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IV. Publizist ohne Sprachrohr? Bernstein und die sozialdemokratische Presse

Bernstein ist sein Leben lang kein Parteifunktionär gewesen, und er ist erst sehr spät Parlamentarier geworden. Der ihn aus Deutschland fernhaltende Haftbefehl hatte ihm – der sich gern auch in der praktischen Politik engagiert hätte und, obwohl er sich in England wohl fühlte, darunter litt, von der Bewegung, der sein ganzes Schaffen galt, abgeschnitten zu sein [1892 schrieb Bernstein an Victor Adler: »In der Fremde arbeitet unsereins [...?] doch sozusagen ziellos. In die englischen Verhältnisse mische ich mich nicht gerne ein, u. die deutschen werden mir immer mehr zu Begriffen. [...] Sie leben inmitten der Bewegung, für die Sie schaffen, das ist ein Vorzug, den ich schon vierzehn Jahre entbehre.« Bernstein an Victor Adler, 1.12.1892, in: VICTOR ADLER: Briefwechsel mit August Bebel und Karl Kautsky [...], ges. u. erl. v. Friedrich Adler, Wien 1954, S. 112.] – bis 1901 eine Laufbahn als Parteifunktionär und Parlamentarier verwehrt. Sein Hauptbetätigungsfeld – und sein Brotberuf – war die politische Publizistik. Zunächst war er zehn Jahre lang leitender Redakteur des »Sozialdemokrat«; nachdem das Sozialistengesetz Ende September 1890 außer Kraft gesetzt und diese Exilzeitung damit obsolet geworden war, England-Korrespondent des »Vorwärts« und festes Redaktionsmitglied in der nun zur Wochenschrift umgewandelten »Neuen Zeit«. Nach dem Bruch mit Kautsky auf Grund des Revisionismusstreits schied Bernstein im Jahr 1900 aus der Redaktion aus, schrieb dort noch bis 1902 gelegentlich Beiträge, doch seit 1899 wurden die 1895

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von Joseph Bloch gegründeten »Sozialistischen Monatshefte« seine neue publizistische Heimat. Zudem war er seit 1907 Berliner Korrespondent der linksliberalen britischen Wochenzeitung »The Nation«.

Bernstein hatte sich nach seiner Rückkehr nach Deutschland an der Gründung eigener Presseorgane versucht, doch die monatlich erscheinenden »Dokumente des Sozialismus«, die er 1901 ins Leben rief, erlebten nur vier Jahrgänge, und das 1904 gegründete »Neue Montagsblatt« musste noch im selben Jahr sein Erscheinen einstellen. Der Ausbruch des Krieges beendete seine Mitarbeit bei »The Nation«, und als er im Herbst 1914 mit Bloch und den »Monatsheften« brach [DIETER FRICKE: Zum Bruch Eduard Bernsteins mit den ›Sozialistischen Monatsheften‹, in: BGA 3 (1975), S. 454-468.] , hatte er, von den sehr geringen Diäten als Reichstagsabgeordneter abgesehen, keine festen Einkünfte mehr. Zunächst fand er, neben einigen bürgerlich-pazifistischen Blättern, in denen er gelegentlich veröffentlichte [BERNSTEIN: Haß und Krieg, in: DAS FORUM, hg. v. Wilhelm Herzog, Jg. 1, Nr. 10 (1915), S. 510-521; DERS.: Völker zu Hause. Erinnerungen, in: DIE WEISSEN BLÄTTER, Jg. 2, Nr. 4 (1915), S. 1413-1430. Siehe auch oben, Anm. 5.] , noch einmal in der »Neuen Zeit« ein Forum für seinen Kampf gegen den Krieg und die anti-internationalistische Politik der Parteimehrheit. Aus der vorsichtigen Wiederannäherung zwischen Bernstein und Kautsky seit 1912 [SCHELZ-BRANDENBURG (wie Anm. 16), S. 357-364. Der erste Artikel, den Bernstein wieder in der »Neuen Zeit« veröffentlichte, behandelte die Frage, wer das ›Urheberrecht‹ auf die Forderung nach Beteiligung der SPD an den preußischen Landtagswahlen beanspruchen dürfe: Wie es im Jahre 1885 stand. Ein Beitrag zur Geschichte der Wahltaktik der Sozialdemokratie, in: NZ, Jg. 31/1, Nr. 12 (20.12.1912), S. 431-436.] wurde nun im Krieg wieder eine enge persönliche und politische Freundschaft. Als die Parteileitung 1917 beschloss, die Redaktion der »Neuen Zeit« in die Hände des die Kriegspolitik stramm unterstützenden

