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Die Auswirkungen der deutschen Einigung auf die Geschichts- und Sozialwissenschaften : Vortrag vor dem Gesprächskreis Geschichte der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn am 29. Januar 1992 / Jürgen Kocka. - [Electronic ed.]. - Bonn, 1992. - 21 S. = 44 Kb, Text . - (Gesprächskreis Geschichte ; 1). - ISBN 3-86077-060-8
Electronic ed.: Bonn: FES Library, 1999

© Friedrich-Ebert-Stiftung


INHALT




[Seite der Druckausg.: 1-2 = Titelseiten]

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Vorbemerkung des Herausgebers

Die innere Einigung Deutschlands ist keine Aufgabe, die in wenigen Jahren zu bewältigen ist, sie wird vielmehr für unsere Generation eine dauernde Herausforderung bleiben. Auch wenn in absehbarer Zeit im wirtschaftlichen und sozialen Bereich die Angleichung der Verhältnisse in den west- und ostdeutschen Ländern gelungen sein wird, werden die Verwerfungslinien, die mit den historisch gewachsenen unterschiedlichen Identitäten, Loyalitäten und Assoziationshorizonten verbunden sind, noch geraume Zeit wirksam bleiben. Notwendig ist und wird sein eine beharrliche und ehrliche historische Aufarbeitung vergangener Entwicklungen, die sich betont absetzt von der lärmenden Aufgeregtheit gegenwärtiger Enthüllungskampagnen in Teilen der Publizistik. So wie die Vergangenheit in der DDR - dies gilt aber auch für die alte Bundesrepublik - alles andere als eindimensional war und sich schon immer schnellem interpretatorischen Zugriff verschloß, müssen wir versuchen, unter Berücksichtigung des jeweiligen Zeithorizontes und der besonderen subjektiven und objektiven Voraussetzungen der Akteure die Positionen und Befindlichkeiten der je anderen Seite differenziert zu erkennen und zu verstehen, um so einander langsam näherzukommen. Hier tut sich für die Geschichtswissenschaft ein breites Betätigungsfeld mit politisch-pädagogischen Auswirkungen auf.

Was lag angesichts dieser großen vor uns liegenden Integrationsaufgabe näher, als den neuen "Gesprächskreis Geschichte" der Friedrich-Ebert-Stiftung mit einem Vortrag einzuleiten, der den direkten institutionellen, inhaltlichen, methodischen und personellen Auswirkungen der deutschen Einigung auf die Geschichts- und Sozialwissenschaften gewidmet war und zugleich einige indirekte Folgerungen für das sich in diesem Prozeß verändernde Geschichtsbild herausarbeitete? Wir haben es begrüßt, daß sich Herr Prof. Dr. Jürgen Kocka von der Freien Universität Berlin bereiterklärte, seine reichen Erfahrungen als Mitglied des Wissenschaftsrats bei der Neugestaltung der deutschen Wissenschaftslandschaft einem großen Auditorium zu ver-

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mitteln. Einem vielfach geäußerten Wunsch folgend, legen wir hiermit den Vortragstext in Druckfassung vor.

Äußerer Anlaß der Vortragsveranstaltung war der Abschluß des Erweiterungsbaus der Friedrich-Ebert-Stiftung, der die vielfältig genutzte Möglichkeit bot, die erweiterten und verschönerten Lesesaal- und Magazinkapazitäten des Archivs der sozialen Demokratie und der Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung zu besichtigen. Den Besuchern konnte der ganze Reichtum von Archiv und Bibliothek dabei vermittelt werden: etwa 18.000 lfd. Meter Akten und 330.000 Bände zur Vergangenheit und Gegenwart der deutschen, ja der europäischen Sozialdemokratie, der Gewerkschaften, anderer sozialer und emanzipatorischer Bewegungen, der politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Probleme der Unterschichten. Damit ist die Friedrich-Ebert-Stiftung in den letzten zwei Jahrzehnten ein Zentrum für historische Forschung und Dokumentation zur Geschichte der Arbeiterbewegung im europäischen Maßstab geworden.

Dr. Dieter Dowe
Stellv. Leiter des Forschungsinstituts

Bonn, im März 1992

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Jürgen Kocka
Die Auswirkungen der deutschen Einigung auf die Geschichts- und Sozialwissenschaften


Die Wiedervereinigung geschieht hauptsächlich als Übertragung des Systems der alten Bundesrepublik auf die ehemalige DDR. Aber das neue Deutschland wird dennoch keine bloße Fortsetzung der alten Bundesrepublik sein. Der Beitritt von 16 Millionen Menschen mit anderen Prägungen und anderen Erfahrungen verändert auch das aufnehmende, größere Gemeinwesen, ob es will oder nicht. Dabei stellen sich die belastenden Nachwirkungen von vier Jahrzehnten Diktatur als gewichtigeres Erbteil heraus als die sehr viel schwächere Tradition der demokratischen Volksbewegung, die 1989/90 half, jene Diktatur zu Fall zu bringen. Die Geographie des Landes, die Mischung von Markt und Staat, die Struktur der Gesellschaft, das föderale System, die politische Kultur, die Themen der Intellektuellen und Deutschlands Stellung in der Welt - all das ändert sich mit fortschreitender Vereinigung.

