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[Seite der Druckausg.:73]


Bernd Faulenbach
Zur Entwicklung des demokratischen Sozialismus seit dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland


Auch wenn nicht generell von einem „deutschen Sonderweg„ auszugehen ist, so gibt es doch in der Nachkriegsperiode manche deutsche Besonderheiten im Hinblick auf den demokratischen Sozialismus bzw. die deutsche Sozialdemokratie, die letztlich in der „deutschen Katastrophe„ (Meinecke) begründet sind, die ihrerseits auf Spezifika der deutschen Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert verweist. [Vgl. Bernd Faulenbach, Sozialdemokratie und „deutscher Sonderweg„. In: Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte 1990, H. 6, S. 506-511; Ders., „Deutsche Sonderwege„. Anmerkungen zur aktuellen Diskussion über das deutsche historisch-politische Selbstverständnis. In: Comparativ 1994, H. 1, S. 14-30; Ders., Überwindung des „deutschen Sonderwegs„? Zur politischen Kultur der Deutschen seit dem Zweiten Weltkrieg. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 1998, B 51, S. 11-23.]
Folge dieser „Katastrophe„ war die Unterbrechung der Kontinuität der deutschen Arbeiterbewegung, die zusammen mit der daraus resultierenden deutschen Teilung spezifische Bedingungen für demokratisch-sozialistische Ideen schuf.

Ich möchte in groben Linien versuchen, den „deutschen Fall„ in Anlehnung an die chronologische Entwicklung zu behandeln, wobei ich Fragen der Programmentwicklung in den Vordergrund stelle. [Zur Programmentwicklung siehe die Dokumentation: Dieter Dowe/Kurt Klotzbach (Hrsg.), Programmatische Dokumente der deutschen Sozialdemokratie, 3. Aufl., Bonn 1990. Vgl. zur Entwicklung der SPD und ihrer Programmatik: Kurt Klotzbach, Der Weg zur Staatspartei. Programmatik, praktische Politik und Organisation der deutschen Sozialdemokratie 1945 bis 1965, Berlin 1982; Helga Grebing (Hrsg.), Geschichte der sozialen Ideen in Deutschland, Essen 2000, S. 355-595. ]

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I.

Die NS-Zeit, der Sieg des Nationalsozialismus über die deutsche Arbeiterbewegung und von ihr vertretene demokratisch-sozialistische Ziele, die Unterdrückung und Verfolgung der Sozialdemokraten unter der NS-Diktatur (wobei ein Teil ins Ausland emigrierte), die wachsende Bejahung der NS-Politik durch die Mehrheit der deutschen Bevölkerung und nicht zuletzt der Zweite Weltkrieg bilden für die deutsche Sozialdemokratie eine tiefgreifende Zäsur. Auch wenn es programmatisch nach 1945 mancherlei Kontinuitäten – etwa zum Konzept der Wirtschaftsdemokratie der Weimarer Republik – gab, so sind doch verschiedene erhebliche Veränderungen der Partei und ihres Selbstverständnisses nach 1945 gegenüber der Zeit vor 1933 unübersehbar:

1) Erschüttert wurde vollends der schon durch die Erfahrung des Ersten Weltkrieges in Frage gestellte Evolutionsglaube, der von einem geschichtsgesetzlichen Weg zum Sozialismus ausging. Diese Geschichtsphilosophie wurde schon auf der kulturpolitischen Konferenz von Ziegenhain 1947 aufgegeben. [Siehe Georg Eckert, Auf dem Weg nach Godesberg. Erinnerungen an die Kulturkonferenz in Ziegenhain. In: Heiner Flohr/Klaus Lompe/Lothar F. Neumann (Hrsg.), Freiheitlicher Sozialismus. Beiträge zu seinem heutigen Selbstverständnis, Bonn-Bad Godesberg 1973, S. 49-58; Bernd Faulenbach, Die „Verarbeitung„ des Nationalsozialismus in der deutschen Sozialdemokratie der Nachkriegszeit. In: Ders.: Erfahrungen des 20. Jahrhunderts und politische Orientierung heute, Essen 1996, S. 37-55, insbes. S. 48 f.]