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Heinrich Cunow zu legen, blieb beiden nur noch die von Breitscheid 1915 ins Leben gerufene »Sozialistische Auslandspolitik«, die auch Haase und Ströbel zu ihren festen Mitarbeitern zählte; doch mit der Revolution und Bernsteins Wiederannäherung an die MSPD endete für ihn auch hier die Mitarbeit. Das »sehnsuchtsvolle Bedürfnis« nach einer neu zu gründenden sozialistischen Tageszeitung, von dem Bernstein im Herbst 1919 in der »Welt am Montag« gesprochen hatte, war also ein ganz persönliches – und auch ein ökonomisches – Bedürfnis Bernsteins selbst. [DIE WELT AM MONTAG, Nr. 41 v. 13.10.1919 [Zur Frage der Einigung]. – Das Projekt wird auch in Briefen an Kautsky erwogen: IISG NL KARL KAUTSKY D V 524 [Brief Bernsteins an Kautsky v. 12.1.1924] u.ö.]

Während sich der ähnlich isolierte Kollege Ströbel, ehemaliger Chefredakteur des »Vorwärts«, dem parteiunabhängigen linken Pressespektrum zuwandte – er publizierte nun vor allem in der »Weltbühne« –, suchte Bernstein seit seiner Rückkehr in die MSPD im »Vorwärts« Fuß zu fassen. Vor allem zum Themenbereich Demokratie und Parlamentarismus konnte er dort einige Leitartikel veröffentlichen, man gestand ihm auch die für eine Tageszeitung ungewöhnliche, doch für Bernstein typische Form von Mehrteilern oder einer Artikelserie zu. [Siehe o., Anm. 215.] Schon an dieser Form zeigte sich, ebenso wie an der Länge der Artikel, die die für einen Leitartikel üblichen ein bis zwei Spalten meist überschritten, dass der Tagesjournalismus nicht eigentlich sein Metier war. Denn die aktuellen politischen Ereignisse dienten Bernstein meist nur als Aufhänger für die Erörterung grundsätzlicher politischer Fragen. Seinem aufklärerischen, einem »wissenschaftlichen Sozialismus« verpflichteten Anspruch gemäß legte er diese mit zahlreichen historischen Beispielen ausführlich

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dar. Einem Leitartikel ist eine Statistik beigegeben, einem anderen eine Fußnote, der Ton ist belehrend. [DIE FREIHEIT, Nr. 13 v. 22.11.1918 [Aufgaben der Revolution]: Vergleichszahlen der Staatseinnahmen der Sowjetrepublik vom ersten Halbjahr 1917 und ersten Halbjahr 1918. VORWÄRTS, Nr. 488 v. 24.9.1919 [Demokratie und Arbeiterklasse]: »Um mit der Logik anzufangen, so verstößt die bolschewistische Beweisführung dadurch gegen die Gesetze dieser Wissenschaft des richtigen Urteilens und Folgerns, daß sie das von ihr als notwendig irreführend verfemte Spiel mit den vier Begriffen (quaternio terminorum 1 ) treibt.« [Hervorhebung T.L.].]