Die Vereinigung der beiden deutschen Wissenschaftssysteme vollzieht sich zu westdeutschen Bedingungen. Aber das entstehende gesamtdeutsche Wissenschaftssystem wird ebenfalls keine bloße Fortsetzung des bisherigen westdeutschen sein. Welche vereinigungsbedingten Veränderungen zeichnen sich ab, welche sind zu erwarten? Darum soll es im Folgenden gehen, unter Beschränkung auf die Geschichts- und Sozialwissenschaften in Deutschland, wobei die Geschichte - die ja selbst zum Teil eine Sozialwissenschaft ist - ein wenig im Vordergrund steht.

Zunächst soll etwas über die institutionellen Veränderungen gesagt werden. In einem zweiten Teil soll es um inhaltliche, methodische

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und personelle Aspekte der Mitgift gehen, die die DDR auf dem Gebiet der Geschichts- und Sozialwissenschaften einbringt. Schließlich will ich über einige indirekte Wirkungen sprechen, die vom Zusammenbruch der DDR, vom Ende des diktatorischen Staatssozialismus und von der Wiedervereinigung auf unsere Wissenschaften ausgehen bzw. ausgehen könnten.

I.

Art. 38 des Einigungsvertrags dekretierte die "Einpassung von Wissenschaft und Forschung in die gemeinsame Forschungsstruktur der Bundesrepublik Deutschland". Auf dieser Grundlage wurde der Wissenschaftsrat tätig. Seine bis Juli 1991 größtenteils vorliegenden Empfehlungen laufen auf die Anpassung der Verhältnisse in der ehemaligen DDR an die Grundsätze in der alten Bundesrepublik hinaus. Das gilt für die Verfassung und Organisation der Hochschulen, in bezug auf die föderalistische Grundstruktur des gesamten Systems und auch in bezug auf das geheiligte, aber gleichwohl häufig durchbrochene Subsidiaritätsprinzip. Gemäß diesem Subsidiaritätsprinzip hat die Forschung - zumal in den Geistes- und Sozialwissenschaften - ihre Basis in den Hochschulen und findet nur ergänzend in hochschulfreien, außeruniversitären Institutionen statt.

Die Umsetzung der Wissenschaftsratsempfehlungen ist jetzt - Anfang 1992 - weit fortgeschritten, weiter, als man Mitte 1991 erwarten konnte. Das Hochschulrecht wird schrittweise angeglichen. Die zahlreichen, teils riesigen, Akademie-Institute, die nach sowjetischem Vorbild die Forschung getrennt von den Hochschulen konzentrierten, wurden zum 31. Dezember 1991 aufgelöst, ihr wissenschaftliches Personal aber zu über 50 % in neugegründete Einrichtungen aufgenommen oder an die Hochschulen und andere Forschungsinstitutionen zurückempfohlen. In den Hochschulen hat man - meist sehr zögernd - mit Schrumpfung und Erneuerung begonnen. Die großen

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westdeutschen Wissenschaftsorganisationen - die Deutsche Forschungsgemeinschaft, die Max-Planck-Gesellschaft, die Fraunhofer-Gesellschaft, der Deutsche Akademische Austauschdienst etc. - haben ihren Aktionsradius auf die neuen Länder ausgeweitet. Die Angleichung der Verhältnisse in den neuen Bundesländern an die Grundlinien der westdeutschen Wissenschaftsorganisation ist also auf dem Weg. Gleichwohl zeichnen sich einige - teils bedauerliche, teils erfreuliche - Neuentwicklungen ab, die - vereinigungsbedingt - das zukünftige gesamtdeutsche Wissenschaftssystem ein wenig von dem in der alten Bundesrepublik unterscheiden werden.

1. Die neuen Länder hängen am Tropf des Bundes, teilweise hängen sie auch stark von ihren Partnerländern im Westen Deutschlands ab, finanziell, organisatorisch, personell und inhaltlich. Es ist zu befürchten, daß sich daraus auch langfristig eine gewisse Aushöhlung des Föderalismus ergibt.

2. Empfohlen und größtenteils bereits in Angriff genommen wurde die Neugründung einer großen Zahl von außeruniversitären Forschungseinrichtungen auf dem Territorium der ehemaligen DDR. Es geht um 33 neue Institute der Blauen Liste - das sind Institute, in deren Finanzierung sich der Bund und das Sitzland teilen -, drei neue Großforschungseinrichtungen, zwei neue Bundesforschungsanstalten, 36 neue Ländereinrichtungen, sechs neue Einrichtungen der Fraunhofer-Gesellschaft, zwei neue Max-Planck-Institute sowie sieben geisteswissenschaftliche Zentren, daneben neue Außenstellen, Erweiterungen und ähnliche Einrichtungen. Vergleicht man die Zahl der im Wissenschaftsbereich Beschäftigten pro Kopf der Bevölkerung, dann ist die Wissenschaftslandschaft in den neuen Bundesländern zur Zeit anteilig in höherem Ausmaß mit Blaue-Liste-Instituten versorgt als der Westen, aber sehr viel weniger mit Großforschungseinrichtungen und Max-Planck-Instituten, so daß insgesamt - und das ist in der gegenwärtigen Diskussion nicht unwichtig - der Anteil der außeruniversitären Forschung in den neuen Bundesländern nicht hö-

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her liegt als im Westen. Im übrigen steht eine Überprüfung der "Blauen Liste" unmittelbar bevor.