2) Demokratie und Sozialismus wurden sehr eng zusammengesehen. Kurt Schumacher u.a. glaubten aus der deutschen Geschichte, namentlich aus der Geschichte des Untergangs der Weimarer Republik, folgern zu können, dass Demokratie und Sozialismus sich in Deutschland gegenseitig bedingen, was die

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Prämisse erkennen lässt, dass die unkontrollierte Wirtschaft (die Schwerindustrie der Ruhr u.a.) wesentlich zum Untergang der Weimarer Republik beitrug. [ Siehe Willy Albrecht (Hrsg.), Kurt Schumacher. Reden – Schriften – Korrespondenzen 1945-1952, Bonn – Berlin 1985, S. 256 ff.]
Die ältere Vorstellung, dass Demokratie Mittel zum Zweck (zur Realisierung des Sozialismus) sei, spielte in der deutschen Sozialdemokratie praktisch keine Rolle mehr. In diesem Kontext ist festzuhalten: Sozialdemokraten hatten entscheidenden Anteil an der Erarbeitung des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland.

3) Die Notsituation und ihre Mangelwirtschaft lenkte demokratisch-sozialistische Politik zunächst in Richtung plan- und bedarfswirtschaftlicher Konzepte, obgleich alles in allem die Zielvorstellungen auf ein Mix von Marktwirtschaft und Planwirtschaft, von privatem, genossenschaftlichem und (für bestimmte Kernbereiche vorgesehenem) staatlichem Eigentum bei Dominanz des erstgenannten hinauslief.

4) Die Sozialdemokratie in der Ära Schumacher versuchte, nicht nur die Arbeiterschaft, sondern auch die Mittelschichten von demokratisch-sozialistischen Vorstellungen zu überzeugen, ohne indes die Interessen und Orientierungen der Mittelschichten schon hinreichend zu berücksichtigen.

5) Der Trennungsstrich zu den Kommunisten wurde scharf gezogen, wobei sowohl die konkreten Erfahrungen in der SBZ/DDR als auch die prinzipielle Trennlinie durch das diametral unterschiedliche Verhältnis zur westlichen Demokratie sich auswirkten.

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II.

Der unübersehbare wirtschaftliche Wiederaufstieg seit Ende der 40er Jahre, der Erfolg der sozialen Marktwirtschaft, auch die Tatsache, dass die Sozialdemokratie nicht nur in die Opposition geriet, sondern die Chance, auf absehbare Zeit Regierungspartei

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zu werden, gering zu sein schien, förderten Kräfte in der Sozialdemokratie, die eine Reform der Partei und ihrer Politik anstrebten. [ Vgl. zum Weg nach Godesberg neben der in Anmerkung 2 genannten Literatur Siegfried Heimann, Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands. Abschnitt 2: Die programmatische Wende der SPD 1954 – 1968/69. In: Richard Stöß (Hrsg.), Parteien-Handbuch. Die Parteien der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 4, Opladen 1986, S. 2054-2072; Susanne Miller, Die SPD vor und nach Godesberg. In: Dies./Heinrich Potthoff (Hrsg.), Kleine Geschichte der SPD. Darstellung und Dokumentation 1848 – 1990, 7. Aufl., Bonn 1991.]

– Heinrich Deist und auch schon Karl Schiller plädierten nachdrücklich für marktwirtschaftliche Konzepte (im Godesberger Programm wurde 1959 der Grundsatz festgeschrieben „Wettbewerb soweit wie möglich – Planung soweit wie nötig„). [ Das Programm ist abgedruckt bei Dieter Dowe/Kurt Klotzbach, Programmatische Dokumente der deutschen Sozialdemokratie, S. 349-370, Zitat S. 357.]
Von den alten sozialistischen Vorstellungen, die durch die kommunistische Politik stark diskreditiert worden waren, blieb nicht viel: im Wesentlichen der Gedanke der Kontrolle wirtschaftlicher Macht durch Mitbestimmung.

