu stellenden Anforderungen des erschütterten wirtschaftlichen und politischen Systems und der darin ablaufenden Prozesse offenbar nicht gewachsen war.

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Böckler passte in den politischen und sozialen Hintergrund der Fraktion, und zumal der Gewerkschafter in ihr, so bruchlos, dass er – wie so oft – fast nicht zu erkennen ist. Ein Foto im Reichstagshandbuch von 1928 zeigt Böckler mit vollem Gesicht, mit kurzem Haar, etwas buschigen Augenbrauen, einer Andeutung von Schnurrbart und einem steifleinenen Windsorkragen. Das war eine Mode, an der sich im Reichstag offenbar die Schichten und Generationen schieden. In der SPD-Fraktion trug nur ungefähr ein Drittel der Männer solche Kragen, bei den bürgerlichen Parteien waren es weit mehr. In der KPD-Fraktion gab es niemanden, der dieses offenbar altmodisch-bürgerliche Accessoire schätzte – bis auf einen, und das war der älteste KPD-Abgeordnete, ausgerechnet der einzige Gewerkschaftsführer in der KPD-Fraktion.

Böckler war im Reichstag ein Hinterbänkler in des Wortes ganzer Bedeutung. Keiner der Sozialdemokraten jener Zeit, die Memoiren geschrieben haben, erinnert sich des Reichstagsabgeordneten und ADGB-Bezirksleiters Hans Böckler, weder Friedrich Stampfer, mit dem Böckler von 1932 an sein Abgeordnetenzimmer teilte, noch Wilhelm Keil, weder Carl Severing noch Paul Löbe. Von Kurt Schumacher, 1930 als 35jähriger in den Reichstag gewählt, sind die Sätze bekannt: "[...] dort habe ich ihn kennengelernt: im Deutschen Reichstag als einen Menschen von einem natürlichen, freundschaftlichen Empfinden, der den jungen Menschen als gleichwertig behandelte, und damals habe ich begriffen: wehe dem, der es wagen würde, umgekehrt Hans Böckler die Gleichwertigkeit zu versagen." Diese Erkenntnis hat er allerdings erst am Grabe Böcklers geäußert.
Böckler blieb sich auch während seiner fünf Jahre im Reichstag insofern treu, als er es mit einer einzigen Rede (am 22. Juni 1929) in fünf Jahren bewenden ließ. Er sprach zur Haushaltsvorlage des Reichsministeriums für die besetzten Gebiete. Böckler wurde mehrmals von Zustimmung aus den Reihen seiner Fraktion unterbrochen, und ein "Bravo!" begleitete sogar das Ende seiner Ausführungen, angesichts der Trockenheit des Themas ein Erfolg. Die Lage der besetzten Gebiete konnte er aus langer Kenntnis gut beurteilen. Er tat dies, anders als die – auch sozialdemokratischen – Debattenredner nicht im nationalistisch-völkischen Ton, sondern argumentierte wirtschafts- und strukturpolitisch. Er forderte die Lenkung von öffentli-

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chen Mitteln, von Investitionen und Aufträgen in diese Gebiete unter "Mitwirkung der wirtschaftlichen Organisationen": Wirtschaftsförderung und -lenkung mit Drittelparität; eine Idee, in der quasi Arbeitsgemeinschaftspolitik und Wirtschaftsdemokratie zusammenfielen.

Böckler ist nie ein Debattenredner geworden. Seine Jungfernrede im Reichstag war wohlvorbereitet, kein Produkt des Augenblicks. Er war nicht brilliant, aber auch nicht polarisierend, sondern integrativ und kompromissbereit. Er beherrschte durchaus verschiedene Sprachebenen und Redestile. Gab er sich im Reichstag eher zurückhaltend, so konnte er doch auch, vor heimischem Publikum, tief in das Pathos-Repertoire donnernder sozialistischer Kampfesrufe des 19. Jahrhunderts greifen.