Die Geistes- und Sozialwissenschaften waren mit 16 zum Teil sehr großen Forschungsinstituten unter den mittlerweile aufgelösten Akademie-Instituten der DDR stark vertreten; als "Gesellschaftswissenschaften" wurden sie bekanntlich in der DDR zusammengefaßt, gefördert und eng kontrolliert. Die Geistes- und Sozialwissenschaften haben aber nur einen kleinen Anteil an den eben genannten außeruniversitären Neugründungen. Zu erwähnen sind das neue Institut für empirische Wirtschaftsforschung in Halle mit ca. 40 Wissenschaftlerstellen, die neue, aber wohl nur auf Zeit bestehende Kommission für die Erforschung des sozialen und politischen Wandels in den neuen Bundesländern ebenfalls in Halle und die sieben geisteswissenschaftlichen Zentren.

Diese Zentren sind gemäß der Empfehlung des Wissenschaftsrats Forschungseinrichtungen besonderer Art mit je etwa 25 Wissenschaftlerstellen (vorwiegend Zeitstellen), eng mit den benachbarten Hochschulen verbunden, aber doch selbständig, im übrigen interdisziplinär. Solche Zentren soll es zur Zeitgeschichte (besonders der DDR) in Potsdam, für Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftstheorie, Literaturforschung, Sprachwissenschaften und moderne Orientwissenschaften in Berlin, für Aufklärungsforschung in Halle und für Kultur und Geschichte Ostmitteleuropas in Leipzig geben. Diese Zentren sind jedoch noch nicht endgültig gegründet, ihre Zukunft ist unsicher, es gibt einflußreiche Kritik an ihnen: Die Hochschulrektorenkonferenz z. B. möchte die geisteswissenschaftliche Forschung ganz in die Universitäten zurückverlagert sehen, dabei verkennt sie die mangelnde Aufnahmefähigkeit der Universitäten in den neuen Ländern, und sie übersieht, daß auch die Geisteswissenschaften nicht nur auf eine einzige Organisationsform angewiesen sind. Überhaupt sind Innovationen gegen die Phalanx der etablierten Organisationen und ihre Interessen nur schwer durchzusetzen. Besonders auf dem Gebiet der Zeitgeschichte wären dafür weitere Be-

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lege zu nennen. Man wird sehen, wie es ausgeht. Wenn es nicht gelänge, diese Zentren in der einen oder anderen Weise zu institutionalisieren, dann wären die Geisteswissenschaften die großen Verlierer des derzeit ablaufenden Integrationsprozesses. Wenn sie aber entstehen, so hat der Integrationsprozeß auch etwas Neues in der Wissenschaftslandschaft hervorgebracht, eine Innovation, die über die Lösung der gegenwärtig drängenden Probleme hinaus der kulturwissenschaftlichen Forschung neue Chancen eröffnet.

3. Die Universitäten der neuen Bundesländer sind in den Geistes- und Sozialwissenschaften noch weit davon entfernt, den Zuschnitt und den Standard der westlichen Länder zu erreichen. Diese Wissenschaften leben von Büchern, aber die zahlreichen Neuerscheinungen der letzten Jahrzehnte sind in den östlichen Universitätsbibliotheken Mangelware. Es wird - auf alle Disziplinen bezogen - nach Schätzungen des Wissenschaftsrats zehn Jahre lang etwa 50 Millionen DM pro Jahr kosten, um dies zu beheben. Auch sonst fehlt es an Infrastruktur und oft auch an administrativer Kompetenz. Im übrigen stellt sich die Situation für die Sozialwissenschaften anders dar als für die Geschichtswissenschaft.

Die Politologie fehlte in der DDR fast ganz, es sei denn als Teil der Sektionen für Marxismus-Leninismus, meistens in hochideologisierter, wenig empirischer Form. Die Soziologie kam spät und war nur spärlich entwickelt, ein Außenseiterfach. Die Wirtschaftswissenschaft war stark auf das untergegangene System fixiert. Die sozialwissenschaftlichen Akademie-Institute sind aufgelöst, ihr Personal nur zum kleinen Teil weiter empfohlen worden. In den Hochschulen wurden die sozialwissenschaftlichen Fächer entweder abgewickelt oder nur zum kleinsten Teil fortgeführt. In den Sozialwissenschaften ist also ein Neuaufbau möglich und durchaus im Gang, an allen Universitäten: unter Leitung von Gründungsdekanen, die durchweg, und durch neu berufene Professoren, die größtenteils aus dem Westen stammen. Zum Beispiel hat die Struktur- und Berufungskommission für den neu aufzubauenden Fachbereich Sozialwissenschaften an der

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Humboldt-Universität Berlin vier auch schon vorher hier lehrende Hochschullehrer zur Weiterbeschäftigung vorgesehen und für 13 weitere, neu ausgeschriebene Hochschullehrerstellen die Berufung von Wissenschaftlern aus dem Westen vorgeschlagen. Andernorts ist die West-Dominanz beim Neuaufbau der Sozialwissenschaften noch größer und die Situation meist durch größere Knappheit geprägt, doch fast überall ergeben sich die Chancen einer Gründungssituation, wie man sie im Westen seit den späten 60er und frühen 70er Jahren nicht mehr gekannt hat. Ob der Abeitsmarkt es hergibt, sie optimal zu nutzen, ob den Gründungskommissionen mehr einfällt als eine bloße Imitation des westlichen Status quo, das bleibt abzuwarten.