Es waren jedoch nicht diese dem Medium und der Zeit nicht ganz angemessenen formalen und stilistischen Eigenarten, die zu heftigen Konflikten mit dem »Vorwärts« führten, sondern der Dissens zwischen Bernstein und dem »Vorwärts« hinsichtlich der Frage der Kriegsschuld und des Versailler Friedensvertrags. [Zur Haltung des »Vorwärts« zum Friedensvertrag: BURCKHARD ASMUSS: Republik ohne Chance? Akzeptanz und Legitimation der Weimarer Republik in der deutschen Tagespresse zwischen 1818 und 1923, Berlin/New York 1994, S. 197-211.]
Drei Wochen nach Bernsteins Rede auf dem Weimarer Parteitag veröffentlichte das MSPD-Zentralorgan einen zweiteiligen Artikel Bernsteins, betitelt »Die nächsten Aufgaben in der Friedensfrage«. [VORWÄRTS, Nr. 337 v. 4.7.1919 [Die nächsten Aufgaben in der Friedensfrage. 1. Grundsätzliches zur polnischen Frage] u. 339 v. 5.7.1919 [Die nächsten Aufgaben in der Friedensfrage. 2. Wie Verbesserungen zu erreichen sind]. Die folgenden Zitate aus dem Nachwort der Redaktion v. 4.7.1919.]
In einem Nachwort der Redaktion distanzierte diese sich: Sie gebe Bernsteins Artikel zur polnischen Frage, heißt es im Anschluss an seine Ausführungen, »im Interesse der freien Meinungsäußerung innerhalb der Partei« wieder, wenngleich sie »gegen ihren Inhalt den schärfsten Widerspruch erheben« müsse, »wie ja auch der Parteitag diese Gedankengänge fast einmütig abgelehnt hat«. Im am folgenden Tag veröffentlichten zweiten Teil seiner Ausführungen ging Bernstein der

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Frage nach, wie Verbesserungen des Friedensvertrags zu erreichen seien. [Ebd., Nr. 339 v. 5.7.1919. Da auch die folgenden Zitate [Hervorhebung im Original].] Seine in Weimar verkündete These, »daß der größte Teil dieser Bedingungen – ob neun oder acht Zehntel ist Nebensache – Notwendigkeiten sind«, halte er aufrecht. Als Voraussetzung für Verbesserungen forderte er vor allem »die Entfaltung einer Eigenart [...], die man bei so vielen unserer Landsleute schmerzlich vermißt: Takt. Nur zu viele Deutsche glauben, wenn sie nicht aufpochen können, entweder kreischen oder kriechen zu müssen. Beides ist in gleicher Weise vom Uebel. Eine ruhige, mit Takt geltend gemachte Festigkeit führt am ehesten zum Ziel. Dazu gehört dann auch der endgültige Verzicht auf die Methode des Ableugnens nun einmal nicht aus der Welt zu schaffender Verantwortungen. Es ist ein Wahn, wenn man glaubt, durch Ableugnen der deutschen Sache nützen zu können. Das Gegenteil ist der Fall.«

Als Zeugen für seine Auffassung zitierte er ausführlich den Pazifisten Friedrich Wilhelm Foerster. Der »Vorwärts« bekundete in seinem Nachwort »womöglich noch schärferen Vorbehalt«. Statt eigene Ausführungen zu machen, entschied sich die Redaktion, »gegen Eduard Bernstein – Eduard Bernstein zu zitieren« und druckte einige Passagen aus seinem »Vorwärts«-Artikel vom 14. Mai, in dem er sich gegen einige Bedingungen des Vertragsentwurfs ausdrücklich verwahrt hatte. [Ebd., Nr. 245 v. 14.5.1919 [Richtige Fragestellung. Qualifiziertes oder unqualifiziertes Nein] .] Bernstein war von diesem Vorgehen nicht nur tief gekränkt [IISG NL BERNSTEIN D 382 [Brief des »Vorwärts«-Redakteurs Erich Kuttner an Bernstein v. 8.7.1919]. Darauf handschriftlicher Vermerk Bernsteins: »Kuttner Apologie«.] , ihm war und blieb die politische Haltung des Zentralorgans der Partei in dieser Frage unverständlich. Er antwortete in einem langen Artikel, in dem er deutlich zu machen suchte, dass ihn die Absicht leitete, »für Deutschland im Osten und im Westen zu retten, was im

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Angesicht der Lage der Dinge auf friedlichem Wege überhaupt gerettet werden kann«. [VORWÄRTS, Nr. 345 v. 9.7.1919 [Vernunftpolitik oder Deklamationspolitik? Eine Antwort von Eduard Bernstein]. Ebd. auch die folgenden Zitate.]
Die Entgegnungen des »Vorwärts« seien nur »Verwahrungen«, es fehle dem Blatt ein positives politisches Programm einer deutschen Außenpolitik. Die eigenen Artikel des Blattes seien

