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Nationalismus im 19. und 20. Jahrhundert : zwischen Partizipation und Aggression ; Vortrag vor dem Gesprächskreis Geschichte der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn am 24. Januar 1994 / Dieter Langewiesche. - [Electronic ed.]. - Bonn, 1994. - 30 S. = 65 Kb, Text . - (Gesprächskreis Geschichte ; 6). - ISBN 3-86077-270-8
Electronic ed.: Bonn: FES Library, 1999

© Friedrich-Ebert-Stiftung


INHALT




[Seite der Druckausg.: 1-2 = Titelseiten]

[Seite der Druckausg.: 3]

Vorbemerkung des Herausgebers

Wir Deutschen tun uns schwer mit unserer Nation. Manche tragen diesen Terminus wie eine Fahne vor sich her oder gröhlen ihn gar vor sich hin. Viele - vor allem auf der Linken - verbieten es sich, ihn überhaupt zu verwenden, weil sie in der übersteigerten Fixierung auf die Nation ein Grundübel der deutschen Geschichte dieses Jahrhunderts sehen.

Um dem Mißbrauch zu wehren, wird oft die Notwendigkeit hervorgehoben, einen positiven Begriff von Nation zu entwickeln, der die Liebe zur eigenen Nation mit der Achtung der Eigenheiten der anderen Nationen verbindet. In diesem Sinne wird dann begrifflich in der Regel ein positiv verstandener Patriotismus einem negativ gezeichneten Nationalismus gegenübergestellt. Es liegt auf der Hand, daß ein solches Gegensatzpaar in der politischen Pädagogik eine wichtige Funktion ausüben kann.

Daß ein solcher Gegensatz jedoch nicht der historischen Entwicklung entspricht, hat für die europäische Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts Herr Professor Dr. Dieter Langewiesche von der Universität Tübingen in einem vielbesuchten Vortrag herausgearbeitet, den er am 24. Januar 1994 vor dem Gesprächskreis Geschichte der Friedrich-Ebert-Stiftung gehalten hat. Der Nationalismus hat zu allen Zeiten zugleich partizipative und aggressive Elemente entwickelt - das ist die wichtigste, viele Denkgewohnheiten in Frage stellende These dieses Vertrags.

Wie kann man eine solche historisch entwickelte These in der politischen Bildungsarbeit fortentwickeln, wie sie umsetzen? Wenn diese These richtig ist, müßte man in der gegenwärtigen Situation versuchen, sofern sich dies überhaupt direkt oder indirekt beeinflussen läßt, die partizipativen Elemente des so verstandenen Nationalismus zu stärken und die aggressiven möglichst weit zurückzudrängen. Dazu fehlen zur Zeit aber noch jegliche Denkmodelle und erst recht Strategien, die zu entwickeln unbedingt erforderlich ist. Aber dies geht über den Auftrag und die Kompetenz des Historikers hinaus.

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Gerade weil dieser Vortrag viele unserer gängigen Denkmuster erschüttert, ist die öffentliche Diskussion seiner Thesen über den Gesprächskreis Geschichte hinaus sinnvoll und notwendig. Die Nachfragen danach waren denn auch besonders zahlreich und zum Teil drängend. Wir legen daher hiermit diesen Vortrag gedruckt vor, und zwar in einer etwas erweiterten Fassung, in der Hoffnung, daß er weite Verbreitung finde.

Bonn, im April 1994

Dr. Dieter Dowe
Leiter des
Historischen Forschungszentrums

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Dieter Langewiesche:
Nationalismus im 19. und 20. Jahrhundert: zwischen Partizipation und Aggression*


*[Es handelt sich um den Vortragstext, ergänzt um die Passagen, die aus Zeitmangel nicht vorgetragen wurden. In den Anmerkungen sind nur Zitate nachgewiesen. Die knappe Auswahlbibliographie nennt einige weiterführende Titel. Die bereits in den Anmerkungen zitierten Studien werden in der Bibliographie nicht mehr erwähnt.]

Nationalismus ist ein Geschöpf der Moderne. Als die alteuropäische Welt von der Amerikanischen und der Französischen Revolution in ihren Fundamenten erschüttert wurde und in der napoleonischen Ära dann vollends zerbrach, da gehörte nicht nur die Idee der Selbstbestimmung zu dem neuen Demokratie-Ideal, das seitdem die Welt verändert. Nationalismus gehörte auch dazu. Denn von Beginn an suchten die Menschen ihre neuen Ansprüche im Gehäuse der eigenen Nation zu verwirklichen. Die revolutionären Ideale forderten zwar universelle Geltung, doch ihr zentraler Handlungsraum war und blieb die einzelne Nation. Hoffnungen auf internationale Solidarität gab es zwar immer wieder, doch stets zerstob die Sehnsucht nach einem "Völkerfrühling" angesichts der überlegenen Kraft, die von den nationalen Leitbildern ausging.

Universalismus trat politisch aber nicht nur hinter Nationalismus zurück. Universalismus wurde vielmehr regelmäßig nationalistisch überformt, instrumentalisiert. Denn wo immer die nationale Politik mit Erfolg universalistisch aufgeladen wurde, diente dies dazu, den Vorrang der eigenen Nation offen oder auch verhüllt zu begründen. Das läßt sich schon in den revolutionären Anfängen des modernen Nationalismus erkennen - damals, als von Frankreich aus ein gewaltsamer Revolutionsexport andere Völker von ihren alten Herren und alten Ideen zugunsten der neuen demokratischen Prinzipien zu erlösen suchte. Dieses Missionswerk, universalistisch beflaggt, aber mit nationalistischem Kern, wenn es konkret um die Durchsetzung der

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neuen Ideale ging, sei es politisch, wirtschaftlich, kulturell oder auch militärisch - dieses Missionswerk, das die Französische Revolution in Gang gesetzt hatte, es wiederholte sich in veränderter Form später im Zeitalter des Imperialismus, als nationale Weltgeltungsansprüche universalistisch kostümiert auftraten, nämlich im Gewände kultureller Höherwertigkeit.

Die neue, in ihrem Ursprung revolutionäre Legitimität der modernen Nation erwies sich gegenüber allen anderen Ordnungsmodellen, überlieferten wie auch künftigen, als konkurrenzlos überlegen. Wer sich diesem Zwang zur Nationalisierung nicht einfügen konnte, ging unter. So auch die drei übernationalen Großreiche, die sich dem Zeitalter des Nationalismus und seinem Partizipationsverlangen zu versperren suchten: das osmanische, das habsburgische und das russische. Der Wille zur Nation und zum Nationalstaat, unlösbar verbunden mit der Forderung nach politischer und sozialer Demokratisierung, schwächte sie in einem langsamen Prozeß, bis sie schließlich unter der Last der militärischen Mißerfolge im I. Weltkrieg abrupt zusammenbrachen.

Die neuen kolonialen Imperien, die im 19. Jahrhundert mit besserem Erfolg um die Aufteilung der Welt rivalisierten, waren anders konstruiert als diese älteren übernationalen Großreiche. Sie konnten sich - darauf beruhte ihr Rückhalt in der eigenen Bevölkerung und damit ihre Durchsetzungskraft - auf die Legitimierung durch ihre Nation stützen. Denn das Herrschaftszentrum der jüngeren imperialistischen Mächte bildete ein Nationalstaat moderner Prägung, und nur so lange dieser Nationalstaat stark war, seine koloniale Herrschaft verteidigen konnte, nur so lange überdauerte das Imperium.