In der Geschichtswissenschaft ist weniger Neuanfang möglich. Nur an einer Universität, in Jena, wurde eine geschichtswissenschaftliche Sektion ganz abgewickelt. Sieben Geschichtsprofessuren konnten dort neu ausgeschrieben werden und dürften bald neu besetzt sein, sicherlich überwiegend mit Bewerbern aus dem Westen. - In Leipzig wurden nur kleine Teilbereiche aufgelöst, so der Bereich für Geschichte der UdSSR, der KPdSU und des sozialistischen Weltsystems. Im übrigen steht dort die Erneuerung noch aus. - An der Berliner Humboldt-Universität scheiterte die geplante Abwicklung der geschichtswissenschaftlichen Sektion an der Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts. Trotzdem hat hier die Erneuerung mit voller Kraft begonnen. Von den knapp 20 (!) neu geplanten Geschichtsprofessuren sind bereits 13 ausgeschrieben worden. Rufe sind ergangen. In sieben Fällen wurden sie schon angenommen. Einer der sieben neu berufenen Professoren kommt aus dem Osten, die anderen aus dem Westen. Aber die Hochschullehrer, die auch schon vor 1989 hier lehrten und forschten, sind größtenteils weiter im Amt; eine Doppelstruktur droht zu entstehen. Wie weit sich die Universität, wie beabsichtigt, von ihnen trennen kann, bleibt abzuwarten. - Die vier, teils sehr umfangreichen Akademie-Institute für Geschichte wurden zwar geschlossen, aber über 60 % des wissenschaftlichen Personals zur Weiterbeschäftigung empfohlen, teilweise in den Hochschulen. Diese

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aber müssen schrumpfen, schon aus finanziellen Gründen, denn im Vergleich zum westlichen Standard sind sie hoffnungslos überbesetzt. Der Freistaat Sachsen z. B. beschäftigt pro Kopf der Bevölkerung etwa doppelt so viele Hochschulwissenschaftler wie das sehr viel wohlhabendere Partnerland Baden-Württemberg. Und die Geschichte, jedenfalls große Bereiche der neueren deutschen Geschichte, gehörten zu den aufgeblähten Teilen. Aber wie erreicht man Erneuerung durch Neuberufungen auch aus dem Westen, wenn man übervoll ist und also entlassen muß, wenig Geld zur Verfügung steht und außerdem noch Wissenschaftler aus den ehemaligen Akademie-Instituten absorbiert werden sollen? Es sieht aus wie die Quadratur des Zirkels.

In jeder Hochschule stellt sich die Situation anders dar. Insgesamt aber droht in den geisteswissenschaftlichen Bereichen der Universitäten - und eben auch in der Geschichte - mehr Kontinuität, als man sie im Interesse der Wettbewerbsfähigkeit der Hochschulen und ihrer politischen Kultur wünschen würde. Es sieht also so aus, als ob man innerhalb des neuen gesamtdeutschen Universitätssystems mit einem in der alten Bundesrepublik unbekannten Maß an innerer Ungleichheit wird leben müssen, mit einem sehr ausgeprägten West-Ost-Gefälle, mit Verwerfungen, deren allmählicher Abbau viele Jahre und große Ausgaben benötigen wird.

II.

Damit bin ich beim zweiten Teil meiner Überlegungen, nämlich bei den personellen, methodischen und inhaltlichen Aspekten der Mitgift, die aus der DDR in die gesamtdeutsche Wissenschaftslandschaft eingebracht wird. Ich beschränke mich auf wenige Stichpunkte.

Zuerst und vor allem sind die Beschädigungen, Behinderungen und Verformungen zu bedenken, die den Geistes- und Sozialwissenschaften - aber nicht nur diesen - unter den Bedingungen der Dikta-

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tur beigebracht wurden. Sie reichen tief und wirken weiter. Ganze Fächer und Teilbereiche wurden vernachlässigt, ausgedörrt oder verhindert: die Mediävistik, die Alte Geschichte, die Geschichte der westeuropäischen Länder, die Politologie, große Bereiche der empirischen Soziologie. Vor allem in der Zeitgeschichte, in der Geschichte der Arbeiterbewegung, in den gegenwartsbezogenen Sozialwissenschaften und anderswo gab es zahlreiche Tabus, parteiliche Verzerrung und Geschichtsklitterung. Der Übergang von der Wissenschaft zur Propaganda war fließend. Politisch-ideologische Vorgaben verhinderten den notwendigen innerwissenschaftlichen Pluralismus und begrenzten die innerwissenschaftliche Kritik. Parteipolitische Fremdbestimmung beschränkte die wissenschaftliche Autonomie in einer Weise, die der wissenschaftlichen Rationalität Abbruch tat. An der Rekrutierungs- und Beförderungspolitik kann man das zeigen, an inhaltlichen Vorgaben der Parteileitungen, an intellektuellen Sperrbezirken verschiedener Art. Ökonomische Enge kam hinzu. Es fehlte an Anreizen. Das System war in sich wenig kompetitiv und nicht sehr innovationsfreudig. Reiseverbote, Kommunikationssperren, Büchermangel und alltägliche Gängelung, Zensur, vor allem auch Selbstzensur und Opportunismus behinderten die Arbeit und prägten die wissenschaftliche Kultur. Eine lebhafte wissenschaftliche Streit- und Diskussionskultur konnte sich unter diesen Bedingungen nicht entwickeln. All dies wirkt weiter.

