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ANHANG: DOKUMENTE
[von Kurt Schumacher]



[10.]
Die politische Situation nach der Wahl.
Rede am 15.12.1924 vor SPD-Mitgliedern in Stuttgart


EV Nr. 296 v. 16.12.1924

Wir haben einen großen parteimäßigen Wahlerfolg, dem der politische Erfolg nicht entspricht. Geschlagen sind nur die Parteien der Inflation, der Nationalsozialisten fast völlig, die Kommunisten aber nicht so, daß sie geschichtlich erledigt wären. Die Deutschnationalen haben aus dem bedrohten Klasseninteresse profitiert und sich durch ihr Bekenntnis zur Erfüllungspolitik dem Spießbürger genähert. Die Vielheit der Parteien hat jetzt einen schwarz-weiß-rot-goldenen Reichstag hervorgebracht. Das Vielparteiensystem ist in erster Linie bedingt durch die Existenz einer konfessionellen Partei, des Zentrums. So ist das dreifache Wahlproblem nur in dem einen Punkte der Zurückdrängung der Inflationsparteien positiv beantwortet worden. Die Stärkung der Demokraten gegen die Deutsche Volkspartei und der Klassensieg über die Deutschnationalen sind nicht erfochten worden. Die Regierung kann nicht auf Grund der Weimarer Koalition gebildet werden. Diese scheitert am Vorhandensein der Kommunisten. Die Große Koalition ist aus Klassenangst und Klasseninteresse der Deutschen Volkspartei und des rechten Zentrumsflügels scheinbar unmöglich. Wir hätten uns gegebenenfalls vor der Wiederholung der Vorgänge im Herbst 1923 durch Garantien zu schützen. Die alte Minderheitsregierung wäre gar zu schwach und müßte sich auf eine der großen Flügelparteien stützen. Die Ausweiterung zur Volksgemeinschaft ist eine sinnlose Redensart, weil die Aufhebung der sozialen Gegensätze nicht dekretiert werden kann und die Volksgemeinschaft nicht nur im parlamentarischen System, sondern unter jeder Regierungsform als Regierungssystem eine Unmöglichkeit ist.

Die Bürgerblocksregierung ist außenpolitisch brüchig wegen der Rechten, innenpolitisch gefährdet durch den linken Flügel des Zentrums, rein rechnerisch aber möglich. Sie würde eine ungeheuerliche Verschärfung der Gegensätze bedeuten und das Schicksal Deutschlands gefährden. Noch wahrscheinlicher erscheint eine neue Form der Minderheitsregierung, in der die Rechte die eigentlichen Regierungsparteien stellt und ihre Mehrheiten durch Unterstützung des Zentrums und der Splitterparteien erhält. Die Lösung der Reichskrise ist mit der preußischen Regierungskrise auf das engste verbunden. Die Deutschnationalen wollen die Macht in den Ländern ausüben; die Deutsche Volkspartei aber will die Deutschnationalen in der Reichsregierung haben, um die verantwortungslose Konkurrenz loszuwerden und dem Kapital besser zu dienen. Machen die Deutschnationalen radikale Erfüllungspolitik im Reiche, bekommen sie Parteischwierigkeiten. Andernfalls bringen sie das Vaterland in außenpolitische Katastrophen. Wenn sie dann aus parteitaktischen Gründen aus der Reichsregierung austreten würden, würden sie in den Ländern in den Regierungen bleiben und könnten Macht ausüben, ohne Verantwortung zu tragen. Zudem hätten sie dann eine nationale Parole für die nächsten Wahlen, zu denen es kommen muß, weil nicht nur die Regierungsbildung und Politik jetzt erschwert ist, sondern auch kein Problem sachlich gelöst werden kann.

Dieser Reichstag wird die Überwälzung der Lasten auf die breiten Massen in Angriff nehmen, hat für die Herrschaft der Kartelle und die Schutzzölle eine Mehrheit von etwa 285 Stimmen, macht bei Abschluß der Handelsverträge die Reichsregierung zu einem Anhängsel der Schwerindustrie, wird zu keiner eindeutigen und gerechten Regelung der Fragen der Steuer- und Sozialpolitik kommen und schädigt Deutschland außenpolitisch durch das Fernbleiben vom Völkerbund und Ungeschicklichkeiten in der Besatzungs- und Militärkontrollfrage. Er kann gar nicht anders als die Partie unentschieden mit der Tendenz einer Verschlechterung der Lage der breiten Massen zu spielen. Der politischen sozialen Reaktion ist das nicht genug und die „Deutsche Arbeitgeberzeitung" schreit bereits - nach Neuwahlen. Es wird unsere Aufgabe sein, taktisch und organisatorisch die Voraussetzungen für ein sozial und national besseres Parlament zu schaffen (Lebhafte Zustimmung).


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | August 2000

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