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ANHANG: DOKUMENTE
[von Kurt Schumacher]



[13.]
Unitarismus oder Föderalismus?
Rede im württembergischen Landtag am 28.1.1928


Protokoll der Verhandlungen des württembergischen Landtages 1924-28, 187. Sitzung v. 28.1.1928. Bd. 7, S. 4723-4736, hier S. 4727-4730

(...)

Das deutsche Volk verdankt seinen wirtschaftlichen und politischen Aufstieg nach 1871 der Tatsache, daß es überhaupt die Kraft zu politischem und staatsrechtlichem Zusammenschluß in irgendeiner Form gefunden hat. Die historische Situation von 1871 läßt sich mit der historischen Situation von 1927 in keinem einzigen Punkt vergleichen. Jeder Vergleich vergewaltigt die Tatsachen. Die Bismärckische Schöpfung von 1871 ist ein Kompromiß zwischen dem Willen des deutschen Volkes zur Einheit und den realen Tatsachen einer Fürstenmacht, die mit dem deutschen Gedanken, der deutschen Seele und der deutschen Politik überhaupt nichts zu tun gehabt hat. Ich brauche bloß an das unendlich schädliche Verhalten der Hohenzollern und der Wittelsbacher zu erinnern, um zu zeigen, daß Bismarck hier mit sehr realen Faktoren des Widerstandes zu rechnen gehabt hat, so daß eine stärker zentralistische Regelung, als sie Bismarck 1871 getroffen hat, realpolitisch gar nicht möglich war. Man kann den Widerstand der deutschen Fürsten gegen das Deutsche Reich gar nicht stark genug einschätzen. Ich erinnere Sie daran, wie Bismarck seinen „gnädigen Herrn" fast mit Gewalt zum Throne hat schleppen müssen und ich erinnere Sie an die geradezu infame Verhandlung, die die Vertretung des deutschen Volkes 1871 im Spiegelsaal des Schlosses zu Versailles erfahren hat.

Und doch wäre die Schöpfung Bismarcks niemals ohne den Willen dieses Volkes zur Einheit möglich gewesen. Auch das Bismärckische Werk erhebt sich auf die Schultern eines demokratischen Willens zur deutschen Einheit! (Sehr richtig! links.) Bismarck hat also in seiner Verfassung kein Endziel erreichen können. Bismarck hat nur eine Etappe auf diesem Wege schaffen können. Meine Herren, übersehen Sie nicht, daß die Etappe der Bismärckischen Verfassung auch schon eine ungemein zentralistische Tendenz hat. Sie ist schon ein ausgesprochen zentralistischer Zustand gegenüber dem Zustand, der vor der Schöpfung dieser Verfassung bestanden hat. Vorher der Staatenbund, nach Versailles der Bundesstaat.

Vielleicht hätte Bismarck den entscheidenden Schritt auf dem Wege zum Zentralismus nicht getan, wenn damals Herr Bazille württembergischer Staatspräsident gewesen wäre. Der hätte das dem Reichskanzler Bismarck wohl nicht erlaubt, und ihm auch mit einem Weltenbrand gedroht. Ich nehme an, daß Bismarck voll Schrecken auf diese Drohung hin seine Kürassierstiefel ausgezogen und auf Filzpantoffeln das Lokal verlassen hätte. (Heiterkeit.) Genau so wie damals geht die Entwicklung über solche Worte, wie die des württembergischen Staatspräsidenten einfach hinweg. Auch Weimar war nichts weiter als eine neue Etappe zum Unitarismus, dessen erste große Etappe das Bismärckische Werk ist. Weimar kam, weil wir auf der ersten Etappe nicht stehen bleiben konnten. Da wir zum Ziele müssen, wollen wir über das Werk von Weimar hinaus!