Dieses Erbe muß vom gesamtdeutschen Wissenschaftssystem absorbiert und verarbeitet werden. Das kostet viel Kraft, Geld und Zeit. Man muß auf intensive Kooperation zwischen ostdeutschen und westdeutschen Wissenschaftlern setzen. "Durchmischung" ist nötig, aber unendlich schwierig. Es scheint, als würde sie verfehlt. Bedenkt man all dies, muß man froh sein, wenn ein vereinigungsbedingter Qualitätsverlust des Gesamtsystems - im Vergleich zum vorher erreichten westdeutschen Stand - vermieden werden kann.

Das ist die eine Seite. Auf der anderen Seite ist zu betonen, daß den ostdeutschen Historikern und Sozialwissenschaftlern auch viele

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gute und sehr gute Leistungen gelangen. In einigen Bereichen - man denke z. B. an die historische Klassenanalyse eines Hartmut Zwahr, an die sozialgeschichtlich orientierte Volkskunde in der Nachfolge von Wolfgang Steinitz und Wolfgang Jacobeit, an die Agrargeschichte von Hans-Heinrich Müller und Hartmut Harnisch oder auch an die vergleichende Revolutionsforschung in der Nachfolge Walter Markovs - waren sie zumindest nicht weniger produktiv und interessant als die Wissenschaftler im westlichen Deutschland oder im westlichen Ausland. In den letzten Jahren wurden die Geschichtswissenschaft und die Soziologie in der DDR interessanter, ein wenig offener, innovativer. Und es gab immer sehr viele Historiker in der DDR, die sich auf enge Detailforschung beschränkten, dort aber quellennah, handwerklich korrekt und empirisch gehaltvoll arbeiteten. Dies läßt sich eher über Historiker sagen als in bezug auf Politikwissenschaftler, Soziologen und Ökonomen, deren Arbeiten eben durchschnittlich theoretischer, gegenwartsbezogener und deshalb verletzlicher waren als so manche Historikerforschung über zurückliegende Jahrhunderte.

Diese und andere Leistungen der DDR-Wissenschaft sind ebenfalls Teil der Mitgift, die jetzt ins gesamtdeutsche Wissenschaftssystem eingebracht wird. Diese Leistungen wurden trotz der genannten Beschädigungen, Gängelungen und Behinderungen möglich, weil die Intensität der parteipolitischen Fremdbestimmung ihre Grenzen hatte, die Autonomie der Wissenschaftler nur teilweise beeinträchtigte und vor allem die Entstehung zahlreicher Nischen nicht verhinderte; weil die Historiker der DDR in Traditionen standen, die älter waren als die Diktatur und fortgeführt werden konnten; weil die DDR an der internationalen Anerkennung ihrer Wissenschaftler interessiert war und ihnen auch deshalb gewisse Spielräume gewährleisten mußte; und weil die marxistischen Traditionen, in denen die Geschichts- und Sozialwissenschaften der DDR standen, durchaus produktiv, stimulierend, traditionskritisch und erkenntnisfördernd wirken konnten, wenn sie nicht durch parteipolitische Gängelung und Dogmatismus verformt wurden (was allerdings häufig und zunehmend geschah).

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Die Geschichts- und Sozialwissenschaften der DDR litten unter politischer Fremdbestimmung und Dogmatismus, an zu viel Marxismus litten sie nicht. Ihr Marxismus erschöpfte sich häufig in der Anpassung an das durch politische Instanzen verbindlich definierte marxistisch-leninistische Geschichts- und Gesellschaftsbild, das die bestehenden sozialistischen Systeme auf dem Höhepunkt der bisherigen Geschichte verortete und die in ihnen Herrschenden damit legitimierte. Die Prämissen dieses Bildes waren der wissenschaftlichen Diskussion entzogen, es beanspruchte das Monopol, war insofern dogmatisch und wirkte wissenschaftlich primär dysfunktional. Aber oft schlug der Marxismus-Leninismus der DDR-Historiker zwar auf ihre Vor- und Nachworte, auf die große Linie ihrer Interpretation, ihre moralisch-politischen Wertungen und ihre Polemik gegen den "Klassenfeind" im Westen durch, ihre Methoden im Einzelnen aber beeinflußte er kaum. Diese blieben häufig ganz konventionell und "bürgerlich". Dennoch gelang es mitunter, das Produktivitätspotential marxistischer Fragestellungen zu nutzen und Forschungsergebnisse zu erzielen, die auch außerhalb des marxistisch-leninistischen Systemzusammenhangs große Aufmerksamkeit erregten und eindeutig weiterführten.

