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Die Rehabilitierung deutscher Opfer sowjetischer politischer Verfolgung : Vortrag vor dem Gesprächskreis Geschichte der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn am 16. Mai 1995 / Leonid Pawlowitsch Kopalin. - [Electronic ed.]. - Bonn, 1995. - 40 S. = 74 Kb, Text . - (Gesprächskreis Geschichte ; 10). - ISBN 3-86077-390-9
Electronic ed.: Bonn: FES Library, 1999

© Friedrich-Ebert-Stiftung


INHALT






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Vorbemerkung des Herausgebers

[Seite der Druckausg.: 1-2 = Titelseiten]
[Seite der Druckausg.: 3 = Inhaltsverzeichnis]
[Seite der Druckausg.: 4 = leer]

[Seite der Druckausg.: 5]

Im Rahmen verschiedener Veranstaltungen der Friedrich-Ebert-Stiftung zum 8. Mai 1945 referierte am 16. Mai 1995 der Oberst der Justiz und Abteilungsleiter bei der Hauptmilitärstaatsanwaltschaft in Moskau, Leonid Pawlowitsch Kopalin, über die Gesetzgebung der Russischen Föderation zur Rehabilitierung von Opfern politischer Repressalien in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands.

Der 8. Mai 1945 hat mit der bedingungslosen deutschen Kapitulation zumindest für den größten Teil Europas das Ende des vom nationalsozialistischen Deutschland angezettelten Zweiten Weltkrieges gebracht. Um die Wiederholung eines so entsetzlichen Krieges und systematischen Völkermordes zu verhindern, müssen wir diese Vorgänge dauerhaft in unserer Erinnerung bewahren und allen Versuchen zu Bagatellisierung und Relativierung widerstehen. Keine noch so große Schuld anderer kann die eigene Schuld verringern.

In den letzten Wochen vor dem 8. Mai 1995 wurden wir Zeugen einer heftigen Diskussion darüber, ob der 8. Mai 1945 für uns Deutsche ein Tag der Befreiung gewesen sei oder nicht. Für den politisch denkenden Historiker stellt sich diese Frage auf zwei Ebenen.

Betrachtet man die deutsche Geschichte dieses Jahrhunderts unter Einbettung in die Geschichte der Nachbarstaaten im langen Trend, auf einer höheren Ebene, so wird man sich der Einsicht nicht verschließen können, daß der 8. Mai 1945 zugleich mit der verheerenden Niederlage eine Befreiung Deutschlands und der Welt von der Geißel des Nationalsozialismus gebracht hat. Er hat außerdem - zumindest für Westdeutschland - unter dem Druck der westlichen Alliierten die Voraussetzungen für die Entwicklung eines stabilen freiheitlichen, demokratischen und sozialen Rechtsstaates geschaffen, für den sich einzusetzen alle Mühen lohnt.

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Diesem Befund auf der übergeordneten Ebene muß nicht notwendig die Ebene der subjektiven Erfahrungen der deutschen Zeitgenossen entsprechen. Diese Erfahrungen sind aber je nach persönlichem Verhältnis zum Nationalsozialismus, je nach individueller Verortung, selbstverständlich sehr unterschiedlich gewesen. Dieser Umstand ist in der öffentlichen Debatte heute zu berücksichtigen. Denn Demokratie lebt von Akzeptanz. Deshalb müssen wir die Menschen mit ihren unterschiedlichen Erfahrungen da abholen, wo sie sich befinden.

Der begeisterte NS-Funktionär und der aktive Pg. werden am 8. Mai 1945 wesentlich anders gedacht und empfunden haben als die ganz große Masse der Bevölkerung, die Mitläufer, deren Loyalität zum NS-System seit Stalingrad ohnehin mehr oder minder stark abgebröckelt war. Von diesen Gruppen unterschieden sich erst recht die an Zahl wesentlich geringeren Gegner und Opfer des Regimes bis hin zu den am stärksten betroffenen Insassen der Konzentrationslager. Und selbst bei Gegnern des Nationalsozialismus mochten sich neben dem Gedanken an die Befreiung von diesem mörderischen Regime und der Erleichterung über das Ende des Krieges noch andere Gefühle aufgedrängt haben: etwa auch die Trauer um das Los des Vaterlandes und selbstverständlich in erster Linie den Verlust der Heimat und vieler Angehöriger und Freunde sowie die Sorge um das Weiterleben der Familie. All dies und manches andere dürften eine Gemengelage von zum Teil widersprüchlichen Gefühlen verursacht haben. Vorurteilsloser Forschung bleibt da noch eine ganze Menge zu tun.

Wieder anders stellt sich das Problem des 8. Mai bei der Bevölkerung in Ostdeutschland, die nach einer kurzen Phase des Hoffens und Bangens erkennen mußte, daß sie aus dem nationalsozialistischen Willkürregime in die Willkürherrschaft des Stalinismus geraten war, und dies schnell am eigenen Leibe zu spüren bekam. Nicht nur Kriegsverbrecher und Nazis, sondern auch aufrechte Demokraten und NS-Gegner wurden aufgrund oft dubioser Verdächtigungen und Verleumdungen Opfer rechtswidriger Verfolgung, Inhaftierung, Verschleppung, ja auch Hinrichtung, einmal ganz abgesehen von den

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gesundheitlichen Schäden und Todesfolgen aufgrund katastrophaler Lagerverhältnisse. Dafür verantwortlich waren sowjetische Stellen, sowohl sowjetische Militärtribunale wie auch die Organe der sowjetischen Geheimpolizei. Dies wird in dem hier abgedruckten Vortrag im einzelnen abgehandelt.

Über die Leiden dieser Opfer durfte in der DDR nicht gesprochen werden. Sie verschwanden hinter dem Pathos des Antifaschismus, der mangels anderer Legitimation zur Legitimationsideologie verkam. Aber auch in der Bundesrepublik nahm man diese Leiden in den letzten Jahrzehnten kaum zur Kenntnis. Dies war nicht staatlich verordnet, sondern Ergebnis gesellschaftlicher Verdrängung. Beides wirft ein bezeichnendes Licht auf die politische Kultur in beiden deutschen Staaten.

Auch hier ist vieles moralisch von unserer Gesellschaft wiedergutzumachen, nicht nur juristisch und materiell, wie in den sogenannten "Unrechtsbereinigungsgesetzen" ansatzweise versucht wird.

Es ist in hohem Maße anzuerkennen, daß Rußland seit einigen Jahren bereit ist, die seinerzeitigen Urteile gegenüber Deutschen trotz schwieriger Beweislage auf Antrag von der Moskauer Militärstaatsanwaltschaft auf ihre Rechtmäßigkeit hin zu überprüfen und gegebenenfalls Rehabilitierungen auszusprechen. Dabei gilt in jedem Einzelfall der alte Rechtsgrundsatz: In dubio pro reo. Am 16. Mai 1995 hat im Rahmen des Gesprächskreises Geschichte der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn ein prominenter Vertreter der zuständigen Behörde, der Leiter der Abteilung Rehabilitierung ausländischer Staatsbürger Leonid Pawlowitsch Kopalin, über die mit den Rehabilitierungsverfahren zusammenhängenden Probleme gesprochen.

Auf vielfachen Wunsch wird eine erweiterte Fassung seines Vertrages, die von Frau Ljudmilla Arnswald übersetzt worden ist, in leicht modifizierter und sprachlich überarbeiteter Form hier gedruckt vor

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gelegt. Für unmittelbar Betroffene wird ein Formular eines Rehabilitierungsantrags mit abgedruckt.

Der Franziska-und-Otto-Bennemann-Stiftung in der Friedrich-Ebert-Stiftung sei für die Finanzierung des Vertrages und dieser Broschüre Dank gesagt.

