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[Seite der Druckausg.: 5]

Feliks Tych
Deutsche, Juden, Polen:
Der Holocaust und seine Spätfolgen


Die Geschichtsschreibung hat jahrzehntelang die Tendenz gehabt, den Holocaust als eine eindimensionale Beziehung zwischen Tätern und Opfern darzustellen. Die einen haben das Thema vor allem aus der Sicht der Entscheidungs- und Ausführungsprozesse der Täter, die anderen aus der Sicht des Leidens und des Schicksals der Opfer betrachtet oder beides. Ein äußerst wichtiger Faktor wurde in der allgemeinen Darstellung fast gänzlich außer Acht gelassen: nämlich das soziale Umfeld des Holocausts.

Der Holocaust hat nicht in einem sozialen Vakuum stattgefunden. Es gab in jedem der betroffenen Länder ein ganz konkretes politisches, wirtschaftliches und moralisches Umfeld, das dem Holocaust in jedem einzelnen Land eine andere Gestalt verlieh. Man hat die Opfer aus einer bestimmten Gesellschaft ausgewählt. Und von dieser Umgebung war das Schicksal der Opfer wie auch das Verhalten der Täter abhängig. Die Unterschiede haben sich summarisch in dem Prozentsatz der jüdischen Opfer im Vergleich mit der Gesamtzahl der Juden im jeweils betroffenen Land gezeigt.

Den höchsten Prozentsatz der Opfer stellen das okkupierte Polen und Litauen (fast 98% der Juden, die sich in diesem Bereich in deutscher Gewalt befanden).

Man könnte hier auf die krassen Unterschiede im Schicksal der Juden in Dänemark oder Bulgarien, auch Italien (wo „nur" 17,3% der Juden umgebracht wurden) und dem Rest des okkupierten Europa hinweisen. Selbstverständlich konnte sich das Wunder Dänemarks, wo nur 7.000 Juden lebten, in dem besetzten Polen mit seinen fast 3,5 Mio. Juden, die der deutsche Okkupant in seiner Gewalt hatte, nicht nachahmen lassen. Die Polen konnten beim besten Willen nicht alle „ihre" Juden retten, noch nicht einmal die Mehrheit. Bei einer anderen Einstellung der durchschnittlichen Polen hätten aber wahrscheinlich etwas mehr Juden gerettet werden können, als das in der Realität der Fall war.

Nach realistischen Schätzungen wurden etwa 40.000 Juden von Polen gerettet, und zwar vorwiegend in Warschau und in Südost-

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Polen. Die Ergebnisse meiner eigenen quantitativen Analyse der Zeitzeugenberichte (ich meine hier die Überlebenden des Holocaust) zeigen, dass etwa 35% der Geretteten ihren Rettern Geld bezahlt haben, und nicht bloß für ihren Unterhalt; 50% wurden ohne Entgelt gerettet, bezahlten aber meistens für ihren Unterhalt, 15 % konnten sich auf eigene Faust, nur mit einer gelegentlichen Hilfe (wie der Besorgung von falschen Papieren, einer Übernachtung usw.) retten.

Um einen Juden retten zu können, mussten im Durchschnitt 5-6 Personen eingeweiht werden. Das bedeutet eine ganze Armee von etwa 250.000 Rettern. Das ist eine ungeheure Zahl engagierter, todesmutiger Menschen! Wir besitzen dokumentierte Quellen von mehr als 660 Polen, die zusammen mit den Juden, die sie zu retten versuchten, erschossen wurden.

In jedem polnischen Schulbuch über die Zeit des Zweiten Weltkriegs können Sie einen Satz finden, der im Range eines Dogmas steht: Die Polen konnten nicht mehr für die Juden tun, da jede Hilfe für die Juden mit der Todesstrafe bedroht wurde. Das stimmt auch. Aber... Wenn man die Zahlen gegenüberstellt, so ergibt sich, dass den erfolgreichen 250.000 polnischen Rettern (mehr als 1% der ethnisch polnischen Bevölkerung des Landes) etwa 660 Polen gegenüberstehen, die für diese Hilfe umgebracht wurden. Das bedeutet nichts anderes als die klare Feststellung, dass 99,7 % der Polen, die es gewagt haben, eine Rettungsaktion zu unternehmen, diese Absicht tatsächlich gelungen ist. Bisher hat niemand in Polen versucht, diese Zahlen zusammenzustellen und eindeutige Schlussfolgerungen daraus zu ziehen. Übrigens, die Todesstrafe hat es auch für andere Verhaltensweisen gegeben, wie die Teilnahme an der Widerstandsbewegung, die dennoch von der ganzen oder einem großen Teil der polnischen Bevölkerung mit Mut und Engagement in äußerster Solidarität durchgeführt wurde... Nur in der Sache der Rettung der Juden hat es Solidaritätsdefizite gegeben.

Und nur in jüdischen Memoiren, so jetzt gerade wieder bei Reich-Ranicki, finden Sie eine Bemerkung darüber, dass die Retter nach dem Kriege nicht gewünscht haben, ihre Rettungstaten bekannt werden zu lassen.... Die Mehrheit der Retter hat sich in Polen erst einige Jahrzehnte nach dem II. Weltkrieg zu ihren Taten bekannt und von ihren Erlebnissen berichtet. Viele behalten bis heute ihr Geheimnis.

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Es war nicht bloß gefährlich, sondern auch sehr unpopulär, die Juden zu retten.

