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Schluss

Auf Veranlassung des preußischen Kultusministers Paul Hirsch ist Bernstein im Sommersemester 1921 die Ehre zuteil geworden, als Gastdozenten an der Berliner Friedrich Wilhelms-Universität lesen zu dürfen. Nicht ohne Stolz berichtet er darüber in seiner Autobiographie, und die unter dem Titel »Der Sozialismus einst und jetzt« veröffentlichten Vorlesungen vermitteln sowohl die Sorgfalt als auch das Bemühen um wissenschaftliche Neutralität bei der Darstellung der »Streitfragen des

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Sozialismus in Geschichte und Gegenwart«, mit denen sich Bernstein dieser Aufgabe widmete. [BERNSTEIN: Der Sozialismus einst und jetzt (wie Anm. 25). Dazu: DERS.: Entwicklungsgang (wie Anm. 1), S. 239-241. Dass es Hirsch selbst war, der Bernstein vorschlug, geht aus dem Brief des Rektors an den Fakultätsrat hervor: HUMBOLDT-UNIVERSITÄT ZU BERLIN UNIVERSITÄTSARCHIV Phil. Fak. Nr. 136, Bl. 84 [Brief des Rektors an Dr. Lüders v. 20.10.1920]. – Als sich die »Freie wissenschaftliche Vereinigung« 1907 bemüht hatte, die Genehmigung der Universitätsleitung für einen Vortrag Bernsteins zu erhalten, war dieses Ersuchen ohne Angabe von Gründen abgelehnt worden: Ebd., R+S, Nr. 623 Bl. 194-197 [Akten betr. die »freie wissenschaftliche Vereinigung«].]

Ganz widerspruchslos hatte sich die Universität dem Vorschlag des Kultusministers jedoch nicht gefügt. Auf der Sitzung des Fakultätsausschusses der Philosophischen Fakultät waren »Bedenken grundsätzlicher Art« gegen Bernstein als Gastdozenten vorgebracht worden, auch wurde die Bedeutung seiner gelehrten Arbeiten von den einzelnen Ausschussmitgliedern unterschiedlich beurteilt. Die Kommission befand dennoch, »daß seine wissenschaftliche Qualifikation für Gastvorträge vollkommen ausreiche. Die vielfach erprobte Lauterkeit seines Charakters«, heißt es weiter, »sein aufrichtiger Drang nach Erforschung der Wahrheit bürgen dafür, daß er diese Vorträge nicht zu irgendwelchen Zwecken parteipolitischer Art mißbraucht«. [Ebd., Phil. Fak. Nr. 136, Bl. 85 [Ergebnis der Kommissionsberatungen über die geplanten Gastvorlesungen Ed. Bernsteins, 8.11.1920].]
Im Klartext bedeutet dies: Die Professorenschaft hielt Bernstein für politisch so harmlos, dass sie sich dem Ansinnen des sozialdemokratischen Kultusministers nicht in den Weg stellte. Der Ausschuss, der über Gastvorträge zu befinden hatte, wies jedoch in einem Entwurf eines Antwortschreibens an das Ministerium darauf hin, dass der geeignete Ort für Vortragende, welche, wie Bernstein, Wissenschaft und Politik stark verknüpften, die neu gegründete

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Hochschule für Politik sei. »Die Universität soll ihre Stellung über die Parteien aufrecht erhalten und nicht zum Schauplatz rein politischer Diskussionen werden.« [Ebd., Bl. 86f. [Protokoll der Sitzung des Aussch. für Gastvorträge v. 26.11.1920].]

Mit dem Begriff der »Überparteilichkeit« hatten die alten Eliten schon im Kaiserreich ihre Deutungshoheit an den Universitäten und im Beamtenapparat erfolgreich verteidigt, und dass politisch engagierte Professoren in der Weimarer Republik keineswegs nur außerhalb der Universität Politik betrieben, lehrt beispielsweise ein Blick in die Vorlesungsverzeichnisse der Berliner Universität von 1920 und 1921.