Das gilt auch für die Sowjetunion. Sie war eindeutiger als alle anderen modernen Imperien einer universalistischen Ideologie verpflichtet, die den Nationalstaat der bürgerlich-kapitalistischen Welt zuordnete, mit der er untergehen werde. Daß der kommunistische Internationalismus trotz aller antinationalistischen Beteuerungen ebenfalls in den Dienst eines einzelnen Staates gestellt wurde, ist schon seit den zwanziger Jahren unübersehbar. Daß er den Willen zur Na-

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tion nur unterdrücken, nicht aber dauerhaft durch eine Legitimität anderer Art ersetzen konnte - das wissen wir seit kurzem. Der Nationalstaat, so scheint es, triumphiert auch hier erneut. Und mit ihm seine Ideologie, der Nationalismus.

Im Rückblick zeigt sich die Wirkungsgeschichte des Nationalismus zwar voller Widersprüche, in ihren großen Linien aber doch klar erkennbar: Im späten 18. Jahrhundert als eine antiständische, egalitäre Befreiungsideologie entstanden, veränderte der Nationalismus die staatliche und auch die gesellschaftliche Ordnung Europas im Laufe eines Jahrhunderts völlig, griff im Gefolge der imperialistischen Eroberungszüge weltweit aus und wurde zu einem zentralen Bestandteil der Europäisierung der Welt, häutete sich aber erneut zur Befreiungsideologie, entlegitimierte die imperialistischen Zentren und half so, die Kolonialreiche, die er zuvor mitgeschaffen hatte, wieder aufzulösen.

Dieser wechselreiche, ineinander verflochtene Prozeß von Aufbau und Zerstörung hatte seinen Ausgang von Europa genommen. Und hier schien er auch zu einem Ende gekommen zu sein - zu einem bis dahin unvorstellbar grausamen Ende. Jedenfalls haben viele Menschen den II. Weltkrieg als das blutige Ende des nationalistischen Zeitalters begriffen. Nationalismus und Nationalstaat alter Form, so glaubten sie, sind politisch und moralisch endgültig diskreditiert und zudem militärisch wie wirtschaftlich überholt. Übernationale Ordnungen sollten an ihre Stelle treten. Europa wurde auch dafür wieder das Hauptexperimentierfeld. Denn im Konkurrenzkampf zwischen dem Westen und dem Osten ging es immer auch darum, wer den klassischen Nationalstaat europäischen Zuschnitts durch ein neues Entwicklungsmodell von universeller Geltung ersetzen könne - ein Zukunftsmodell, das wirtschaftlich und kulturell, auch militärisch nicht weniger erfolgreich sein dürfe als der nationalistische Vorläufer, der zu keiner vernünftigen Politik mehr fähig schien.

Wie dieser Wettbewerb um die staatliche Bauform der Zukunft ausgehen wird, ist offen. Das wird man sagen dürfen, ohne jeden Anflug von Prognostik, zu der Historiker professionell unfähig sind: Der

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Ausgang ist offen - entgegen allen triumphierenden Bekundungen über den vermeintlich endgültigen Sieg des liberalen Gesellschaftsmodells oder gar über ein Ende der Geschichte im Zeichen dieses Sieges. Die eine supranationale Staatenwelt ist zwar zusammengebrochen und mit ihr die kommunistische Alternative zum überkommenen Nationalstaat europäischer Herkunft. Doch dieser Zusammenbruch hat zugleich offenbart, daß auch der Westen ordnungspolitisch mit ziemlich leeren Händen dasteht: Einiges Geld und noch mehr Ratschläge werden angeboten, aber kein bereits funktionsfähiges supranationales Ordnungsmodell, das übernommen werden könnte als demokratischer Ersatz für die endlich entfallene Zwangsgestalt des multinationalen Sowjetimperiums und als Damm gegen dessen angstvoll unerwünschte Renationalisierung.

Die Europäische Union bietet kein Gegenmodell zur Wiedergeburt von Nationalismus und Nationalstaat alter Art aus den Trümmern der sowjetischen Weltmacht. Die EU hat zwar zahlreiche klassische nationalstaatliche Kompetenzen übernommen, den Nationalstaat als vorrangige Ordnungsmacht im Leben des einzelnen Bürgers jedoch bislang in keiner Weise verdrängen können. Die Wissenschaften, die diesen Entwicklungsprozeß mit ihren Forschungen begleiten, sind sich einig, daß hier etwas Neues entsteht, ohne geschichtliches Vorbild, doch was daraus werden wird, wissen sie nicht zu sagen. Sie haben nicht einmal einen neuen Begriff gefunden für dieses Neue - ein Zeichen dafür, wie offen die Entwicklung noch ist.

Sicher scheint zur Zeit nur eines: Der Verfall des supranationalen Sowjetimperiums ließ den längst totgeglaubten Nationalismus erneut zur schlechthin überlegenen Gestaltungskraft werden. Dies eine bloße Renaissance von Nationalismus und Nationalstaat zu nennen, wie man immer wieder lesen kann, ist wohl doch zu wenig. Denn es entstehen ja nicht nur alte Nationalstaaten wieder, deren nationale Identität von der supranationalen sowjetischen Zwangsordnung und ihrer universalistischen Ideologie offensichtlich nicht zerstört werden konnte. Es bilden sich auch neue Nationalstaaten, die es nie gegeben hat - früher in der Vergangenheit, wenngleich sie sich nun alle auf die

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Geschichte berufen, als Legitimation für ihre nationalstaatlichen Sehnsüchte. Kleine und kleinste Bevölkerungsgruppen, die bisher unterhalb der Schwelle zur Nationalität gelebt haben, entdecken sich nun als Nationen und verlangen den eigenen Nationalstaat. Das 19. Jahrhundert scheint zurückzukehren. Und mit ihm die stärkste gesellschaftliche und politische Kraft, die es hervorgebracht hat: der Nationalismus. Und dies nicht irgendwo in einem fernen Land der sog. Dritten Welt, der wir das Nachholen auch der Irrwege der Ersten Welt zuzubilligen gewohnt sind, sondern in Europa - dort also, wo der Nationalismus entstanden ist, seine unterschiedlichen Typen ausgebildet hat und schließlich in der von ihm ausgelösten Katastrophengeschichte des 20. Jahrhunderts endgültig untergegangen schien. Es dürfte sich also lohnen, danach zu fragen, welche Rollen der Nationalismus in der Vergangenheit gespielt hat. Ich will das nun versuchen. Natürlich kann das nur in strenger Auswahl geschehen. Aber es ist ein, wie ich meine, angemessener, ein zentraler Ausschnitt, auf den ich den Blick richte: das Spannungsfeld zwischen den beiden Hauptpolen, zwischen denen sich der Nationalismus entwickelt hat - Partizipation und Aggression.

Indem ich diese beiden Pole einander zuordne, habe ich eine zentrale Vorentscheidung für alles weitere getroffen - eine Vorentscheidung, auf die ich Sie nachdrücklich aufmerksam machen will: Nationalismus umfaßt in dem Bild, das ich entwerfe, beides, setzt beides frei: Partizipation und Aggression. Wenngleich natürlich in unterschiedlichen Dosierungen in den verschiedenen Gesellschaften und zu unterschiedlichen Zeiten. Es gab und gibt Entwicklungen, aber sie sind nicht einlinig. Und kein Staat, keine Gesellschaft hat eindeutig gradlinige Entwicklungen von dem einen Pol zum anderen mitgemacht. Wichtig sind vielmehr die Mischungsverhältnisse, die unterschiedlichen und wechselnden - das ist ausschlaggebend -, die wechselnden Annäherungen an den einen oder den anderen Pol.