Ich habe vor kurzem einen Zeitzeugenbericht aus dem Vernichtungslager Sobibor gelesen. Der Autor beschreibt, wie die Todestransporte nach Sobibor angekommen sind: die polnischen Juden in Viehwaggons, sehr oft war die Hälfte der „Ladung" schon auf dem Transport gestorben. Manche wurden auf Bauernfuhrwerken herangekarrt, viele sogar zu Fuß zum Ort ihres Martertodes gejagt. Die Transporte aus dem Westen dagegen kamen in der Regel in normalen Personeneisenbahnwaggons. Auch bei der Ankunft wurden die westeuropäischen Juden noch für ganz kurze Zeit anders behandelt, wenngleich es schon einige Minuten später allen gleich erging: ab in die Gaskammern. Man konnte über die Personenwaggons sagen: Tarnung. In Polen war sie so gut wie unmöglich, weil wegen des hohen Prozentsatzes der Juden unter der Bevölkerung Polens (insgesamt 10%, 40% in den Städten) sich die Mordaktionen vor den Augen der polnischen Bevölkerung abgespielt haben. Hier, in Sicht-, Hör- und Riechweite der übrigen Bevölkerung, wurden alle Vernichtungslager installiert; jeder Pole wusste genau, wohin und zu welchem Zweck die Juden abtransportiert wurden. Im Westen war das anders.

Kann man die Sache mit den Personenwaggons bloß auf eine Tarnung, eine Täuschungsabsicht reduzieren? Ein gewisses Maß an Berücksichtigung der sozialen Umgebung steckt wohl auch dahinter.

Es ist generell auffallend, dass es erst jetzt, fast zwei Generationen nach Kriegsende, in einigen europäischen Ländern (Frankreich, Holland, Slowakei, Ungarn, der Schweiz – andere fehlen noch!!) langsam zu einem Nachdenken über das tatsächliche Verhalten der eigenen Bevölkerung und manchmal auch der eigenen Regierungen oder Administration gegenüber dem Nazi-Judenvernichtungsprogramm kommt. Vor einiger Zeit habe ich in einer Fachzeitschrift einen schönen Satz über den langjährigen französischen „internal self-imposed Holocaust blackout" gefunden. [ Eric Epstein, Fit to be tried: Maurice Papon and the Vichy Syndrome. Defeat and Collaboration. In: „Journal of Genocide Research" 1999, Nr. 1, S. 119.]
Das gilt aber nicht bloß für Frankreich. Auf beiden Seiten des eisernen Vorhangs gab es dieselben Phänomena. Und paradoxerweise - aus denselben Gründen...

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In vielen einst durch die Nazis okkupierten Ländern ist nur eine kleine Minderheit bereit zuzugeben, wie verheerend die deutsche Politik gegenüber den Juden auf das Verhalten und die moralische Verfassung der entsprechenden Nationen gewirkt hat. Man gibt oft zu, dass man durch den Naziterror eingeschüchtert war, selten aber, dass der unbestrafte Mord an den Juden in sich selbst eine zerstörerische, demoralisierende Wirkung auf die Zeugen des Mordes hatte. Die meisten – auch viele Polen – sind überzeugt, sie seien immun gegen antisemitische Propaganda der Nazis gewesen. Denn damit würde auch der Mythos vom ungeteilten Widerstand gegen die Deutschen, d.h. das eigene Selbstbild, ins Wanken kommen. Allerdings, möchte ich hinzufügen - zu einem Zeitpunkt, zu dem in Deutschland die Rufe nach dem „Schlussstrich" lauter geworden sind! Die einen wollen aufhören, die anderen haben noch gar nicht angefangen!

Wie Sie besser wissen als ich, hat es auch in Deutschland eine Weile gedauert, bis man sich in vollem Ausmaß mit dem Problem Holocaust konfrontiert hat.

Es ist auch kein Zufall, dass erst jetzt große internationale komparatistische Projekte entstehen, die sich mit dem Einfluss der deutschen Okkupation und des Nazi-Judenmordes auf die moralische Kondition der Völker der okkupierten Länder befassen. Ich meine das große European Science Foundation Project. Erst jetzt, zwei Generationen nach dem Krieg, fühlen sich die Historiker bereit, so ein Forschungsvorhaben zu unternehmen. Das ist allerdings keine Anklage, nur eine Feststellung.

Saul Friedlaender hat im November 1998 gerade zu dieser Frage einen Artikel in der „Zeit" veröffentlicht, der vielen von Ihnen sicherlich bekannt ist („Die Metapher des Bösen. Über Martin Walsers Friedenspreis-Rede und die Aufgabe der Erinnerung").

Der Autor erwähnt u.a. den in Frankreich von Rechts bis Links, von Gaullisten bis zu den Kommunisten, herrschenden Mythos, dass im besetzten Frankreich die Zahl der Helden sehr groß, die der Feiglinge sehr klein gewesen sei, und am Rande dieser und anderer ähnlicher Rückprojektionen und vor allem am Rande der Martin-Walser-Kontroverse bemerkt er folgendes:

„Ein nationaler Mythos lässt sich nur schwer erschüttern, wenn die kollektive Selbstachtung auf dem Spiel steht oder kollektive Schamgefühle heraufbeschworen werden könnten. Mythos und Verdrängung

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waren nach dem Zweiten Weltkrieg in allen westlichen Ländern die probatesten Beruhigungsmittel. Doch seltsamer- und paradoxerweise drängt sich trotz der Widerstände gegen die Entmystifizierung die bittere Wahrheit über diese Vergangenheit immer mehr in den Vordergrund. Diese Vergangenheit ist gegenwärtiger denn je. Es ist ein paradoxes Phänomen, das der tiefer gehenden Reflexion wert ist". [ „Die Zeit", 26.11.1998, Nr. 49, S. 50.]