Bernstein jedoch gehörte weder zu einer durch Geburt oder den Zugang zu universitärer Bildung privilegierten Gesellschaftsschicht, noch hatte er im eigentlichen Sinne eine politische Karriere in der Arbeiterbewegung gemacht. Sein Leben hatte von Anfang an im Spannungsfeld zwischen Erkenntnisstreben und politischem Engagement gestanden. Der Autodidakt hatte durch seine Auseinandersetzung mit dem Marxismus zur Wissenschaft gefunden. Mit beeindruckender geistiger Offenheit nahm er an den intellektuellen Diskursen seiner Zeit teil. Auf die Meinungsbildung seiner Partei konnte er jedoch über zwanzig Jahre lang nur von außen einwirken, und die praktische politische Betätigung war ihm bis zu seiner Rückkehr nach Deutschland 1901 verwehrt.

Die Rolle des Außenseiters ist Bernstein, seit er den Mut fand, seine Zweifel an Marx zu verkünden, nicht mehr losgeworden. Doch die verbreitete Sichtweise, dass es vor allem diese ketzerischen Thesen Bernsteins zur Marx’schen Theorie waren, die ihn zum Außenseiter machten, bedarf einer Revision: Es war die Vermengung von Politik und Moral, die Bernstein’sche Verbindung von Gesinnungs- und Verantwortungsethik, die ihn als politisch Handelnden scheitern ließ. Er überbetonte Grundsatzfragen und unterschätzte die Bedeutung und das Eigengewicht von Interessenpolitik. Seine normative Politikauffassung orien-

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tierte sich eben gerade nicht an den Zwecken und Werten wie Geld, Macht und Würde, die das politische und das ökonomische Feld ganz überwiegend bestimmen, sondern entsprach einer Haltung, die der französische Soziologe Pierre Bourdieu als typisch für Intellektuelle in der Nachfolge Emile Zolas gekennzeichnet und mit dem Begriff »antipolitische Politik« umschrieben hat: Das politische Eingreifen dieser Akteure sei rein ethisch motiviert, und die Grundlage dieses Engagements bilde gerade die Ablehnung derjenigen Gesetzmäßigkeiten, die dem politischen und ökonomischen Feld zu Grunde lägen, sowie der Ablehnung der von diesen Feldern anerkannten Zwecke und Werte. [PIERRE BOURDIEU: Der Korporativismus des Universellen. Die Rolle des Intellektuellen in der modernen Welt [Vortrag, gehalten am 25.10.1989 an der Humboldt-Universität Berlin-Ost], in: DERS.: Die Intellektuellen und die Macht, hg. v. Irene Dölling, Hamburg 1991, S. 41-100, bes. S. 41-48.]

In sämtlichen hier aufgezeigten politischen Kontexten agierte Bernstein als solch ein »antipolitischer Politiker«, welcher die ungeschriebenen Gesetze des jeweiligen Gremiums, in dem er tätig war, ebenso missachtete wie dessen Werte und Traditionen: so etwa auf dem Parteitag seiner Partei in Weimar, auf einer Sitzung der Friedensdelegation zu Militär- und Marinefragen mit Angehörigen des Militärs oder in dem vorwiegend mit Wissenschaftlern besetzten parlamentarischen Untersuchungsausschuss zur Klärung der Ursachen des Ersten Weltkriegs.

