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ANHANG: DOKUMENTE
[von Kurt Schumacher]



[17.]
Warum der Radikalismus?


EV Nr. 216 v. 16.9.1930

Bei dem Volksentscheid gegen den Youngplan, den der Dreibund Hugenberg, Hitler und Seldte veranstaltet hatte, wurden nach einer maßlosen, auf die nationalistischen Instinkte berechneten Agitation 6 Millionen Stimmen für den nationalistischen Reichsausschuß abgegeben. Bei der hinter uns liegenden Reichstagswahl hat allein die Stimmenzahl der Nationalsozialisten 6 Millionen erheblich überschritten. Zählt man die Stimmen und Mandate der Parteien und Gruppen zusammen, die seinerzeit diesen Volksentscheid unterstützt haben, so kommt man nahe an die Hälfte aller Wählerstimmen und Reichstagsmandate heran. Die Schlußfolgerung daraus lautet nicht, daß diese Wahl ein Volksurteil gegen die bisherige Außenpolitik darstelle. Dieser Vergleich lehrt vielmehr, daß das gewaltige Anwachsen der Nationalsozialisten nicht allein aus ihrer chauvinistischen Agitation zu erklären ist. Es sind andere Momente, die sie zur zweitstärksten Partei des deutschen Reichstages gemacht haben. Zweifellos haben sie von den Deutschnationalen Stimmen gewonnen - Hitler frißt Hugenberg -, zweifellos auch von der bürgerlichen Mitte. Der Hauptteil der Wähler aber, der ihnen diesmal die Stimmen gegeben hat, ist aus der großen Masse der Indifferenten, der Nichtwähler, der Unpolitischen.

Es sind Stimmen von Leuten, die es von Zeit zu Zeit einer Regierung oder einem System „einmal beweisen" wollen. Stimmen der Verärgerung, der Verzweiflung, nicht des bewußten politischen Willens. Es ist unzweifelhaft, daß ein Teil dieser Wähler geglaubt hat, mit dem nationalsozialistischen Stimmzettel gegen Wirtschaftskrise und Wirtschaftsnot, gegen Erwerbslosigkeit und Elend zu protestieren. Daß er, von der antikapitalistischen Maske des Nationalsozialismus betört, glaubte, damit einen Schlag gegen das kapitalistische System zu führen. So hat diese Wahl die Tatsache ergeben, daß mit Hilfe der schwerindustriellen Hintermänner der Nationalsozialismus als Protest gegen die Auswüchse des kapitalistischen Systems zur Stärkung einer Partei benutzt worden ist, die wie keine andere eine Schutztruppe dieses System ist.

Wirtschaftkrise und Arbeitslosigkeit haben diesmal weniger die Kommunisten als die Nationalsozialisten gestärkt. Die Erbitterung richtet sich nicht bewußt gegen das kapitalistische System, sie richtet sich bei diesen Massen gegen den Staat von heute, den man verantwortlich macht für das, was Auswuchs des kapitalistischen Systems ist. Die Illusion, daß mit dem bloßen Protestschrei und dem Proteststimmzettel oder mit einer Politik der nationalistischen Abenteuerer die Wirtschaftsnot von heute geheilt werden könnte, ist weiter verbreitet, als man geglaubt hatte.

Sicherlich hat auch eine große Zahl von Jungwählern den Nationalsozialisten die Stimme gegeben. Die politische und geistige Haltung der Generation, die den Krieg nicht mehr bewußt miterlebt hat und nicht mehr unter seinem unmittelbaren Eindruck stand, ist eines der ernstesten Probleme der Republik. Ein Teil dieser Generation steht in der Zeit der Massenarbeitslosigkeit dem Leben ohne Hoffnung auf Arbeit und Beschäftigung gegenüber und folgt deshalb nur zu leicht politischen Scharlatanen, die mit radikalen Gesten um sie werben.

Durch den Ausgang dieser Wahl ist Deutschland zu der Wirtschaftkrise noch in eine außerordentlich ernste politische Krise geworfen worden. Die sozialistische Arbeiterschaft wird ihre ganze Kraft auf die Erhaltung der parlamentarischen Demokratie konzentrieren müssen.

Die politische Krise wiederum wird auf die wirtschaftliche Krise zurückwirken. In einer Zeit, wo die Stabilität der Staatswirtschaft um der gesamten Wirtschaft willen nötiger denn je ist, steht Deutschland mit einem fast arbeitsunfähigen Reichstag politischen Wirrnissen und Schwierigkeiten gegenüber. Einen ersten Vorgeschmack auf die wirtschaftlichen Rückwirkungen des Wahlausfalls hat die Reaktion der Berliner Börse am Motag gegeben. Es traten erhebliche Kursstürze auf, der Geldmarkt versteifte sich plötzlich, da man die Kündigung kurzfristiger Auslandsguthaben befüchtete. Es muß dafür gesorgt werden, daß der Fieberpatriotismus nicht das ganze Volk ergreift und es in Kämpfe wirft, die tödlich werden könnten, nicht nur für die parlamentarische Demokratie in Deutschland, sondern vor allem auch für die Wirtschaft, für die Existenzgrundlage des Volkes!


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | August 2000

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