Er kommt zu der Schlussfolgerung, dass eine völlig normale Gesellschaft nicht ohne Erinnerung sein kann.

Es ist merkwürdig, dass trotz der bis 1989 unterschiedlichen Arbeitsbedingungen der Historiker auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs das, was er sagt, für Ost und West gleichermaßen gilt.

In manchen Ländern des ehemaligen Ostblocks (den Baltischen Staaten, Belarus, der Ukraine) sieht man bis heute wenig Bereitschaft, sich mit diesen Themen zu befassen, außerhalb des jüdischen Milieus, versteht sich. In Polen gab es schon seit 1987 die ersten und einsamen Versuche, wenigstens einige Mythen, die mit der Kriegszeit verbunden sind, in Frage zu stellen (ich denke an den Artikel von Jan B³oñski in der unabhängigen katholischen Wochenschrift „Tygodnik Powszechny" „Die armen Polen schauen aufs Ghetto"). Der Titel sagt alles. Doch sehr weit ist man in dieser Richtung nicht gekommen. Auch im Westen scheint diese Bereitschaft nicht übertrieben groß zu sein.

Bekanntlich werden die Ergebnisse historischer Forschung erst dann zu einem öffentlichen Faktum, wenn sie entweder in das Bildungssystem integriert oder durch die Medien verbreitet werden. Soziologische Untersuchungen haben übrigens erwiesen, dass die Medien in dieser Hinsicht effektiver als das Bildungssystem sind. Leider haben in der Sache der Holocaust-Erziehung in Zentral- und Osteuropa bis jetzt beide versagt.

Der Widerstand derjenigen, die die Mythen verteidigen, ist immer noch sehr heftig. Nur eine relativ kleine, engagierte Minderheit hat sich ernsthaft mit diesem Problem beschäftigt. Das gilt für Polen und anderswo. Ich möchte mich aber vor allem auf das Beispiel Polen stützen.

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Ein eher unschuldiges Beispiel: Neben meinem Haus war eine längere Zeit ein Graffito zu sehen, das lautete: „RTS Jude". RTS ist ein polnischer und nicht-jüdischer Sportklub, eine Fußballmannschaft, und das Graffito wurde offensichtlich durch einen Fan eines konkurrierenden Sportklubs geschrieben. „Jude" wurde als Schimpfwort benutzt. Das ist klar. Das Ungewöhnliche liegt in der Tatsache, dass in Polnisch ein Jude „¯yd" heißt und nicht Jude. Der jugendliche Graffitoautor hat aber nicht das polnische Wort, sondern das deutsche Wort „Jude" benutzt. Ein halbes Jahrhundert nach dem Krieg!

Die Sache hat neulich eine ganz neue Dimension bekommen: Letzte Woche hat die größte polnische Tageszeitung – „Gazeta Wyborcza" - eine doppelseitige Reportage der zweitgrößten Stadt Polens, £ódŸ, gewidmet, und zwar einer ganz konkreten Angelegenheit: Ganz £ódŸ ist mit antisemitischen Graffiti beschmiert und bemalt. Die Landsmannschaft der Juden aus £ódŸ, die jetzt in Israel wohnen, hat einen öffentlichen Appell an die Bevölkerung der Stadt gerichtet und um die Entfernung dieser Graffitti gebeten. Auf jedem zweiten Haus können Sie solche Losungen wie z.B. „Juden raus" (wieder auf Deutsch und nicht auf Polnisch), Hakenkreuze usw finden. Es hat sich erwiesen, dass die ganze antisemitische Graffiti-Epidemie, alle diese Tausende von antisemitischen Symbolen und Losungen, gar nicht direkt gegen die Juden gerichtet waren, sondern die Kiebitze, die Fans zweier konkurrierender Sportvereine: £KS und Widzew haben sich eine Graffitischlacht geliefert. Beide haben das Wort „Jude" als Schimpfwort benutzt. Sie können sich vermutlich vorstellen, warum hier deutsche und nicht polnische Worte benutzt wurden und in welchem historischen Kontext diese deutschen Worte in die polnische Umgangsprache aufgenommen wurden. Wieder zwei Generationen nach dem Holocaust!

Ich benutze Beispiele aus Polen aus vielen Gründen. Nicht nur, weil ich mich in dem historischen Raum meines Landes besser auskenne, sondern auch weil Polen aus objektiven Gründen für die Erforschung dieses Themas besonders wichtig ist. Warum?

Nirgendwo auf der ganzen Welt gab es bis 1942 eine so große, geschlossene jüdische Bevölkerung wie in Polen vor dem II. Weltkrieg, wo mit 10% der Gesamt- und 40% der Stadtbevölkerung der höchste Prozentsatz an jüdischer Bevölkerung auf der Welt lebte, beinahe 3,5 Millionen Menschen.

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Mit diesem ersten Punkt hängt der zweite ganz eng zusammen: Um eine solch große Zahl von Menschen vernichten zu können, war es aus logistischen Gründen notwendig, die Vernichtungslager in Polen zu errichten.

Im besetzten Polen wurden aber - wie bekannt - alle Nazi-Vernichtungslager errichtet, auch die, die für das ganze europäische Judentum bestimmt wurden.

Die Gründe sind deutlich: Man wollte die Lager so weit wie möglich entfernt von den westeuropäischen Zentren haben. Nicht, weil man große Proteste in den entsprechenden Ländern gefürchtet hätte, sondern weil man nicht gewagt hat, ganz Europa klar zu machen, was „Deportation" tatsächlich bedeutete, auch nicht dem deutschen Volk.

