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Zur Gründung der Sozialdemokratischen Partei in der DDR in Schwante vor 10 Jahren : Rede anläßlich der ersten Präsentation der Wanderausstellung der Friedrich-Ebert-Stfitung "Wir wollen ein Hoffnungszeichen setzen ...' Die Gründung der Sozialdemokratischen Partei in der DDR" am 29. September 1999 im Willy-Brandt-Haus in Berlin / Hans-Jochen Vogel. - [Electronic ed.]. - Bonn, 1999. - 22 S. = 32 Kb, Text . - (Gesprächskreis Geschichte ; 28). - ISBN 3-86077-856-0
Electronic ed.: Bonn : FES Library, 2000

© Friedrich-Ebert-Stiftung

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[Seite der Druckausg.: 1 - 2 = Titelblatt ]

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1.

In diesem Jahr werden in unserem Land wichtige Jubiläen gefeiert. Das 50jährige Jubiläum des Grundgesetzes und der Gründung der Bundesrepublik haben wir bereits festlich begangen. Am 9. November folgt der 10. Jahrestag der Öffnung und damit des Falls der Mauer, die Berlin und Deutschland fast drei Jahrzehnte lang in schmerzlicher Weise geteilt hat. Heute haben wir uns hier im Willy-Brandt-Haus zur Eröffnung einer Ausstellung versammelt, die der 10. Wiederkehr des Tages gewidmet ist, an dem am 7. Oktober 1989 im Pfarrhaus von Schwante etwa vierzig Männer und Frauen aus Berlin und dem Berliner Umland, aus Schwerin, Stralsund, Greifswald und Neubrandenburg, aus dem Raum Magdeburg, aus Dresden, Greiz und Jena die Sozialdemokratische Partei für das Gebiet der damaligen DDR gründeten und an dem die Sozialdemokratie in diesem Gebiet nach 43jähriger Unterdrückung von neuem als organisierte politische Kraft zu existieren und zu arbeiten begann.

Der Einladung, aus diesem Anlaß das Wort zu nehmen, habe ich gerne Folge geleistet, nicht nur, weil ich in jener Zeit Vorsitzender der SPD war, sondern weil ich es für notwendig halte, daß sich die deutsche Sozialdemokratie immer wieder wichtiger Geschehnisse ihrer Geschichte erinnert. Und das, was am 7. Oktober 1989 in Schwante geschah, war ein solches Ereignis. Ein Ereignis, das auch im Gedächtnis der nachwachsenden Generation seinen festen Platz behalten muß. Denn wer nicht weiß, woher er kommt, wo die Wurzeln der Gemeinschaft liegen, der er sich angeschlossen hat, der weiß auch nicht, wo er sich befindet und wohin der Weg dieser Gemeinschaft führen soll. Eine solche Gemeinschaft erweckt dann in ihren Aktivitäten leicht den Eindruck der Kurzatmigkeit und der Beliebigkeit.

Die Ausstellung trägt den Titel „Wir wollen ein Hoffnungszeichen setzen ..." völlig zu Recht. Denn die Männer und Frauen,

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die vor 10 Jahren in Schwante zusammenkamen, wollten, daß sich etwas ändert. Sie wollten etwas in Bewegung setzen. Sie wollten ein erstarrtes System überwinden. Damals waren sie nicht sicher, ob es gelingen würde. Heute wissen wir: Von Schwante ist ein starker Impuls ausgegangen. Und auch diejenigen, die - wie ich - das Wort „historisch" nur mit Zurückhaltung verwenden, zögern nicht mit der Feststellung, daß am 7. Oktober 1989 in Schwante Geschichte geschrieben worden ist, eine bedeutsame Seite im Buch der Geschichte der deutschen Sozialdemokratie und zugleich eine bedeutsame Seite im Buch der Geschichte der friedlichen Revolution des Herbstes 1989 und damit der deutschen Einigung.