Das marxistisch-leninistische Geschichtsbild ist mit der DDR zusammengebrochen. Derzeit findet es kaum noch Verteidiger. Es scheint in den Jahrzehnten der Diktatur nicht allzu tiefe Wurzeln geschlagen zu haben und oft als Lippenbekenntnis verkündigt worden zu sein, von DDR-Historikern allerdings viel kompromißloser und politisch angepaßter als von ihren Kollegen in Polen und Ungarn.

Aber auch von den produktiven Wirkungen marxistischen Denkens ist jedenfalls unter den Historikern aus der ehemaligen DDR derzeit nicht viel zu spüren. Von systematischen Interpretationen größerer Zusammenhänge scheinen viele von ihnen zunächst einmal genug zu haben. Sie beschränken sich auf das kleine Detail, die mikrohistorische Studie, die quellengesättigte Teilforschung. Die Befreiung vom zwangsartigen Korsett der marxistisch-leninistischen Ideologie gerät

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häufig zum Rückgriff auf das Herkömmliche - methodisch, theoretisch und institutionell. Enttäuscht von den Theorien, die ihnen lange verbindlich vorgeschrieben waren, verhalten sich viele jetzt skeptisch gegenüber geschichtswissenschaftlichen Theorien überhaupt. Jahrzehntelang zu sozialökonomischen Deutungen verpflichtet, nutzen sie die neue Freiheit zur Abwendung von der Ökonomie. Aber hier gilt es abzuwarten. Die intellektuelle Lähmung und Desorientierung sind noch lange nicht überwunden, die der Zusammenbruch der DDR und die Umstrukturierung der Wissenschaft für viele Betroffene mit sich brachten. Berufliche Unsicherheit ist verbreitet. Dies ist kein gutes Klima für intellektuelle Innovation. Mittelfristig aber könnte es anders werden. Vielleicht gelingt es ja einigen Historikern aus der DDR, an ihre marxistischen Traditionen anzuknüpfen und entsprechende Sichtweisen undogmatisch in die deutsche Geschichtswissenschaft einzubringen.

III.

Die Wirkungen des Umbruchs der letzten Jahre auf die Geschichts- und Sozialwissenschaften reichen viel weiter, als bisher diskutiert. Dies ist ein weites Feld. Ich beschränke mich auf fünf abschließende Überlegungen.

l. Die Geschichts- und Sozialwissenschaftler haben in aller Regel die "Wende" nicht früher und nicht besser vorausgesehen als andere Zeitgenossen. Für Sozialwissenschaftler mit prognostischen Ansprüchen ist dies ein Problem, für die zahlenmäßig nicht schlecht ausgebaute DDR-Forschung besonders. Auch für Historiker, die mehr wollen als bloß erzählen, wie es eigentlich war, wirft die Überraschung von 1989/90 interessante methodologische Fragen auf, obwohl die Voraussage der Zukunft nicht zu den Aufgaben der Historiker gehört. Zur Stärkung des Selbstbewußtseins und des Ansehens der

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Sozialwissenschaften dürfte der unvorhergesehene Umbruch von 1989/90 jedenfalls nicht gerade beigetragen haben.

2. Andererseits hat jener Umbruch die Geschichts- und Sozialwissenschaften mit neuen Problemstellungen, Themen und Materialien versorgt. An Arbeit mangelt es nicht, von Langeweile kann keine Rede sein. Mit dem Territorium der DDR sind für die Historiker regionale Entwicklungen und Archive zugänglich geworden, die bis 1989 nur mit Mühe erforschbar waren, z. B. Sachsen oder die Lausitz im Rahmen der Industrialisierungsgeschichte.

Nachdem die DDR zu Ende ist, stellt sich ihre Erforschung als neues Tätigkeitsfeld der Zeitgeschichte dar, mit Risiken, Möglichkeiten und Chancen, auch für die historische Komparatistik. Die Sozialgeschichte der DDR muß überhaupt erst noch konstituiert werden. Hier ist vieles am Anfang und völlig im Fluß. Die Anstöße, die von diesem Themenbereich für die neue deutsche und europäische Geschichte überhaupt ausgehen dürften, sind auch im Umriß nicht abzusehen. Die Bedeutung der historischen DDR-Forschung für das kollektive Selbstverständnis der Deutschen und für unseren Umgang mit der Erinnerung an die zweite deutsche Diktatur ist groß. Es besteht neuer, legitimer Bedarf an Vergleichen zwischen "Drittem Reich" und DDR, zwischen faschistischen und kommunistischen Diktaturen, ohne daß dies notwendigerweise die Wiederbelebung alter Totalitarismus-Theorien zur Folge haben muß. Im Ergebnis dürften die Unterschiede zwischen den beiden deutschen Diktaturen mindestens ebenso prägnant hervortreten wie ihre unbestreitbaren Ähnlichkeiten.