So sagte er in seiner Mairede des Jahres 1929 im Kölner Volkshaus: "Wieder feiern wir den Festtag, den sich das Proletariat ertrotzt und abgetrotzt hat von der Reaktion, von den Mächten der Finsternis, Tag der Freude, Tag ernsten Denkens, Tag auch des Protestes, Tag glühender Wünsche, Tag des Gelöbnisses, Tag der eigenen inneren Erneuerung [...] Kampf gegen die Fron der Arbeit in Sonnenglut und Windeskälte, in Staub und Gas und giftigen Dämpfen, an glühenden Öfen und in der Finsternis des Erdinnern, Kampf gegen die maßlose Ausbeutung der Kinder; die Parole der Zukunft: Her mit einem menschenwürdigen Arbeitsstag! [...] Nieder mit Herrsch-, Rach- und Raffsucht, die uns immer wieder neues Massenmorden bescheren. Kampf gegen den Kapitalismus, die Wurzel aller Kriege." Das von ihm gern gewählte Genre der säkularisierten Predigt brach sich Bahn in einer kämpferischen Sprache, die in einem auffälligen Widerspruch zur ernüchternden Wirklichkeit jener Tage stand. Aber er wurde das, was die "Rheinische Zeitung" inzwischen für ihn als Bezeichnung ersonnen hatte: ein rheinischer Gewerkschaftsführer.

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Nun wäre ein Exkurs über die theoretischen Debatten, die von den Gewerkschaften in der zweiten Hälfte der Weimarer Republik um den Gedanken der "Wirtschaftsdemokratie" geführt wurden, fällig. Es ist soviel darüber geschrieben worden, unter anderem von mir, wie und

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ob sie wirklich zusammenhingen, dass ich mich in diesem Punkt jetzt zurückhalte, zumal Böckler in keiner Weise in dieser Debatte zu verorten ist. In seinen Reden auf den Gewerkschaftskongressen nach 1945 hat sich Böckler nie ausdrücklich auf das Wirtschaftsdemokratie-Konzept von 1928 berufen.
Die aber von ihm immer wiederholte Überzeugung, die politische Demokratie bedürfe für ihr Überleben der Ergänzung durch die Demokratisierung der Wirtschaft, war eine Grundfigur seines Denkens. Die Herrschaft des Nationalsozialismus hatte dieser Auffassung eine solche Beweiskraft verliehen, dass sie als die allgemeinste, die Einheitsgewerkschaft der Nachkriegszeit am stärksten integrierende, politische Grundübereinstimmung gelten konnte.
Nicht nur von einschlägiger Seite ist der Vorwurf erhoben worden, die Gewerkschaften und mit ihr die SPD hätten wegen einer letztlich nicht erheblichen Forderung dem letzten sozialdemokratisch geführten Kabinett Hermann Müller den Todesstoß versetzt und damit das Folgende wesentlich mitverursacht. Die Kompromissfähigkeit der Gewerkschaften war jedoch zumindest subjektiv erschöpft gewesen. Der Rücktritt Müllers hatte im ADGB gleichwohl Unbehagen und Ratlosigkeit hinterlassen, jetzt sah er sich politisch gezwungen, der SPD nun auch auf dem Weg der Tolerierung Brünings zu folgen. Es war sozusagen die Tolerierung der Tolerierung.

Tarnow charakterisierte das Dilemma der Gewerkschaften so: "Stürzt die Regierung, dann kommt die Katastrophe [...] Kommt die Diktatur, dann bedeutet das völlige Aufhebung der Verfassung und damit verlieren wir unseren Kampfboden. Solange wir das verhindern können – es wird unsere Kampfkraft zunächst allerdings geschwächt – behalten wir die Hoffnung, dass wir in besseren wirtschaftlichen Zeiten wieder unsere Kampfkraft stärken und verwenden können." Dies lässt die Tiefe der Lähmungskrise erkennen, von der die Gewerkschaften seit dem Sturz der letzten sozialdemokratisch geführten Regierung und im Gefolge der Wirtschaftskrise betroffen waren.

Hans Böcklers Stimme in der theoretischen Diskussion des ADGB am Ende der Weimarer Republik nicht vernehmen zu können, ist nicht überraschend. In der von Wahlkämpfen, Kundgebungen und dem verzweifelten Aufbäumen der SPD und des ADGB politisch gepräg-

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ten Landschaft jedoch entwickelte sich Böckler vom schweigenden Gewerkschaftsfunktionär zur öffentlichen Person.
5.000 Menschen hörten am 20. August 1930, vor der Wahl im September in der Rheinlandhalle – am Tag zuvor hatte Adolf Hitler dort gesprochen –, die Reden der Sozialdemokraten Severing, Sollmann und Böckler. Der auf dem Höhepunkt seiner Popularität stehende Severing sprach anderthalb Stunden, bevor Wilhelm Sollmann über Hitler und Brüning Spott und Ironie ausgoss. Böckler blieb als letztem Redner nach einem Angriff auf die Regierung, die er die "reaktionärste seit der Revolution" nannte, nur noch ein ganz kurzes "Wort an die Sozialversicherten", und er vertrat die Grundpositionen sozialdemokratischer Sozialpolitik: Verteidigung des Sozialversicherungssystems, Erhaltung des Schlichtungswesens, Abwehr der Angriffe auf das Tarifvertragssystem.