Da sehe man sich doch einmal die ganze historisch-politische Auffassung Münchner und Stuttgarter Wachstums im Verhältnis zu Bismarck und seiner Auffassung zu dieser Frage einmal an. Bismarck hat einmal gesagt, „wenn man den Zustand fingierte, daß sämtliche deutsche Dynastien plötzlich beseitigt werden, so wäre es nicht wahrscheinlich, daß das deutsche Nationalgefühl alle Deutschen in den Friktionen europäischer Politik völkerrechtlich zusammenhalten wird, auch nicht in der Form föderierter Hansestädte und Reichsstädte. Die Deutschen würden fester geschmiedeten Nationen zur Beute fallen, wenn das Bindemittel verloren ginge, welches in dem Staatsgefühl der Fürsten liegt." Da zeigt sich, Bismarck hat sich geirrt und der Wille zum Deutschen Reich und zur deutschen Einheit ist heute viel stärker als damals, als er auf dem Standesgefühl der deutschen Fürsten beruhte.

Wir verzichten auf ein Reichsfundament, das auf dem Standesgefühl deutscher Fürsten basiert. Wir haben gegenüber Bismarcks Befürchtungen bewiesen, daß im Volke und seinem Willen zum Reiche ein viel stärkeres positives Element für den deutschen Reichsgedanken liegt. Aber der Herr Staatspräsident wird bei seiner Verhimmelung und seiner merkwürdigen Betrachtung Bismärckischer Reichspolitik und Reichsverfassungspolitik immer wieder das eine übersehen: Bismarck war Royalist. Bismarck fühlte sich als Vasall seines „gnädigen Herrn", und Bismarck hat eben mit den Möglichkeiten von 1871 und den Unmöglichkeiten der deutschen Fürsten dieser Zeit zu tun gehabt. Inzwischen haben sich alle diese „gnädigen Herren" und die Leute, die mit ihrem Standesgefühl das Reich tragen sollten, ohne Abmeldung nach auswärts verzogen. (Heiterkeit.)

Wer soll nun der Erbe dieses Standesgefühls, wer soll denn dieser föderative Ruhepunkt in der Erscheinungen Flucht sein? Will es vielleicht die Länderbürokratie sein, die diese Erbschaft der deutschen Dynastien antritt, will es die mehr oder weniger reaktionäre Regierung eines Landes sein? Was Konstantin Frantz einst den versteinerten Feudalismus in der Organisation des Deutschen Reiches genannt hat, paßt in die heutige Zeit absolut nicht mehr hinein. Durch den Umstand, daß das deutsche Volk tatsächlich und verfassungsrechtlich der Träger des Reiches geworden ist, ergibt sich auch die Notwendigkeit einer territorialen Neugliederung des Reiches, die wird bestimmt durch den entscheidenden Faktor des Reichsvolkes und keiner anderen irgendwie gearteten Macht.

Dem bundesstaatlichen Charakter des Reiches ist durch den Fortfall der Dynastien die entscheidende Voraussetzung entzogen worden. Ich glaube allerdings, daß es auch in Süddeutschland manche Staatsoberhäupter gibt, die sich in einer Horthyrolle fühlen, in einer Art von Verweserschaft von Gütern und Rechten eines eventuell einmal wiederkehrenden Königs und Herrn, von dessen Kompetenzen und Macht sie nichts zugunsten des Deutschen Reiches und des deutschen Reichsvolkes weggeben dürfen.

Wir allerdings haben diese Anschauung nicht. Wenn Hinz und Kunz alles mögliche anfängt, um Bismarck als den Konzeugen des Partikularismus zu zitieren, so ist das ein billiges Vergnügen. Gewiß mußte Bismarck seine Schöpfung verteidigen, aber wie wollen alle diese Herren mit dem entscheidenden Wort Bismarcks in seinen „Gedanken und Erinnerungen" fertig werden, dem Wort, das heißt: „Ich sehe in dem deutschen Nationalgefühl immer die stärkende Kraft, überall, wo sie mit dem Partikularismus in Kampf gerät, weil der letztere, auch der preußische, selbst doch nur entstanden ist in der Auflehnung gegen das Gemeinwesen (Hört, hört! links), gegen Kaiser und Reich, dem Abfall von beiden, gestützt auf päpstlichen, später französischen, in der Gesamtheit welschen Beistand (Hört, hört! links), die all dem deutschen Gemeinwesen gleich schädlich und gefährlich sind." (Hört, hört! links.)