Was Westeuropa betrifft, aus dem Grunde, dass Besatzungspolitik und Kriegsziele im Falle der meisten nichtslawischen Länder Europas anders waren als im Falle der osteuropäischen Länder. Man wollte Westeuropa nicht der direkten Wirkung der physischen Vernichtung der Juden aussetzen, und nur bestimmte Nationen sollten Zeugen der direkten Ausführung des Holocausts werden: diejenigen nämlich, die später entweder selbst für eine selektive Ausrottung (wie die Polen) vorgesehen waren oder von denen man eine Komplizenschaft erwarten konnte und ja in der Tat zum Teil auch gefunden hat (wie die Balten, die Litauer, die Ukrainer oder die Weißrussen).

Der polnische Fall ist auch in anderer Hinsicht interessant:

1) Beide, Polen und Juden, waren Opfer der deutschen Besatzung. Sie waren aber ungleiche Opfer, ungleich im existenziellen Sinne, in dem die beiden Gruppen der Bevölkerung durch den Okkupanten behandelt wurden. Diese Ungleichheit kann man auf ein Problem reduzieren: die ungleichen Überlebenschancen. Ein Jude versuchte sich im KZ als Pole auszugeben – nie umgekehrt! Und genau das wird so oft übersehen bzw. verschwiegen. Die Juden waren für die totale Vernichtung bestimmt, die Polen dagegen sollten „nur" selektiv - vor allem die geistigen Eliten, auch die Widerstandskämpfer - ausgerottet werden. Das ist auch in der Proportion der Opfer zu sehen: Die Polen haben insgesamt im Krieg und durch den Terror des Okkupanten etwa 7% der Bevölkerung verloren, die Juden 98-99 %. Das gilt für die Juden, die in den Machtbereich der deutschen Besatzung gerieten.

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2) Die Polen, von denen etwa 1,5% aktiv an der Rettung der Juden beteiligt waren, trotz der hohen Welle des Antisemitismus vor 1939, sind - mindestens als Gruppe - zu keinen direkten Komplizen des Nazimordes an Juden geworden. Es gab solche Fälle, manchmal sehr gravierende Fälle, z.B. in Jedwabno, einer polnischen Stadt, die zwischen dem 17. September 1939 und 22. Juni 1941 unter sowjetischer Besatzung war. Dort sind nach dem Einmarsch der deutschen Truppen im Juni 1941 ca. 1000 Juden durch polnische Einwohner aus eigener Initiative (die deutschen Offiziere haben mit Genugtuung zugeschaut) in einer Scheune lebendig verbrannt worden, nur weil ein paar jüdische Kommunisten aus dem Städtchen mit den sowjetischen Behörden in der Zeit der sowjetischen Besatzung Ostpolens kollaboriert hatten. Die polnischen Kommunisten waren in dem Städtchen unter der sowjetischen Besatzung genauso aktiv, in der Scheune verbrannt hat man aber nur die Juden. Einzelfälle der Komplizenschaft mit dem Nazi-Judenmord wurden aber nie institutionalisiert. Die Polen haben nicht die Vernichtungslager oder die Ghettos bewacht, wie die Ukrainer oder die Balten; sie waren nicht an den Massenhinrichtungen der Juden beteiligt, wie die Lettische, Litauische, Belorussische und Ukrainische Miliz bzw. Polizei oder die Eiserne Garde in Rumänien und die Pfeil-Kreuzler in Ungarn; sie waren auch nicht, mit wenigen Ausnahmen (die polnische Ordnungspolizei), direkt an den Deportationen beteiligt. Die Tatsache aber, dass im besetzten Polen die Vernichtung des polnischen und des europäischen Judentums in Gegenwart der polnischen Bevölkerung stattgefunden hat, hat die Polen am stärksten den moralischen Folgen des Holocaust ausgesetzt. In diesem Sinne gehörten die Polen objektiv - ich würde sogar etwas sagen, was wie ein Paradox klingt - unbewusst zu den moralischen Opfern des Holocausts, während die Juden seine physischen Opfer waren.

Wie zerstörerisch diese moralischen Nachkriegsfolgen waren, zeigt das Beispiel des Pogroms von Kielce im Juli 1946. Der blutige (42 Todesopfer!) Kielcer Pogrom wäre in der Zeit zwischen 1920 und 1939 in Polen einfach undenkbar gewesen. Ich sage bewußt nicht 1918-1939, sondern 1920-1939, weil es in den Jahren 1918-1919, also im ersten Jahr nach der Wiedergeburt Polens, im ersten Jahr der II. Republik, zu ca. 130 Pogromen und antijüdischen Krawallen gekommen ist, darunter zu dem blutigsten Judenpogrom der Zeit

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zwischen den beiden Weltkriegen: zu dem Pogrom in Lvov (Lemberg) im November 1918, der weit über 100 Todesopfer forderte. Seitdem herrschte aber in Polen eine relative Ruhe.

Der Kielcer Pogrom und eine ganze Reihe (es handelt sich um Hunderte von Opfern) von Morden an Juden in den Zügen (sog. Zugaktion) und kleinen Städten, als die wenigen Juden, die überlebt hatten, in ihre Häuser zurückzukehren versuchten, kann nur durch die Brutalisierung der Verhältnisse infolge der Naziokkupation und des Krieges erklärt werden. Eine ganz entscheidende Erfahrung der deutschen Gewaltherrschaft während der Okkupation war die, dass ein Jude ohne Bestrafung des Täters getötet werden konnte, dass das Umbringen eines Juden nicht zur Kategorie eines gewöhnlichen Mordes oder überhaupt eines Verbrechens gehörte. In solchen direkt nach dem II. Weltkrieg bemerkbaren Formen, in diesem gewalttätigen Ausmaß, spielte sich der Antisemitismus in Polen vor 1939 nicht ab.