Aber am Sonntag vor der Wahl bot der ADGB noch einmal sein ganzes Potential auf. Es galt, den massenwirksamen Aufmärschen der Nationalsozialisten und Kommunisten etwas entgegenzusetzen, Stärke zu demonstrieren, "Flagge zu zeigen". Unter dem Motto: "Gegen soziale Reaktion und Diktatur – gegen Maulheldentum – für sozialen Fortschritt für das Arbeitsvolk (!)und seine Rechte" marschierten zur Gottesdienstzeit am Sonntagmorgen des 7. September 1930 die Freien Kölner Gewerkschaften mit Musik und Fahnen durch die Domstadt. Im Wahlkreis Köln-Aachen waren die Verluste der SPD geringer als im Reichsdurchschnitt. Aber die drittstärkste Partei in Köln wurden die Nationalsozialisten, im gesamten Wahlkreis sogar die zweitstärkste. Auch die Kommunisten erzielten ein für sie hervorragendes Wahlergebnis; im Kölner Raum war ihr Stimmenzuwachs überproportional.

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In einer Rede, die Böckler 1931 vor Funktionären hielt, fand er seine Sprache wieder: "Die Produktion erschlägt den Verbrauch. Wissenschaft und Technik morden die Menschen, statt ihnen Helfer zum Glück zu sein. Aller Überfluss, den [die] Natur uns spendet, wird zum Fluch. Unzählige Menschen finden sich ausgeschlossen von jedem Lebensgenuss. Unverdient tragen sie härtestes Schicksal durch nim-

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mer endende Hoffnungslosigkeit. Es ist, als ob Tollheit und Bosheit allein die Welt regierten!" Aber es regte sich auf dieser Gewerkschaftskonferenz auch ein wenig Opposition gegen die Abwartepolitik, man verlangte, nach einem "revolutionären Ausweg aus der Krise" zu suchen. Böckler hielt diesen "Wünschen nach mehr Radikalismus" entgegen, man habe sich in die allgemeine Linie des Bundes einzugliedern, und über die sei man im Bezirk gelegentlich schon hinausgegangen. Jedoch fehlt jeder weitere Hinweis einer Kritik Böcklers am offiziellen ADGB-Kurs.

Die wohl schwerwiegendste Folge für den inneren Zusammenhalt der Gewerkschaften war der mit dem 20. Juli 1932 eine neue Stufe erreichende Vertrauensschwund zwischen Gewerkschaftsführung und Mitgliedschaft.
Die große Zahl haupt- und ehrenamtlicher Partei- und Gewerkschaftsführer der mittleren und unteren Ebenen sah sich nun in ihrer Kampfbereitschaft tief enttäuscht; es schien, als hätten sich Führung und Massen gegenseitig blockiert. Die Gewerkschaftsspitzen und ihre Gefolgschaft waren Gefangene ihres kämpferischen Vokabulars geworden. Wenn aber in dem politisch hoch motivierten Teil der Gewerkschaftsmitglieder, der kleinen unbezahlten Funktionäre, langfristig eine solche Erosion des Vertrauens begann, wie sollte sich dann der Riese Antäus die Berührung mit der Erde erhalten, der er seine Kraft verdankte? (Mommsen) Wer sein Geheimnis erriet, ihn emporhob, der konnte ihn besiegen. Anders als der Antäus der griechischen Mythologie aber, machte sich der Riese ADGB es leicht: Er begann sich selbst von der Erde zu lösen; ihn zu besiegen, war mit immer geringeren Kräften möglich.
Böckler, der zu einer Krisensitzung des ADGB-Bundesausschusses nach Berlin gerufen worden war, kehrte am Wochenende des 23./24. Juli 1932 von dort zurück. Für den späten Sonntagnachmittag war eine Großkundgebung in der Rheinlandhalle vorgesehen. In der Versammlung brach alles das an Massenstimmung hervor, was wenige Tage zuvor in die Bahnen von Disziplin und Ordnung gelenkt worden war. Es war die größte Ansammlung von Menschen, vor der Böckler bis zu diesem Zeitpunkt gesprochen hatte: 20.000. Böckler beschwor den Ernst der Stunde und sagte, nun gehe es auf Tod und Leben, auf Freiheit oder Untergang.