Nationalismus so zu verstehen heißt, ihn nicht als die dunkle Nachtseite der ins helle Licht getauchten Nation zu beschreiben. Anders also, als es vielfach getan wird - nach dem Muster: Nation und

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nationale Gesinnung sind gut, Nationalismus ist schlecht, beides auch terminologisch streng geschieden. Diese simple Gleichung hat jüngst Otto Dann seinem Buch "Nation und Nationalismus in Deutschland" zugrunde gelegt - leider die einzige neuere Gesamtdarstellung zur Geschichte der deutschen Nation, über die wir verfügen. Nation, so definiert er, ist "eine Gesellschaft, die aufgrund gemeinsamer geschichtlicher Herkunft eine politische Willensgemeinschaft bildet. Eine Nation versteht sich als Solidargemeinschaft, und sie geht von der Rechtsgleichheit ihrer Mitglieder aus. Sie ist angewiesen auf einen Grundkonsens in ihrer politischen Kultur. Nationen sind stets auf ein bestimmtes Territorium orientiert, auf ihr Vaterland. Ihr wichtigstes Ziel ist die eigenverantwortliche Gestaltung ihrer Lebensverhältnisse, politische Selbstverantwortung (Souveränität) innerhalb ihres Territoriums, ein eigener Nationalstaat." [Fn1: Otto Dann, Nation und Nationalismus in Deutschland 1770-1990, München 1993, S.12.]

Diese Definition ist ganz auf den einen Pol unserer Betrachtung zentriert, auf Partizipation. Den anderen Pol, die Aggression, weist der Autor dem Nationalismus zu: "Wir verstehen unter Nationalismus ein politisches Verhalten, das nicht von der Überzeugung einer Gleichwertigkeit aller Menschen und Nationen getragen ist, das fremde Völker und Nationen als minderwertig einschätzt und behandelt. Nationalismus tritt auf als Ideologie, als soziale Verhaltensweise und seit den 1880er Jahren auch als eine organisierte Bewegung." [Fn 2: Ebd. S. 17.]

Gut und Böse sind hier also eindeutig getrennt. Diese Auskunft des Historikers mag auf den einzelnen und für eine gesamte Gesellschaft beruhigend wirken. Denn sie erlaubt, Entwicklungen in der Vergangenheit und auch in der Gegenwart eindeutig zu klassifizieren. Doch die Wirklichkeit wird durch solche Schwarz-Weiß-Bilder gründlich verfehlt. Man wird mit Zwischentönen arbeiten müssen, um die Beimischungen von Aggressivität auch in der emanzipatorischen Frühphase des europäischen Nationalismus erkennen zu können, und ebenso die Partizipationswünsche selbst noch in dem blutigen Natio

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nalismus, den uns das Fernsehen täglich aus dem ehemaligen Jugoslawien vor Augen führt.

Diese Forderung, in allen Phasen und in allen Erscheinungsformen nationaler Bewegungen und nationalen Denkens die gesamte Spannweite zwischen Partizipation und Aggression auszuleuchten und sie nicht schon im Vorgriff begrifflich aufzuspalten - oder vielleicht sollte ich hier besser sagen: sie nicht begriffspolitisch zu zerlegen in Hell und Dunkel -, diese Forderung ist keineswegs neu. Bei Theodor Schieder, der sich wie kaum ein anderer deutscher Historiker nach 1945 beständig mit dem europäischen Nationalismus beschäftigt hat, wird Nationalismus als Begriff wertneutral verwendet. Er begreift ihn als eine "spezifische Integrationsideologie" [Fn 3: Theodor Schieder, Nationalismus und Nationalstaat. Studien zum nationalen Problem im modernen Europa. Hrsg. v. Otto Dann und Hans-Ulrich Wehler, Göttingen 1991, 1992 2 , S. 105. Ähnliche Formulierungen finden sich an vielen Stellen. ] , so seine Formulierung, die immer auf die Nation und den Nationalstaat zielt, selber aber auf sehr unterschiedliche Weise auftreten kann.

In dieser Definition als Integrationsideologie ist die Außenabgrenzung als konstitutives Merkmal enthalten. Das ist wichtig. Denn Nationsbildung vollzieht sich stets als ein doppelseitiger Prozeß: nach innen Integration, nach außen Abgrenzung. Beides ist doppelbödig. Auch die Außenabgrenzung hat eine Innenseite. Sie besteht darin, die Nation als Partizipationsgemeinschaft zusammenzuschweißen und handlungsfähig zu machen. Im Gegenbild erkennt sich die Nation, entwirft sie eine Vorstellung von sich selbst. Selbstbild durch Gegenbild, nicht selten gesteigert zum Feindbild.

Doch nicht nur der Blick auf die Außengrenze, auch der Wille zur Integration verbindet Partizipation mit Aggression. Denn die Forderung nach Integration hat historisch immer auch bedeutet, denjenigen Bevölkerungsgruppen, die man nicht als integrationswillig ansieht, die Vollmitgliedschaft in der angestrebten nationalen Gemeinschaft vorerst zu verwehren oder sie sogar auf Dauer auszuschließen, wenn sie als grundsätzlich integrationsunfähig gelten. Nationsbildung als

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Integrationsprozeß darf also in der historischen Betrachtung nicht auf Partizipation verengt werden. Die schwierige Aufgabe des Historikers besteht vielmehr darin, den anderen Pol, die Aggression auch nach innen, in allen Phasen der geschichtlichen Entwicklung zu sehen und seine jeweilige Kraft in der konkreten historischen Situation zu gewichten. Um mit Reinhart Koselleck zu sprechen: Das "bewegliche Epitheton 'national' " war semantisch offen, konnte links wie rechts verwendet werden, doch immer hat es "wie ein Lackmuspapier einen aus- und eingrenzenden Gesinnungstest" ermöglicht. [Fn 4: Aus Kosellecks Beitrag zu dem umfangreichen Artikel "Volk, Nation" (verfaßt von Fritz Gschnitzer, Karl Ferdinand Werner, Bernd Schönemann und Reinhart Koselleck) in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Hrsg. v. Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck, Bd. 7, Stuttgart 1992, S. 141-431, 398.]
So war es schon in den Anfängen, und so ist es bis heute geblieben.

Es führt in die Irre, eine ausschließlich emanzipatorische, noch unschuldige nationale Gesinnung der Frühzeit scharf abzugrenzen von einem entarteten Nationalismus späterer Zeiten. Es ist wichtig, die Veränderungen herauszuarbeiten, den zeitweisen Wandel etwa von einer linken zu einer rechten Kampfbewegung. Doch ein spezifisches Gemisch von Partizipation und Aggression kennzeichnet die Berufung auf die Nation als Letztwert gesellschaftlicher Legitimität zu allen Zeiten.

Der Aufstieg der Nation zum obersten Richterstuhl für Emanzipationsforderungen jeglicher Art gehört zu den erstaunlichsten Entwicklungen, die seit dem späten 18. Jahrhundert Politik und Gesellschaft überall fundamental umgestalten. Wer immer etwas verändern wollte, berief sich auf die Nation. Sie war Richterstuhl und nicht selten auch Richtstätte. Sie konnte dies nur werden, weil sie nicht lediglich eine neue staatlich-gesellschaftliche Bauform bereitstellte zur Ablösung einer alten, verbrauchten, nicht mehr zeitgemäßen. Das Bekenntnis zur Nation wurde vielmehr in den Lebenswelten, den Leitbildern und Verhaltensnormen der Menschen selber verankert.