Für die deutsche Sozialdemokratie ist an jenem Tag die Zwangsvereinigung des Jahres 1946 annulliert worden. Und alle übel wollenden Randglossen, die gelegentlich zu hören oder zu lesen sind, ändern nichts daran, daß diese Vereinigung durch Täuschung und durch Zwang zustande gekommen ist. Eine Vereinigung, die ohne den Druck und die vielfältigen Eingriffe der Militäradministration in der seinerzeitigen sowjetischen Besatzungszone ebenso gescheitert wäre, wie sie im Westteil Berlins gescheitert ist. Einmal mehr hat sich auch in Schwante erwiesen: Diktatur und Zwang können die Grundwerte der Sozialdemokratie vorübergehend oder auch für längere Zeit unterdrücken, indem sie diejenigen, die sich dafür einsetzen, verfolgen, der Freiheit berauben, ja, ihnen das Leben nehmen - vernichten können sie diese Grundwerte nicht. Diese Werte haben sich vielmehr immer wieder aufs Neue behauptet, im Widerstand und schließlich im Wiedererstehen, in der Zeit des Sozialistengesetzes ebenso wie während und nach den Jahren der NS-Gewaltherrschaft und - ohne beide einfach gleichsetzen zu wollen - den Jahrzehnten der zweiten Diktatur auf deutschem Boden. Und wer die Geschichte der deutschen Sozialdemokratie kennt, der weiß, was es für die älteste der deutschen Parteien bedeutete, daß sie bald nach Schwante an den Orten wieder ins

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Leben trat, an denen sie im neunzehnten Jahrhundert gegründet wurde, an denen historische Parteitage stattgefunden haben oder an denen August Bebel und Wilhelm Liebknecht zuerst in das Parlament des Norddeutschen Bundes gewählt wurden - also in Leipzig, in Eisenach, in Gotha und Erfurt und in Glauchau, Meerane oder Stollberg. Ganz zu schweigen von den Empfindungen derer, die nach 1945 in den sogenannten Speziallagern und später in Bautzen und in anderen DDR-Gefängnissen gelitten haben, weil sie an ihren sozialdemokratischen Überzeugungen festhielten.

Für den Umbruch in der DDR war Schwante wesentlich, weil hier erstmals eine neugegründete Partei die SED herausforderte und damit ihren Herrschaftsanspruch und ihr Herrschaftssystem fundamental in Frage stellte. Es besteht aller Anlaß, auf diese Tatsache und auch darauf immer wieder hinzuweisen, daß die Sozialdemokratie damals bei Null begann. Denn für sie gab es kein überkommenes Vermögen und keine überkommenen hauptamtlichen Kader oder Mitgliedsbestände, über die beispielsweise die Blockparteien und im besonderen die PDS verfügten, die ja in diesem Sinne keine Nachfolge-, sondern einfach eine Fortsetzungspartei darstellt.

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2.

Die Vorgeschichte und der Hergang der Gründung sind mittlerweile ziemlich allgemein bekannt. Insbesondere Martin Gutzeit, Markus Meckel und Steffen Reiche haben sich dazu im Detail geäußert. Dabei sind sie auch auf die Frage eingegangen, in welchem Umfang die Staatssicherheit bei der Vorbereitung der Gründung und bei der Gründung selbst präsent war und warum sie weder in Schwante noch danach unmittelbar eingegriffen hat, obwohl sie dazu jedenfalls zu Beginn noch im Stand gewesen wäre. Ich brauche das deshalb hier nicht im einzelnen zu wiederholen. Wiederholen möchte ich jedoch auch heute die Be-

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kundung meines Respekts vor der Umsicht, mit der die Gründer zu Werke gingen, und vor den hohen Risiken, die sie dabei auf sich nahmen.

Zudem empfehle ich den Aufruf der Initiativgruppe „Sozialdemokratische Partei in der DDR", die Gründungsurkunde und das programmatische Referat, das Markus Meckel in Schwante gehalten hat, wieder einmal zur Hand zu nehmen. Mich beeindrucken diese Texte unverändert. Gewiß, die eine oder andere Aussage ist heute nur noch aus der damaligen Situation heraus zu verstehen, aber es gibt in eben diesen Texten nichts, was die damaligen Verfasser heute zu bedauern oder gar zu entschuldigen hätten. Das gilt auch für die Aussagen zur deutschen Einheit, die sich in keiner Weise von den seinerzeitigen Positionen der anderen Erneuerungskräfte in der DDR und denen der westdeutschen Parteien einschließlich der Union unterschieden. Wer nachträglich anderes behauptet, hat offenbar vergessen, daß sich der Zusammenbruch des SED-Regimes sowie die Bereitschaft der Vier Mächte und insbesondere der Sowjetunion, der deutschen Einigung zuzustimmen, und damit der Einigungsprozeß selbst von Monat zu Monat - ja, teilweise von Woche zu Woche - in einem Tempo beschleunigte, das so niemand exakt voraussah.