Bonn, im Juni 1995

Dr. Dieter Dowe
Leiter des
Historischen Forschungszentrums

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Leonid Pawlowitsch Kopalin:
Die Rehabilitierung deutscher Opfer sowjetischer politischer Verfolgung
[Die von Ljudmilla Arnswald, Limburg, ins Deutsche übersetzte erweiterte Fassung des Vortrages wurde für den Druck leicht modifiziert und sprachlich überarbeitet.]


Seit Oktober 1991 wird in Rußland an der Umsetzung des Gesetzes der Russischen Föderation "Über die Rehabilitierung von Opfern politischer Repressalien" gearbeitet. Das Gesetz wurde mehrmals ergänzt und vervollkommnet; seine Anwendung bezieht sich auf einen immer größeren Personenkreis. Heute erstreckt sich die Gültigkeit dieses Gesetzes auf russische Staatsbürger, Ausländer und Staatenlose, die, wo auch immer, von sowjetischen Gerichten und außergerichtlichen Organen schuldlos während des Bestehens der Sowjetmacht politisch verfolgt worden sind.

Eine solche breite Anwendung ist möglich geworden durch die demokratischen Veränderungen in Rußland sowie durch das Bewußtwerden der Tatsache, daß die vorangegangene Phase der Entwicklung der sowjetischen Staatlichkeit ein Musterbeispiel für ein totalitäres Regime war, eine Periode gewaltiger Erschütterungen, des Hungerns, der Gewalt, der Meinungskontrolle, des Völkermordes am eigenen Volk.

Bevor wir zu den Schwerpunkten des Vertrages übergehen, müssen wir auf einige historische Aspekte eingehen, die die Entwicklung der politischen Repression in der UdSSR verdeutlichen.

Heute ist unumstritten, daß seit den ersten Tagen des Sowjetstaates alle seine Staatsorgane mit Zwang und Willkür arbeiteten. Die Menschenrechte hatten in der Geschichte unseres Vaterlandes nie praktische staatliche Priorität.

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Nach der Oktoberrevolution 1917 jagte die Partei der Bolschewisten mit Lenin an der Spitze das ehemalige Parlament auseinander, zerschlug die in Rußland existierenden Stände, Oppositionsparteien und oppositionellen Bewegungen und verbot die bürgerlichen Zeitungen. Der Staat hatte das Meinungs- und Machtmonopol. Zur Leitung der staatlichen Angelegenheiten wurden Tausende wenig gebildete Menschen herangezogen. Die früheren Gesetze wurden, ohne daß es gerechtfertigt war, abgeschafft. Die infolgedessen entstandenen Lücken in der rechtlichen Regulierung der gesellschaftlichen und staatlichen Verhältnisse wurden mit "revolutionärer Zweckmäßigkeit", "außerordentlichen Maßnahmen" und "Klasseninteressen" der sowjetischen Arbeiter- und Bauernmacht ausgefüllt.

Im Dezember 1917 wurde zur Unterdrückung der Konterrevolution und zum Kampf gegen Saboteure und Andersdenkende die mächtigste staatliche Repressivstruktur geschaffen, die Gesamtrussische Außerordentliche Kommission (WtschK), das s.g. "strafende Schwert der Revolution", später bekannt unter den Abkürzungen OGPU, NKWD, MGB und KGB.

Allgemein bekannt ist die Äußerung Lenins: "Jede Revolution ist dann etwas wert, wenn sie versteht, sich zu verteidigen." Lenin war es, der 1918 die Einrichtung der ersten Konzentrationslager auf russischem Boden in Tatarstan bei Kazan anordnete. Die Zahl dieser Konzentrationslager erhöhte sich im Laufe der Jahre. Für die Sowjetmacht insgesamt sind außerordentlich harte, unbarmherzige Methoden des Kampfes um die eigene Existenz bezeichnend.

Dies geht deutlich aus dem vor kurzem erstmals veröffentlichten Brief Lenins an die Leiter der Parteiorganisationen der Bolschewisten eines der Bezirke Rußlands hervor, in dem im August 1918 die schonungslose Unterdrückung aller Aktionen örtlicher Oppositioneller und vermögender Bauern, sogenannter "Kulaken", angeordnet wurde. Zur Einschüchterung der Bevölkerung verlangte Lenin: "Aufhängen (unbedingt aufhängen), damit das Volk das sieht, und minde

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stens 100 erklärter Kulaken! Und ihre Namen veröffentlichen, bei ihnen alles Brot konfiszieren! Geiseln benennen! So verfahren, daß das Volk im Umkreis von Hunderten von Kilometern es sieht, zittert und weiß: Wir sind dabei, die Kulaken zu vernichten!" Zur Durchführung dieser Aktion empfahl er, "möglichst charakterfeste Menschen auszusuchen."

Als ein Beispiel empörender und sinnloser Grausamkeit sei die Erschießung der Familie und der Bediensteten des abgedankten letzten Kaisers Rußlands durch die Bolschewisten erwähnt.

Die Ideologen des Bolschewismus haben versucht, diese Maßnahmen mit der durch den Bürgerkrieg bedingten Ausnahmesituation zu rechtfertigen. Aber auch nach Kriegsende ließen sich viele sowjetische Führer und Mitarbeiter der Organe WtschK-OGPU-NKWD bei ihrer Tätigkeit nicht vom Gesetz, sondern von "dem revolutionären Rechtsbewußtsein" leiten. Die Entscheidungen der Organe der Sowjetmacht wurden nur mit Gewaltmethoden durchgesetzt.

Stalin, Lenins Nachfolger, stärkte als Generalsekretär der Kommunistischen Partei und Staatsoberhaupt seine Position, indem er sich auf die Repressivorgane, insbesondere den NKWD, stützte und alle anderen Behörden dieser Behörde unterordnete. Die NKWD-Organe sorgten nicht nur für den persönlichen Schutz der höchsten Repräsentanten von Partei und Staat, sondern darüber hinaus sorgten sie auch für die Stärkung der Autorität dieser Personen und insbesondere Stalins. Von der irrtümlichen stalinschen These von der unvermeidbaren Verschärfung des Klassenkampfes beim Aufbau des Sozialismus geleitet, entfesselte man im Lande Massenrepressalien.

So waren während der Entkulakisierung und Zwangskollektivierung über 10 Millionen Menschen von Repressalien betroffen; ein Drittel von ihnen kam ums Leben.

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Die Mitarbeiter des NKWD, die die Anordnungen ihrer Vorgesetzten zur "Entlarvung" von "Volksfeinden" besonders fleißig erfüllten, erhielten Vergünstigungen. Wirkliche Spione und Terroristen gab es fast nicht mehr. Da es an echten Feinden mangelte, ersetzte man diese durch erfundene. Mit Hilfe der ihm treuen Repressivorgane rechnete Stalin auf diese Art und Weise mit seinen unliebsamen politischen Gegnern und Rivalen ab.

Im Dezember 1934 wurden auf Empfehlung Stalins Abänderungen in der Strafprozeßordnung vorgenommen, die im Grunde genommen vollständig die Möglichkeit ausschlössen, mit Rechtsmitteln gegen Gesetzesverstöße vorzugehen. Die Ermittlungen und Gerichtsverfahren in Strafsachen wurden vereinfacht und zeitlich verkürzt. Allerorts begann man auf Empfehlung des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei, Beweise gewaltsam zu erzwingen und Ermittlungsakten zu fälschen; als wichtigster Beweis der Schuld galt das Geständnis des Angeklagten. Die Willkür der Repressivorgane, die Folter und Mißhandlungen, Selbstdenunziationen sowie Verleumdungen unschuldiger Menschen zur Folge hatte, wurde legalisiert.

Sowohl die Gerichte als auch die "Trojkas" waren außerstande, während der sich immer mehr ausweitenden Repressalien den riesigen Arbeitsumfang zu bewältigen. Zur Beschleunigung dieser Verfahren machte die stalinistische Führung daher den Vorschlag, über die Schuld eines jeden nicht mehr im Einzelverfahren, sondern anhand ganzer Listen zu entscheiden.