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Diese Nationalisierung von Werten und Lebensformen begleitete den Prozeß der Nationsbildung und war mit der Begründung von Nationalstaaten keineswegs abgeschlossen. Denn nicht alle Mitglieder einer Nation wurden von diesem Prozeß der Nationalisierung in gleicher Stärke und zur gleichen Zeit erfaßt. Doch letztlich konnte sich kaum jemand entziehen. Die Nation gewährte keine Refugien, in die sich dissentierende Mitglieder auf Dauer hätten unangefochten zurückziehen können. Denn die Nation ist entstanden als ein Wertesystem mit Absolutheitsanspruch. Norbert Elias würdigte deshalb den Nationalismus als "eines der mächtigsten, wenn nicht das mächtigste soziale Glaubenssystem des 19. und 20. Jahrhunderts" [ Fn 5: Norbert Elias, Studien über die Deutschen. Machtkämpfe und Habitusentwicklung im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt/M 1990 4 , alle Zitate S. 194-197.] .

Elias, der in die Geschichte blickende Soziologe, hat in einem stimulierenden Essay den Nationalismus einen "Glauben von wesentlich säkularer Natur" genannt. Er rechnet ihn zu den "Glaubensdoktrinen", die "unter bestimmten Umständen durch einen selbsttätigen Prozeß der wechselseitigen Verstärkung immer mehr Macht über ihre Gläubigen gewinnen." Das "nationalistische Ethos" beruhe auf einem "Gefühl der Solidarität und Verpflichtung" gegenüber einem "souveränen Kollektiv", das sich als Staat organisiere oder dies beabsichtige. Der Einzelne identifiziert sich mit diesem Kollektiv, der Nation, indem er die Nation nach seinen eigenen Vorstellungen zu gestalten sucht und zugleich sein Selbstbild nach ihrem Bilde formt. Die "Nationalisierung des Ethos und Empfindens" [Fn 6: Ebd. S.200.] , wie Elias diesen Vorgang nennt, in dem ein nationales Wir-Gefühl entsteht - diese Nationalisierung von Lebenswelten und Verhaltensnormen hat sich in allen Gesellschaften vollzogen, die im 19. und 20. Jahrhundert vom Modernisierungsprozeß erfaßt worden sind.

Nationalismus tritt also nach diesen sozialpsychologischen Überlegungen immer dann auf, wenn eine Gesellschaft unter Modernisierungsdruck gerät. Nationalismus ist mithin keine Entgleisung einer

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ansonsten positiven Entwicklung, Nationalismus setzt vielmehr nach Elias "einen erheblichen Grad an Demokratisierung voraus" - so seine Formulierung. Allerdings, so fügt er hinzu, Demokratisierung "im soziologischen, nicht im politischen Sinn des Wortes" [Fn 7: Ebd.S.196.] .
Die Gesellschaft muß in Bewegung geraten sein, muß sich aus ihren Traditionen, ihren ständischen Ordnungen lösen. Das ist gemeint. Nationalismus ist demnach eine Ideologie, die Zerfall und Zerstörung der überlieferten Ordnung legitimiert und an deren Stelle etwas Neues setzen will - vom Anspruch her, dieses Neue, eine Gesellschaft mit einer egalitären Wertordnung, verfaßt als Staat mit einem kollektiven, also ebenfalls egalitären Souverän. Das ist der Grund, warum Nationalismus historisch als Befreiungsideologie entstanden ist und bis heute, trotz aller nationalistischen Greuel, immer wieder so wirken konnte. Wer mit dem Nationalismus paktieren wollte, mußte sich auf diese egalitäre Grundhaltung einlassen.

Das mußten auch die Konservativen erfahren. Konservativismus und Nationalismus waren ursprünglich Gegenpole: Beharrung und Bewegung. Als sie sich im 19. Jahrhundert einander annäherten, z.T. verschmolzen, veränderten sich beide. Indem der Konservativismus nationalistisch wurde, konnte er sich populistisch erneuern und eine Massenresonanz finden, die er zuvor als Traditionsideologie nie besessen hatte. Auch dies ein doppelbödiger Prozeß: Der Nationalismus, diese in ihren Ursprüngen und in ihrem Veränderungswillen revolutionäre Ideologie, modernisierte seit dem späten 19. Jahrhundert den Konservativismus und wurde von diesem zugleich usurpiert. Das ist der oft beschworene Wandel vom linken zum rechten Nationalismus.

Usurpation des Nationalismus durch den Konservativismus und dessen nationalistische Modernisierung zum Populismus - dieser wechselseitige Prozeß erzeugte die wahrscheinlich gravierendste Formveränderung von Politik, die Europa seit den Revolutionen des 18. Jahrhunderts erlebt hatte. Der alte Konservativismus gehörte ebenso zu den Verlierern wie der Liberalismus. Neue, beweglichere

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Kräfte beuteten die gesellschaftlichen Energien aus, die dieses dynamische Gemisch aus Nationalismus und Populismus freisetzte. Nach dem I. Weltkrieg waren es vor allem die faschistischen Bewegungen.

Diese Entwicklungslinie des Nationalismus, die ich nun im Zeitraffer vom späten 18. Jahrhundert bis in die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen ausgezogen habe, wieder aufzulösen, die Verästelungen, die Nebenpfade, die ebenfalls in der Geschichte angelegten, aber nicht zu Ende geführten Wege näher zu beleuchten - zu diesem Abwägen und Aufbrechen eines allzu geschlossenen Gesamtbildes fühlt sich der Historiker natürlich verpflichtet. Aber diesem Lieblingsgeschäft meiner Zunft will ich nun nicht nachgehen. Ich möchte vielmehr ein weiteres Mal vornehmlich nach den Konstanten fragen und das Abweichende nur am Rande einflechten. Denn mir geht es hier darum, in den beiden Polen, um die ich meine Betrachtung gruppiere, Partizipation und Aggression, Grundbedingungen eines jeden Nationalismus herauszuarbeiten, Grundmöglichkeiten, denen wir uns stellen müssen, wenn wir uns in unserer eigenen Gegenwart mit dem Phänomen des Nationalismus auseinandersetzen wollen - im eigenen Land und in der Wahrnehmung der Fremde. Es wäre politisch fatal, und es hieße, Einsichten historischer und sozialwissenschaftlicher Analysen ungenutzt zu lassen, wollten wir uns mit der bequemen Feststellung beruhigen, das westliche, das EU-Europa habe den Nationalismus einer Entartungsphase europäischer Geschichte endgültig hinter sich gelassen, sei definitiv zu den emanzipatorischen Anfängen der Nation zurückgekehrt und auf dem Wege, dieses positive Erbe der Geschichte mit neuen supranationalen Formen zu verbinden. Im weiten Osten hingegen und auf anderen Kontinenten habe der Nationalismus überdauert, lebe seit dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums in seiner entarteten Variante erneut auf, führe uns gewissermaßen unsere eigene Vergangenheit vor.