Erinnern darf ich als damaliger Vorsitzender der SPD in der Bundesrepublik bei dieser Gelegenheit auch daran, wie sorgsam und verantwortungsbewußt die westdeutsche Sozialdemokratie im Herbst 1989 mit der wiedererstandenen sozialdemokratischen Schwesterpartei umgegangen ist. Bei ersten Fühlungnahmen schon vor der Gründung wurde uns - zu Recht - bedeutet, die Gründung müsse der eigenen Initiative von Männern und Frauen in der DDR entspringen. Schon der Anschein, die Partei werde von außen ins Leben gerufen, verursache zusätzliche Risiken und entspräche nicht der Stimmungslage unter den Männern und Frauen in der DDR, die die Verhältnisse friedlich verändern

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wollten. Aus diesem Grunde haben wir nach wiederholten Überlegungen auch davon abgesehen, die im August 1961 vom Parteivorstand zum Schutz der damaligen Mitglieder aufgelösten Kreisverbände und Abteilungen in Ost-Berlin von Bonn aus wieder einzurichten. Im Einklang mit diesen Erwägungen hat der Parteivorstand schon am 19. September 1989 in einer unter meinem Vorsitz gefaßten Entschließung zur Deutschlandpolitik unter anderem ausdrücklich festgestellt:

    „Die Absage an Reformen ist die Ursache dafür, daß Zehntausende, darunter viele junge Menschen, der DDR den Rücken kehren. Es führt aber auch dazu, daß die Zahl derer von Tag zu Tag wächst, die in der DDR offen für Veränderungen eintreten und sich zu diesem Zweck auch organisieren. Wie haben diese Gruppen nicht zu belehren oder an ihrer Stelle zu handeln. Aber wir werden auch in Zukunft insbesondere diejenigen Gruppen ermutigen, die mit uns in den Prinzipien der Friedenssicherung und
    Abrüstung, der demokratischen Mitbestimmung und der sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung übereinstimmen."

Die in Schwante vollzogene Gründung war daher, für jedermann erkennbar, nicht eine vom Westen her gesteuerte Aktion, sondern ein eigenständiger und deshalb besonders glaubwürdiger Akt der Beteiligten. Die Gründung ist von uns bereits vierundzwanzig Stunden später, nämlich am 8. Oktober, in einer Presseerklärung des Parteivorstandes öffentlich begrüßt worden. Schon zwei Wochen später - am 24. Oktober 1989 - nahm in der Person Steffen Reiches - heute Landesvorsitzender der SPD Brandenburgs - auf meine Initiative hin einer der Gründer von Schwante als Repräsentant der SDP an einer Präsidiums- und an einer Fraktionsvorstandssitzung in Bonn teil, und bereits im No-

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vember 1989 wurde der Partei auf Betreiben von Willy Brandt und mir mit tatkräftiger Hilfe der schwedischen Freunde, die auch sonst die SDP nach Kräften unterstützt haben, ein förmlicher Status innerhalb der Sozialistischen Internationale eingeräumt. Das war schon wegen des Schutzes wichtig, der sich daraus für die soeben gegründete SDP gegenüber den noch amtierenden Machthabern in der DDR ergab. Ich betone das deswegen, weil gelegentlich zu hören ist, den Gründern sei da und dort mit Zurückhaltung begegnet und von einzelnen westdeutschen Sozialdemokraten geraten worden, sich lieber Reformkräften in der SED anzuschließen. Wer immer sich so geäußert haben mag - die verantwortlichen Organe der Partei haben unter meiner Führung und im Einklang mit Willy Brandt so reagiert, wie ich das eben geschildert habe.