– Vorbilder aus Skandinavien oder aus Westeuropa spielten bald eine beträchtliche Rolle. Willy Brandt, Fritz Erler, Carlo Schmid u.a. setzten den auf Anerkennung des Pluralismus basierenden westlichen „Konsensliberalismus„ durch, der sich vom Schumacherschen Traditionalismus unterschied, der freilich auch bereits mit westlichen Demokratievorstellungen kompatibel war. [ Vgl. Anselm Doering-Manteufel, Wie westlich sind die Deutschen? Amerikanisierung und Westernisierung im 20. Jahrhundert, Göttingen 1999, S. 90 ff.]

– Deutlich öffnete sich die Sozialdemokratie nun zu den Mittelschichten und zur sozialwissenschaftlichen Intelligenz hin. Außerdem wurde das Verhältnis zu den Kirchen verändert, de-

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ren gesellschaftliche Rolle die Sozialdemokraten anerkannten, was nicht nur eine Verknüpfung des Linksprotestantismus mit der SPD erleichterte, sondern auch den Einbruch der Sozialdemokratie in katholisch geprägte Arbeitnehmerschichten förderte. [ Siehe dazu Bernd Faulenbach, Modernisierung der Partei und Sozialdemokratisierung der Region. Der SPD-Bezirk Westliches Westfalen von 1949 bis 1969. In: Ders./Günter Högl/Karsten Rudolph (Hrsg.), Vom Außenposten zur Hochburg der Sozialdemokratie, 2. Aufl., Essen 1994, S. 209-221.]

Die Neuordnung fand ihren Niederschlag im Godesberger Programm von 1959, das nicht mehr ein geschichtsphilosophisch begründetes, sondern ein an Grundwerten orientiertes politisches Reformkonzept für die vorhandene Gesellschaft enthielt, ein Konzept, das auch international bald eine erhebliche Bedeutung erlangte. Die Sozialdemokratie stellte sich als das dar, was sie im Grunde schon lange war: als linke Volkspartei.

Sozialdemokratische Politik definierte in den 60er Jahren Gemeinschaftsaufgaben, die u.a. im Ausbau der Infrastruktur, des Bildungs- und Hochschulwesens, im Umweltschutz („Der Himmel über der Ruhr muss wieder blau werden„) gesehen wurden. Die Sozialdemokratie stellte sich in dieser Zeit als die moderne und modernisierende Partei dar, was ihr durch die Schwierigkeiten der Union auf der einen Seite und einen noch wenig ausdifferenzierten Fortschrittsbegriff erleichtert wurde.

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III.

Das geradezu zentrale Thema für die Sozialdemokratie während der 50er Jahre war die Wiedervereinigungsfrage, die mit der sozialen Frage verknüpft gedacht wurde. Herbert Wehner und andere sahen den Aufstand des 17. Juni 1953 nicht nur gegen das SED-System, sondern auch gegen die Adenauersche Politik gerichtet, die auf Restauration bürgerlicher Herrschaft und die Spaltung Deutschlands durch eine bedingungslose Westintegra-

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tionspolitik hinauszulaufen schien. [ Vgl. Dieter Groh/Peter Brandt, „Vaterlandslose Gesellen„. Sozialdemokratie und Nation 1860 – 1990, München 1992, S. 268 ff.]
Zwar waren die Sozialdemokraten prinzipiell auf Europa hin orientiert, stellten sich jedoch angesichts der ungelösten nationalen Frage erst 1960 eindeutig auf den Boden der außenpolitischen Realitäten und erkannten die NATO-Mitgliedschaft der Bundesrepublik an – vorher hatten kollektive Sicherheitssysteme und die UNO eine besondere Rolle in den sozialdemokratischen Vorstellungen gespielt. In der Europapolitik hatten die Sozialdemokraten schon mit der Zustimmung zu den Römischen Verträgen 1957 einen außenpolitischen Schwenk vollzogen. [ Vgl. dazu William E. Paterson, The SPD and European Integration, Lexington 1974; Rudolf Hrbek, Die SPD - Deutschland und Europa. Die Haltung der Sozialdemokratie zum Verhältnis von Deutschland-Politik und West-Integration (1945 – 1957), Bonn 1972.]