Man sieht also auch in Bismarck, dem Schöpfer der von dem Herrn Staatspräsidenten bewunderten Verfassung mit föderalistischem Einschlag, den unbedingten Willen zur deutschen Reichseinheit durchbrechen gegen den Staatspartikularismus und gegen die eigene Vasallentreue. (Sehr richtig! links.)

Die Bismärckische Verfassung hat der Herr Staatspräsident zum Angelpunkt seiner Rede gemacht. Er hat Vergleiche gezogen, hat eine Reihe von Punkten aufgestellt für die fundamentalen Grundsätze der Bismärckischen Verfassung, über die Preisgabe der Grundsätze, über die Folgen dieser Preisgabe, über den Unitarismus als Gegenspieler zu diesen Grundsätzen und über Vor- und Nachteile des unitarischen und föderativen Reichs. Nun hat der Staatspräsident in Verfolg der Durchbrechung dieser Punkte als Fundamentalsatz aufgestellt, daß die Stärke der Bismärckischen Verfassung eben darin beruht, daß er im Bundesrat zum Träger der Reichssouveränität die einzelnen Bundesstaaten gemacht und damit also die denkbar stärksten Pfeiler für die Reichssouveränität und die Einheit aufgerichtet hat. Nun liegen die Dinge doch in Wirklichkeit ziemlich anders. (Abgeordneter Dr. Schall: Sehr richtig!) Die deutschen Staaten von 1871 sind nichts organisch Gewachsenes, kein organisches Fundament deutscher Reichseinheit, sondern sind politisch, wirtschaftlich und kulturell absolut unorganisch gewesen, sind Produkte übelster politischer Mechanik, Konstruktionen der nicht gerade wohlwollend auf das Schicksal des Deutschen Reichs bedachten Kabinetts-, Heiraten- und Hausmachtspolitik der Fürsten. Demgegenüber muß man doch sagen, der stärkste Pfeiler der Souveränität eines Volkes ist immer und überall das Volk. Denn das Volk bleibt, wenn die Fürsten auch lange vergangen sind. (Zuruf: Sehr richtig!)

Das Volk ist auch nach 1918 geblieben und hat es oft genug verstanden, die Verfassung und seine Existenz gegenüber andern zu behaupten. Das Volk ist das natürlichste, breiteste und erdnächste und darum auch das einzig wirklich organische und die Schwankungen der Zeit überdauernde Fundament wirtschaftlichen und staatlichen Lebens. Das Streben des Volkes ist auch schon 1871 und vorher danach gegangen, zu diesem Fundament, zum Reichsvolk zu werden, und es ist absolut falsch und eine Geschichtsklitterung, wenn der Herr Staatspräsident behauptet, gerade dieses Streben nach Einheit habe die reale Möglichkeit von 1848 zerschlagen und die Einigung des Deutschen Reiches auf das Jahr 1871 verschoben. Nein, die Reichseinigung von 1848 ist daran gescheitert, daß die deutschen Fürsten in keinerlei noch so föderativer Form irgendwelchen Zusammenschluß wollten, bei dem sie auch nur das kleinste Opfer zu bringen gewillt gewesen wären. Daran und nicht an einer unitarischen Überspannung des Reichsgedankens ist 1848 die Reichseinigung nicht zustandegekommen. Wenn der Herr Staatspräsident meint, diese Bismärckische Verfassung habe es fertig gebracht, die sich im Innern gegen das Reich wendenden Kräfte gewissermaßen zu paralysieren, dagegen die zentralistische Anspannung der Weimarer Verfassung sie wieder hervorgerufen, dann wundere ich mich über das kurze Gedächtnis des Herrn Staatspräsidenten gegenüber einer Zeit, die er doch zum großen Teil auch aktiv politisch als Jungliberaler im unitarischen Sinn mit durchgekämpft hat. Aber es ist gar nicht wahr: Im Bismarckreich war der Partikularismus viel stärker als im heutigen Reich. Im Bismarckreich gab es einen bayerischen, württembergischen, ja sogar preußischen Partikularismus. Dieser Partikularismus hat ja zu dauernden Angriffen gegen das Reich geführt, eines Reiches, das gar nicht staatsrechtlich und finanzpolitisch die Mittel hatte, um diesen Anstänkereien immer zu begegnen. Sogar in dieser Situation hat sich die unitarische Entwicklung schon Jahrzehnte vor der Revolution Schritt um Schritt durchgesetzt. Stück um Stück ist die ursprüngliche Bismarckverfassung um uns und in uns gestorben und durch die neuen Erfordernisse ersetzt worden. Sogar der bayerische Raupenhelm ist den Weg allen Fleisches gegangen und heute muß man sagen: Die Raupen auf dem Kopf sind verschwunden, aber Raupen im Kopf sind noch so manche da.