Ich gestehe, daß mich die Erinnerung an die Ereignisse, von denen ich gerade spreche, noch immer bewegt. Das gilt vor allem für die erste Begegnung mit Steffen Reiche, für das erste Zusammentreffen mit Vorstandsmitgliedern der SDP im Evangelischen Hospiz im Ostteil Berlins am Abend des 10. November 1989, an dem Willy Brandt, Dietrich Stobbe und ich gemeinsam teilnahmen, und für die Unterzeichnung des Vereinigungsdokuments auf dem Berliner Parteitag am 27. September 1990.

Was ist aus dem Anstoß von Schwante geworden? Was wirkt fort? Was ist verloren gegangen?

Geworden ist daraus zunächst einmal eine einigermaßen flächendeckende Parteiorganisation in den neuen Bundesländern. 10 Jahre nach Schwante gibt es dort fünf Landesverbände mit über 1.400 Ortsvereinen und rund 28.300 Mitgliedern und noch einmal 55 weitere Ortsvereine und rund 3.000 Mitglieder im Ostteil Berlins, die alle, anders als bei der Union und der PDS, aus dem Nichts geschaffen werden mußten. Es gibt drei Länder,

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in denen sozialdemokratische Ministerpräsidenten amtieren; nämlich Brandenburg, Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern. Und es gibt in den neuen Bundesländern 176 sozialdemokratische Oberbürgermeister, Landräte und hauptamtliche Bürgermeister.

Sicher haben wir vom Westen her geholfen, so gut es ging - etwa mit dem innerparteilichen Finanzausgleich und nicht wenigen Partnerschaften. Aber die eigentliche Anstrengung ist von den Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten in den neuen Bundesländern erbracht worden. Und die nahm in Schwante ihren Anfang. Gemessen an der Zahl der Mitglieder, übertrifft diese Anstrengung das, was westlichen Landesverbänden, Bezirksverbänden und Gliederungen und deren Mitgliedern im allgemeinen abgefordert wird, bei weitem. Beachtlich ist auch die Präsenz in den Organen und Gremien der Gesamtpartei, also im Präsidium, im Parteivorstand und im Parteirat, sowie in den Verfassungsorganen. Stellvertretend für viele nenne ich nur Wolfgang Thierse als Bundestagspräsidenten und stellvertretenden Parteivorsitzenden und Christine Bergmann als Bundesministerin.

Natürlich heißt das nicht, daß man mit der Mitgliederdichte in den neuen Bundesländern schon zufrieden sein könnte. Aber zur Zufriedenheit besteht in diesem Punkt auch in den alten Bundesländern kaum Anlaß. Und von Zufriedenheit werden Sozialdemokraten angesichts der Landtagswahlergebnisse dieses Monats ja zur Zeit wohl ohnehin kaum reden wollen. Ich gestehe, daß ich diese Ergebnisse in mancher Hinsicht geradezu als demütigend empfinde und für manchen Prozentsatz, mit dem wir uns zu bescheiden hatten in den 50 Jahren, die ich der Partei angehöre, keinen Vergleich finde. Auch bedrückt mich gerade auf dem Hintergrund dessen, woran wir uns hier heute erinnern, daß uns die PDS in Thüringen und in Sachsen auf den dritten Platz verwiesen hat.

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Ich will den zahlreichen Wahlanalysen an dieser Stelle keine weitere hinzufügen. Nur eines erscheint mir sicher: Die Gründe für die katastrophalen Niederlagen sind nur zum geringeren Teil auf der Landesebene zu finden. Und die Niederlagen werden sich fortsetzen, wenn wir um einer verschwommenen neuen Mitte willen den linken Bereich des politischen Spektrums und den Grundwert der sozialen Gerechtigkeit weiterhin der PDS überlassen. Damit meine ich nicht das Sparprojekt, das auch ich angesichts der gigantischen Verschuldung für unerläßlich halte, auch wenn es die Ergänzung durch eine Erhöhung der Erbschaftssteuer auf sehr große Privatvermögen durchaus vertrüge. Aber ich meine die unselige Verquickung dieses Projekts mit dem sogenannten Londoner Papier. Durch sie ist nämlich der schlimme Eindruck hervorgerufen worden, in Wahrheit gehe es nicht um den Abbau der Verschuldung, sondern um einen Politikwechsel hin zum Neoliberalismus.