Seit den 60er Jahren veränderte sich die Haltung in der Deutschlandpolitik insofern, als man die deutsche Frage stärker mit der Entspannungsfrage verknüpfte; die Sozialdemokratie begann, ein spezifisches Entspannungskonzept („Wandel durch Annäherung„) zu entwickeln. Die SPD wurde zu der im Westen verwurzelten Partei der Ost-West-Verständigung, die zu einem geregelten Nebeneinander und schrittweisen Miteinander mit den osteuropäischen Ländern, auch mit der DDR, zu gelangen versuchte, allerdings die DDR nicht als Ausland anerkennen wollte. Seit 1966, verstärkt seit 1969 unter Willy Brandt und seit 1974 unter Helmut Schmidt, bestimmte dieser Ansatz die westdeutsche Außen- und Deutschlandpolitik. [ Siehe Heinrich Potthoff, Im Schatten der Mauer. Deutschlandpolitik 1961 bis 1990, Berlin 1999.]
Der Gegensatz zu den Kommunisten blieb zwar bewusst (man denke innenpolitisch an den Radikalenerlass unter Willy Brandt), doch schwächte sich dieser dann schrittweise im Zeitalter der Entspannungspolitik ab; in den 80er Jahren wurden sogar besondere Parteibeziehungen zur SED entwickelt, in denen es vor allem um die

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Entwicklung von sicherheitspolitischen Gemeinsamkeiten ging, was der Sozialdemokratie nach 1989 zum Vorwurf gemacht wurde.

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IV.

In der Zeit sozialdemokratischer Regierungsverantwortung im Bund 1966 – 1982 hielt die Sozialdemokratie zwar am Begriff des „demokratischen Sozialismus„ fest, doch waren in ihrer Politik nur noch wenige Momente vom traditionellen Sozialismus-Konzept erkennbar.

1) Schon in der Ära der Großen Koalition setzte die SPD eine Modernisierung des wirtschaftspolitischen Instrumentariums durch (Gesetz für Stabilität und Wachstum); „Globalsteuerung„ und Marktwirtschaft wurden nicht als Gegensätze begriffen; gleichwohl war die linkskeynesianische „Globalsteuerung„ unverkennbar sozialdemokratisch geprägt.

2) Willy Brandt wollte – wie er in seiner ersten Regierungserklärung 1969 programmatisch verkündete – „mehr Demokratie„ wagen. Tatsächlich wurde in der Folgezeit die Mitbestimmung ausgebaut, die allerdings außerhalb der Montanindustrie hinter gewerkschaftlichen Paritätsvorstellungen zurückblieb. Auch wurden Demonstrationsrecht, das Strafrecht u.a. modernisiert. Die Politik der inneren Reformen stieß jedoch bald an ihre Grenzen; die Jusos propagierten in dieser Konstellation systemüberwindende Reformen, die indes die Politik nirgendwo wirklich beeinflusst haben.

3) Der Sozialstaat wurde seit 1966 noch einmal verstärkt ausgebaut; der Sozialdemokratie fiel es Ende der 70er/Anfang der 80er Jahre schwer, angesichts der weltwirtschaftlichen Probleme Anpassungen des Sozialstaates zu realisieren; vor allem kam ihr über diesen Fragen der Koalitionspartner FDP abhanden, die sich als Vorreiterin des Neoliberalismus und des Marktradikalismus darstellte.