Der moralische Impetus, der Bernsteins politischen Diskurs bestimmte, war einer sachlichen Auseinandersetzung über die Themen, die er mit gutem Grund ins Zentrum seiner politischen Arbeit gestellt hat, hinderlich. Diese Vermischung von Theorie, Praxis und Moral hatte der Reformpolitiker Ignaz Auer bereits 1899 moniert: Zwar fanden die theoretischen Überlegungen und Erkenntnisse, die Bernstein in seinen »Voraussetzungen« dargelegt hatte, Auers Zustimmung, doch sah er die Qualität dieser

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Schrift stark beeinträchtigt durch die »moralischen Anwandlungen« und die »praktischen Ratschläge« des Autors. [Ignaz Auer an Georg von Vollmar am 22.8.1899, zitiert nach: HANS-JOSEF STEINBERG: Sozialismus und deutsche Sozialdemokratie. Zur Ideologie der Partei vor dem Ersten Weltkrieg, 4. Aufl. Berlin/Bonn 1976, S. 119.]

Die Außenseiterrolle Bernsteins ist mit dem Hinweis auf seinen moralischen Impetus aber noch nicht hinreichend erklärt, denn Bernsteins gesellschaftliche Stellung in der wilhelminischen Gesellschaft war auf Grund seiner jüdischen, kleinbürgerlichen Herkunft schon per se die eines Außenseiters. Ähnlich argumentiert der amerikanische Soziologe Adam Weisberger, der den ›Vater des Revisionismus‹ in eine Reihe mit anderen sozialistischen Außenseitern jüdischer Herkunft stellt. Er wählt neben Bernstein die Eisner-Vertrauten Gustav Landauer und Ernst Toller und diagnostiziert als eigentliche Ursache für ihre Hinwendung zum Sozialismus ihre Herkunft aus dem von der wilhelminischen Gesellschaft marginalisierten jüdischen Bürgertum. Aus dessen religiösen Wurzeln speise sich der von allen dreien vertretene ethische Sozialismus. Weisberger fasst dieses ethisch motivierte politische Sendungsbewusstsein als säkularen jüdischen Messianismus. [WEISBERGER (wie Anm. 18), zu Bernstein bes. S. 139-158.] Ein starkes Argument für diese These liefert die oft übersehene große politische Nähe Bernsteins und Kurt Eisners auch in der Phase der Revolution.

Dass gerade der rechte Flügel der bundesrepublikanischen SPD, der zu Kurt Eisner bis heute ein zumindest gespanntes Verhältnis hat, in den späten 60er Jahren Eduard Bernstein neu entdeckte und in ihm pragmatische und erfolgreiche sozialdemokratische Reformpolitik verkörpert sah, entbehrt also nicht einer gewissen Ironie: Ausgerechnet dieser »antipolitische Politiker«, der Politik im Stile von politisierenden Intellektuellen betrieben hatte, wurde von der Parteiführung nun gegen die rebellierende, moralisierende, Marx verherrlichende akademische 68er-Jugend ins Feld geführt. Er konnte diese Rolle zweifellos

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positiver und weniger polarisierend besetzen als Eduard David oder Gustav Noske, und so ist dem zu seinen Lebzeiten politisch glücklos und ohne Charisma Agierenden schließlich der Glanz eines postumen politischen Charismas zuteil geworden. Sachlich zutreffender aber als diese Neurezeption ist eine über zwanzig Jahre zuvor von dem Doyen der Historiographie der Arbeiterbewegung Gustav Mayer in seinen Memoiren überlieferte Charakterisierung. Er sei, erzählt Mayer, »ernsthaft böse« geworden, als Breitscheid ihm gegenüber Bernstein als ein »Verkehrshindernis« im Reichstag bezeichnet habe:

»Eduard Bernstein besaß sicherlich auch in jüngeren Jahren nicht das Zeug zu einem Staatsmann; ich glaube nicht, daß er jemals eine politische Aktion größeren Maßstabs hätte energisch durchführen können. Dazu war er viel zu unpraktisch, viel zu bedächtig, er war kein homme d’action. Er war auch kein Redner, der die Massen fortriß wie Bebel oder Jaurès, noch weniger ein gewitzter Diplomat, der mit seinen Ansichten lange hinter den Berg halten konnte. Das alles war Bernstein nicht. Doch er verfügte über einen seltenen Reichtum an Erfahrung [...]. So verkörperte sich in ihm auf eine einzigartige Weise die Kontinuität der Berliner demokratischen Tradition seit den Märztagen. [von 1848].« [GUSTAV MAYER: Erinnerungen. Vom Journalisten zum Historiker der deutschen Arbeiterbewegung, Hildesheim u.a. 1993, S. 207f.]