Das hat sich nicht nur in dem Kielcer Pogrom gezeigt, sondern auch in anderen Erscheinungen:

1) Da ist einmal die fehlende Solidarität mit den Juden, die den Holocaust überlebt haben, und in nicht seltenen Fällen sogar eine Zustimmung ex post zum Holocaust (im letzten Fall geht es zwar bestimmt nicht um die Mehrheit der Polen, aber auch nicht bloß um eine Randerscheinung); eine solche formulierte oder auch bloß empfundene Zustimmung gab es auch damals schon (d.h. während des Krieges). Das bestätigen viele Zeitzeugenberichte, Memoiren und Tagebücher, nicht bloß jüdischer, sondern auch polnischer Autoren. Auch das gilt natürlich nicht für die meisten Polen, war aber ebenfalls nicht nur eine Randerscheinung. Vor dem Kriege wäre eine Zustimmung zur physischen Vernichtung des in vielerlei Hinsicht „unerwünschten" und ungeliebten jüdischen Bevölkerungsteils in Polen einfach undenkbar gewesen. Während des Holocausts und in der Nachkriegszeit ist es aber zu einem politischen und moralischen Faktum geworden, über das nicht gesprochen wird, das aber dennoch existent ist.

2) Da ist gleichfalls die heutzutage relativ verbreitete Meinung, dass die Juden über die Richtlinien der polnischen Politik entscheiden. Das ist natürlich eine Variante der bekannten, über ein Jahrhundert alten Theorie der jüdischen Weltverschwörung. Diese Meinung vertreten z.B. solche wichtigen Institutionen wie der große private katholische

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Sender „Radio Maria" (mit ca. 4 Mio. Zuhörern und einer durchaus nicht kleinen Gruppe von etwa 30 Abgeordneten im Parlament) oder die große katholische Tageszeitung „Nasz Dziennik", auch eine ganze Reihe anderer Presseorgane. Zwar haben beide Institutionen nicht die offizielle Legitimation durch die katholische Hierarchie, aber immerhin hat sich der Papst bei dem Sender „Radio Maria" für seine Leistungen bei den letzten Parlamentswahlen bedankt.

Vor dem Kriege – mit 3,5 Mio. Juden - wäre niemand auf die Idee gekommen, dass die Juden über die polnische Politik entschieden. Höchstens wurde gesagt, dass das s.g. Weltjudentum von außen versuche, einen Druck auf Polen auszuüben, wie z. B. im Falle des Versailler Vertrages von 1919 und des von ihm verlangten Schutzes der nationalen Minderheiten in Polen, was von den polnischen nationalistischen Parteien als eine Verletzung der polnischen Souveränität betrachtet wurde. Und jetzt, wo es nur etwa 8.000 - 10.000 Juden gibt, meistens alte und arme Leute, stellt man eine derart widersinnige Behauptung auf. Man muß aber überhaupt kein Jude sein, um in Polen als Jude bezeichnet zu werden.

Eine polnische Soziologin, Prof. Hanna Œwida-Ziemba, sieht einen direkten Zusammenhang zwischen der Einstellung zum Holocaust und den gegenwärtigen Formen des Antisemitismus. Über die Gleichgültigkeit der meisten Polen damals und jetzt zum Holocaust hat sie 1998 folgende Bemerkung gemacht: „Wenn die Polen tatsächlich die Grausamkeit des Holocausts verstanden und innerlich erlebt hätten, würden sie schmerzhaft empfindlich auf alle Erscheinungen des Antisemitismus reagieren. Sofort und energisch." Sie ist aber der Meinung, dass das nicht der Fall sei. [ Hanna Świda-Ziemba, „Hańba obojętności", in: Gazeta Wyborcza 17.8.1998.]
Die polnischen Historiker Wùadysùaw Bartoszewski und Andrzej Bryk bezeichnen dieses Phänomen unabhängig voneinander als das Fehlen eines ‘kollektiven Schocks’, das die Nichtthematisierung, die fehlende Auseinandersetzung mit dem Holocaust nach dem Krieg, im polnischen Bewusstsein verursacht hat.

Ein polnischer Theologe, Pater Stanis³aw Musia³ vom Jesuitenorden, sieht dieselben Zusammenhänge, diesmal am Beispiel der antisemitischen Hetze, die, durch eine kleine Gruppe ausgelöst und gesteuert, sich über ein Jahr unter dem Vorwand der angeblichen

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Verteidigung der in Auschwitz durch dieselbe Gruppe errichteten Kreuze hingezogen hat. Auch dieser Streit ist in der Holocaustzeit begründet. „Woher" - schreibt Pater Musia³ - „kommen dieser Hass und diese bösartigen Emotionen? Sie entstehen, weil wir bis heute in Polen uns keine unbequemen Fragen gestellt haben. Über unsere Einstellung zu den Juden in der Vergangenheit, während des Krieges und nach dem Krieg. Dies alles wartet auf eine Antwort, und die Historiker arbeiten über diese Themen nicht [...] Bei uns ist das immer noch tabuisiert: Wir wehren uns ständig. Wir möchten als eine Nation, die gelitten hat und die keinem anderen Unrecht zugefügt hat, gesehen werden.[...]. Das ist eine Sünde, die unser Gewissen belastet. Ich würde noch weiter gehen und sagen, dass, wenn heute eine Krise des Christentums und der europäischen Kultur besteht, das eine Folge der Tatsache ist, dass das Christentum die Hoffnungen der Menschen in der Zeit der Shoah nicht erfüllt hat. Natürlich haben viele Christen den Juden geholfen, aber wir fühlen intuitiv, dass wir der Aufgabe nicht gewachsen waren. Das beeinflusst unsere heutige Haltung. Deswegen reagieren wir so emotional. Aber so oder so müssen wir diese Sache auf irgendwelche Weise eines Tages erledigen." [ Stanisław Musiał, Kadysz za księdza, in: „Gazeta Wyborcza", 9.-10.1.1999.]
Man muß aber hinzufügen, dass Pater Musia³ unter dem polnischen Klerus mit seinen Ansichten sehr einsam dasteht.