Die Souveränität des deutschen Volkes hängt auch nicht, wie der Herr Staatspräsident in seinen ungemein scharfsinnigen Beiträgen zu einer allgemeinen Staatslehre gesagt hat, in der Luft und ist auch keine in den Wolken hängende Theorie. Wenn sie das wäre, dann wäre doch das Geschrei über die Allmacht des Reichstags als staatsrechtlich-repräsentativer Mandant der Volkssouveränität ganz unmöglich. Das ist doch ein Widerspruch in sich selbst. Die Souveränität des Volkes ist außerhalb des Parlaments und innerhalb des Parlaments ein durchaus realer Faktor, der realste Faktor deutscher Politik überhaupt. Wie real die Souveränität ist, das wird der Herr Staatspräsident schon merken, wenn er über diese unverbindlichen, aber verderblichen Redewendungen hinaus einmal versuchen sollte, die Souveränität des Volkes anzutasten. Das Volk als Träger der staatsrechtlichen Souveränität ist der Grundsatz sämtlicher überhaupt in der Welt existierender Demokratien und dieser Grundsatz hat sich auch überall durchgesetzt. Aber da in Deutschland die Demokratie nach den Anschauungen des Herrn Staatspräsidenten und seiner politischen Freunde die radikalste Demokratie in der Welt überhaupt ist, ist wohl auch die Souveränität des Volkes in Deutschland die radikalste und stärkste und am tiefsten verankerte.

Angesichts dieser Tatsachen und angesichts der geschichtlichen Verhältnisse der vergangenen Jahrzehnte ist es sehr merkwürdig, wenn der Herr Staatspräsident emphatisch ausruft: „Zu keiner Zeit hat sich die nationale Kraft des deutschen Volkes großartiger gezeigt als in den Zeiten des förderativen Reichs, in den Augusttagen 1914." Dagegen müssen wir doch sagen, daß wir damals eine Situation hatten, in der sich die nationale Kraft nicht wegen einer, sondern trotz der föderativen Gestaltung des Reichs durchgesetzt hat. (Sehr richtig! links.) Daß damals im Bewußtsein des Volkes eine naiv unitarische und unwiderstehliche Reichsstimmung und Reichsbegeisterung vorhanden war. (Sehr gut! links.) Aber für das staatsbürgerliche Bewußtsein irgendeines deutschen Landes wäre am 1. August 1914 kein Mann marschiert. (Sehr richtig! links.) Es war das Reich, das Reichsgefühl und die Reichsidee, die die Massen mobilisiert haben, aber nicht die kleinliche Vordrängelei irgendwelcher partikularistischer Ambitionen. Versuchen Sie einmal das Volk dafür marschieren zu lassen! Der Bundesrat als Träger der Souveränität hat damals nicht im Bewußtsein des Volkes gelebt. Wer hat denn Lust gehabt, sich für die Kompetenz des Bundesrats ins Zeug zu legen? Wer hat außer den berufenen Politikern und den Leuten, die auf der Universität Staatsrecht schwänzen, überhaupt gewußt, daß der Bundesrat besteht? Der Bundesrat war ein blutleerer Hilfsfaktor, ein bloßer politischer Gedanke, höchstens eine Ausflucht, eine Brücke, wie Sie ihn nennen wollen, jedenfalls nichts Lebenvolles, nichts Blutvolles, nichts Organisches, sondern ein Apparat, eine Mechanik, eine dürftige Kronstruktion. Und heute, meine Herren, gibt es keine einzige Kraft, die gewillt und imstande wäre, diesem lebenslosen Apparat des Reichsrats, des früheren Bundesrats, irgendwelche lebendige Volkskräfte einzuhauchen. Das Volksbewußtsein hat gar keinen Wunsch nach Stärkung des Reichsrats. Die berühmten organischen Bedürfnisse nach solchen Änderungen der Verfassung bestehen überhaupt nicht. Wenn der Herr Staatspräsident Vergleiche zur Stärke seiner bundesratlichen Theorie heranzieht, dann hat er natürlich erst recht Pech. So hat der Herr Staatspräsident den ungemein frappierenden Vergleich gezogen, daß das Land im Reich dieselbe notwendige Funktion habe wie die Gemeinden im Land und hat daraus gefolgert, daß also das Land außerordentlich gestärkt werden müßte im Rahmen des Reiches. Wenn diese Theorie richtig wäre, dann wäre die Politik des Herrn Staatspräsidenten gegenüber den Gemeinden seines eigenen Landes von ihm selber verworfen und verurteilt. Aber diese Theorie ist nicht richtig, meine Herren. Denn die Existenz der Gemeinde läßt sich für irgendwelche Formen des modernen gesellschaftlichen Zusammenlebens nicht einmal theoretisch wegdenken. (Abgeordneter Dr. Schall: Sehr richtig!) Aber die Existenz eines Landes ist eine Zweckmäßigkeitsfrage, eine Ausbalancierung zwischen den beiden großen Grundtatsachen von Reich und Gemeinden, die nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch durchaus geändert werden kann, wie die „Weisheit der Jahrhunderte" in der Geschichte gelehrt hat. (Sehr gut! links.)