»Deklamationen, die man sich so nationalistisch auslegen kann, wie man nur mag, die aber keine Spur eines Weges erkennen lassen, der aus dem jetzigen furchtbaren Zustand der Verhetztheit der Völker in absehbarer Zeit herausführt. [...] Ich verstehe den militaristisch gesinnten Nationalisten, der auf irgendwelchen demnächstigen Krieg oder kriegerischen Aufstand spekuliert, so verderblich ich solche Spekulation halte. Ich verstehe auch den Kommunisten, der die Weltrevolution vor der Tür sieht und im Hinblick auf sie alle Bemühungen, zwischen den Nationen, wie sie sind, ein erträgliches Verhältnis herzustellen, für Firlefanz erklärt, so irreführend ich seine Vorstellungen auch halte. Nicht verstehen kann ich jedoch, wie man erklären kann, weder das eine zu wollen, noch das andere zu hoffen, und doch dabei in einer Sprache und Darstellungsweise verharren, die nur Sinn haben, wenn man unser Volk dem einen oder dem anderen in die Arme treiben will.«

Es war in dieser Frage zwischen ihm und dem »Vorwärts« keine Verständigung möglich. In seinen Briefen an Kautsky klagte Bernstein regelmäßig über die Haltung des Zentralorgans und seines Chefredakteurs Stampfer. Doch er versuchte weiterhin, Stampfer Artikel zu diesem Thema anzubieten. [IISG NL KARL KAUTSKY D V 524 [Brief Bernsteins an Kautsky v. 12.1.1924]; IISG KAUTSKY FAMILIENARCHIV Nr. 135 [Brief Bernsteins an Kautsky v. 27.3.1921]. Absagebrief Stampfers v. 11.6.1920 an Bernstein: Russisches Zentrum für die Aufbewahrung und Erforschung von Dokumenten der neuesten Geschichte/Moskau FONDS 204 OPIS 1 Bernstein, Eduard Nr. 1376.]
Von we-

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nigen Ausnahmen abgesehen [Etwa die Artikel »Geschichtslügen der Gegenwart«, in: VORWÄRTS, Nr. 58 v. 1.2.1920; »Ein Brief Poincarés«, ebd., Nr. 128 v. 10.3.1920; »Morel und die Kriegsschuldfrage«, ebd., Nr. 354 v. 30.7.1924.] , blieb es bei den auch nicht sehr zahlreichen Artikeln zu Demokratie, Koalitionspolitik und USPD, Themen, in denen er und die »Vorwärts«-Redaktion übereinstimmten.

Was die sozialistischen Zeitschriften betraf, kam für Bernstein eine erneute Mitarbeit bei den »Sozialistischen Monatsheften«, dem »Organ der fanatischen Englandhetze« [IISG NL KARL KAUTSKY D V 540: Brief Bernsteins an Kautsky vom 14.10.1926, in dem er berichtet, er habe sich, da sich niemand sonst gefunden habe, bereit erklärt, für die »Sozialistischen Monatshefte« einen Nachruf auf Richard Fischer zu schreiben.] , ebenso wenig in Betracht wie bei Cunows »Neuer Zeit«. Fast drei Jahre lang, bis zum Sommer 1921, war er deshalb, von den wenigen »Vorwärts«-Artikeln abgesehen, innerhalb der sozialdemokratischen Öffentlichkeit weitgehend zum Schweigen verurteilt. Auffällig ist, dass er – vom Eröffnungsartikel zum Sozialistentag und einem zweiteiligen Artikel, in dem er über die Konferenz der Internationale in Luzern berichtete, abgesehen [DER MARXIST, Nr. 1 v. 21.6.1919 [Gruß dem Sozialistentag]; Nr. 10 v. 24.8.1919 [Wer wird siegen? Die Internationale in Luzern I]; Nr. 11 v. 31.8.1919 [Nicht Bakunin, sondern Marx! Die Internationale in Luzern II].] – darauf verzichtete, im Verbandsorgan der von ihm gegründeten Zentralstelle für Einigung zu schreiben. Das Niveau des Blattes war allerdings eher niedrig, die Tendenz eher links.