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Der furiose Schluss seiner Rede lautete: "Wir [...] ] erkennen, wohin die Reise gehen soll, dass mit Hilfe des Faschismus die deutschen Arbeiter zu Paaren getrieben werden sollen. Unerbittlicher Kampf bis zur Vernichtung des Faschismus, das ist die Losung unserer Tage (Beifall), Kampf um Freiheit, um die Ehre des Volkes, um die Arbeiterehre (Beifall). Kampf um ein bisschen Lebensglück. Vorwärts, vorwärts! und nicht zurück, vorwärts, zum Angriff! (Stürmischer Beifall). Wir werden den Faschismus schlagen, weil wir ihn schlagen wollen und schlagen müssen. (Stürmischer, minutenlanger Beifall)." Zum Abschluss sang die Menge mit Inbrunst das alte Lied der Arbeiterbewegung: "Brüder, zur Sonne, zur Freiheit".
Wenig später sollte in Köln ein letztes Fanal gesetzt, ein "Feuerwerk der Eisernen Front" abgebrannt werden. Es hatte zweimal wegen ungünstiger Witterung verschoben werden müssen. Als es schließlich gezündet werden konnte, betrug die Zahl der mobilisierten Anhänger und Neugierigen nur etwa 5.000. Ungeduldig erwarteten sie den Beginn des Spektakels. Nach dem knalligen Auftakt betrat Hans Böckler die Tribüne und eröffnete seine Rede mit einem flammenden Appell gegen die Wahlmüdigkeit, dann begann der Lautsprecher zu streiken. Von da an war Böcklers Stimme nur noch schwach vernehmbar.

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Ob Böckler im Unterschied zur ADGB-Führung die aktive Verteidigung der Gewerkschaften – ein kämpferisches Vorgehen – für die bessere Strategie gehalten hat, ist nicht auszumachen, es liegt aber nahe. Es ist allerdings ungewohnt, ihn sich auf einer gegenüber der Gewerkschaftsspitze kritischen Position vorzustellen. Ob Böckler den Anpassungs- und Unterwerfungskurs der ADGB-Spitze mitgetragen hat oder nicht: Die Rettung der Organisation um einen hohen Preis, der Versuch, bis zum rasch erwarteten Zusammenbruch des Nationalsozialismus zu "überwintern" – zu wenig spricht dafür, dass Böckler anders gedacht hat; anders gehandelt hat er nicht. In die Beratungen des "Führerkreises der vereinigten Gewerkschaften" vom Ende April war er allerdings nicht einbezogen.
Nach den Wahlen im März 1933 nahmen die Angriffe der SA und der SS auf SPD-Büros und Gewerkschaftshäuser zu. In Köln wurde Sollmann von Nationalsozialisten angegriffen, misshandelt und in

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"Schutzhaft" genommen. Auch Böcklers Haus in Köln-Bickendorf wurde Ziel eines nächtlichen Überfalls. SA-Männer fuhren mit einem Lastwagen vor und begannen mit ihren Dolchen in der Türfüllung des Hauses am Akazienweg zu stochern, die Böckler jedoch vorsichtshalber mit Blech beschlagen hatte. Lona Böckler floh mit ihrem Enkel durch den Hinterausgang, während Böckler sich mit geladener Pistole den Einbrechenden entgegenstellen wollte. Als die Haustür dem ersten Ansturm standgehalten und schließlich ein tapferer Polizeibeamter den SA-Trupp zum Verlassen des Grundstückes aufgefordert hatte, zogen die Nationalsozialisten unverrichteter Dinge wieder ab.

Acht Tage nach einem Überfall auf sein Düsseldorfer Büro am 3. Mai wurde Böckler wegen mangelnden Fluchtverdachts aus der Haft entlassen. Bei der Staatsanwaltschaft ging bald darauf ein Strafantrag der Kreis-Betriebszellenleitung der NSDAP Düsseldorf ein. Böckler leistete jedoch der Aufforderung, vor Gericht zu erscheinen, nicht Folge. Er ließ seine Tochter im Kölner Polizeipräsidium zu Protokoll geben, ihr Vater befinde sich "gesundheitshalber auf einer Tour in Bayern".