Sonst betonen doch die Rechtskreise immer das Primat der Außenpolitik. Der Herr Staatspräsident hat aber die etwas überraschende Notwendigkeit gefunden, den Föderalismus aus außenpolitischen Rücksichten zu propagieren. Nun, meine Herren, glaube ich, daß die deutsche Außenpolitik eine zentrale Handhabung der Politik überhaupt notwendig macht. (Abgeordneter Scheef: Sehr richtig!) Denn das, was das Schicksal der deutschen Außenpolitik immer wieder gefährdet, sind die Einwirkungen unverantwortlicher Stellen deutscher Innenpolitik. Die deutsche Außenpolitik muß zentral gemacht werden, selbst wenn sie in Berlin gemacht wird und nicht in Miesbach und Ochsenhausen und ohne daß manche Leute ihren Senf dazu geben. Im Gegenteil, das Schicksal des Deutschen Reiches, in der außenpolitischen, in der reparationspolitischen und finanzpolitischen Situation, läßt den einzigen Weg zur Rettung über die Etappe von Weimar in einer weiteren Steigerung des unitarischen Gedankens und der unitarischen Praxis gehen. Etwas anderes scheint mir auf diesem Gebiet nicht möglich zu sein.

Nun hat der Herr Staatspräsident heute wohl von den außenpolitischen Dingen gesprochen, in Berlin allerdings mehr von den innenpolitischen und hat dabei den Gedanken, ob mehr unitarische oder mehr föderative Gliederung des Reichsganzen, umgebogen in die allgemein verfassungsrechtlichen Fragen. Schon die Frage nach dem Bundesrat ist nicht nur eine Frage nach der unitarischen oder föderativen Reichsgestaltung, sondern auch nach der großen demokratischen Grundtatsache der Reichsverfassung. Die andere Seite, die der Herr Staatspräsident gewissermaßen zur Verstärkung seiner Entdemokratisierungswünsche herangezogen hat, ist die hochberühmte Lehre vom Kristallisationspunkt. Diese Lehre vom Kristallisationspunkt geht auf die Stärkung der Reichspräsidentschaft gegenüber dem Parlament aus. Für diese Tendenz haben die Deutschnationalen nicht immer die gleiche glühende Liebe gehabt. Ich kann mich der Zeiten Eberts erinnern, wo Ihre Haltung gegenüber der Stellung des Reichspräsidenten reichlich reserviert gewesen ist. (Abgeordneter Göhring: Sehr richtig!) Aber jetzt sind die Dinge ja anders und Sie glauben in Hindenburg den Mann Ihres Vertrauens auf dem Präsidentensessel zu haben und darum eine andere Politik machen zu dürfen. Nach Ihren Wünschen sollten jetzt die Minister vom Reichspräsidenten ohne Mitwirkung und ohne Rücksicht auf die Zusammensetzung und den Willen des Parlaments berufen und abberufen werden können. Das Parlament soll einfacherweise seiner hauptsächlichsten Rechte beraubt werden. Ich möchte den Kraftfaktor sehen oder den Kristallisationspunkt, der heute im Zeitalter der Volkssouveränität einen derartigen Raub souveräner Volksrechte durchzuführen imstande