Zwei Beispiele des Massenterrors in den Jahren 1937-1939:

Von 28 Amtspersonen, die dem Rat der Volkskommissare (Regierung) der UdSSR angehörten, fielen 1938 20 Personen den Repressalien zum Opfer.

Einem besonders brutalen Terror waren damals die Führungskader der Roten Armee und der Seekriegsflotte ausgesetzt. Etwa 30.000

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ausgezeichnete militärische Führer fielen diesem Terror zum Opfer. Von fünf Marschällen der Sowjetunion wurden drei als "Feinde des Volkes" erschossen, von 16 Armeeoberbefehlshabern kamen 15 um, von 67 Korpskommandeuren 60, von 199 Divisionskommandeuren wurden 136 Opfer von Repressalien, von 397 Brigadekommandeuren 221, ein Drittel aller Regimentskommandeure wurde verhaftet. Das sind keine Gerüchte, sondern bewiesene Tatsachen. Alle Militärs wurden Jahre später posthum rehabilitiert.

Diese Repressalien fügten der Kampffähigkeit der Roten Armee einen gewaltigen Schaden zu. Bei den Vorbereitungen zum Überfall auf die UdSSR schätzte Hitler die Vernichtung der sowjetischen Militärkader als einen für Deutschland günstigen Umstand ein. Sein Feldmarschall von Bock schrieb: "Die blutigen Repressalien haben den Kampfgeist der russischen Armee unterminiert."

Es ist nicht möglich, die Anzahl der Bürger, die den Repressalien in der UdSSR zum Opfer fielen, zu ermitteln; es sind viele Millionen. Laut Angaben des namhaften russischen Historikers D. Volkongonov wurden allein von 1929 bis 1953 21,5 Millionen Menschen Opfer politischer Verfolgungen, darunter viele ausländische Bürger: Fachleute, Politiker, Mitarbeiter der Komintern usw.

Die Massenrepressalien der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre wurden von Stalin und seiner Umgebung inspiriert. Die wichtigsten Ausführenden waren die Chefs des NKWD der UdSSR Jagoda, Eshov, Berija (alle drei wurden zu verschiedenen Zeiten wegen Amtsmißbrauchs erschossen) und der von ihnen geführte Repressivapparat.

In allen Phasen der Entwicklung des sowjetischen Staates wurde die Macht der Partei- und Beamtennomenklatur immer der Verfassung des Landes und den Rechtsnormen übergeordnet, was unweigerlich Willkür zur Folge hatte. Das totalitäre System initiierte selbst die politischen Repressalien und rechtfertigte die Unterhaltung riesiger

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Repressivstrukturen. Das sind die Lehren der Geschichte meines Vaterlandes, von denen einige bis heute nicht aufgearbeitet worden sind.

Kürzlich stellte der Präsident der Russischen Föderation, B.N. Jelzyn, in seiner jährlichen Ansprache an das Parlament bei der Analyse der Probleme des Rechtsschutzes der Person fest: "Rußland weiß sehr gut, was das Recht der Macht ist. Zu begreifen, was die Macht des Rechts darstellt, das steht Rußland noch bevor."

I. Die politischen Repressalien während des 2. Weltkrieges und ihre Ausdehnung auf das Territorium Deutschlands

Bekanntlich vereinbarten Stalin und Hitler im August 1939 die Aufteilung ihrer Einflußsphären und schlossen den berühmten Nichtangriffspakt. Am l. September 1939 griff Deutschland Polen an, am 17. September begann die Rote Armee den "Befreiungsfeldzug", indem sie die Westukraine und Westweißrußland in Besitz nahm. Im Sommer 1940 schlossen sich Litauen, Lettland und Estland "freiwillig" der UdSSR an.

Es versteht sich von selbst, daß das NKWD in den neu angeschlossenen Territorien eine stürmische Tätigkeit entfaltete. Man hatte alle Hände voll zu tun mit den Mitgliedern der bürgerlichen politischen Parteien, den Offizieren, den Geistlichen und anderen "Elementen". Seit dieser Zeit richteten sich die Repressalien der sowjetischen Repressivorgane gegen ganze Völker.

Alle Offiziere der polnischen Armee, die sich 1939 auf den Boden der UdSSR zurückgezogen hatten, wurden unter Bewachung gestellt und in den Sonderlagern des NKWD der UdSSR interniert. 1940 wurden sie auf einen geheimen Beschluß der stalinistischen Führung ohne Gerichtsurteil als Feinde des Sowjetstaats erschossen: In den

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Lagern von Ostaschkovo und Katyn' (Bezirke Smolensk und Tver') wurden von den NKWD-Beamten über 20.000 polnische Offiziere umgebracht.

Ähnlichen Repressalien war auch das Offizierkorps Estlands ausgesetzt. Ein besonderes Ausmaß nahmen Terror und Verbannung von unliebsamen Personen nach Sibirien im Sommer 1941 an.

Bereits in den ersten Monaten des Krieges mit Deutschland wurden die Sowjetdeutschen von den Repressalien betroffen. Am 28. August 1941 wurden durch den Erlaß des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR "Über die Deportation von Wolgadeutschen" die Autonome Republik der Wolgadeutschen liquidiert und die ganze deutsche Bevölkerung in den Osten deportiert.

Von 1942 bis 1944 wurden durch das stalinistische Regime allein wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten Nationalität die Völker des Nordkaukasus, Tschetschenen, Inguschen, Balkaren, Karatschaever, Türken-Meschetiner, Griechen, Kurden sowie Kalmykier, Krimtataren und verschiedene andere aus ihren Heimatorten nach Sibirien, Mittelasien und Kasachstan deportiert.

Der gewaltige Repressivapparat des NKWD sammelte weiter Erfahrungen auf dem Gebiet der Massenrepressalien.

Im Februar 1945 fand während der letzten Phase des Krieges gegen Deutschland bekanntlich in der UdSSR die Krim-Konferenz der Regierungschefs der drei im 2. Weltkrieg verbündeten Staaten UdSSR, USA und Großbritannien statt. Neben der Abstimmung der Pläne zur endgültigen Zerschlagung des Faschismus wurden die Grundprinzipien der Nachkriegsordnung der Welt besprochen und Entscheidungen über die Schaffung von Besatzungszonen und eines Kontrollorgans für ganz Deutschland getroffen. Diese Entscheidungen haben die zukünftige Teilung Deutschlands bedingt und Stalin in Osteuropa im Grunde genommen freie Hand gegeben.

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Die Willkür gegenüber dem Sowjetvolk dauerte nach Kriegsende weiter an. Viele Hunderttausende aus der faschistischen Gefangenschaft und von der Zwangsarbeit in Deutschland befreite Sowjetbürger, darunter ehemalige Angehörige der Roten Armee, wurden zu potentiellen Staatsfeinden erklärt und nicht in ihre Heimatorte in der UdSSR repatriiert, sondern in spezielle Filtrier- und Durchgangslager des NKWD gebracht, in denen sie ohne jegliche gesetzliche Grundlage mehrere Jahre festgehalten wurden. Sie mußten in Betrieben mit besonders schweren Arbeitsbedingungen arbeiten, sie waren Entbehrungen ausgesetzt, und ihre Rechte waren eingeschränkt. Das stalinistische Regime entfremdete sie der Gesellschaft und verbaute ihnen den Weg in die Zukunft. Die tragischen Schicksale wurden fast 50 Jahre lang totgeschwiegen. Erst am 24. Januar 1995 wurden diese zahlreichen unschuldigen Opfer durch einen Erlaß des Präsidenten Rußlands rehabilitiert und wieder in ihre gesetzmäßigen Rechte eingesetzt.

Bei Ende des Krieges weiteten die NKWD-Organe in Durchführung der Linie der stalinistischen Führung ihre Tätigkeit auch auf das Territorium Ostdeutschland aus.