Ich bitte um Nachsicht, daß ich mich nun doch konkreter zur gegenwärtigen Situation geäußert habe. Es wäre mir jedoch nicht redlich erschienen, wenn ich darüber mit Schweigen hinweggegangen wäre. Schweigen wäre allerdings an einer anderen Stelle am Platze gewesen. Damit meine ich Oskar Lafontaine. Wer den Parteivorsitz so von sich geworfen hat wie er und für diesen Schritt seinerzeit nicht ein Wort der Begründung gegeben, geschweige denn für seine Auffassungen gekämpft hat, der ist nicht legitimiert, im nachhinein Vorwürfe zu erheben und damit die Krise, in der sich die Partei befindet, noch zu verschärfen. Und das gilt auch dann, wenn er in der Sache in einigen Passagen seines Buches Recht haben sollte. Wer die Türe so hinter sich zugeworfen hat, sollte jetzt keine Ratschläge durchs Fenster rufen.

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3.

Aber zurück zu meinem eigentlichen Thema und zu der Frage, was von der Programmatik von Schwante in das Statut der Gesamtpartei Eingang gefunden hat. Soweit ich sehe, sind es vor allem zwei Stellen, die in diesem Zusammenhang erwähnt werden müssen. Einmal ist dem Statut vom Vereinigungsparteitag eine Präambel vorangestellt worden, in der es heißt:

    „Die SPD ist eine demokratische Volkspartei. Sie vereinigt Menschen verschiedener Glaubens- und Denkrichtungen, die sich zu Frieden, Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität, zur gesellschaftlichen Gleichheit von Mann und Frau und zur Bewahrung der natürlichen Umwelt bekennen."

Zum anderen wurde im § 8 des Statuts der Satz hinzugefügt, daß sich die politische Willensbildung der Partei von unten nach oben vollzieht - oder wohl, realistischer gesagt, vollziehen sollte. Gut, sich hin und wieder an diese Forderung zu erinnern, wäre es allemal. Nicht, weil es schön klingt, sondern weil die Sozialdemokratie ein Kernelement ihrer Identität preisgeben würde, wenn dieser Satz nur noch ein müdes Lächeln hervorriefe.

Orientierung gab die Programmatik von Schwante auch dafür, daß die Sozialdemokratie in der Folgezeit der Wiedergutmachung der durch Verfolgungsmaßnahmen verursachten Schäden an Freiheit, Gesundheit und beruflichem Fortkommen stets einen höheren Rang einräumte als der Rückerstattung von und der Entschädigung für entzogenes und beeinträchtigtes Eigentum. Daß die seinerzeitige Mehrheit in Bonn diese Rangfolge gegen unseren Widerstand umkehrte und dem Eigentum eine höhere Schutzwürdigkeit zuerkannte als dem Schutz der Person, ist eine

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der Ursachen für Mißstimmungen, die in den neuen Bundesländern um sich greifen, und sicher nicht die geringste.

Angelegt waren in Schwante des weiteren Ideen, die zunächst in den neuen Verfassungen der neuen Bundesländer ihren Niederschlag fanden und dann im Zuge der Verfassungsreform-Diskussion von uns auch zur Aufnahme in das Grundgesetz vorgeschlagen wurden, nämlich die sozialen Staatsziele hoher Beschäftigungsstand, ausreichende Versorgung mit menschenwürdigem Wohnraum, soziale Sicherung und freier Zugang zu Kultur und Bildung, das Grundrecht auf Schutz der eigenen Daten und die unmittelbare Bürgerbeteiligung in Gestalt der Volks-initiative, des Volksbegehrens und des Volksentscheids. Alle diese Vorschläge haben die Konservativen abgelehnt. Das gleiche Schicksal widerfuhr dem von Konrad Elmer - einem der Gründer von Schwante - initiierten Antrag, die Begriffe der Mitmenschlichkeit und des Gemeinsinns in der Verfassung zu verankern. So kam es dazu, daß in dem Grundgesetz nach der Verfassungsreform nicht ein einziger Gedanke zu finden ist, der dem Gedankengut derer entstammt, die als Protestbewegung - und die Männer und Frauen von Schwante waren ein Teil dieser Bewegung - die Wende in der ehemaligen DDR herbeigeführt haben. Das mag den Eindruck verstärkt haben, die Erfahrungen der Menschen in der DDR seien samt und sonders unbrauchbar, und sie hätten sich auf Punkt und Komma den Normen der alten Bundesrepublik anzupassen. In den alten Bundesländern hingegen könne alles so bleiben wie vorher. Nach meiner Überzeugung ist auch dies ein Grund für eine gewisse Frustration und die Protesthaltung eines Teils unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger in den neuen Bundesländern, die offensichtlich der PDS zugute gekommen ist.