Dieses Erklärungsmodell für die Probleme der Gegenwart finden wir heute in vielen Zustandsbeschreibungen und Zukunftsblicken, auch in wissenschaftlichen, weit stärker jedoch in politischen. Wer Nationalismus sagt, meint die dunkle Seite. Wer das helle Gegenbild

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als Vorbild und Entwicklungsziel leuchten lassen will, spricht von Nation, Vaterland, Patriotismus. Die Ergebnisse historischer Forschung sperren sich jedoch, eindeutig - meine ich, gegen eine solche hoffnungsfrohe Zweiteilung. Ich will Ihnen meine skeptische Sicht erläutern, indem ich mit Blick auf die beiden Pole Partizipation und Aggression zwei Grundprobleme in allen bisherigen Nationsbildungsprozessen betrachte: die Rolle des Territoriums und dann noch einmal das Verhältnis zu Fremden.

Jeder Nationalismus erstrebt einen Nationalstaat in einem bestimmten Territorium. Konkurrierende Ansprüche verschiedener Nationalismen auf ein Gebiet sind bislang selten friedlich gelöst worden. In der Definition, die ich eingangs zitiert habe, ist die Nation selbstgenügsam auf das eigene Territorium begrenzt - kein Realitätsabbild, auch kein realitätsverdichtender Idealtyp, sondern ein definitorischer Moralappell. Denn in der Wirklichkeit sah es sehr oft anders aus. Hier waren die Regel Krieg, wenn der Streit um die Grenze sich zwischen Staaten abspielte, oder gewaltsame Auseinandersetzungen anderer Art, wenn die Rivalen keine Staaten waren. In der Entwicklungsgeschichte europäischer Nationalstaaten spielte der Konfliktherd Territorium nur dort keine oder eine eher kleine Rolle, wo ein absolutistischer Fürstenstaat in einen Nationalstaat umgeformt wurde. Frankreich ist dafür das bekannteste Beispiel. Die Außengrenzen lagen fest, jedenfalls im großen und ganzen, wenn wir von kleineren, aber durchaus konfliktträchtigen Zonen am Rande des unumstrittenen Territoriums der französischen Nation einmal absehen. Theodor Schieder spricht hier in seiner Typologie vom integrierenden Nationalstaat. [Fn 8: Diese Typologie zieht sich durch den gesamten Aufsatzband (s. Anm. 3) hindurch. Zentral ist sein Aufsatz "Typologie und Erscheinungsformen des Nationalstaats in Europa" (S. 65-86) von 1966 und der 1971 veröffentlichte Beitrag "Probleme der Nationalismus-Forschung" (S. 102-112), mit dem er seine Typologie ins 20. Jahrhundert hinein erweitert.]
Die beiden anderen Typen, die er unterscheidet - der "unifizierende Nationalstaat" und der "sezessionistische National-

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staat" [Fn 9: Ebd.S.110 f.] -, sind hingegen durchweg Kriegsgeburten gewesen. Denn immer war das Territorium dieser Staaten umkämpft.

Theodor Schieder versteht seine Typologie historisch-genetisch. In der ersten Phase der integrierende Nationalstaat Westeuropas, dann der vereinigende Nationalstaat vornehmlich in Mitteleuropa und schließlich der sezessionistische Nationalstaat, der multinationale Großreiche zerlegt: erst das osmanische und das habsburgische, dann das russische. Die Auflösung der imperialistischen Kolonialreiche könnte man auch zu dieser dritten Phase rechnen.

Ich gehe nicht weiter auf die erheblichen Probleme ein, die Schieders Entwicklungsperspektive aufwirft. Bedenken Sie nur, daß die Nationalstaatsbildungen um 1830 - die beiden gelungenen: Belgien und Griechenland, ebenso die mißlungene: Polen -, bedenken Sie, daß diese Staatsgründungen bereits sezessionistische waren, also in Schieders Typologie eigentlich der dritten Phase angehören müßten. Und die beiden Nationalstaatsbildungen, durch die er die zweite Phase, also die unifizierende, geprägt sieht: Italien und Deutschland, sie verbinden Vereinigung und Sezession. Würden wir über Europa hinausblicken, nach Lateinamerika, so bekämen wir noch größere Schwierigkeiten mit einer Entwicklungstypologie.

Darauf gehe ich nicht weiter ein. Wichtig ist mir: Theodor Schieders Typologie verdeutlicht, daß es bei der Mehrzahl aller Nationalstaatsbildungen, also bei den Typen zwei und drei, durchweg um territoriale Veränderungen ging. Dieses Territorialprinzip, das allen Nationalismen eingeboren ist, hat, von seltenen Ausnahmen abgesehen, durchweg zu schweren Konflikten geführt. Staatsnationen zeigten sich hier ebensowenig zu Konzessionen bereit wie Kultur- oder Sprachnationen. Diese gängige Unterscheidung zwischen der Staatsnation als Willensgemeinschaft und der Kultur- oder Sprachnation als Herkunftsgemeinschaft ist für manche Fragen durchaus erhellend, nicht aber, wenn es um die historische Analyse territorialpolitischer Aggressionsbereitschaft geht. In dieser Hinsicht standen sich beide Na-

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tionstypen in nichts nach. Territorialkonflikte friedlich zu lösen, ist kaum einem der historischen Nationalismen gelungen, egal welcher Phase er zuzuordnen ist. Hier zwischen gutem Nationalsinn und bösem Nationalismus zu trennen, wäre wirklichkeitsblind. Alle Nationalstaaten, die im 19. Jahrhundert bis zum I. Weltkrieg entstanden, waren Kriegsgeburten - alle, mit einer Ausnahme: der norwegischen Separation von Schweden.

Sozialwissenschaftliche Forschungen bestätigen diese ernüchternde Bilanz geschichtlichen Rückblicks. So zählt Peter Waldmann in seinen weitgespannten vergleichenden Studien zum ethnischen Radikalismus der Gegenwart territoriale Rivalitäten zu den Bedingungen, die vorliegen müssen, damit aus ethnischen Spannungen gewaltsame Konflikte hervorbrechen. [Fn 10: Peter Waldmann, Gewaltsamer Separatimus. Westeuropäische Nationalitätenkonflikte in vergleichender Perspektive, in: Heinrich August Winkler/Hartmut Kaelble (Hrsg.), Nationalismus, Nationalitäten, Supranationalismus, Stuttgart 1993, S. 82-107.]

In dem Ziel eines jeden Nationalismus, einen eigenen Staat zu erhalten oder zu verteidigen, steckt ein Aggressionspotential, dessen Brisanz wächst mit der territorialen Gemengelage von Bevölkerungsgruppen, die sich als Nation verstehen. Diese territorialen Konfliktherde, nicht eine 'gute' nationale oder 'entartete' nationalistische Gesinnung, haben den Verlauf historischer Nationsbildungsprozesse bestimmt. Ein kurzer Blick auf das Europa in der Mitte des 19. Jahrhunderts genügt, um zu erkennen, daß die blutigen Territorialkämpfe, die von dem Zerfall des Sowjetimperiums ausgelöst wurden, in einer Tradition stehen, die zurückreicht in Phasen demokratischer Aufbrüche in Europa - Phasen, die wir deshalb, wegen ihres Versuchs, Demokratie zu wagen, zu Recht gerne in Erinnerung rufen. Ich meine die europäischen Revolutionen von 1848.