Auf Befehl des Volkskommissars des Innern der UdSSR, Berija, vom 18. April 1945 wurden die NKWD-Bevollmächtigten an den Fronten angewiesen, während des Vorrückens der Roten Armee auf deutschem Boden das Hinterland der sowjetischen Militäreinheiten von feindlichen Elementen zu säubern. Die Personen, die bei sog. terroristischen und Diversionsakten gestellt wurden, sollten standrechtlich hingerichtet, bestimmte Kategorien von Deutschen verhaftet und in die Gefängnisse und Sonderlager des NKWD gebracht werden, die auf deutschem Territorium, zum Teil auf dem Boden ehemaliger Konzentrationslager, eingerichtet wurden.

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Zu diesen Kategorien gehörten:

  1. die Mitglieder von Organisationen und Gruppen, die von der deutschen Führung und den deutschen Abwehrorganen zur Spionage und Diversionstätigkeit im Rücken der Roten Armee zurückgelassen worden waren;
  2. Personen, die illegale Sender, Waffenlager und illegale Druckereien betrieben;
  3. aktive Mitglieder der NSDAP;
  4. die Gebiets-, Stadt- und Kreisführer der faschistischen Jugendorganisationen;
  5. Mitarbeiter der Gestapo, des "SD" und anderer deutscher Repressivorgane;
  6. Leiter der Verwaltungsorgane auf Gebiets-, Stadt- und Kreisebene sowie die Redakteure von Zeitungen und Zeitschriften und Verfasser antisowjetischer Literatur.

Aufgrund desselben Befehls durften die aus o.g. Gründen verhafteten Deutschen nicht mehr in die UdSSR abtransportiert werden. Ihre "Filtrierung" mußte unmittelbar in Deutschland durchgeführt werden. Nur mit Erlaubnis des NKWD durften einige der Verhafteten, die von operativem Interesse waren, in die UdSSR gebracht werden. Mit der Bewachung von Gefängnissen und Lagern für die verhafteten Deutschen wurden die Bewachungsmannschaften des NKWD beauftragt. Gleichzeitig wurde den Beauftragten des NKWD der UdSSR für die Fronten empfohlen, die Akten aller verhafteten deutschen Bürger zu sichten und die Kranken, Behinderten, Nichtarbeitsfähigen, Frauen und Alten über 60 Jahre, die nicht unter die o.g. Kategorien fielen, auf freien Fuß zu setzen. Die übrigen Verhafteten blieben in den Internierungslagern in Haft.

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Laut Anordnung mußten die ehemaligen Angehörigen der Wehrmacht und die Mitglieder der paramilitärischen Organisationen Volkssturm, SS, SA sowie Personal von Gefängnissen, Konzentrationslagern, Militärkommandanturen, Militärstaatsanwaltschaften und Militärgerichten in die NKWD-Lager für Kriegsgefangene eingewiesen werden.

Die Personen, gegen die beim Filtrierverfahren keine kompromittierenden Informationen beschafft werden konnten, sollten, falls körperlich in der Lage, zur Arbeit in der Industrie abgestellt werden. Behinderte, Alte und Nichtarbeitsfähige sollten nach Abschluß der Überprüfung zu ihren ständigen Wohnorten entlassen werden. Aufgrund dieses Befehls gestalteten die NKWD-Organe mehrere Jahre ihre Tätigkeit in Deutschland.

Die Tätigkeit aller sowjetischen Repressivorgane in der Ostzone wurde von dem Stellvertreter des Volkskommissars des Innern der UdSSR, dem Generaloberst Serov, geleitet. Die "Filtrier"-Maßnahmen wurden unter der Leitung von zwei weiteren Stellvertretern des Volkskommissars, Tschernyschov und Kobulov (der letztere wurde später, wie Berija wegen Amtsmißbrauchs erschossen), durchgeführt.

Nach der Zerschlagung des Hitler-Reiches wurde am 5. Juni 1945 die "Deklaration über die Niederlage Deutschlands und die Übernahme der obersten Gewalt in Deutschland durch die Regierungen der Sowjetunion, des Vereinigten Königreichs, der USA und der Provisorischen Regierung der Französischen Republik" unterzeichnet.

Im selben Monat wurde zur Kontrolle der Erfüllung der Forderungen der Kapitulationsakte in der sowjetischen Besatzungszone die Gruppe der sowjetischen Besatzungstruppen in Deutschland gebildet.

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Zunächst sahen die sowjetischen Behörden in der deutschen Bevölkerung nur die schuldige Nation, später nahm das Verhältnis einen differenzierten Charakter an.

Zur politischen Unterstützung des sowjetischen Besatzungsregimes wurde die Gründung eines Blocks der antifaschistischen Parteien in der Ostzone erlaubt. Dies wurde im Befehl Nr. 2 Marschall Schukovs vom 10. Juni 1945 verkündet.

Gleichzeitig verstärkte das NKWD seine Tätigkeit. Es wurden zahlreiche Maßnahmen zur Entnazifizierung, "Filtrierung" und Fahndung nach Personen, die sich Kriegsverbrechen schuldig gemacht hatten, und ihrer Helfershelfer durchgeführt.

Das gesamte Leben in Deutschland wurde 1945-1949 genau durch Gesetze, Direktiven und Anordnungen des Kontrollrates für Deutschland, in der Ostzone auch noch durch die Befehle der Sowjetischen Militäradministration (SMAD), geregelt. Die Nichtbefolgung wurde sowohl im Ordnungsverfahren als auch strafrechtlich geahndet.

Wie die Analyse von repressiven Praktiken der damaligen Zeit zeigt, beruhte die ganze Tätigkeit der NKWD-Organe der UdSSR in Ostdeutschland formell auf einer bestimmten Basis. Jeder Bürger Deutschlands, unabhängig von Alter, Geschlecht, Dienststellung und Beruf, konnte ohne Grund der Zugehörigkeit zur NSDAP oder zu einer der Naziorganisationen sowie des Verbreitens der faschistischen Ideologie und Kollaboration mit dem Hitler-Regime beschuldigt oder schließlich sogar einfach als "potentiell gefährlicher Deutscher" eingestuft und ohne Anklageerhebung bestraft werden.

Neben der tatsächlich wichtigen und nützlichen Aufgabe der Beseitigung des Faschismus erschloß sich ein weiterer Raum für Willkür. Man berücksichtigte überhaupt nicht, daß während der 12 Jahre das ganze deutsche Volk nur im Geiste der faschistischen Ideologie gelebt hatte und erzogen worden war.

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Nachdem ein halbes Jahrhundert verstrichen ist, ist es schwer, dieses Problem objektiv zu erfassen. Anscheinend gab es verschiedene Gründe dafür: vor allem Rachegefühle, Grausamkeit aus Revanchedenken und Abschreckung gegenüber der ganzen deutschen Nation, deren faschistische Führer den Krieg gegen die UdSSR entfesselt hatten.

Eine Rolle spielte auch das Bestreben der stalinistischcn Führung, möglichst schnell die Andersdenkenden und Widerspenstigen zu entlarven und unschädlich zu machen, in der Sowjetischen Besatzungszone ein "Einheitsdenken" nach sowjetischen Muster durchzusetzen und die deutsche Bevölkerung wie auch die staatlichen und gesellschaftlichen Strukturen zu "sowjetisieren".

Außerdem wurde der Prozeß der Entnazifizierung der Ostzone Deutschlands vor allen Dingen mit Gewaltmethoden betrieben, analog denen, die in Rußland nach der Oktoberrevolution angewandt worden waren: Verhaftung von Oppositionellen, insbesondere unter einflußreichen Personen, der Intelligenz, Industriellen, vermögenden Bauern, und Zwangsenteignung u.a. Die historischen Parallelen sind auch sonst offensichtlich.

Der repressive Apparat des NKWD übertrug mechanisch die Praktiken der Massenrepressalien in der UdSSR auf die besetzten Territorien. Die Mitarbeiter von General Serov arbeiteten bei voller Straflosigkeit und ohne jegliche Kontrolle. "Die Organe machen keine Fehler!" - Dieser zum Klassiker gewordene Ausspruch über die Tätigkeit des NKWD war nach wie vor die stereotype Antwort auf alle Zweifel an der Berechtigung der Aktionen seiner Mitarbeiter.