Diese Versuche, Zeit zu gewinnen, scheiterten bald. Böckler versuchte, bei seinem Sohn in Berlin unterzutauchen. Dort verhaftete ihn die Gestapo, seine Schwiegertochter beging Selbstmord. Ende September 1933 wurde er in der Prinz-Albrecht-Straße vernommen. Er bestritt die ihm zur Last gelegte Veruntreuung von Geldern und erklärte, die Buchungsunterlagen habe er aus Furcht vor einem kommunistischen Umsturz vernichten lassen. Bis Dezember blieb Böckler in "Schutzhaft". 1934 mussten sich Böckler und sein Kassierer in Düsseldorf wegen "Urkundenvernichtung" verantworten. Die Schöffen sprachen Böckler und Arnold auf Kosten der Staatskasse frei. Die Deutsche Arbeitsfront, die als Klägerin aufgetreten war, legte zunächst Berufung ein, machte diese jedoch im August 1934 wieder rückgängig.

Böckler zog sich in sein Haus in Köln-Bickendorf zurück. Einige Male machten wiederholte Hausdurchsuchungen den Böcklers das Leben schwer. Zur Musse verurteilt, las er Schiller und Goethe, aber auch Dostojewski; besonders soll ihn die Biografie Henry Fords ge-

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fesselt haben. Er hörte mit Inbrunst Schallplatten seiner bescheidenen Sammlung, vornehmlich Opern. Die Arie des eingekerkerten Florestan in Beethovens einziger Oper "Fidelio" war sein Lieblingsstück:

"Gott! Welch Dunkel hier! O grauenvolle Stille.
Öd ist es um mich her. Nichts lebet außer mir.
O schwere Prüfung! – Doch gerecht ist Gottes Wille!
Ich murre nicht! Das Maß der Leiden steht bei dir."

Darauf folgt, von düsterer und schicksalsschwerer Musik umrahmt, die Arie:

"In des Lebens Frühlingstagen
Ist das Glück von mir geflohn!
Wahrheit wagt' ich kühn zu sagen,
Und die Ketten sind mein Lohn.
Willig duld ich alle Schmerzen,
Ende schmählich meine Bahn;
Süßer Trost in meinem Herzen:
Meine Pflicht hab ich getan!"

Sensitiver kann das Lebensgefühl Böcklers in jenen Tagen nicht beschrieben werden. Die Arie des Florestan endet mit einem Schimmer von Hoffnung auf Erlösung, die zur "Freiheit ins himmlische Reich" führt. Der Tod oder aber eine andere Welt – beides wird als Erlösung empfunden. In der Wirklichkeit der Oper ist es die mutige Gattin Leonore, die Florestan befreit.
Böckler hatte Kontakte zur Gruppe um Wilhelm Leuschner, aber er ging dabei unendlich vorsichtig zu Werke; das hieß: Zurückgezogenheit, wenige, sehr unauffällige Treffen, keine Berührung mit offenem Widerstand oder mit Kommunisten, kontinuierlich integriert in die Gemeinschaft alter Freunde. So führte Böckler nach außen – und zu einem guten Teil auch tatsächlich – das Leben eines Pensionärs. Er beschäftigte sich mit Haus- und Gartenarbeit und widmete sich seinem Enkel. Die wirtschaftliche Situation der Familie Böckler war jedoch erbärmlich. Zeitweise verdingte sich Böckler im Bergischen Land für verschiedenste landwirtschaftliche Arbeiten. Die Böcklers hatten in Ottoherscheidt bei Bergisch Gladbach einen Bauern kennen-

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gelernt, als sie dort mit der Naturfreundebewegung Anfang der dreißiger Jahre gelegentlich an Wochenenden ein Zimmer gemietet hatten. Der Bauer Meurer, bei dem sich der Mittsechziger Böckler als "Knecht" nützlich machte, war ausgerechnet der örtliche NS-Bauernführer. Die Böcklers waren als "Oma" und "Opa" im Dorf so beliebt, dass der ruchbar werdende Versuch eines Lehrers, Böcklers Identität zu lüften, von den ortsansässigen Bauern vereitelt wurde.