In diesem Höhepunkt demokratischen Gestaltungswillens im 19. Jahrhundert bewies sich erneut, was die zahlreichen Revolutionen, die vor 1848 den europäischen Kontinent erschütterten, schon offenbart

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hatten: Wer mehr Freiheit verlangte, suchte sie innerhalb des Nationalstaates zu verwirklichen. Deshalb waren nationale Bewegungen stets zugleich Freiheitsbewegungen, und umgekehrt. In den Revolutionen von 1848 zeigte sich allerdings auch zum erstenmal unübersehbar, wie nah "Völkerfrühling" und "Völkerhaß" beieinander sein können. Der langersehnte Freiheitsaufbruch der Völker drohte 1848 in einen Kampf der Nationalitäten gegeneinander auszuarten. Denn überall, wo es nationale Mischgebiete oder konkurrierende nationale Ansprüche auf bestimmte Länder gab, fanden sich die revolutionären Nationalitäten nur widerwillig mit territorialen Zugeständnissen ab. Sie lenkten nicht ein, weil sie den Frieden untereinander bewahren wollten, sondern weil sich die alten staatlichen Obrigkeiten dem neuen nationalen Legitimitätsmuster noch nicht gänzlich unterordneten. Die alten Mächte verweigerten den Nationalkrieg um Territorien, auf den viele Revolutionäre gehofft hatten. Demokratisierung von Staat und Gesellschaft führt nicht von selber zum Ausgleich zwischen den Nationen - mit dieser für sie unerwarteten Erfahrung wurden die Menschen erstmals 1848 offen konfrontiert.

Angedeutet hatte sich diese Erfahrung schon zuvor in allen Konflikten, die in der nationalpolitischen Konkurrenz um bestimmte Gebiete die Emotionen in der Bevölkerung hochgehen ließen - ein Zeichen, wieweit der Prozeß der Nationalisierung von Gefühlen bereits vorangeschritten war. Denken Sie etwa an die Kämpfe um die staatliche Ablösung Belgiens von den Niederlanden oder an die nationale Erregung in Deutschland und Dänemark im Streit um Schleswig und Holstein oder an die Rheinkrise von 1840 zwischen Frankreich und Deutschland. Das waren Vorboten jener Kämpfe um nationale Territorien, die um die nationalpolitische Neuordnung der Habsburgermonarchie 1848 einsetzten, nach der Jahrhundertmitte zahlreiche, noch begrenzte Nationalkriege auslösten und schließlich in den I. Weltkrieg mündeten.

Die multinationale Habsburgermonarchie wurde zum Schlachtfeld der Nationalismen und zugleich zum Experimentierfeld für neue Modelle, wie man die gewaltträchtige Zwangsverbindung von Nation

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und Territorium aufbrechen, das Zusammenleben verschiedener Nationen auf einem Gebiet ermöglichen könne. Die austromarxistischen Vorschläge, nationale Gruppen in Gemengelagen als Personenverbände und nicht als Territorialverbände zu organisieren, sind die wohl innovativsten Ideen, die hier ersonnen wurden, in der "Experimentierkammer der Weltgeschichte", wie Victor Adler die Österreichisch-Ungarische Monarchie genannt hat. [Fn 11 Zitiert nach Hans Mommsen, Die habsburgische Nationalitätenfrage und ihre Lösungsversuche im Licht der Gegenwart, in: ebd. S. 108-122,109. ]

Verwirklicht wurden diese Ideen bekanntlich nicht - Ideen, wie die territoriale Zwangsjacke, die sich bislang alle Nationalismen angelegt hatten, abzustreifen sei. Im Gegenteil, im 20. Jahrhundert wurde das nationalistische Territorialprinzip zu Bevölkerungsverschiebungen großen Umfangs gesteigert. Ich erinnere nur an die beiden Balkankriege von 1912/13, als mehr als 800 000 Menschen zwangsweise umgesiedelt oder in wilder Flucht vertrieben wurden. Unsere Zeit hat schließlich für diese Gewaltaktionen zur nationalen Homogenisierung von Gebieten einen neuen Begriff erfunden: ethnische Säuberung. Gewiß, die Gewaltsamkeit einer solchen sich national legitimierenden 'Bevölkerungspolitik' hat zugenommen, jedenfalls scheint es so, eine vergleichende Bilanz steht jedoch noch aus. Doch als Leitmotiv war das Prinzip 'Ein Staat - ein Territorium' allen nationalen Bewegungen von Beginn an eingepflanzt. Dieses Prinzip, das sei noch einmal hervorgehoben, ließ nahezu alle europäischen Nationalstaaten seit dem frühen 19. Jahrhundert als Geschöpfe von kriegerischer Gewalt entstehen. Rühmliche Ausnahmen bieten nur Norwegen und Island. Daß zumindest einige der Nationalstaaten, die jüngst aus dem zerfallenen Sowjetimperium hervorgegangen sind, ihre Existenz ohne militärische Gewalt behaupten können, bleibt zu hoffen.

Ich betone noch einmal: Hier verlief keine historische Entwicklungslinie von einer unschuldigen Frühphase nationalen Denkens zur nationalistischen Entartung in späterer Zeit. Die Gewaltbereitschaft

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im Kampf um das beanspruchte Territorium muß auch keineswegs mit voranschreitender Demokratisierung zurückgehen. Demokratie kann territoriale Konflikte zwischen Nationen entschärfen. Doch eine feste Regel ist das nach dem Zeugnis der Geschichte nicht. Daß demokratische Aufbrüche auch Ausbrüche nationalistischer Gewalt mit sich bringen können, läßt sich an den europäischen Revolutionen von 1848 ebenso studieren wie an den nationalstaatlichen Neuordnungen nach dem I. Weltkrieg oder an dem gegenwärtigen Zerfall des Sowjetimperiums. Das gleiche gilt für Diktaturen. Sie können nationalistische Emotionen schüren und dann in Gewaltpolitik umsetzen. Historische Beispiele gibt es viele. Beispiele finden wir aber auch dafür, daß Diktaturen nationale Konflikte stillstellen, solange sie die Kraft haben, die Wünsche ihrer Nationen zu unterdrücken. Fällt diese Partizipationsverweigerung, so kann auch die Aggressionsblockade zerbrechen.

Der Kampf um das nationale Territorium ist auch ein Kampf um nationale Homogenität. Das ist der zweite Problemkreis, den ich als letzten Punkt ansprechen will: das Verhältnis einer Nation zu Fremden und damit auch zu sich selbst.

Eine Nation konstituiert sich über Selbst- und Gegenbilder. Im Bild von dem Fremden gewinnt man ein Bild von sich selbst. Und umgekehrt: Am Selbstbild formt sich das Bild des Fremden. Insofern ist jedem Nationalismus immer die Abgrenzung vom Nationsfremden eigen. Das ist in der Forschung weitgehend unstrittig, ganz gleich welchem Ansatz sie folgt. Vier Beispiele:

In seiner begriffsgeschichtlichen Sicht der deutschen Geschichte faßt Reinhart Koselleck den harten historischen Sachverhalt, daß jedes Bekenntnis zur Nation immer auch Ausgrenzung einschließt, so: "'Nation' ist zu einem kulturellen Bewegungsbegriff geworden, dem trotz seiner universalen Ideale kraft der Sprache ein hartes Ein- und Ausschließungskriterium innewohnte." [Fn 12: Wie Anm. 4, S. 387.] Alle Ausschließungskriterien, die im 20. Jahrhundert wirkungsmächtig geworden sind, das

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klassenspezifische ebenso wie das rassenpolitische, seien "langfristig in der deutschen Semantik des vergangenen Jahrhunderts angelegt." [Fn 13: Ebd.S.396 f.] "Ausschließungsrhetorik" und "Bürgerkriegsrhetorik" - seine Worte -veränderten sich, aber sie stünden in einer langen Tradition nationaler Semantik.