Die Analyse der Tätigkeit zur Rehabilitierung zeigt aber ganz im Gegenteil zahlreiche Fehler und Fehlschläge in der Arbeit der damaligen NKWD-Organe (operative "SMERSch"-Organe, die über das gesamte Gebiet der Ostzone verteilt waren). Das NKWD erfaßte mit

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seinem Netz praktisch die ganze Bevölkerung Ostdeutschlands und versuchte viele zur Mitarbeit als Agenten zu bewegen.

Gegen Bürger Deutschlands wurden von den sowjetischen Repressivorganen im wesentlichen folgende Repressivmaßnahmen angewandt:

  1. Verhaftung und Internierung in den Sonderlagern des NKWD auf administrativem Weg (ohne Ermittlungsverfahren) in Ausführung des Befehls des Volkskommissars des Innern der UdSSR vom 18. April 1945 und der Direktiven des Kontrollrates für Deutschland Nr. 24 vom 12.1.1946 (zur Entfernung von Nazis und anderen Personen, die den Zielen der Alliierten feindlich gesinnt waren, aus den Behörden und von verantwortungsvollen Positionen) und Nr. 38 vom 12.10.1946 (Verhaftung und Bestrafung von Kriegsverbrechern, Nazis und Militaristen; Internierung, Kontrolle und Überwachung von potentiell gefährlichen Deutschen). In diesen Lagern wurden etwa 130.000 Deutsche interniert; viele von ihnen sind in diesen Lagern umgekommen.
  2. Strafrechtliche Verfolgung auf Grund von Ermittlungsmaterial durch außergerichtliche Organe, die die Kompetenzen von Gerichten erhalten hatten, s.g. "Sondersitzungen des NKWD, des Ministeriums für Staatssicherheit (MGB) und des Ministeriums des Innern der UdSSR".
  3. Verurteilung durch die Militärtribunale der sowjetischen Besatzungstruppen und der Sowjetischen Militäradministration auf Grund von Strafakten als Resultat von Ermittlungsverfahren.

Diese bislang genannten Repressivmaßnahmen wurden in der Nachkriegszeit nur auf dem Territorium Ostdeutschlands angewendet. Die Anklage wurde gemäß Strafgesetzbuch der Russischen Föderation

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verfaßt. Die Verurteilten wurden in Lager in der UdSSR eingewiesen. In der Ostzone Deutschlands wurden insgesamt 40.000 Personen verurteilt.

  1. Auf eine ähnliche Art und Weise, aber in der Sowjetunion, wurden durch Militärtribunale der NKWD/MVD-Truppen viele deutsche Kriegsgefangene (etwa 30.000), die sich in sowjetischen Lagern befanden und der Kriegsverbrechen sowie Verbrechen gegen die Völker der UdSSR beschuldigt waren, verurteilt.

1948 bis 1949, in der Zeit der Gründung der DDR, als die Wege der Entwicklung Ostdeutschlands festgelegt wurden, verstärkten sich die Repressalien gegen die deutsche Bevölkerung beträchtlich. In der Ostzone wurden vor allen Dingen die Intellektuellen verfolgt: Wissenschaftler, Journalisten, Ingenieure. Gleichzeitig wurde in der Sowjetunion eine große Gruppe deutscher Kriegsgefangener in einem Schnellverfahren und oft aus formellen oder fingierten Gründen verurteilt.

Im weiteren möchte ich etwas ausführlicher über die zahlenmäßig größte Gruppe der internierten Deutschen berichten.

Bei der Ausführung der o.g. Befehle und Direktiven verhafteten die Mitarbeiter der NKWD-Organe die ihnen verdächtig erscheinenden Personen ohne einen vom Staatsanwalt erlassenen Haftbefehl und ohne Einhaltung gerichtlicher Formalitäten- Auf Grund des Beschlusses eines Offiziers des operativen Sektors "SMERSch" des NKWD konnte man jede Person für einige Jahre in die Sonderlager des NKWD in Deutschland einweisen, indem man diese Person der Kollaboration und der Sympathie gegenüber dem faschistischen Regime beschuldigte. Das Eigentum dieser Personen wurde in der Regel konfisziert.

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Gegen diese Personen wurde in der Regel kein Strafverfahren eröffnet, sondern eine Akte zur Kontrolle und Erfassung angelegt. Diese Akte bestand in der Regel aus dem Protokoll über die Verhaftung einer Person, ihrer Erklärung und einem Beschluß über ihre Einweisung ins Lager. Die NKWD-Sonderlager wurden in den ehemaligen faschistischen Konzentrationslagern und Gefängnissen Buchenwald, Bautzen, Mühlberg, Neubrandenburg, Oranienburg und anderen Orten eingerichtet. Die Bedingungen in diesen Lagern waren selbstverständlich sehr hart.

Die Prüfung der Archivakten dieser Kategorie der Verfolgten begann auf unsere Initiative erst 1994. Früher galt die Ansicht, daß ausschließlich Strafsachen einer Prüfung unterliegen sollten. Im Zuge der Vervollkommnung des Gesetzes über die Rehabilitierung konnte man seine Anwendbarkeit auch auf die genannte Kategorie der ausländischen Bürger ausweiten. Von der Gesamtzahl der im vergangenen Jahr gestellten Anträge wurden bereits ca. 300 geprüft.

II. Die Rehabilitierung zu Unrecht verurteilter Deutscher durch die Militärstaatsanwälte

In den Jahren 1994/95 arbeitete die Abteilung zur Rehabilitierung ausländischer Bürger bei der Hauptmilitärstaatsanwaltschaft in Moskau gemäß Gesetz der Russischen Föderation "Über die Rehabilitierung von Opfern politischer Repressalien" vom 18. Oktober 1991 mit seinen Veränderungen und Ergänzungen vom 22. Dezember 1992 und vom 3. September 1993 aktiv an der Prüfung von Archivakten der von sowjetischen Organen verfolgten Bürger Deutschlands und anderer Staaten.

Gemäß Artikel 8 des o.g. Gesetzes über die Rehabilitierung sind die Staatsanwaltschaften verpflichtet, nötigenfalls unter Mithilfe der

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FSK und MVD der Sowjetunion, alle Archivakten der durch den Sowjetstaat aus politischen Gründen verfolgten Personen ohne Ausnahme zu prüfen, deren Verurteilung durch Gerichte und außergerichtliche Organe vor dem Inkrafttreten dieses Gesetzes nicht aufgehoben war. Ausgehend von den Ergebnissen der Prüfung der Akten, fassen die Staatsanwaltschaften ihre Beschlüsse und stellen Rehabilitierungsbescheinigungen aus. Wenn keine Gründe zur Rehabilitierung vorliegen und die Schuldbeweise erdrückend sind, wird von der Staatsanwaltschaft ein Beschluß über die Ablehnung des Antrages auf Rehabilitierung gefaßt. Sollten die Betroffenen oder gesellschaftliche Organisationen diese Beschlüsse anfechten, werden die Akten der Betroffenen samt Beschlüssen den Gerichten zur endgültigen Entscheidung vorgelegt. Mit anderen Worten, wenn ein Beschluß der Staatsanwaltschaft angefochten wird, ist das Gericht einzig und allein berechtigt, eine wegen eines Verbrechens verurteilte Person für rechtmäßig verurteilt zu erklären und ihr das Recht auf Rehabilitierung abzusprechen.

Laut statistischen Angaben sind in den letzten zwei Jahren ca. 6.000 Rehabilitierungsanträge von deutschen Bürgern eingegangen.

Diesen Anträgen entsprechend sind zum heutigen Zeitpunkt die Akten von ca. 3.100 Deutschen angefordert und geprüft worden; 3.000 von ihnen sind rehabilitiert worden. Die deutsche Botschaft in Rußland stellt entsprechende Bescheinigungen aus. Die Rehabilitierungsanträge von ca. 100 Deutschen, die sich verschiedener Verbrechen schuldig gemacht hatten, wurden abgelehnt.