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4) Angesichts der pragmatischen – wenn auch auf Gemeinschaftsaufgaben bezogenen – Politik begann sich in den 70er Jahren ein Bedürfnis nach längerfristigen Politikkonzepten herauszubilden. Eine Kommission entwickelte ein Langzeitkonzept zur Verteilung von Zuwächsen, eine zweite einen „ökonomisch-politischen Orientierungsrahmen für die Jahre 1975 – 1985„. Angesichts der veränderten Konstellation – Grenzen des Wachstums, Folgen des Industrialismus – kehrte in der in diesem Kontext geführten Debatte über eine Investitionslenkung die ältere Instrumentendebatte wieder, hinter der weitergehende Konzepte gesellschaftlicher Umgestaltung sichtbar wurden. [ Vgl. dazu Helga Grebing: Ideengeschichte des Sozialismus in Deutschland, Teil II. In: Dies. (Hrsg.): Geschichte der sozialen Ideen in Deutschland, S. 492 ff.]

5) Die Sozialdemokratie definierte sich in den 70er Jahren als Partei, die das „moderne Deutschland„ schaffen wollte, musste jedoch seit der Ölpreiskrise und der Diskussion über das Ziel der Lebensqualität erkennen, dass der Begriff des Fortschritts neu zu definieren war, was ihr im Grunde aber erst nach 1982 wirklich gelang.

6) So widersprüchlich die Befunde zur sozialdemokratischen Politik der Zeit der sozialdemokratischen Regierungsverantwortung 1966 – 1982 sind, so spricht viel dafür, dass es in den ausgehenden 60er und in den 70er Jahren zu einer zweiten Gründungsphase der Bundesrepublik kam, an der die Sozialdemokratie beträchtlichen Anteil hatte.

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V.

Zu den großen Themen der Sozialdemokratie seit den ausgehenden 70er Jahren, verstärkt seit dem Übergang in die Opposition 1982, wurden die von den sog. „neuen sozialen Bewegungen„ aufgegriffenen Fragen: Ökologie, Risiken der Großtechnik, Frauenfrage sowie Frieden und Abrüstung. Eine „neue Unüber-

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sichtlichkeit„ entstand, in der der alte Gegensatz zwischen Progressiven und Konservativen überlagert wurde durch neue Polaritäten wie die zwischen Arbeit und Umwelt, die die Sozialdemokratie nach und nach zu überwinden suchte. [ Fn: Zum Begriff der „neuen Unübersichtlichkeit„ siehe Jürgen Habermas: Die Neue Unübersichtlichkeit. Kleine Politische Schriften Bd. V. Frankfurt/M. 1985.]

In einem längeren Diskussionsprozess, dessen erstes Ergebnis das von der Grundwerte-Kommission beim Parteivorstand unter Leitung Erhard Epplers erarbeitete Papier „Die Arbeiterbewegung und der Wandel des gesellschaftlichen Bewusstseins und Verhaltens„ von 1982 war, entstand ein neues politisches Konzept, das bei Weiterführung mancher älterer Ansätze, auch der Begrifflichkeit des demokratischen Sozialismus, nicht nur den Politikbegriff erweiterte, sondern den ökologischen Umbau der Industriegesellschaft und die Verwirklichung einer neuen Kultur des Zusammenlebens forderte, die u.a. die Überwindung der Spaltung zwischen einer männlichen und einer weiblichen Welt anstrebte. Seinen Niederschlag fand diese Diskussion im Berliner Programm von Ende 1989. [ Die Arbeiterbewegung und der Wandel des gesellschaftlichen Bewusstseins und Verhaltens. Ein Diskussionspapier der Kommission Grundwerte beim SPD-Parteivorstand Februar 1992, Bonn 1992. Das Berliner Programm: Grundsatzprogramm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, beschlossen am 20.12.1989 in Berlin, Bonn o.J. Wieder abgedruckt in: Dieter Dowe/Kurt Klotzbach (Hrsg.), Programmatische Dokumente der deutschen Sozialdemokratie, S. 371-445.]