Auch der Kulturansatz, den seit einigen Jahren Historiker, Literaturwissenschaftler und Soziologen vorrangig anwenden, geht durchweg davon aus, daß kulturelle Identität sich über die Konstruktion kultureller Grenzen aufbaut.

In dem sozialpsychologischen Deutungsmuster von Norbert Elias wird stärker die Rückseite der Ausgrenzung betont: Die - so der Autor - "Liebe zur eigenen Nation [...] ist stets auch die Liebe zu einem Kollektiv, das man als 'Wir' ansprechen kann. Was immer sie sonst noch sein mag, sie ist auch eine Form von Selbstliebe." [Fn 14: Elias (wie Anm. 5), S. 197.]

Und schließlich der englische Philosoph und Anthropologe Ernest Gellner. In seinem anregend-provokativen Buch Nations and Natio-nalism sieht er das nationalistische Zeitalter charakterisiert durch, wie er sagt, "gesellschaftliche Selbstverehrung" und "kollektive Selbstanbetung" in Gestalt der Nation. [Fn 15: Ernest Gellner, Nationalismus und Moderne, Berlin 1991, S. 88 (Nations and Nationalism, Oxford 1983).] Die Nation ist für ihn nichts Vorgegebenes, sondern eine gesellschaftliche Konstruktion, an der die Intellektuellen vorrangig beteiligt sind. Der von ihnen gestaltete Nationalismus erschaffe die Nation, nicht umgekehrt. In seiner Weltgeschichte des Nationalismus sieht er dessen historische Funktion darin, die Gesellschaft den Bedingungen der Moderne anzupassen. An die Stelle der früheren komplexen kleinräumigen Gruppenbeziehungen trete eine "anonyme, unpersönliche Gesellschaft aus austauschbaren atomisierten Individuen", zusammengehalten vor allem anderen durch eine gemeinsame Kultur. Diese neue, entlokalisierte Kultur durchzusetzen sei die Aufgabe des Nationalismus. Er homogenisiere die

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Gesellschaft kulturell, grenze sie dadurch nach außen ab und fixiere sie auf den Nationalstaat. Denn nur der Staat könne die hochdifferenzierten, teuren Bildungssysteme unterhalten und die Verbindlichkeit der von ihnen erzeugten Hochkultur durchsetzen. Und nur der Nationalstaat garantiere seinen Angehörigen, daß sie allein Zugang zu diesem neuen gesellschaftlichen Machtkern erhalten. Deshalb, so Gellner, wurde die Übereinstimmung von Kultur und Staat zum "nationalistischen Imperativ" [Fn 16: Ebd. S.164.] . Wer diese Identität angreife, zerstöre die Lebens- und Zukunftssicherheit der Menschen. Wo Kultur und Staat nicht territorial zusammenfielen, indem fremde Kulturen in den eigenen Nationalstaat eindringen oder dort überdauern, da werde dies unter dem Diktat des neuen nationalistischen Imperativs als Skandal empfunden. Ihn zu beseitigen, begreife die Nation, so zerklüftet sie politisch oder sozial im Innern ansonsten auch sein mag, als eine Aufgabe der kollektiven Selbsterhaltung. In Gellners sozialanthropologischer Nationalismustheorie muß also das Fremde entweder eingeschmolzen werden, nationalisiert oder aber abgetrennt, ausgestoßen, vertrieben werden. Ich meine, daß diese bittere Theorie ein hohes Maß an historischer Plausibilität beanspruchen kann. Und die Gegenwart scheint geradezu nach dieser Theorie inszeniert zu werden.

Wenn wir als Historiker auf die einzelnen Nationalgeschichten blicken, dann werden wir gewiß darauf beharren müssen, daß diese allen Nationalismen eingeborene Abgrenzung gegenüber dem Fremden unterschiedliche Formen angenommen hat, unerträgliche und eher zu ertragende. Gleichwohl, es bleibt als harte Tatsache: Die Nation als Partizipationsgemeinschaft hat ihre Identität stets in der Abgrenzung gegen das als fremd Empfundene erzeugt.

Im deutsch-französischen Vergleich ist dies jüngst gerade für die Frühzeit, für die Französische Revolution und die napoleonische Ära eindringlich herausgearbeitet worden. [Fn 17: Michael Jeismann, Das Vaterland der Feinde. Studien zum nationalen Selbstverständnis in Deutschland und Frankreich 1792-1918, Stuttgart 1992.] Die Unterschiede zwischen

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Frankreich und Deutschland in der Konstruktion nationaler Fremd- und Selbstbilder waren groß. Doch überall stand die Verbindung von Partizipation und Aggression im Zentrum dieser Konstruktionen. Auch John Bull, die Symbolfigur der englischen Nation, nahm um 1800 antifranzösische Züge an. [Fn 18: Jeannine Sorel, John Bull, in: Raphael Samuel (Hrsg.). Patriotism: The Making und Unmaking of British National Identity, Vol. III: National Fictions, London 1989, S. 3-25.]
In Frankreich gab sich das Selbstbild universalistisch offen, zukunftsgerichtet. Der Fremde war der Revolutionsgegner - vor allem außerhalb der eigenen Nation, aber auch im Innern. Die Idee einer deutschen Nation, handlungsfähig nach innen und außen, wurde dagegen vor allem aus Vergangenheitsbildern und aus der Gegnerschaft zu Frankreich geschöpft.

Die deutsche Nationalgeschichte zeigt, wie variationsreich die Rolle des Fremden besetzt werden konnte. Frankreich wurde die Hauptrolle zugewiesen, zweifellos. "Aus Frankreich kann einmal nichts Gutes für andere Völker kommen. Das Franzosentum ist ein Lab, was jedes andere Volkstum gerinnen macht. Und keine Fremdherrschaft, selbst die türkische nicht, ist so vernichtend wie die französische." [Fn 19: Zit. nach Dieter Langewiesche, "... für Volk und Vaterland kräftig zu würken..." Zur politischen und gesellschaftlichen Rolle der Turner zwischen 1811 und 1871, in: Ommo Grupe (Hrsg.), Kulturgut oder Körperkult? Sport und Sportwissenschaft im Wandel, Tübingen 1990, S. 22-61, 26.]
Dies schrieb Friedrich Ludwig Jahn noch 1832, als zumindest Teile der deutschen Nationalbewegung in dem revolutionären Frankreich einen Mitstreiter auf dem Wege zu mehr Demokratie erblickten, nicht den "Erbfeind".

Als sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts der deutsche Elitennationalismus zu einen Massennationalismus erweiterte, rückten mehr die inneren Gegner der Nationalisierung in die Rolle des Fremden. Vor allem die republikanischen Demokraten richteten ihren Blick nach innen, warnten vor einem nationalen Einheitskult, der die binnennationalen Gegensätze zu übertünchen drohe. "Betheiligt euch an

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keinem nationalen Geschrei, freßt keine Franzosen, meidet die Erinnerungsfeste an die sogenannte Befreiungszeit, schließt euch keinen politisch-religiösen Vereinen an, wendet das Geld, das man euch etwa für die Restauration des Mittelalters abfordert, lieber zur Anschaffung und Verbreitung guter Zeitungen und Bücher an, seid wählerisch bei der öffentlichen Bezeigung von Sympathien, bringt keine Toaste und Fackelzüge, wobei nicht das erste Hoch auf die politische Freiheit ausgebracht, subscribirt nicht, illuminirt nicht, errichtet keine Monumente, [...] kurzum entzieht eure Bereitwilligkeit, Teilnahme und Unterstützung Allem und Jedem, was nicht von Freiheit ausgeht und auf Freiheit hinaus will, thut keine Spanndienste am Triumphwagen der Reaktion. " [Fn 20: Karl Heinzen in: Deutsches Bürgerbuch für 1845, zit. n. Wolfgang Kaschuba, Volk und Nation: Ethnozentrismus in Geschichte und Gegenwart, in: Winkler/Kaelble (wie Anm. 10), S. 65.]