Am Vorabend des 50. Jahrestages der Beendigung des Großen Vaterländischen Krieges, des 2. Weltkrieges, ist es nicht leicht, die im Verlauf von Jahrzehnten herausgebildeten Vorurteile über dunkle Kapitel der russisch-deutschen Geschichte zu revidieren. In der russischen Gesellschaft ist heute noch ein gewisser Grad an konservativem Denken vorhanden. Trotzdem hat der Prozeß der Rehabilitierung von zu Unrecht verurteilten Deutschen eine notwendige und wichtige

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Grundlage erhalten. Die Entwicklung dieses Prozesses wird der Sache einer vollständigen Versöhnung der Völker Rußlands und Deutschlands und der Wiederherstellung der historischen Gerechtigkeit gegenüber den Opfern von Willkür und Repressalien dienen.

Bei dieser ganz besonderen Aufgabe müssen Staatsanwälte nicht als Politiker, sondern als gute Fachleute und objektive Forscher auftreten, die sich den universalen Menschenrechten und der Demokratie verschrieben haben. Über die historische Vergangenheit muß man differenziert und ausgewogen urteilen können. Die Richtigkeit unserer Arbeitsmethode bewährte sich in der Praxis.

Bei der Prüfung der Archivakten sind die in ihnen enthaltenen Schuldbeweise und die Richtigkeit ihrer juristischen Einschätzung entscheidend. Für den Fall, daß Beweise nicht vorhanden oder unzureichend oder widersprüchlich sind, oder aber, wenn die Anklage nur auf einem persönlichen Geständnis des Verurteilten, das durch keine weiteren Angaben bestätigt ist, basiert, wird ein Beschluß über die unbegründete Verfolgung des Betroffenen und über seine Rehabilitierung gefaßt. Alle in der Sache vorhandenen und während des Ermittlungsverfahrens und der Gerichtsverhandlung nicht beseitigten Widersprüche und Zweifel werden zugunsten des Betroffenen ausgelegt, unabhängig von seiner sozialen Herkunft, seinem Amt und dem Inhalt der Anklage.

Im weiteren folgen typische Beispiele aus der Rehabilitierungspraxis verschiedener Kategorien deutscher Bürger.

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Unbegründete Beschuldigung der Beihilfe zur Entfesselung des 2. Weltkrieges

Am 11. Juli 1945 wurde vom operativen Sektor Berlins des NKWD der UdSSR der General-Admiral a.D. A. Saalwächter [ Da die im folgenden aufgeführten Namen von Opfern aus dem Russi schen rückübertragen sind, können sie von der richtigen Schreibweise abweichen - ein Grundproblem jeder Identifizierung in diesem Bereich. ] , ehemaliger Oberbefehlshaber der Nordflotte und später der Westgruppe der deutschen Marine, verhaftet.

Da General Saalwächter mit der Politik Hitlers nicht einverstanden war, wurde er bereits im Oktober 1942 in den Ruhestand versetzt und war am Krieg gegen die UdSSR überhaupt nicht beteiligt. Ungeachtet dieser Tatsache wurde er im Oktober 1945 vom sowjetischen Militärtribunal ohne Grund verurteilt, gemäß Art. l des Erlasses des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 19. April 1943 "Über die Maßnahmen zur Bestrafung von deutschen faschistischen Schergen, die sich der Morde und Mißhandlungen an der sowjetischen Bevölkerung und gefangenen Rotarmisten schuldig gemacht haben, sowie zur Bestrafung von Spionen und Heimatverrätern aus den Reihen der Sowjetbürger und ihrer Helfershelfer".

Am 2. März 1946 wurde einer der dienstältesten deutschen Diplomaten, der 67jährige Dr. A. von Horstmann, verhaftet. Noch vor dem 2. Weltkrieg arbeitete er ca. 30 Jahre im Dienste des deutschen Auswärtigen Amtes in verschiedenen Ländern; von 1928 bis 1933 war er Botschafter in Belgien und Portugal. Später war er Verleger einer Zeitung in Frankfurt am Main. Er wurde von den sowjetischen Repressivorganen der prodeutschen Politik in den Ländern, in denen er als Botschafter gearbeitet hatte, beschuldigt. Ohne daß ihm ein Prozeß gemacht wurde, wurde er in ein Sonderlager des MVD der UdSSR eingewiesen. Dort verstarb er.

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Grundlose Beschuldigung der Mißhandlung ausländischer Zwangsarbeiter, darunter Sowjetbürger

Im März 1946 wurden 11 führende Mitarbeiter der Munitionsfabrik "Lotring" von einem sowjetischen Militärtribunal abgeurteilt:

Der Direktor der Fabrik, J. Pingel, und der leitende Ingenieur, G. Kromberg, wurden zum Tode durch Erschießen, weitere leitende Mitarbeiter jeweils zu 10 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Der Grund der Verurteilung war: Von 1941 bis 1945 zwang die Fabrikleitung ausländische Arbeiter, darunter sowjetische Bürger und Kriegsgefangene, Überstunden zu leisten, verpflegte sie schlecht und bestrafte die Arbeiter wegen Verstößen gegen die Disziplin. Die Anschuldigungen wurden durch keinerlei Tatsachen bestätigt. Die Akte enthält keine Informationen darüber, daß den Arbeitern dadurch irgendein wirklicher Schaden zugefügt worden wäre. Die Handlungen der Verurteilten können nicht als Mißhandlungen eingeschätzt werden und erfüllen den Tatbestand gemäß Artikel l des Erlasses des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 19. April 1943 und Art. 58,2 des Strafgesetzbuchs der RSFSR (bewaffneter Widerstand) nicht.

Strafsachen dieser Art kommen nicht selten in unserer praktischen Arbeit vor.

Verfolgung von Amtspersonen wegen Wahrnehmung ihrer administrativen und amtlichen Pflichten

Laut Urteil des Militärtribunals vom 26. April 1946 wurde Dr. jur. E. Rietsch für schuldig befunden, daß er zu Anfang des Krieges gegen die UdSSR zur besonderen Verfügung des Oberbefehlshabers der deutschen Besatzungstruppen auf dem Territorium der UdSSR abkommandiert und zum obersten Berater für administrative und wirtschaftliche Fragen bei einigen Feldkommandanturen ernannt worden war, wo er von 1941 bis 1942 die Selbstverwaltungsorgane aus der einheimischen Bevölkerung rekrutierte hatte.

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Aus dem Dresdener Gefängnis, in dem er einsitzen mußte, schrieb er einen Brief an seine Frau, in dem er mitteilte: "In einer Einzelzelle, 9m2 groß, sind wir, sechs Personen, zusammengepfercht. Seit 4 Wochen warte ich auf die Entscheidung. Die Russen lassen sich viel Zeit." Am 21. Mai 1946 wurde er erschossen. Die Prüfung ergab, daß er keinerlei Verbrechen gegen Sowjetbürger begangen hatte und zu Unrecht verurteilt worden war.

Am 27. Dezember 1949 wurde ein Kriegsgefangener, Major G. Mugler, der ehemalige Vorsitzende eines militärischen Feldgerichts der 302. und der 320. Infanteriedivision, aus politischen Gründen verhaftet und am selben Tag zu 25 Jahren Zwangslager von dem Militärtribunal der MVD-Truppen des Bezirks Kiev verurteilt. Er wurde der Wahrnehmung seiner Amtspflichten und der Greueltaten gegen das sowjetische Volk beschuldigt. Major Muglers Akte enthält keine Beweise seiner vermeintlichen Verbrechen gegen die UdSSR. Im Gegenteil enthält seine Strafakte Informationen darüber, daß er von seinen Untergeordneten ein humanes Verhalten gegenüber der sowjetischen Zivilbevölkerung verlangt und sogar einen deutschen Soldaten zum Tode wegen Vergewaltigung und Ermordung einer russischen Frau verurteilt hatte.