Übrigens spricht vieles dafür, in der Frage der unmittelbaren Bürgerbeteiligung auf Bundesebene erneut einen Anlauf zu unternehmen. Nachdem inzwischen die Bürgerbeteiligung in allen

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Bundesländern, auf Landesebene und in vielen Bundesländern auch auf kommunaler Ebene eingeführt worden ist, ist schlechterdings nicht mehr einzusehen, warum das Volk als Souverän auf der Bundesebene immer noch von der Wahrnehmung der Staatsgewalt in Gestalt von konkreten Sachentscheidungen ausgeschlossen bleiben soll, obwohl doch gemäß Art. 20 GG alle Staatsgewalt von ihm ausgeht. In diesem Sinne hat mittlerweile sogar der bayerische Ministerpräsident seine bisherige Haltung geändert. Die rot-grüne Koalition sollte deshalb mit ihrer entsprechenden Festlegung im Koalitionsvertrag in dieser Legislaturperiode Ernst machen. Dann würde der Ruf „Das Volk sind wir", der vor 10 Jahren die Wende in der DDR begleitete und bestimmte, wenigstens im Nachhinein noch ein bundesweites Echo finden.

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4.

Bleibt am Ende meiner Rede ein Wort des Dankes. Des Dankes an die Friedrich-Ebert-Stiftung, an diejenigen, die diese Ausstellung vorbereitet und gestaltet haben. Sie gibt auf ihre Weise einiges von dem wieder, was ich angesprochen habe, und fügt es in größere Zusammenhänge ein. Es ist zu begrüßen, daß die Ausstellung auch an anderen Orten gezeigt wird.

Vor allem aber bleibt der Dank an diejenigen, die heute vor 10 Jahren in Schwante dabei waren. Was sie taten, war nicht selbstverständlich. Sie haben gehandelt, wo andere noch unschlüssig waren. Sie waren angetrieben von den Motiven, die die Sozialdemokraten und Sozialdemokratinnen seit eh und je geleitet haben: der Überzeugung von der gleichen Würde aller Menschen, der Empörung über Unrecht, dem Verlangen nach Freiheit und dem Streben nach einer besseren und gerechteren Ordnung der Gesellschaft. Ihnen zu danken und sie zu würdigen, heißt, sich auch heute zu diesen Überzeugungen zu bekennen und ihnen gemäß zu handeln, und das erkennbar aus innerer

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Verwurzelung in den Grundwerten und der Geschichte der Sozialdemokratie. Das wäre dann auch die treffende Antwort auf die Krise, in der sich die deutsche Sozialdemokratie gegenwärtig befindet. Nicht Resignation und nicht Panik, sondern Orientierung an unserer eigenen Geschichte und an den Grundwerten auch und gerade angesichts tiefgreifender Veränderungen ist das Gebot der Stunde. Das sind wir auch den früheren Generationen von Sozialdemokraten und Sozialdemokratinnen, das sind wir Männern wie Willy Brandt, Herbert Wehner und Ernst Reuter und Frauen wie Luise Schröder schuldig, die wahrlich härtere Proben zu bestehen hatten als wir.

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Anhang


Presseservice der SPD

Bonn, den 8. Oktober 1989631/89

Mitteilung für die Presse

Zu den Nachrichten über die Gründung einer sozialdemokratischen Partei in der DDR erklärt SPD-Vorstandssprecher Eduard Heußen:

Es ist zu begrüßen, daß in der DDR immer mehr Menschen ihre Stimme erheben, die sich ausdrücklich zur Friedenssicherung und den übrigen Prinzipien des demokratischen Sozialismus bekennen und dafür eintreten, diese Prinzipien in der DDR zu verwirklichen. Wir haben diese Menschen nicht anzuleiten oder an ihrer Stelle zu handeln. Aber wir erklären uns mit ihnen solidarisch und ermutigen sie - ganz gleich in welchen Gruppen oder Formen sie sich zusammenfinden oder organisieren. Die volle Entfaltung der Demokratie und des Pluralismus ist jedenfalls ohne eine starke Sozialdemokratie nicht denkbar.