Am 22. August 1921 erschien Bernsteins erster Artikel in der von Alexander Parvus-Helphand 1915 gegründeten sozialistischen Wochenschrift »Die Glocke«, die sich, im Unterschied zur »Neuen Zeit« und den »Monatsheften«, nicht einen elitären intellektuellen Anspruch gab, sondern bewusst allgemein verständlich gehalten war und zunächst ganz vom rechten Parteiflügel

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dominiert worden war. [Zur Gründung der »Glocke« siehe WINFRID B. SCHAR LAU/ ZBYNEK A. ZEMAN: Freibeuter der Revolution. Parvus-Helphand. Eine politische Biographie, Köln 1964, S. 194-206.]
Bernsteins erster Beitrag war eine Besprechung von Ströbels Buch »Die Sozialisierung, ihre Wege und Voraussetzungen«. Er lobte besonders das Kapitel, das sich kritisch mit dem Bolschewismus auseinander setzte, und legte, im Rahmen einer Rezension recht ausführlich, seine eigenen Anschauungen dar. [BERNSTEIN: Ein Wegweiser der Sozialisierung, in: DIE GLOCKE, Jg. 7/1, Nr. 21 (22.08.1921), S. 565-569.]
Anfang September rezensierte der »Vorwärts«-Redakteur Erwin Barth in der »Glocke« neben anderen Titeln zum Thema Bernsteins »Die deutsche Revolution« sehr wohlwollend: »Das Bernsteinsche Buch will ein Geschichtsbuch sein, es ist mehr, es ist ein Lehrbuch für die moderne Arbeiterschaft und eine starke Mahnung, sich auf der Linie gemäßigter, aber entschiedener Staatsarbeit zusammenzuschließen.« [ERWIN BARTH: Revolutionsgeschichte, in: DIE GLOCKE, Jg. 7/2, Nr. 23 (5.9.1921), S. 638-641, Zitat S. 639f.]
Eine kritische Bemerkung zu der von Bernstein in seinem Buch tatsächlich nur gestreiften Kriegsschuldfrage wollte Bernstein jedoch nicht unwidersprochen lassen: Die »Der Sinn der Schuldfrage« betitelte Erwiderung auf Barth mutet geradezu leitmotivisch für seine von nun an regelmäßige Mitarbeit bei der »Glocke« an. [BERNSTEIN: Der Sinn der Schuldfrage, in: DIE GLOCKE, Jg. 7/2, Nr. 30 (17.10.1921), S. 804-808.]

Ausgerechnet »Die Glocke«, die bis Ende 1919 unter der Leitung Konrad Haenischs einen nur als nationalistisch zu bezeichnenden Ton geführt hatte, wurde unter der neuen redaktionellen Leitung des früheren »Weltbühne«-Mitarbeiters Robert Breuer ein um Meinungsvielfalt bemühtes, offenes Diskussionsforum, das einzige innerhalb der Mehrheitssozialdemokratie, in dem die

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Kriegsschuldfrage kontrovers erörtert wurde. [SCHARLAU/ZEMAN (wie Anm. 274), S. 332. Die Aufzählung der Mitarbeiter ist jedoch zu undifferenziert, Bernsteins erster Beitrag ist vom Sommer 1920, Breitscheid schrieb erstmals im November 1922 für »Die Glocke«.]
Zunächst jedoch hatte die Redaktion einer größeren Kriegsschulddiskussion aus dem Wege gehen wollen: Auf Bernsteins Artikel reagierte umgehend Hans Delbrück mit einer »Antwort zur Schuldfrage«, worauf wiederum Bernstein antwortete. [HANS DELBRÜCK: Eine Antwort zur Schuldfrage, in: DIE GLOCKE Jg. 7/2, Nr. 32 (31.10.1921), S. 864-866; BERNSTEIN: Verfehltes Weißwaschen, in: ebd., Jg. 7/2, Nr. 34 (14.11.1921), S. 927-929. Das folgende Zitat ebd., S. 929. – An Bernstein persönlich schrieb Delbrück darauf: »Ich würde Ihrem Artikel in der ›Glocke‹, nicht im Ton aber in der Sache zum grossen Teil zustimmen können, wenn Sie zum Schluss hinzugefügt hätten, dass alle diese Ihre Anklagen natürlich ganz und garnichts zu tun hätten mit der Behauptung, durch die das Versailler Ultimatum die Friedensbedingungen begründe. Wenn Sie es auch nicht ausdrücklich aussprechen, so glaube ich doch aus dem ganzen Zusammenhang entnehmen zu können, dass Sie in diesem Punkt mit mir übereinstimmen. Ich kann es daher nur bedauern, dass Sie nicht die Gelegenheit wahrgenommen haben, diese Übereinstimmung so unzweideutig wie möglich kundzugeben und zu unterstreichen.« IISG NL BERNSTEIN D 130 [Brief Delbrücks an Bernstein v. 14.11.1921].]
»Wir glauben mit dieser Antwort Eduard Bernsteins die Diskussion über die Schuldfrage schließen zu können«, hatte die Redaktion hinzugefügt.