Es spricht viel dafür, dass Böckler sich von 1944 an nur noch in Ottoherscheidt aufhielt. Ein Zusammenhang zwischen dem 20. Juli 1944 und dieser Verlegung seines Aufenthaltsortes ist wahrscheinlich, aber nicht nachweisbar. Böckler hat wohl später selbst erzählt, dass man nach dem 20. Juli zunächst irrtümlich einen Namensvetter in Düsseldorf, einen Geschäftsmann, festgenommen habe. Das habe ihm den Vorsprung verschafft, der nötig war, um in Ottoherscheidt unterzuschlüpfen. Schon vorher hatten Bombenangriffe die Domstadt in Schutt und Asche zu legen begonnen. Über die Beziehungen Böcklers zu Wilhelm Leuschner und Jakob Kaiser ist wenig Genaues bekannt, aber er sollte offenbar neben Leuschner, Kaiser und Max Habermann eine leitende Funktion in der von ihnen geplanten Gewerkschaftsorganisation übernehmen. In Leuschners Aussagen vor der Gestapo, in denen er den Aufbau der mit Goerdeler konzipierten "Deutschen Gewerkschaft" preisgab, erwähnte er Böckler jedoch nicht.
Noch bevor amerikanische Truppen Köln eingenommen hatten, kamen aus London einige emigrierte frühere Funktionäre der deutschen Arbeiterbewegung, die im Auftrag des amerikanischen Nachrichtendienstes OSS die Lage in Deutschland sondieren sollten. Einer von ihnen, Werner Hansen, der spätere Vorsitzende des DGB Nordrhein-Westfalen, erfuhr, dass Böckler noch lebte. Sofort holte er Böckler aus seinem Versteck im Bergischen Land in das total zerstörte Köln. Der Wiederaufbau begann.

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Ein Jahr später schrieb Böckler, offenbar als Antwort auf einen Fragebogen, den die wiederentstehende SPD des Rheinlandes auch an ihn geschickt hatte: "In der Nazizeit habe ich einfach meine Pflicht

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getan, war wiederholt in Schutzhaft und wurde wie so viele andere, wirtschaftlich vernichtet. Meine jetzige Tätigkeit ist nach Wiederaufnahme Fortsetzung der früheren." Allenthalben rückten wie selbstverständlich – wenn auch nicht immer ohne Konflikte – die Führungskader der früheren Arbeiterbewegung wieder in ihre Funktionen ein.

Die Situation des Jahres 1945 war niederdrückend und eröffnete düstere Perspektiven. Fast fünfzig Jahre eines an Niederlagen reichen Funktionärslebens lagen hinter dem Siebzigjährigen. Trotzdem nahm er die Strapazen eines Neuanfangs auf sich. Die Ermordung der Männer des 20. Juli hatte ihn sicher tief bewegt. Es lag nahe, deren Werk zu vollenden. Böckler hat sich nur widerwillig davon abbringen lassen, die Organisationsform anzustreben, wie sie im Leuschner-Kreis entwickelt worden war – und von den Briten wegen zu großer Nähe zur DAF abgelehnt wurde. Erst vor die Alternative gestellt, entweder auf seinen Plan einer zentralistischen Einheitsgewerkschaft zugunsten einer föderativen Autonomie von Industriegewerkschaften zu verzichten, oder aber den weiteren Gewerkschaftsaufbau überhaupt gebremst zu sehen, war Böckler zu Kompromissen bereit.
Nicht nur Pflicht-, auch Schuldbewusstsein haben Böcklers Entschlossenheit bestärkt, noch einmal politische Ämter zu übernehmen. Das Bewusstsein von Schuld, vielleicht nicht alles getan zu haben, um die Niederlage der Arbeiterbewegung von 1933 abzuwenden, war dabei sicherlich weniger ausgeprägt als sein Verständnis von einer Gesamthaftung des deutschen Volkes für das, was das nationalsozialistische Deutschland ihm aufgeladen hatte. Er hat den Nationalsozialismus als Ergebnis von "Kapitalismus und Militarismus", als "beider ekelhafteste Schöpfung" bezeichnet. In einem Aufruf an die Kölner Arbeiterschaft vom Frühjahr 1945 formulierte Böckler in ungebrochenem Pathos:
"Ihr alle, die ihr die Fähigkeit zu denken im Dritten Reich nicht verloren habt, sagt: gibt es Notwendigeres, Heiligeres in unseren Not- und Elendstagen, als Kärrnerarbeit zu leisten, beim großen Werk des Aufbaues und der Gutmachung?" Wie schon früher mischte sich hier der eigene Anspruch mit einer verhaltenen Kritik an der Apathie auch der Teile der Bevölkerung, die er zu vertreten beanspruchte.