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Verzeichnis der unveröffentlichten Quellen

INTERNATIONALES INSTITUT FÜR SOZIALGESCHICHTE AMSTERDAM

  • Nachlass Eduard Bernstein

  • Nachlass Karl Kautsky
    A 83-134 [Manuskripte von Kautsky]
    C 77-306 [Briefe von Kautsky an Bernstein]
    D V 1-562 [Briefe von Bernstein an Kautsky]

  • Familienarchiv Kautsky

HUMBOLDT-UNIVERSITÄT ZU BERLIN UNIVERSITÄTSARCHIV

  • Rektorat und Senat Nr. 623 Akten betreffend die »freie wissenschaftliche Vereinigung«, Bl. 194-197
  • Philosophische Fakultät Nr. 136 Die Gast-Vorlesungen auswärtiger Dozenten bei der hiesigen Universität, Bd. 1 Okt. 1849 - Aug. 1935, Bl. 84-86

STAATSBIBLIOTHEK BERLIN

  • Nachlass Hans Delbrück
    Briefe: Bernstein, Eduard, 4 Briefe 1911-1916

POLITISCHES ARCHIV DES AUSWÄRTIGEN AMTES BONN

  • R 20533 Der Weltkrieg 2d, Bd. 2, 1. Juni 1918 bis Nov. 1919. Pazifistenkongresse in der Schweiz, Internationale Völkerbundkonferenz Bern 6.-13.3.
  • R 23154 Geschäftsstelle für Friedensverhandlungen. Akten betreffend Protokolle und Dokumente vom 21.3.1919 bis 10.4.1919, Bd. 98
  • R 26122 Parlamentarischer Untersuchungs-Ausschuß. 1. Unterausschuß. Referat des Sachverständigen Abg.

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    Bernstein Über die deutsch-englischen Beziehungen in der Zeit von Gründung des deutschen Kaiserreichs an bis zum Ausbruch des Weltkrieges

  • R 26123 Parlamentarischer Untersuchungs-Ausschuß. 1. Unterausschuß. Referat Dr. Fischer Über die deutsch-englischen Beziehungen vor 1914

RUSSISCHES ZENTRUM FÜR DIE AUFBEWAHRUNG UND ERFORSCHUNG VON DOKUMENTEN DER NEUESTEN GESCHICHTE MOSKAU (neuerdings: Russisches Staatsarchiv für sozialpolitische Geschichte)

FONDS 204 OPIS 1 Bernstein, Eduard

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Verzeichnis der Abkürzungen

AfS

Archiv für Sozialgeschichte

BGA

Beiträge zur Geschichte der Deutschen Arbeiterbewegung

DDP

Deutsche Demokratische Partei

DNVP

Deutschnationale Volkspartei

DVP

Deutsche Volkspartei

GG

Geschichte und Gesellschaft

IISG

Internationales Institut für Sozialgeschichte Amsterdam

IWK

Internationale Wissenschaftliche Korrespondenz der Arbeiterbewegung

MSPD

Mehrheitssozialdemokratische Partei

MWG

Max Weber Gesamtausgabe

NG/FH

Die Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte

NL

Nachlass

NZ

Die Neue Zeit

PA AA

Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes Bonn

Pr Jbb

Preußische Jahrbücher

PT

Parteitag

SAP

Sozialistische Auslandspolitik

SM

Sozialistische Monatshefte

USPD

Unabhängige Sozialdemokratische Partei

VfZ

Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte

WUA

Werk des Untersuchungsausschusses

ZfE

Zentralstelle für Einigung der Sozialdemokratie


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