Dieses deutsche Nationsverständnis, das anders als das französische vornehmlich in den Kräften der Reaktion das Fremde sah, 1845 formuliert von dem Demokraten Karl Heinzen in dem "Deutschen Bürgerbuch" - es setzte sich nicht durch. Allein stand dieser Demokrat allerdings nicht. Ein Jahr zuvor, 1844, hatte Arnold Ruge über den "hohlen Rheinliedsenthusiasmus" deutscher Patrioten gespottet und ebenso den französischen Patriotismus kritisiert, der nach der Rheingrenze verlangte. Die "Aufhebung des Patriotismus im Humanismus", nicht die Fremden zu bekämpfen, sondern die "Gegner, wo sie auch immer sind" - das forderte Rüge in seiner Schrift "Der Patriotismus". [Fn 21: Arnold Ruge, Der Patriotimus. Hrsg. v. Peter Wende, Frankfurt/M 1968, S. 48 f.] Er erntete Entrüstung. Solche Ideen fanden wenig Anklang, in Frankreich ebenso wie in Deutschland.

In Deutschland stand vieles entgegen. Fortschritt und Staat waren in Deutschland trotz aller staatlichen Reaktionsmaßnahmen zu eng gekoppelt, das föderative Bewußtsein und die Loyalität zum einzelstaatlichen Fürstenhaus zu ausgeprägt, die innergesellschaftlichen

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Gegensätze zu scharf und die politischen Ziele zu unterschiedlich. Der Nationalismus knüpfte an dem Bestehenden an. Das hieß in Deutschland: an die überkommene Vielfalt staatlicher und gesellschaftlicher Ordnung. Diese überlieferten Ordnungen unter Rechtfertigungsdruck zu setzen und sie auf einen Nationalisierungskurs zu zwingen, war der Nationalismus stark genug. Doch um sein Ziel zu erreichen, den eigenen Nationalstaat zu erringen, mußte er mit alten Staatsgewalten paktieren. Auch das war kein deutscher Sonderfall. In Italien z. B. war es ebenso.

Es war ein Pakt mit dem militärisch mächtigsten Einzelstaat, Preußen im deutschen Fall, Piemont-Sardinien im italienischen, um den Nationalstaat in einem Doppelprozeß aus Sezession und Vereinigung zu erzwingen - militärisch zu erzwingen, denn erreichen ließ sich diese Art der Nationalstaatsgründung, die zerstören mußte, um vereinen zu können, nur durch Krieg.

Staatsgründung durch Krieg verhärtet das Bild des Feindes, macht es eindeutig. Die Rolle des Fremden ist nun festgelegt. In Deutschland und auch in Frankreich blühten nach 1871 die wechselseitigen Feindbildkonstruktionen. Sie richteten sich in erster Linie nach außen, aber nicht nur. Vor allem der junge, noch ungefestigte deutsche Nationalstaat und diejenigen, die sich selber als nationale Gesellschaft definierten - sie blickten auf der Suche nach Feinden, an denen sie ihr Selbstbild festigen konnten, auch nach innen. Katholiken, Sozialisten, Juden, polnische Preußen - die Liste der 'Reichsfeinde' war lang. Doch gerade hier wandelte sich vieles. Die Integrationskraft des Nationalismus erwies sich als stark genug, um binnennationale Barrieren abzubauen, wenngleich nicht alle. Besonders schroff, zum Teil unübersteigbar wurden sie dort, wo das Bild des Fremden im eigenen nationalen Territorium ethnisch und schließlich rassisch eingefärbt wurde - insbesondere gegenüber den Polen und den Juden.

Ich verfolge diese Entwicklungslinie nicht weiter und betone nur, daß auch dies kein deutscher Sonderfall gewesen ist. Die Ethnisierung nationaler Konflikte blieb vielmehr in Deutschland gedämpft im

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Vergleich zu den nationalen Mischzonen Europas, die auch nach der Auflösung der multinationalen Großreiche am Ende des I. Weltkrieges keine Lösung für ihren Wunsch nach homogenen Nationalstaaten fanden.

Das im Nationalismus verhärtete Spannungsverhältnis von Selbst- und Fremdbild spielte im Prozeß der Nationsbildung eine zentrale Rolle. Nationen wuchsen in langfristigen Entwicklungsprozessen zusammen. Wirtschaftliche, politische, kulturelle Verflechtungen vielfältigster Art wirkten mit. Der Nationalismus übernahm dabei die Aufgabe einer Integrationsideologie. Er schuf das Bewußtsein zusammenzugehören, aus einer gemeinsamen Vergangenheit zu kommen, gemeinsame Gegner zu haben und gemeinsame Ziele für die Zukunft zu besitzen. Die Gemeinschaft der Lebenden mit den Toten und den noch Ungeborenen, wie es Ernest Renan genannt hat. Wir sollten aber nicht den Blick davor verschließen, daß diese Nationswerdung sehr oft, wahrscheinlich sogar in den weitaus meisten Fällen, in Kriegen kulminierte - zwischenstaatlichen Kriegen und Bürgerkriegen, Revolutionkriegen. Alle Erklärungsmodelle, die Nationsbildung ausschließlich als die Entstehung von Kommunikationsgemeinschaften verstehen, scheuen vor dieser bitteren historischen Einsicht zurück: der Krieg mit dem Fremden innerhalb und außerhalb des von der Nation beanspruchten Territoriums als Schöpfer nicht nur von Nationalstaaten, sondern auch von nationaler Identität.

Ich behaupte nicht, dies müsse immer so sein. Geschichte läßt sich glücklicherweise nicht hochrechnen, auch die künftige Geschichte des Nationalismus nicht. Zwischen ihr und der Vergangenheit liegt der politische Wille der Gegenwart. Aber man sollte die vergangene Geschichte kennen, um einschätzen zu können, welche Kräfte der Nationalismus früher freigesetzt hat und möglicherweise auch in seiner künftigen Geschichte noch einmal freisetzen kann. Dies einzuschätzen wird aber nur dann möglich sein, wenn man darauf verzichtet, eine zweigeteilte Geschichte zu konstruieren, in der Hell und Dunkel, Nation und Nationalismus, säuberlich getrennt vor uns liegen, so daß wir

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uns ungefährdet bedienen können. Wir sollten uns vergewissern, welche großen Aufgaben der Nationalismus in der Entstehung der modernen Welt erfüllt hat. Und welche er weiterhin erfüllt, ob man das nun beklagt oder nicht. Alle Seiten des Nationalismus können wir aber nur erkennen, wenn wir ihn in seiner gesamten Gestalt sehen. Sie umfaßt beides: Partizipation und Aggression.

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Übersicht über bisher erschienene Hefte
der Reihe "Gesprächskreis Geschichte"]


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