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In der von der britischen Militärregierung einberufenen Kölner Stadtverordnetenversammlung wurde Böckler als Ältestem (der ebenfalls anwesende Adenauer war ein Jahr jünger) das erste Wort erteilt. Er bat die Bevölkerung, der neuen Gemeindevertretung nur "einen Bruchteil der Geduld und der Nachsicht" entgegenzubringen, die die "übergroße Mehrheit dem vergangenen Schandregime" entgegengebracht habe.

Noch einmal schien sich 1945 die Chance zu eröffnen, Wirtschaft und Gesellschaft neu so zu gestalten, wie es die Gewerkschaften schon nach dem Ersten Weltkrieg geglaubt hatten tun zu können. Anders als 1919 sagte er 1946: "Der Kapitalismus liegt in seinen letzten Zügen." Das Trauma der Niederlage, des Versagens von 1919/20, saß tief bei Böckler, zumal sie mit einem tiefen Einschnitt im eigenen Leben verbunden gewesen war. So wandte er sich – als wollte er die Wiederholung eines Fehlers vermeiden – lange gegen die Wiederzulassung von Arbeitgeberverbänden. Nachdem sie gegründet worden waren, weigerte er sich, Gespräche mit ihnen aufzunehmen, bis er schließlich dem sanften Druck der britischen Militärregierung nachgab.

Wenn ein Kontinuitätsstrang im wirtschaftspolitischen Denken Hans Böcklers konstatierbar ist, so reichte dieser lebensgeschichtlich von den Tarifgemeinschaften im Fürther Schlägergewerbe über das Kriegshilfsdienstgesetz zur Zentralarbeitsgemeinschaft und von da über den Eisenwirtschaftsbund zur Wirtschaftsdemokratie und zu den Vorstellungen des Goerdeler-Leuschner-Kreises, um bei der Mitbestimmung zu enden. So disparat diese Konzepte im einzelnen objektiv waren, auf der Folie seiner Lebenserfahrung verschmolzen sie zu einem Ideenkomplex, der zwischen Sozialismus und Korporatismus changierte und einen "deutschen, dritten" Weg zu ergeben schien.

All das erklärt nicht vollständig, wie es kam, dass er sich bis zur Position des DGB-Vorsitzenden so wenig angefochten hat durchsetzen können. Einige Faktoren sind leicht zu erkennen: Aufgrund seiner guten Verbindungen zur britischen Militärregierung erhielt Böckler bald volle Bewegungs- und Redefreiheit, die wichtigste Voraussetzung, um sich zu jener Zeit politisch über den lokalen Rahmen hinaus

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zu entfalten. Da in der Britischen Zone die Gewerkschaftsbewegung relativ rasch – wenn auch in den Augen der deutschen Gewerkschafter quälend langsam – größere Spielräume erhielt, war es folgerichtig, dass sie bei der Gründung des DGB die gewichtigste Rolle spielte. Dass Böckler dabei an die Spitze gelangte, war alles andere als ein Zufall. Böckler war der "ranghöchste" und "dienstälteste" Gewerkschaftsfunktionär - die Position stand ihm also sozusagen zu.
Böckler strahlte eine Autorität aus, die bald weit über das von ihm innegehabte Amt hinausging. Sie setzte er sowohl nach "innen" ein, gegenüber den Vorsitzenden der Industriegewerkschaften, aber er genoss sie auch nach "außen", in der Bevölkerung. Vor den Bundestagswahlen von 1949 war er als Kandidat für das Amt des ersten Bundespräsidenten im Gespräch. Hätte die SPD diese Wahlen gewonnen, hätte sie eine Wahl Böcklers in dieses Amt sicher betrieben, vielleicht auch, um einen etwas weniger eigensinnigen DGB-Vorsitzenden zu bekommen. Und Konrad Adenauer, mit dem Böcklers Lebensweg sich mehrfach gekreuzt hatte, brachte offenbar dem Menschen und dem Politiker Hans Böckler einen Respekt entgegen wie wenig anderen Zeitgenossen.
Die Autorität Böcklers, so zeitgebunden sie gewesen sein mag, speiste sich aus Zügen, die in dieser Beschreibung seines Lebens entdeckt und von der aktuellen Situation des Jahres 1945 zur vollen politischen Wirksamkeit gebracht worden sind. Seine Fähigkeiten, Niederlagen zu verarbeiten, hatte er im Laufe seines Lebens mehrere Male unter Beweis gestellt. Seine Überzeugungstreue und Geradlinigkeit, seine ostentative Bescheidenheit und sein Humor waren Eigenschaften, die in einer Zeit, in der es an demokratischen Identifikationsfiguren mangelte, politisch virulent werden konnten. Er, der ein Leben lang eine Vaterfigur suchte, stellte sie schließlich selbst dar. Ehrgeiz war Hans Böckler nicht anzumerken; er konnte Vertrauen erwecken, sein Alter verlieh ihm Würde. In einer Zeit, als die deutsche Arbeiterschaft zwischen Desintegration und Rekonstruktion eine neue Identität suchte, repräsentierte Böckler die "alte" Arbeiterbewegung - er war einer, der Bebel und Legien noch gekannt hatte.