ist. Diese Ausführungen des Herrn Staatspräsidenten gehören zu dem Teil, dem lediglich ein platonischer Wert oder Unwert zuzuschreiben ist. Der Reichspräsident soll auch nach den staatsrechtlichen Wünschen des württembergischen Staatspräsidenten ein Einspruchsrecht gegenüber Parlamentsbeschlüssen in noch größerer Auswirkung haben, als es der amerikanische Präsident hat. Es soll also der Reichspräsident eine größere Machtstellung bekommen, als sie der deutsche Kaiser besessen hat. Also Glückauf zur Verfolgung dieser Bestrebungen! Ich glaube nicht, daß Sie sich mit diesen Bestrebungen bei dem deutschen Volk bei Licht zeigen können. Dabei ist in der deutschen Reichsverfassung doch die Exekutivgewalt gegenüber der legislatorischen sorgfältig beschränkt und abgegrenzt. Zusammenstöße zwischen diesen beiden Gewalten hat es bisher nie gegeben mit der einen Ausnahme, daß Zusammenstöße entstehen werden und entstehen müssen dort, wo man die Gewalt des Reichspräsidenten expansiv ausdehnen will. Da liegt ein Teil der Gefahren, von denen der Herr Staatspräsident in so blumenreicher Sprache gesprochen hat. Die Durchführung, die Realisierung der Lehre vom Kristallisationspunkt in Verbindung mit der Rückführung, mit der Rücklagerung der Volkssouveränität auf das schemenhafte Gebilde eines partikularistisch und reaktionär beeinflußten Reichsrats, das soll das große Bollwerk gegenüber der Allmacht der Volkssouveränität und des Reichstags sein. Dabei zeigt sich, daß Sie die Weimarer Verfassung ihrer Grundelemente berauben wollen. Was soll denn dieses ganze Gerede von den „notwendigen Korrektiven" gegenüber der angeblichen Allmacht des Volkes und seines Parlamentes?

Meine Herren, wir brauchen in der geschriebenen Verfassung keine Korrektive. Denn wir haben in der ungeschriebenen, in der tatsächlichen Verfassung, Korrektive genug. Einmal haben wir das Korrektiv, daß wir in einer hochkapitalistischen Epoche leben und daß unser Kapitalismus relativ jung und darum in sehr vielen Spielarten auch ziemlich schroff ist und eine Reihe von gesellschaftlichen und sonstigen Kräften gegen die Demokratie zur Auswirkung bringen kann und tatsächlich zur Auswirkung bringt. Dann haben wir das Korrektiv, daß wohl in keinem Land mit Ausnahme des vorrevolutionären China die kastenmäßige Abtrennung so groß ist wie in Deutschland und daß diese kastenmäßige Trennung einen bedeutenden politischen Faktor bedeutet, der einen großen Teil der geschriebenen Demokratie effektiv außer Kraft setzt. Und schließlich, meine Herren, haben wir als drittes Korrektiv die hohe Bürokratie, die in Deutschland eine so starke reale Macht ist, daß sie neben der demokratischen Willensbildung der Parlamente alle staatsrechtlichen und politischen Apparate weitgehend beeinflußt.