Ich habe im letzten Jahr für einen größeren Aufsatz, der kürzlich erschienen [ Ú wiadkowie Shoah. Zag ů ada ý ydów w polskich pami ć tnikach i wspomnieniach (Die Zeugen der Shoah. Die Vernichtung der Juden in polnischen Memoiren und Erinnerungen), in: Feliks Tych, D ů ugi cie ń Zag ů ady. Szkice historyczne, Warszawa 1999, S. 9-54. ] ist, nicht weniger als 400 meistens unveröffentlichte polnische Tagebücher und Memoiren aus der Kriegs- und Holocaustzeit analysiert.

Die meisten haben das Phänomen Holocaust, also das Schicksal von 10% ihrer Mitbürger, einer ganzen großen ethnischen Gruppe der polnischen Gesellschaft, sozusagen völlig übersehen. Das war ganz offensichtlich überhaupt kein Thema, das ihre Aufmerksamkeit verdiente. Die andere Gruppe, der Zahl nach die zweitgrößte, hat zwar den Holocaust bemerkt, aber ohne jegliches Mitleid für die Opfer. Nur ein kleiner Teil (etwa 10 %) der Autoren schreibt bedrückt, mit Mitgefühl, ja mit Mitleid über das Schicksal der Juden. Es gibt aber

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auch Texte, die dem Geschehenen sogar positive Seiten abgewinnen können - in dem Sinne: Hitler hat für uns eine wichtige Sache erledigt! Wir sind die Juden losgeworden und mußten das nicht mit eigenen Händen tun.

Ein kleines Beispiel zur schmerzhaften Frage der Ex-post-Zustimmung für den Holocaust :

Im Januar 1998 hat eine polnische Provinztageszeitung, „Gazeta Lubuska", in Zielona Góra (im deutschen Reich hieß die Stadt: Grünberg) beschlossen, ein kleines soziologisches Experiment durchzuführen. Sie hat nämlich ihre Reporter in ein Dorf namens ¯ydowo geschickt, was auf Deutsch etwa „Judendorf" heißen würde, um die dortigen Einwohner über ihre Einstellung zu den Juden zu befragen. Einfach eine journalistische Idee, die aus dem Wortspiel „Judendorf" - „Juden" hervorgegangen ist. Die Ergebnisse dieses journalistischen Witzes waren aber keinesfalls witzig.

Fast alle Einwohner des Dorfes haben zugegeben, dass sie nie in ihrem Leben einen Juden gesehen haben. Nichtsdestoweniger war fast jeder der Einwohner des Dorfes Verfechter eines drastisch negativen Judenstereotyps. Befragt über ihre Einstellung zu der Vernichtung der Juden im II. Weltkrieg, hat – mit Ausnahme von zwei Personen - keiner der Einwohner den Judenmord verurteilt. Von einem der Einwohner haben die Reporter folgende Aussage aufgenommen: „Hitler hat gut daran getan, dass er die Juden umgebracht hat, weil sonst die Juden Polen erledigt und auch die ganze Welt angegriffen hätten. Nur Hitler hat sie richtig durchschaut." [ „Tylko Hitler poznał", in:"Gazeta Lubuska" 3.-4.1.1998, Nr. 2.]
Wieder ein Echo der Nazi-Propaganda. Die Aussage hat keine Proteste bei den anderen hervorgerufen. Über einen ähnlichen Fall hat die lokale Presse im Juni 1999 aus der Gegend von Krotoszyn (Zentralpolen) berichtet: Auf einem Treffen der Bauern in dem Dorf Razdra¿ewo mit dem Vorsitzenden der populistischen, chauvinistischen und anti-europäischen Bauernpartei „Samoobrona" (Selbstschutz) Andrzej Lepper am 16. Juni 1999 hat einer der Teilnehmer erklärt: „ Der liebe Gott alleine hat uns Sie, Herr Andrzej, zur Rettung geschickt, genauso wie er einst Hitler geschickt hat, um die Juden auszurotten." [ Im Original heißt es: „Ja wierzę Panie Andrzeju, iż Pana posłał Bóg do tej misji. Tak samo jak Bóg posłał Hitlera, żeby wytępił wszystkich ." Informacje Regionalne. Tygodnik powiatowy, Krotoszyn, 23.-29.6.1999.]
Die Worte

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haben einen riesigen Beifall gefunden und wurden von Lepper, der als Kandidat für die nächsten Präsidentschaftswahlen auftritt, nicht kommentiert.

Ich möchte damit nicht sagen, dass solche Aussagen wie in Razdra¿ewo das polnische politische Leben dominieren, aber immer wieder tauchen sie irgendwo auf. Mit anderen Worten: Es entsteht die legitime Frage: Bildet das Dorf ¯ydowo oder das Dorf in der Nähe von Krotoszyn mit seiner Bejahung des Holocausts eine Ausnahme in der polnischen Landschaft?