Bernstein verlegte sich also auf eines seiner anderen Schwerpunktthemen und begann im April 1922 mit der Rezension von jüngst erschienenen Schriften zu Sowjetrussland. Zwei Besprechungen widmete er Berichten Russlandreisender und zeigte, dass selbst dem neuen System in Rußland gegenüber wohlwollend oder positiv eingestellte Besucher von erschreckenden Zu-

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ständen berichteten. [BERNSTEIN: Sowjet-Rußland unter vier Aspekten. 1. Im Lichte sanguinischer Betrachtung, in: DIE GLOCKE, Jg. 8/1, Nr. 1 (3.4.1922), S. 21-25, Besprechung von Philipp Snowden: Durchs bolschewistische Rußland. DERS.: Was ein deutscher Sozialist in Sowjet-Rußland sah, ebd., Nr. 4 (24.4.1922), S. 105-110, Besprechung von Friedrich M. Minck: Räterußlands Not. Erlebnisse und Erkenntnisse während meiner achtmonatigen Forschungsreise in Sowjetrußland, Berlin 1922.]
Die beiden folgenden Artikel besprachen Werke sozialistischer Theoretiker, zunächst eine Schrift des Petersburger Gelehrten Kulischer, abschließend Kautskys gegen Trotzkis »Anti-Kautsky« verfasste Antikritik »Von der Demokratie zur Staatssklaverei«. [BERNSTEIN: Sowjet-Rußland als Experiment der Geschichte, ebd., Nr. 7 (15.5.1922), S. 180-187, Besprechung von A.M. Kulischer: Das Wesen des Sowjetstaates, Berlin 1921. BERNSTEIN: Sowjetrußland [sic] und die Theorie, ebd., Nr. 11 (12.6.1922), S. 297-303. Ebd., S. 303 die folgenden Zitate. Die Titel Kautskys und Trotzkis s.o., Anm. 128.]

Als sich Hermann Wendel, der mit Bernstein im Untersuchungsausschuss des Reichstags saß, und andere kritische Stimmen zur Kriegsschuldfrage und zur zunehmenden nationalistischen und antisemitischen Propaganda zu Wort meldeten, schaltete sich auch Bernstein wieder in die Schulddiskussion ein. [HERMANN WENDEL: Judenhetze und Deutschtum, in: DIE GLOCKE, Jg. 8./1, Nr. 7 (15.5.1922), S. 169-172; F. HUBER (München): Deutschnationale Wahrheitssucher, ebd., S. 177-180; darauf wieder DELBRÜCK: Zum Prozeß Fechenbach-Coßmann, ebd., Nr. 10 (5.6.1922), S. 267f.; BERNSTEIN: Die Haftbarkeit der Völker, ebd., Nr. 9 (29.5.1922), S. 232-237.]

Im September 1922 mischte er sich mit seiner Antikritik zu Kautskys Kritik am Görlitzer Programm und dem Artikel zur Koalitionsfrage in die durch die bevorstehende Wiedervereinigung ausgelöste Programmdebatte der Partei ein [BERNSTEIN: Karl Kautsky über das Görlitzer Programm, ebd., Nr. 24 (11.9.1922), S. 630-638. DERS.: Klassenkampf und Koalitionspolitik, ebd., Nr. 25 (18.9.1922), S. 649-653; ausführlich dazu s.o., S. 123.] , um sich