Die Epochenwende 1989/90 trug dazu bei, dass das Programm, in dem noch vom Ost-West-Gegensatz ausgegangen wurde und sicherheitspolitische Fragen eine wesentliche Rolle spielten, schlagartig in manchen Teilen überholt wirkte. Symptomatisch war, dass der Begriff des „demokratischen Sozialismus„, ursprünglich einmal im Gegensatz zum kommunistischen

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Sozialismus definiert, in der Sozialdemokratie nach 1989/90 weitgehend ungebräuchlich wurde.

VI.

Obgleich die Sozialdemokratie durch ihre Ostpolitik und den von ihr mit-initiierten KSZE-Prozess zur Erosion der kommunistischen Herrschaft in Osteuropa und in der DDR wesentlich beigetragen hatte, stellte sie sich 1989/90 erst nach erheblichen Auseinandersetzungen auf die veränderte Konstellation ein. Gegensätze in der Führungsgruppe waren auch in der Folgezeit unübersehbar. Schrittweise passte sich die Sozialdemokratie jedoch dem veränderten Zeitklima an.

So begann die Sozialdemokratie im Laufe der 90er Jahre die gegenüber den neuen I- und K-Technologien anfangs eingenommene eher skeptische Haltung zu korrigieren. Zwar hat die 1998 gebildete sozialdemokratisch-grüne Bundesregierung, mit der eine neue Phase sozialdemokratischer Politik begonnen hat, den Ausstieg aus der Atomenergie zum Programm erhoben und damit ein wesentliches Anliegen der Debatte der 80er Jahre aufgegriffen. Ansonsten aber betreibt sie eine Politik, die Innovationen auch im technischen Sinne bewusst fördern, freilich mit sozialer Gerechtigkeit verbinden will. Ein besonderes Interesse an den Ansätzen von New Labour ist unübersehbar. Das Schröder-Blair-Papier und andere Beiträge sind als Versuche zu sehen, das sozialdemokratische Politikverständnis zu modernisieren, was manche Kritiker als eine Anpassung an den Neoliberalismus werten. Der relative Erfolg der Sozialdemokratie wie der anderen europäischen sozialdemokratischen Parteien bei den Wahlen ist jedoch wohl auch mit dem Überdruss an einem Marktradikalismus und seinen Folgen bei breiten Wählerschichten zu erklären. So hat die SPD zwar einerseits die „neue Mitte„ entdeckt, muss aber zugleich bemüht sein, ihr soziales Profil zu erhalten, was zu Debatten zwischen Traditionalisten und Modernisierern führt.

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VII.

Die gegenwärtige Sozialdemokratie ist von der Sozialdemokratie der Nachkriegszeit recht verschieden. Das Konzept der sozialen Demokratie wird angesichts tiefgreifender Veränderungen der Gesellschaft im Kontext einer sich wandelnden Welt gegenwärtig neu diskutiert; manche sprechen von der Notwendigkeit einer „Transformation der Sozialdemokratie„. [ Siehe z.B. Thomas Meyer, Die Transformation der Sozialdemokratie. Eine Partei auf dem Weg ins 21. Jahrhundert, Bonn 1998.]
Folgende Fragen stellen sich auf dem Hintergrund der demokratisch-sozialistischen Tradition:

– Der etatistische Ansatz ist weitgehend geschwunden, die Sozialdemokratie macht die Politik der Privatisierung nicht nur nicht rückgängig, sondern führt sie weiter. Allerdings gibt sie den politischen Gestaltungsanspruch nicht auf. Mit welchen Mitteln dieser aber durchgesetzt werden kann, ist offen. Als neues Leitbild erscheint die „Zivilgesellschaft„ bzw. „Bürgergesellschaft„, in der ein aktiver und aktivierender Staat und eine Gesellschaft der Teilhabe und Teilnahme komplementäre Größen sind. [ Siehe Gerhard Schröder, Die zivile Bürgergesellschaft. Zur Neubestimmung der Aufgaben von Staat und Gesellschaft. In: Die Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte 2000, H. 4, S. 200-207. Vgl. auch H. 6 der gleichen Zeitschrift, das dem Thema „Die zivile Bürgergesellschaft„ gewidmet ist.]