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Presseservice der SPD

Bonn, den 9. Oktober 1989 634/89

Mitteilung für die Presse

Zur jüngsten Entwicklung in der DDR erklärt das Präsidium der SPD:

  1. Präsidium der SPD verfolgt die jüngsten Entwicklungen in der DDR mit wachsender Sorge. Wer auf friedliche Demonstrationen und das Verlangen nach Freiheit und Demokratie mit Polizeieinsätzen und Massenverhaftungen reagiert, verschärft die Spannungen und läßt den Flüchtlingsstrom wieder steigen.

  2. Verantwortung für diese Entwicklung trägt die Führung der DDR. Die Kritik an der Bundesrepublik Deutschland kann den Prozeß der Selbstkritik nicht ersetzen. In keinem System ist Stabilität ohne die Unterstützung der Bürgerinnen und Bürger möglich. Diese Unterstützung ist nicht ohne wahrheitsgemäße Darstellung der Realität, ohne ernsthaften Dialog und ohne konkrete Veränderungen zu erreichen. Mit der Verweigerung des Dialogs und realitätsferner Propaganda werden die Menschen in Wut und Verzweiflung getrieben. Eine Haltung der Isolierung nach innen und außen kann unkontrollierbare Prozesse auslösen.

    Weitere Gewaltanwendung kann auch die ermutigenden Entwicklungen für Gesamteuropa gefährden und den Fortgang des Helsinki-Prozesses und die Reformbewegung in anderen Ländern des Warschauer Paktes stören. Daß von deutschem

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    Boden nicht mehr Krieg ausgehen soll, sondern Frieden, verlangt zuerst inneren Frieden auf der Grundlage von Demokratie und sozialer Gerechtigkeit.

    Das Präsidium teilt die Auffassung Gorbatschows, daß die Bereitschaft zu Reformen und zur Zusammenarbeit mit allen gesellschaftlichen Kräften ein Gebot des Lebens ist.

  3. In dieser Situation dankt das Präsidium für die Besonnenheit, die kritische Gruppen und Vertreter der evangelischen Kirche gezeigt haben, bittet, die Besonnenheit auch weiterhin zu wahren, und erklärt sich solidarisch mit den Menschen, die in der DDR für friedliche Veränderung eintreten. Wir wissen, daß solche Veränderungen auch von Teilen der SED für notwendig gehalten und sogar gewünscht werden.

    Das Präsidium appelliert an die Führung der DDR, ein Zeichen der Hoffnung zu setzen und einen Prozeß der Demokratisierung einzuleiten, dem die Menschen vertrauen können.

    Dazu gehört vor allem Informationsfreiheit und der ernste Dialog über die realen Probleme des Landes und ihre Ursachen sowie ein gesicherter Weg zur Reisefreiheit. Unmittelbar fordern wir den Verzicht auf weitere Polizeieinsätze gegen friedliche Demonstranten und die Freilassung der Verhafteten.

  4. Angesichts der Gründung einer „Sozialdemokratischen Partei in der DDR (SDP)" begrüßen wir, daß in der DDR immer mehr Menschen ihre Stimme erheben, die sich ausdrücklich zur Friedenssicherung und den übrigen Prinzipien des demokratischen Sozialismus bekennen und dafür eintreten, diese Prinzipien in der DDR zu verwirklichen. Sie haben das aus eigenem Entschluß getan. Wir erklären uns mit ihnen solida-

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    risch und ermutigen sie - ganz gleich in welchen Gruppen oder Formen sie sich zusammenfinden oder organisieren. Die volle Entfaltung der Demokratie und des Pluralismus ist jedenfalls ohne eine starke Sozialdemokratie nicht denkbar.

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HINWEIS:
Auf den Seiten 19 - 22 der Druckausgabe ist eine Übersicht zu den bisher erschienenen Ausgaben der
Reihe "Gesprächskreis Geschichte" abgedruckt.
In der Online-Ausgabe ist diese Reihenübersicht nicht enthalten.


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