Entsprechendes gilt für Soziologie und Politikwissenschaft, wohl auch für Teile der Wirtschaftswissenschaft. Die Transformationsforschung blüht, die Liste der vorrangigen Themen wurde blitzartig umgestellt. Sozialwissenschaftler bezeichnen, was abläuft, als "sozialen Großversuch" (Bernd Giesen und Claus Leggewie), als "natürliches Experiment" (Claus Offe), das sie systematisch-empirisch beobachten wollen. Auch Sozialwissenschaftler, die sich bisher vor-

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nehmlich mit der Krise des Spätkapitalismus und den Legitimationsproblemen spätbürgerlicher Herrschaft beschäftigt haben, fühlen sich von der DDR - nach ihrem Ende - als Forschungsthema angezogen. "Die DDR [erscheint] als ein weitgehend unbekanntes Sozialsystem, das von den Menschen, die in ihm lebten, zwar erfahren, aber nicht analysiert wurde". So schreibt M. Rainer Lepsius und plädiert folgerichtig für eine enge Kooperation von ost- und westdeutschen Forschem bei der anstehenden Bearbeitung dieses Gebiets. Historiker warnen davor, die Geschichte der DDR nur von ihrem Untergang her zu thematisieren, ihr Scheitern erscheint sonst leicht notwendiger, als es möglicherweise in Wirklichkeit war.

3. Oft hat die westdeutsche Geschichtswissenschaft auf DDR-Herausforderungen reagiert, dadurch erklären sich einige ihrer Schwerpunkte, Eigenarten und Stärken. Die Geschichte der Arbeiterbewegung z. B. wurde vermutlich auch deshalb im Westen so stark gefördert, weil man ein Interpretationsmonopol der SED und der von ihr kontrollierten Historiker verhindern wollte, die in diesem Bereich in großer Zahl arbeiteten. Dazu besteht nun künftig kein Grund mehr. Die westdeutsche Reformationsgeschichte hat produktive Herausforderungen aus der marxistisch-leninistischen Theorie der "frühbürgerlichen Revolution" gezogen, mit der die ostdeutschen Historiker die Reformation und die Bauernkriege des 16. Jahrhunderts zu interpretieren versuchten. Mit dem Theorem des "organisierten Kapitalismus" antwortete man Anfang der 70er Jahre in der Bundesrepublik auf die problematische Theorie des "staatsmonopolistischen Kapitalismus" aus der DDR. Es gibt viele andere Beispiele. Diese Herausforderungen werden in Zukunft fehlen, und mit ihnen wichtige Anregungen, die die westdeutsche Geschichtswissenschaft ungewollt gefördert haben. Analog: Nachdem das Deutsche Historische Museum in Berlin nicht mehr als Gegengewicht gegen die Eingemeindung und Uminterpretation des historischen "Erbes" durch die DDR gebraucht wird, ist seine Zukunft unsicherer geworden. An den Ort des geplanten Museumsneubaus im Spreebogen zieht das neue Bundeskanzleramt.

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4. Die konsequente Absetzung von der Nazi-Diktatur hat in der westdeutschen Geschichtswissenschaft vielfältige Folgen gehabt. Eine wichtige Folge war das Paradigma vom "deutschen Sonderweg" und von seinem Ende nach 1945 im westlichen Deutschland. Diese kritische Sichtweise maß deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts an der - manchmal etwas idealisierten - Geschichte der Gesellschaften Westeuropas und Nordamerikas. Sie diagnostizierte eine Abweichung Deutschlands von der westlichen Norm, der westlichen "Normalität": Die späte Nationalstaatsbildung, die verspätete Parlamentarisierung, die lange Dominanz vorbürgerlicher Eliten in Militär, Bürokratie und Großgrundbesitz, das obrigkeitsstaatliche Erbe, starke Traditionen der Illiberalität in der politischen Kultur, anti-westliche Zivilisationskritik - das waren Merkmale der deutschen Geschichte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, die von den Vertretern der Sonderweg-These im Vergleich zum Westen festgestellt, kritisch bewertet und als Faktoren identifiziert wurden, die später den Durchbruch des Faschismus im Deutschland der Zwischenkriegszeit erleichterten. Nach dessen Ende in der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs schien dieser deutsche Sonderweg, die "German divergence from the West", vorbei, jedenfalls in der Bundesrepublik. Die meisten Vertreter der Sonderweg-These waren darüber erleichtert und begrüßten es, daß die Bundesrepublik vorbehaltlos zu einem Teil des Westens geworden war, in ihrem politischen System, ihrer Gesellschaftsordnung, ihrer Wirtschaftsverfassung und ihrer politischen Kultur. Diese in den Traditionen der Aufklärung wurzelnde, stark vom Erlebnis der faschistischen Diktatur geprägte, vielem Deutschen kritisch gegenüberstehende, post-nationale, westliche Interpretation der deutschen Geschichte war nie unumstritten, sie war in sich vielfältig, jedoch zweifellos einflußreich.