– Erörtert wird auch die Frage: Wie ist die im Kontext des Nationalstaates entwickelte Demokratie im Zeitalter der Globalisierung vor Erosion zu bewahren? Wie kann unter veränderten Bedingungen politische Handlungsfähigkeit wiedergewonnen werden? Inzwischen fordern jedenfalls Sozialdemokraten eine „Wiederkehr der Politik„. [ Vgl. Erhard Eppler, Die Wiederkehr der Politik, Frankfurt/M. u. Leipzig 1998.]

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- Eine weitere Frage ist: Wie kann der Sozialstaat den veränderten globalen Bedingungen und dem veränderten Verhalten angepasst werden? Und: Wie kann der „Turbokapitalismus„ so gezähmt werden, dass soziale Mindeststandards gelten? Zwangsläufig rückt dabei die europäische Politikebene stärker ins Blickfeld.

Es scheint, dass sich auf neuer Ebene alte Fragen mit neuen Herausforderungen verbinden, die nicht zuletzt ein international koordiniertes sozialdemokratisches Handeln und ein übernationales bzw. transnationales Politikverständnis erfordern. Der viel genannte „Internationalismus„ muss eine neue Qualität erhalten. Die deutsche Sozialdemokratie beginnt mit den anderen sozialdemokratischen Parteien – wie verschiedene Treffen der Mitte-Links-Staatsmänner zeigen – neue inter- bzw. transnationale Politikkonzepte zu entwickeln, die an sozialdemokratischen Werten orientiert sind. Der Diskussionsprozess darüber aber steht – so scheint es – erst am Anfang.

*

Resümiert man die Entwicklung sozialdemokratischer Politikkonzepte in Deutschland, so ist festzustellen:

- Die deutsche Sozialdemokratie hat sich von traditionellen sozialistischen Vorstellungen seit den 50er Jahren immer weiter entfernt. So weit der Sozialismus-Begriff verwandt worden ist, wurde in ihm vor allem eine „konsequente Demokratie„ verstanden. Die Überwindung traditioneller Sozialismus-Vorstellungen wurde negativ durch die Anschauung des DDR-Sozialismus, positiv durch Vorbilder in Nord- und Westeuropa gefördert.

- Das kurze Revival sozialistischer Vorstellungen in den späten 60er und frühen 70er Jahren wurde durch das Aufkommen neuer Fragen wie der Ökologie-Frage und die Herausbildung neuer sozialer Bewegungen, die zu einer „neuen Unübersichtlichkeit„ führten, beendet. Großkonzepte gesellschaftlicher Umgestaltung schienen seit dieser Zeit mehr oder weniger überholt.

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– Die heutige deutsche Sozialdemokratie steht vor der Aufgabe, ihre Politik auf dem Hintergrund einer erneut stark veränderten Konstellation neu zu definieren. Dabei kann es nicht nur um eine Anpassung an die neue Realität gehen; vielmehr hat eine an sozialdemokratischen Erfahrungen und Werten orientierte Politik Antworten auf alte und neue Herausforderungen zu entwickeln, was die Intensivierung der Kommunikation mit den anderen sozialdemokratischen Parteien Europas erfordert.

Sicherlich gibt es nach wie vor politisch-kulturelle Unterschiede zwischen den sozialdemokratischen Parteien in West-, Mittel- und Nordeuropa. Dennoch stehen sie heute durchweg vor ähnlichen Problemen. „Sonderwege„ sind deshalb unwahrscheinlich geworden. Hatte die deutsche Sozialdemokratie in der Nachkriegsperiode manche spezifische Züge aufgewiesen, so repräsentiert sie heute tendenziell eine Variante europäischer Normalität.

[Seite der Druckausg.:86 = Leerseite]


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | April 2001

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