Ein Soziologe, der von der Redaktion der „Gazeta Lubuska" gebeten wurde, die Ergebnisse der Umfrage im Dorf ¯ydowo zu kommentieren, hat die Aussagen der Bauern in ¯ydowo als nichts Ungewöhnliches charakterisiert. Er hat bemerkt, dass die Befragten überhaupt nicht imstande waren zu sagen, „worin ihre moralische Überlegenheit gegenüber den Juden liegt. Ein klares Gefühl des eigenen Wertes beruht auf dem negativen Stereotyp der <anderen>. Ein abstrakter Jude wird also zum Träger von allem, was einen negativen Wert hat, kein einziger positiver Charakterzug wurde ihm zugeschrieben. Bemerkenswert: Keiner der Befragten der Reportage versucht, seine Anschauungen mit eigenen Erfahrungen zu konfrontieren. [ Eine Aussage von Dr. Jerzy Leszkowicz-Baczyński vom Institut für Soziologie der Pädagogischen Hochschule in Zielona Góra, ebenda.]
So weit der Kommentar des Soziologen.

Ich glaube, dass der Soziologe aus Zielona Góra uns auf die richtige Spur bringt.

Die seit zwei Generationen fortgesetzte Tabuisierung des Holocausts in den Zeiten Volkspolens (die jüdischen Opfer des Holocausts wurden summarisch, ohne sie zu nennen, in die Gesamtzahl der polnischen Opfer der Okkupation eingerechnet) hat dazu beigetragen, dass die Mehrheit der heutzutage lebenden Polen keine Möglichkeit bekommen hat, den Holocaust als eine erfahrbare Erscheinung zu sehen. Erst seit einigen Jahren beginnen die polnischen Schulbücher, sich mit dem Holocaust zu befassen. Die 45 Jahre dauernde Abwesenheit der jüdischen Komponente in der Darstellung der Geschichte Polens in den Medien (gemeint sind hier das ganze Bildungssystem, die Schulbücher, populär-wissenschaftliche Ausgaben, Zeitungsartikel, Reiseführer, das Fernsehen und

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überhaupt jede Form historischer Darstellungen) in den Zeiten des „real existierenden Sozialismus" hat fatale Folgen gehabt. Ganze Jahrzehnte hatten Polen überhaupt keine Möglichkeit gehabt, Näheres über den Holocaust, über die Ereignisse ihrer jüngsten Vergangenheit zu erfahren. Und nicht, weil man die Deutschen schonen, sondern die jüdischen Themen vermeiden wollte. Der Holocaust wird in Polen durch die meisten immer noch als eine jüdische und nicht als eine menschliche, zivilisatorische Angelegenheit betrachtet.

Wie verschiedene Umfragen zeigen, weiß die Mehrheit der Polen bis heute nicht, dass 90 % der Opfer von Auschwitz-Birkenau Juden waren, und betrachtet den Ort als Symbol vorwiegend des polnischen Martyriums. Jüdische Appelle, Auschwitz als einen Ort ohne konfessionelle Symbole zu akzeptieren, die die Gefühle von religiösen Juden auf diesem größten jüdischen Friedhof der Welt verletzen, werden durch die meisten Polen als eine Art Usurpation betrachtet. Wie Sie sehen, auch hier, in den gegenwärtigen Auseinandersetzungen mit dem Antisemitismus im Hintergrund, führt der Faden direkt in die Kriegszeiten.

Die Folgen des Holocausts sind aber nicht nur im Verhalten der Polen gegenüber den Juden und umgekehrt bemerkbar. Man kann sie auch deutlich sehen in dem Verhalten der Juden in eigenen Sachen. Vor allem in der Frage der jüdischen Identität, dem Bekenntnis zum Judentum. In Polen leben zur Zeit nur etwa 8.000 bis 10.000 Juden (im Vergleich zu 3,5 Mio. vor dem Krieg). Nach manchen Schätzungen gibt es aber mindestens 20.000 Juden, Überlebende des Holocausts und ihre Kinder, die nach den traumatischen Erfahrungen des Holocausts und der Nachkriegspogrome es einfach nicht wagen, im Kreise ihrer Bekannten und Freunde als Juden aufzutreten. Manchmal weiß sogar der Ehemann nicht, dass er eine Jüdin geheiratet hat, und die Kinder oder Enkelkinder wissen nicht, dass sie eine jüdische Mutter oder Großmutter haben. Wir sind z.B. in unserem Institut auf folgenden Fall gestoßen: Eine 67 Jahre alte Frau kommt zu uns und bittet auf Grund unserer Akten um eine Bestätigung, dass sie eine Jüdin sei. Sie war ein von einem katholischen Kloster gerettetes jüdisches Kind, und sofort nach dem Kriege wurde sie in ein Jüdisches Waisenhaus aufgenommen. Sie hat aber das Waisenhaus nach einem Jahr nach dem Kielcer Pogrom verlassen, und man hat jede Spur von ihr verloren. Sie ist zu ihrer falschen Identität aus

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der Kriegszeit zurückgekehrt, hat eine Familie gegründet, aber weder ihr Mann noch ihre Kinder wussten, dass sie eine Jüdin ist. Wir haben ihre Akten aus dem Waisenhaus in unserem Institutsarchiv gefunden und haben ihr eine entsprechende Bestätigung ausgestellt. Sie hat nichts zur Begründung ihres Verhaltens gesagt, und wir haben es auch nicht verlangt. Alles war beiden Seiten klar.