An einmal getroffenen Entscheidungen hielt er mit einer bis zum Starrsinn reichenden Beharrlichkeit fest, was ihm nicht nur Erfolge einbrachte. So war die Gründung der Deutschen Angestellten-

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Gewerkschaft – ein "Makel" in der Geschichte der Einheitsgewerkschaften – zu einem guten Teil auf Böcklers Inflexibilität in dieser Frage zurückzuführen. Das ererbte Credo des Industrieverbandsprinzips verbot ihm eine separate Gründung dieser Art.

Länger als andere hielt Hans Böckler an dem Ziel einer die Zonengrenzen überschreitenden Einheitsgewerkschaft fest. Im Konflikt zwischen "Speck oder Sozialisierung" bewog er die westdeutschen Gewerkschaften, dem Marshall-Plan zuzustimmen. Als im Verlauf der Jahre 1947/48 die Spaltung Deutschlands sich abzeichnete, war er eher als Kurt Schumacher bereit, pragmatisch die daraus resultierenden Folgen in Kauf zu nehmen und Adenauers Kurs mitzuvollziehen, wenngleich damit ein Verzicht auf weiterreichende Vorstellungen der Gewerkschaften scheinbar nur vorübergehend, aber schließlich doch endgültig, verbunden war. Adenauer brauchte ihn für seine Politik der beginnenden Westintegration Deutschlands, gegen Schumachers SPD. Schumacher erlitt eine empfindliche Niederlage, indem Adenauer ihn gegen die Gewerkschaften unter Böckler ausspielte. "Kanzler der Alliierten" schmähte Schumacher Adenauer, der sich offenbar zuvor der Zustimmung Böcklers versichert hatte. Der Preis könnte Adenauers Zustimmung zur Montanmitbestimmung gewesen sein.

Als 1950 die in den entflochtenen Werken der Eisen- und Stahlindustrie 1947 - von dem Unternehmen angebotene - eingeführte paritätische Mitbestimmung verloren zu gehen drohte, war damit nicht nur der Rest dessen gefährdet, was die Gewerkschaften zur Überwindung des Nationalsozialismus und seiner Folgen für notwendig erachtet hatten. Hätte der 75jährige Böckler bei dem Kampf um die Montanmitbestimmung gegen seinen Antipoden Konrad Adenauer eine Niederlage hinnehmen müssen, so hätte sein Leben – auch von ihm selbst – als eine Kette von Niederlagen interpretiert werden müssen; das Trauma von 1919/20 hätte ihn eingeholt.

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Max Weber hat in seiner berühmten Schrift "Politik als Beruf" das bekannte Wort von Politik als "starkes, langsames Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich" formuliert: Wer dies tun könne, müsse aber entweder ein Führer oder ein Held sein.

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Und weiter: "Und auch die, die beides nicht sind, müssen sich wappnen mit der Festigkeit des Herzens, die auch dem Scheitern aller Hoffnungen gewachsen ist, jetzt schon, sonst werden sie nicht imstande sein, auch nur das durchzusetzen, was heute möglich ist. Nur wer sicher ist, dass er daran nicht zerbricht, wenn die Welt, von seinem Standpunkt aus gesehen, zu dumm oder zu gemein ist für das, was er ihr bieten will, dass er all dem gegenüber: 'dennoch!' zu sagen vermag, nur der hat den 'Beruf' zur Politik." In diesem Sinne hatte Böckler den "Beruf" zur Politik. In der Leitfigur Böckler vollzog sich die Demokratisierung – und die Bürokratisierung – des Charismas der Arbeiterführer des 19. Jahrhunderts.


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