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dann wieder in den Kampf gegen die Kriegsunschuldlegende zu stürzen: »Das Recht auf Wahrheit und das Vorrecht der Lüge« war die Aufsatzserie betitelt, mit der Bernstein nun noch einmal ausführlich zur Kriegsschuldfrage Stellung nahm. [BERNSTEIN: Das Recht auf Wahrheit und das Vorrecht der Lüge. I., ebd., Nr. 32 (6.11.1922), S. 831-834; DERS.: Das Recht auf Wahrheit und das Vorrecht der Lüge. II., ebd., Nr. 33 (13.11.1922), S. 853-855; DERS.: Die Täuschung durch Enthüllungen. (Das Recht auf Wahrheit und das Vorrecht der Lüge. III.), ebd., Nr. 34 (20.11.1922), S. 880-884; DERS.: Wo die Kriegsschuld beginnt. (Das Recht auf Wahrheit und das Vorrecht der Lüge. IV.), ebd., Nr. 36 (4.12.1922), S. 926-931; DERS.: Das Extrablatt des ›Berliner Lokal-Anzeigers‹ (Das Recht auf Wahrheit und das Vorrecht der Lüge. V.), ebd., Nr. 40 (6.11.1922), S. 1027-1031.]
Nach der Besetzung des Ruhrgebiets durch französische und belgische Truppen schien es der Redaktion angebracht, »die angekündigte Fortsetzung [...] im Einverständnis mit dem Verfasser« zurückzustellen, »bis die Zeit zur ruhigeren Erörterung dieser Dinge wieder geeigneter ist«. [Ebd., Nr. 43 (22.1.1923), S. 1116 [Notiz]. Ab Sommer 1924 veröffentlichte Bernstein wieder Artikel gegen Kriegsunschuldlüge und Dolchstoßlegende: BERNSTEIN: Militarismus und Weltkrieg, ebd., Jg. 10/1, Nr. 12 (19.6.1924), S. 387-392; DERS.: Totengräber Deutschlands, ebd., Nr. 17 (24.7.1924), S. 549-554; DERS.: Wie man ›vaterlandslos‹ wird. Zur Seelenkunde des Militarismus, ebd., Nr. 25 (18.9.1924), S. 797-800.]
Bernstein mühte sich in den folgenden Artikeln, den sich auf Grund der Ruhrbesetzung überschlagenden nationalistischen Emotionen entgegenzutreten, dabei aber zugleich Kritik an der Gewaltpolitik der französischen Regierung und der Tatenlosigkeit der übrigen Ententestaaten zu üben. [BERNSTEIN: Die Friedenslüge des Herrn Poincaré, ebd., Nr. 43 (22.1.1923), S. 1093-1095; DERS.: Wie gewinnen wir das Ausland?, ebd., Nr. 47 (19.2.1923), S. 1192-1199; DERS.: Die merkwürdige Neutralität Amerikas, ebd., Nr. 50 (12.3.1923), S. 1266-1269; DERS.: Ein Brief für einen amerikanischen Staatsmann, ebd., Jg. 9/1, Nr. 3 (16.4.1923), S. 57-60; DERS.: Frankreich und das Recht, ebd., Nr. 15 (9.7.1923), S. 387-393.]

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Der Journalist Bernstein war ein belehrender, oft etwas langatmiger, normativ interpretierender Erzieher und Mahner. Der stark moralische Unterton seiner Arbeiten kommt häufig schon in den Überschriften mit der Verwendung der Begriffe »Pflicht«, »Pflichtgebot« oder »Aufgabe« zum Ausdruck. Auch der jüngere Bernstein hatte sich häufiger selbst zitiert; diese Neigung hatte mit dem Alter zugenommen. Er wiederholte sich und verstand es nicht, Altes auf neue Art zu sagen. Sein publizistisches Schaffen konzentrierte sich ganz auf zwei Themen: Kriegsschuld und Koalitionsfrage.

«Die Glocke« bot Bernstein zwar keine publizistische Heimat mehr – dazu war hier eine viel zu ›gemischte Gesellschaft‹ versammelt –, sie bot ihm aber wenigstens noch einmal ein Forum, seine Überzeugungen öffentlich zu machen. Als sie 1926 ihr Erscheinen einstellte und das 1924 von Rudolf Hilferding gegründete neue Theorieorgan der Partei »Die Gesellschaft« auf Bernsteins Mitarbeit keinen Wert legte, hatte er in der deutschen sozialistischen Presse tatsächlich kein Sprachrohr mehr.


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