Gab es aber in den polnisch-jüdischen Beziehungen Voraussetzungen, die den Nazis das Stillhalten der Mehrheit der polnischen Bevölkerung angesichts der 1941/42 begonnenen totalen Vernichtung der polnischen Juden ermöglicht oder wenigstens erleichtert haben?

Die Antwort lautet: ja. Solche Voraussetzungen hat es gegeben. Wir haben es hier – historisch gesehen – mit einer sehr unglücklichen zeitlichen Koinzidenz zu tun: In der zweiten Hälfte der 30er Jahre, nach dem Tod von Pilsudski 1935, also ein paar Jahre vor dem deutschen Angriff auf Polen, haben auch die Pilsudskisten, die früher eine eher gemäßigte Einstellung zu den Juden hatten, begonnen, im Namen der nationalstaatlichen Idee in Richtung eines vehementen Antisemitismus zu driften und haben sich den rechtsnationalistischen Parteien angenähert. Auf diese Weise ist - ausgerechnet wenige Jahre vor dem deutschen Überfall auf Polen - der Antisemitismus in Polen vehementer denn je geworden. Abgesehen von der schwierigen Übergangszeit 1918-1919 war die zweite Hälfte der 30er Jahre die schlimmste Zeit in den polnisch-jüdischen Beziehungen. Und gerade diese Tatsache hat wesentlich zur Gleichgültigkeit der Mehrheit der polnischen Bevölkerung angesichts der Vernichtung der Juden durch die Nazis beigetragen.

Zum Schluß möchte ich hier zwei in Polen letzthin durchgeführte Umfragen darstellen, die direkt mit unserem Thema verbunden sind.

Die erste Umfrage vom August 1999 betrifft die Einstellung der Polen zu den nationalen Minderheiten des Landes und zu den benachbarten Nationen. [ Gazeta Wyborcza, 14.9.1999.]
35% der Befragten haben eine negative bis feindliche Einstellung zu den Juden erklärt (5 Jahre früher waren es 37 %). Der „Witz" besteht darin, dass von den Befragten in einem Land mit 39 Mio. Einwohnern, in dem es nur eine verschwindend kleine Minderheit von derzeit nur etwa 8.000 - 10.000 Juden gibt, kaum jemals je einer auch nur statistisch die Möglichkeit gehabt hat,

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tatsächlich einem realen Juden zu begegnen. Praktisch niemand hat also je eine persönliche Erfahrung in dieser Hinsicht gemacht. Das zeigt, wie tief antisemitische Stereotype in einem Land praktisch ohne Juden und im kollektiven Unterbewusstsein verankert sind.

Die zweite Umfrage, die durch ein gutes, erfahrenes Institut durchgeführt wurde, wandte sich im Namen der Tageszeitung „Rzeczpospolita" am 8. Dezember 1999 an die politischen und wirtschaftlichen Eliten wie auch an die Vertreter der freien Berufe. Eine der Fragen lautete: „Die Tätigkeit welches Politikers unseres Jahrhunderts hat Polen am meisten geschädigt?" Bei den Antworten stand Josef Stalin an erster Stelle mit 31 Punkten, an der zweiten Bolesùaw Bierut, der erste kommunistische Präsident Polens, mit 29 Punkten, an dritter erst Adolf Hitler – mit 17 Punkten. [ Elity o XX wieku, in: „Rzeczpospolita", 31.12.1999, Nr. 305, S. A10.]
Abgesehen von der Tatsache, dass von den drei Politikern nur Hitler eine existenzielle Bedrohung für die nationale Substanz der Polen als Volk bedeutete und die anderen vor allem „nur" eine politische - eine solche Antwort zeigt, dass der Holocaust, dessen Verursacher Hitler war, keine große Bedeutung für die Befragten, also hier für die polnischen Eliten, hat, und dies trotz der Tasache, dass er 10% der polnischen Staatsbürger das Leben genommen hat und dass zahlenmäßig die weitaus meisten Holocaustopfer aus Polen stammten.

Wie ist das zu erklären? Vielleicht hat die jetzt aktive Generation stärkere Erfahrungen mit den Zeiten des Kommunismus gemacht, während der Holocaust ihnen eben nie so recht - aus früher dargestellten Gründen wie der Tabuisierung in der kommunistischen Zeit usw. - zu Bewußtsein gekommen ist.

In dieser negativen Einstellung zum Kommunismus liegt auch wahrscheinlich die Ursache des negativen Judenstereotyps ohne Juden. Die starke und ebenfalls sehr alte und besonders von der nationalen Seite und der Kirche ständig hervorgehobene Verbindung zwischen Juden und Kommunismus spielt hier eine besonders wichtige Rolle. Man hört es doch oft bis heute: Der Kommunismus – das waren ja nicht die Polen – das waren ja die Juden!!... Die Juden waren auch die Sündenböcke des kommunistischen Regimes in Polen seit 1956. Alles kumuliert sich hier - der Kommunismus und der Anti-

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kommunismus. Und mit diesen bitteren Bemerkungen am Rande einer Umfrage möchte ich meine Betrachtungen beenden.

[Seite der Druckausg.: 22-24 ]

HINWEIS:
Auf den Seiten 22-24 der Druckausgabe ist eine Übersicht zu den bisher erschienenen Ausgaben der
Reihe "Gesprächskreis Geschichte" abgedruckt.
In der Online-Ausgabe ist diese Reihenübersicht nicht enthalten.
Bitte benutzen Sie den
LINK auf die Reihen-Abfrage im Katalog der DIGITALEN BIBLIOTHEK der FES
um sich über den aktuellen Stand der Reihe "Gesprächskreis Geschichte" zu informieren.


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