Einweisung in die NKWD-Sonderlager aus formellen Gründen (ohne Anklage) wegen Zugehörigkeit zur NSDAP, zu faschistischen Organisationen oder wegen Kollaboration mit dem Nazi-Regime

Diese Gruppe der Verfolgten stellt die zahlenmäßig stärkste Gruppe dar. Sie umfaßt Personen im Alter von 14 bis 70 Jahren.

K. Repke, geb. 1931, wurde als Mitglied der Hitlerjugend im April 1945 verhaftet und über 7 Monate im Sonderlager des NKWD gefangengehalten.

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G. Jurk, geb. 1930, wurde laut Beschluß des operativen Beauftragten des NKWD der UdSSR als Mitglied des Werwolf im Oktober 1945 verhaftet und bis Juni 1948 in einem NKWD-Sonderlager festgehalten. Er wurde laut Beschluß der Kommission bei dem Beauftragten des MGB der UdSSR in Deutschland entlassen.

Dr. jur. K. Paine, geb. 1892, Rat am Landgericht Bautzen, wurde am 26. Mai 1945 von einem NKWD-Mitarbeiter verhaftet. Grund der Verhaftung: "Seit 1937 war er Mitglied der Nazi-Partei, und seit 1945 hatte er eine Parteifunktion als Blockleiter inne." Seine Akte enthält keinerlei Beweise vermeintlicher Verbrechen gegen die UdSSR.

W. Lins, geb. 1889, Volksschullehrer, wurde im August 1945 als "sozial gefährlicher Deutscher" und aktiver Vertreter der Nazi-Ideologie verhaftet und in das NKWD-Sonderlager in Oranienburg eingewiesen, in dem er vier Monate später verstarb.

Unbegründete Verurteilung wegen Spionage gegen die UdSSR in ihrer Heimat

In der Tat begingen diese Leute keine Verbrechen. Sehr oft sammelten sie allgemein zugängliche, bekannte Informationen über das Leben der deutschen Bevölkerung und der Angehörigen der sowjetischen Besatzungstruppen zwecks Veröffentlichung in den Massenmedien der westlichen Besatzungszonen und verfaßten kritische und antisowjetische Schreiben.

1950 wurden acht Schüler einer Försterschule in Eberswalde (E. Naunek, G. Neitu, E. Fink u.a.) wegen Gründung einer illegalen Spionageorganisation "Grünwald" vom Militärtribunal verurteilt. Sie pflegten Kontakte mit der "Kampfgruppe gegen die Unmenschlichkeit" in Westberlin. Da sie mit der Politik der sowjetischen Administration in der Sowjetischen Besatzungszone nicht einverstanden

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waren, verbreiteten sie unter der deutschen Bevölkerung antisowjetische Literatur. Sie wurden 1995 rehabilitiert.

Die Mitglieder der illegalen Jugendorganisation "Falken" aus Dresden, E. Andreck-Stange, W. Andreck und E. Radenstock, wurden ohne Grund wegen feindlicher Tätigkeit gegen die sowjetischen Truppen auf deutschem Territorium verurteilt. Sie wurden wie die o.g. Gruppe später rehabilitiert.

Wie die Praxis zeigt, verletzten die sowjetischen Repressivorgane in einigen Fällen aufs gröbste bei Durchführung von Repressalien gegen deutsche Bürger die sowjetischen Strafgesetze. Gemäß Art. 22 des damals gültigen Strafgesetzbuches der Russischen Föderation durften Personen, die zum Zeitpunkt des Verbrechens ihr 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hatten, nicht zur Todesstrafe verurteilt werden. In der Tat wurden sehr viele minderjährige Jugendliche so brutal abgeurteilt.

So wurden am 30. März 1946 10 minderjährige Einwohner der Stadt Penzlin, die zum Zeitpunkt der Verhaftung 16-17 Jahre alt waren, wegen ihrer antisowjetischen Haltung und Zugehörigkeit zum Werwolf verurteilt; zwei davon, A. Enewski und W. Koder, wurden zur Todesstrafe verurteilt und am 18. Juli 1946 hingerichtet.

Bei einer ähnlichen Anklage wurden sieben Jugendliche aus Königsbrück am 11. Juli 1946 vom Militärtribunal verurteilt. Der Leiter der Gruppe, der 16jährige G. Faust, wurde zum Tode durch Erschießen verurteilt. Vermeintlich wollte diese Gruppe für den Fall des Krieges Englands gegen die UdSSR den bewaffneten Kampf gegen die sowjetischen Truppen mit terroristischen Mitteln führen. Zu diesem Zweck versteckten die Mitglieder der Gruppe bereits im Juli 1945 in einem Schuppen 6 von ihnen gefundene Karabiner und 150 Patronen. In seinem Gnadengesuch schrieb G. Faust, der zugab, daß die Gruppen Waffen gesammelt hatte, was die patriotisch gesinnten deutschen Jugendlichen damals zu solchen Aktionen bewegte: "1942

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fiel an der Ostfront mein Bruder. Mein zweiter Bruder befindet sich in amerikanischer Gefangenschaft. Das Militärtribunal muß verstehen, daß wir von Kindesbeinen an betrogen und gegen die Russen gehetzt wurden. Freilich haben wir alledem geglaubt. Nur weil wir Angst hatten, wegen des unerlaubten Waffenbesitzes zur Verantwortung gezogen zu werden, gaben wir die Waffen nicht ab. Mit antifaschistischem Gruß ...". Weiter folgt die Unterschrift.

Einer der Richter des sowjetischen Tribunals in der zweiten Instanz bat die Berufungsinstanz, das Todesurteil für G. Faust aufzuheben und in eine Freiheitsstrafe umzuwandeln. Das Gericht entsprach seiner Bitte aber nicht.

Sehr oft wurden fast noch Kinder zu Freiheitsstrafen von 10 Jahren und mehr verurteilt. Im Dezember 1945 wurden der 12jährige R. Bürger und der 13jährige W. Friese wegen Mitgliedschaft im Werwolf mit dem Ziel, "gegen die Rote Armee zu kämpfen", verurteilt. Während der Voruntersuchung sagte Bürger folgendes aus: "Am ersten Tag, als ich der Organisation beigetreten war, kam ich nach Hause aus dem Wald und erzählte meiner Mutter davon. Meine Mutter verdrosch mich mit einem Besen und sagte zu mir, wenn ich noch einmal dahin gehen sollte, bringt sie mich um. Ich schwor ihr, daß ich aus dem Werwolf austreten werde, habe aber mein Wort nicht gehalten." Sie waren Kinder und benahmen sich auch so.

Auch gebrechliche Greise wurden zum Tode verurteilt. Der Einwohner der Stadt Oberlinde M. Albin (67 Jahre) wurde im Mai 1946 wegen der Teilnahme an illegalen Versammlungen und wegen der Anfertigung antisowjetischer Flugblätter zum Tode verurteilt. Sein Gnadengesuch wurde trotz seines vorgerückten Alters und einer Erkrankung der Hände abgelehnt.

Die Prüfung der o.g. Archivakten hat gezeigt, daß alle Betroffenen ohne Grund verurteilt worden sind.

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Besonders offensichtlicher politischer Hintergrund von Verfolgung

Im August 1945 wurden die 15jährigen Lehrlinge (Glaser und Elektriker) aus dem Kreis Weimar H. Appel und E. Pfaff wegen Durchführung eines Terroraktes und wegen konterrevolutionären Sabotierens von Befehlen des sowjetischen Oberbefehlshabers zu 10 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Die Anschuldigungen waren absurd. Der Bitte von sowjetischen Soldaten entsprechend, gaben ihnen Pfaff und Appel ohne verbrecherische Absichten eine von ihnen gefundene Flasche Spiritus. Nach dem Alkoholgenuß bekam einer der Soldaten eine Vergiftung, der andere blieb jedoch unversehrt.