Es kann sein, daß sie jetzt an Einfluß verliert. Die Erinnerung an 1945 verschwindet zwar nicht, aber sie wird mit der Zeit schwächer und nunmehr durch die Erinnerung an 1989/90 relativiert. Eine neue "Vergangenheitsbewältigung" findet statt, die Auseinandersetzung mit

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der Geschichte der zweiten deutschen Diktatur. Die Auseinandersetzung mit der ersten dürfte dadurch in den Hintergrund treten. Nach der Wiedererrichtung eines deutschen Nationalstaats dürfte die Geschichte der deutschen Nation künftig wieder in wärmeren Farben gemalt werden. Überdies: Ostdeutsche Intellektuelle stehen der Zivilisation des Westens manchmal noch sehr fremd gegenüber. Ihre DDR-Identität haben sie zwar verloren, aber der Sprung in eine vorbehaltlose West-Identifikation fällt ihnen verständlicherweise schwer. Sie tendieren deshalb dazu, die Lage und den "Eigenweg" Deutschlands zwischen Ost und West neu zu betonen und positiv zu bewerten. Sie empfehlen die Anknüpfung an das "Traditionspotential der vorgängigen einheitlichen deutschen Kultur" als Grundlage kollektiver Identität, so Ende 1991 Heiner Müller, Christa Wolf, Friedrich Dieckmann und andere in ihrem Plädoyer für eine Vereinigte Akademie der Künste Berlin-Brandenburg. Nicht nur die "Ost-Anlehnung" der DDR, auch die "West-Anlehnung" der Bundesrepublik könne nunmehr überwunden werden - als ob beides auf einer Stufe stünde.

Das sind problematische Ansätze zu einer neuen deutschen Ideologie. Sie erinnern fatal an ältere Varianten deutschen Sonderbewußtseins zwischen Ost und West. Als ob zwischen dem "Traditionspotential der vorgängigen deutschen Kultur" und uns heute nicht zwei deutsche Diktaturen stünden! Dies könnte zum Stoff für einen neuen "Historikerstreit" werden.

5. Der Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus dürfte manche ältere Kritik an den Konzepten der Industriegesellschaft und der Modernisierung entwertet haben. Ist es Zeit, verstärkt an ältere Modernisierungstheorien anzuknüpfen, die ja - in der Tradition Max Webers z. B. - Krisen, Kosten und langfristige Widersprüche der Modernisierung nicht leugnen müssen? Oder steht dem die immer offensichtlichere Unmöglichkeit im Weg, das Modell westlicher Modernisierung in Richtung Dritte Welt zu verallgemeinern? Eine deutliche Aufwertung erfuhr auch das Konzept der "Bürgergesell-

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schaft" (civil society), deren aus der Aufklärung stammende Grundprinzipien durch die Revolutionen von 1989 eine triumphale Bestätigung gefunden haben, die aber auch im Westen noch bei weitem nicht restlos erfüllt sind.

Man erlebt mit Überraschung, wie alte nationale Identitäten und Grenzen, Regionen, kulturelle Traditionen und geopolitische Konstellationen, Bindungen und Leidenschaften im mittleren und östlichen Europa wieder hervortreten und politikmächtig werden. Wie wenig haben doch die Jahrzehnte des Kommunismus auf vielen Gebieten geändert, und wie wenig hat die utopisch-revolutionäre Veränderungsenergie Strukturen umwandeln können! Was für Konsequenzen zieht man theoretisch-methodisch daraus? So wichtig sozialökonomische Systemunterschiede und -wandlungen auch sind, man wird sie - relativ zu anderen Dimensionen und Potenzen der Geschichte - zukünftig eher vorsichtiger gewichten als bisweilen in vergangenen Jahren. Überdies könnte es paradoxerweise sein, daß der tiefe Umbruch von 1989 und seine teilweise restaurativen Folgen den Sinn für die Beharrungskraft der historischen Kontinuitäten stärken, die sich unterhalb der revolutionären Einschnitte des 20. Jahrhunderts erhalten haben und sich nur äußerst langsam verändern. Im Licht der jüngsten Erfahrungen gewinnt insofern nicht die Ereignis- und die Erfahrungsgeschichte, sondern vielmehr die Struktur- und Prozeßgeschichte an Gewicht und Plausibilität.

Man weiß ja, wie sehr sozialwissenschaftliche Theorie- und Begriffsbildung von grundsätzlichen Orientierungen, Zeiterfahrungen und Zukunftserwartungen abhängig ist. Wohin führt da die Debatte über das angebliche oder wirkliche Ende des Sozialismus? Die Selbstsicherheit mancher Kapitalismus-Kritik hat sich - oft unbewußt - aus der Überzeugung gespeist, daß es nicht-kapitalistische Alternativen industrieller Modernisierung gab, so undemokratisch, illiberal und diktatorisch verformt sie momentan auch sein mochten. Die Basis dieser Selbstsicherheit ist nun wohl dahin. Der Tenor der Kritik wird sich ändern, vorsichtiger werden. Doch die Kritik an überflüssiger

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Herrschaft und Ungleichheit, an Unfreiheit und Deprivation, an Manipulation und Ausbeutung in vergangenen und gegenwärtigen Gesellschaften - Kritik im Namen demokratischer, freiheitlicher und sozialer Grundüberzeugungen - ist durch die Veränderungen der letzten Jahre weder unmöglich, noch überflüssig geworden, ganz im Gegenteil. Sie kann historische und sozialwissenschaftliche Fragen, Theorien und Arbeiten auch weiterhin anregen und befruchten.


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