Nein, gegenüber den Wünschen des württembergischen Herrn Staatspräsidenten sagen wir nicht Aufbau, sondern Niederreißung der Korrektive im Sinn einer restlosen Durchführung der Volkssouveränität. Wenn wir ansehen, was der Herr Staatspräsident in Berlin im einzelnen geredet hat und dabei immer wieder finden, daß er vom Kampf um die partikularistische oder unitarische Gestaltung auf diese staatsrechtliche Grundlage der Demokratie und der Souveränität zurückkehrt, dann wissen wir ganz genau, meine Herren, sämtliche Einwände gegen den unitarischen Gedanken sind Versuche, von hintenherum die Volkssouveränität und das System des demokratischen Parlamentarismus zu unterhöhlen. Es handelt sich vielleicht erst in der zweiten Linie um die Ländersouveränität und den Partikularismus. Es handelt sich in erster Linie um die Aushöhlung der Volkssouveränität und des demokratischen Parlamentarismus. Man sucht auf dem Umweg über die Reichsorganisation hintenherum das zu erreichen, was man vorne im offenen politischen Kampf unter keinen Umständen erreichen kann. Daher hat sich der württembergische Staatspräsident in die Fülle seiner Beweisgründe so verstrickt, daß er dabei verschiedenemal tüchtig hereingefallen ist. Ungemein drollig ist seine Ablehnung des ganzen parlamentarischen Systems. Aber auf der anderen Seite meint er, daß die Kontrolle der Länderverwaltungen und Landesregierungen durch die Landesparlamente viel wirksamer sei als die bürokratische Kontrolle von einem unitarischen Mittelpunkt im Norden aus. Völlig hilflos ist die Einstellung gegenüber Preußen. Da ist die Einstellung so, daß der mit den außerordentlichen Befugnissen ausgestattete Reichspräsident, der ja zum Kristallisationspunkt des deutschen Staatslebens werden soll, auch preußischer Staatspräsident werden soll. Der Reichskanzler soll preußischer Ministerpräsident werden und daraus, aus diesem Konglomerat soll die Überwindung des Dualismus Preußen - Reich entstehen.

Ich weiß nicht recht, ob der Herr Staatspräsident dabei überblickt hat, daß zwei verschiedenartige Konsequenzen aus solchen Wünschen entstehen können. Einmal die Gefahr der Hegemonie Preußens in Deutschland, zum andern aber die Gefahr, daß Preußen gewissermaßen vom ganzen Reiche, also auch den süddeutschen Kräften beherrscht wird, ohne daß Preußen denselben Einfluß hätte, so daß eine verschiedenartige Graduierung staatsbürgerlicher Rechte eintreten könnte. Ich glaube, diese Vorschläge sind das nicht, was der Herr Staatspräsident so schön von ihnen aussagt: „Ein solches Gleichgewicht der Kräfte ist dem großen weltbeherrschenden Gesetze abgelauscht, das die Weltkörper erhält und vor Zusammenprall bewahrt." Nun wird doch der Herr Staatspräsident, als Mann des Relativismus und des Skeptizismus, als der er sich doch dauernd bei seinen Prophezeiungen enthüllt hat, nicht behaupten wollen, daß da ein einziges Gesetz für alle Zeiten oder auch nur für längere Zeit oder eine Kette von historischen Epochen vorhanden ist. Der Herr Staatspräsident wird konzedieren müssen, daß die tatsächliche Situation von 1871 nicht ein welthistorisches Prinzip ist, das ohne weiteres auf 1928 Anwendung finden kann. Gerade diese deutschnationale Einstellung gegenüber Preußen zeigt die völlige geistige und politische Hilflosigkeit dieser Kreise gegenüber dem Reichsproblem und auch gegenüber Preußen. Man sieht, daß hier eine Politik gemacht wird unter dem Gesichtspunkt kleiner politischer Tagessorgen und jeweiliger politischer Konstellationen in Reich und Einzelländern. Unter solchen Gesichtspunkten kann man natürlich nicht die deutsche Schicksalsfrage entscheiden. (Sehr richtig!)

(...).


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | August 2000

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