Der Inhaber eines Geschäfts in der Stadt Königsbrück, 0. Freudenberg, wurde im Februar 1946 wegen Sabotage zu 10 Jahren Freiheitsstrafe mit Konfiszierung seines Eigentums verurteilt. Der Grund:

im Dezember 1945 hatte er an Rotarmisten auf ihre Aufforderung l Liter denaturierten Spiritus verkauft, der bei Spiritusbrennern seine Verwendung fand. Ungeachtet dessen, daß 0. Freudenberg beim Verkauf die Rotarmisten gewarnt hatte, daß der Spiritus nicht zum Trinken geeignet sei, tranken die vier Rotarmisten den Spiritus aus und bekamen leichte Vergiftungen.

Die Mitarbeiter der Gerichtskanzlei in Plauen A. Forbinger und G. Frisch wurden im Oktober 1947 wegen des Abdruckens eines Zeitungsartikels "Hinter dem eisernen Vorhang" mit antisowjetischem Inhalt zu 10 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt.

Neun Einwohner der Städte Leipzig und Mühlhausen wurden im März 1951 von einem Sowjetischen Militärtribunal verurteilt (vier von ihnen, W. und G. Peters, G. Kramer und H. Zschuppe, zum Tode durch Erschießen), weil sie im Juni/Juli 1950 auf Grund der Unzufriedenheit mit der damaligen politischen und wirtschaftlichen Situation der DDR und der SED-Politik antisowjetische Propaganda betrieben, Flugblätter verteilt und versucht hatten, die SED-Wahlen zu verhindern. Die Strafakte der Verurteilten enthält keinerlei Be

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weise dafür, daß sich diese Personen der genannten Verbrechen schuldig gemacht hätten.

Bekanntlich wurde eine Reihe deutscher Bürger ohne Grund wegen Teilnahme an den Ereignissen des 17. Juni 1953 in der DDR unter Anwendung des Strafgesetzbuches der Russischen Föderation von den Sowjetischen Militärtribunalen verurteilt.

Der Arbeiter G. Menisch aus Jena wurde am 25. Juni 1953 zu 25 Jahren Haftstrafe mit Konfiszierung seines Eigentums gemäß Art. 58,2 des Strafgesetzbuches der RSFSR verurteilt, in dem für den bewaffneten Aufstand gegen die UdSSR strafrechtliche Verfolgung vorgesehen war. Tatsächlich war alles anders: Da er mit seinem niedrigen Lohn und mit der Politik der SED-Regierung unzufrieden gewesen war, hatte er an einem Arbeiterstreik teilgenommen und war zu Gesprächen mit dem SED-Kreissekretär delegiert worden. Dort hatte er die Auflösung der SED, Befreiung aller politischen Gefangenen und Senkung der Preise gefordert.

K. Kreps und der Brigadier W. Kowalk, beide Einwohner von Halle, wurden am selben Tag wegen Teilnahme an einer Antiregierungsdemonstration und am Streik in den Buna-Werken von einem Sowjetischen Militärtribunal verurteilt. Sie wurden der Organisierung von Massenunruhen beschuldigt. Die beiden beteuerten dagegen, sie hätten keine politischen Forderungen gestellt, sondern seien nur gegen die von der Regierung erhöhten Arbeitsnormen aufgetreten.

Es ist bezeichnend, daß die von den Militärtribunalen wegen Staatsverbrechen Verurteilten in der Regel die höchsten Strafen bekamen (von 10 bis 25 Jahren Haft bis hin zur Todesstrafe); denn es herrschte die Ansicht, daß politische Verbrechen am gefährlichsten seien. Gleichzeitig konnte für ein gefährliches kriminelles Delikt ein ziemlich niedriges Strafmaß angesetzt werden. So wurde z.B. der deutsche Bürger Kowaltschek im September 1946 von einem Militär

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tribunal in Berlin wegen eines bewaffneten Überfalls und Raubes nur zu drei Jahren Haft verurteilt.

Verurteilung deutscher Kriegsgefangener auf dem Territorium der UdSSR

Laut Statistiken befanden sich in sowjetischer Gefangenschaft ca. 2,4 Millionen deutsche Soldaten; etwa 580.500 von ihnen starben dort. Der Prozentsatz der wegen Kriegsverbrechen und anderer Verbrechen verurteilten deutschen Gefangenen ist nicht hoch, etwa 1,3%. Die Prüfung der Strafakten dieser Kategorie zeigt, daß viele Kriegsgefangene ohne ausreichende Begründung und unter fingierten Beschuldigungen strafrechtlich verfolgt wurden.

So wurde z.B. am 9. Dezember 1949 der ehemalige Regimentskommandeur der deutschen Wehrmacht, G. Reichel, im Lager Nr. 27 des MVD der UdSSR verhaftet. Das Militärtribunal der MVD-Truppen des Moskauer Militärbezirks verurteilte ihn gemäß Art. 17 des Strafgesetzbuches der RSFSR und Artikel l des Erlasses des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 19. April 1943 zu 25 Jahren Haft. Er wurde unbegründet der Deportation von Sowjetbürgern nach Deutschland und der Zerstörung von Ortschaften und des Mordes an Bürgern, die sich der Deportation nach Deutschland widersetzt hatten, beschuldigt. Reichel beteuerte seine Unschuld sowohl während der Voruntersuchung als auch bei der Gerichtsverhandlung. Seine Strafakte enthält keinerlei Beweise der von ihm vermeintlich begangenen Verbrechen.

F. Lindemann, Arzt im Kriegsgefangenenlager Nr. 20 des UVD des Bezirks Leningrad, ehemaliger Hauptmann der Wehrmacht, wurde im Dezember 1949 verurteilt, weil er drei Operationen zur Entfernung eintätowierter Blutgruppenbezeichnungen, die die Zugehörigkeit zur Waffen-SS bewiesen, vorgenommen hatte, um ehemalige SS-Leute zu tarnen. F. Lindemann bekannte sich nicht als

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schuldig. Er selbst war nie ein Mitglied einer Nazi-Organisation gewesen. Er erklärte, daß "er keine Verbrechen begangen habe, sondern damit versucht habe, die Betroffenen vor dem Tode zu bewahren."

Einige deutsche Kriegsgefangene wurden während ihrer Gefangenschaft von Militärtribunalen zweimal verurteilt. In der Regel erfolgte die erste Verurteilung aus einem fingierten Grund. Das zweite Mal wurden die Gefangenen verurteilt, weil sie mit dem Urteil nicht einverstanden waren und forderten, aus der Gefangenschaft entlassen und nach Deutschland überführt zu werden.

Besonders anschaulich ist der Fall des berühmten deutschen Fliegers Major E. Hartmann, des ehemaligen Kommandeurs einer Jagdstaffel, der in Luftkämpfen 352 sowjetische und amerikanische Flugzeuge abgeschossen hatte. Während seiner Gefangenschaft wurde er zum erstenmal am 24. Dezember 1949 verhaftet und drei Tage später von dem Militärtribunal der MVD-Truppen des Bezirkes Ivanovo zu 20 Jahren Zuchthaus verurteilt. Das Ermittlungsverfahren in seiner Strafsache wurde nur formell durchgeführt. Er wurde ohne jeglichen Grund wegen Greueltaten gegen sowjetische Bürger, Beschießung von Militärobjekten sowie Abschuß von sowjetischen Flugzeugen und damit Schädigung der sowjetischen Wirtschaft verurteilt. E. Hartmann protestierte gegen das Urteil und betonte zu Recht, daß er als Militärflieger nur an den Kämpfen mit den Luftstreitkräften des Gegners teilgenommen und keine Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung begangen habe. Er erhob mehrmals Protest, trat in den Hungerstreik, weigerte sich zu arbeiten, verlangte, daß er als Unschuldiger zurück in die Heimat geschickt oder erschossen werden solle. Mehrmals wurde er mit Folterhaft bestraft.

Im Juni 1951 wurde er zusammen mit G. Wagenlehner und anderen deutschen Kriegsgefangenen von dem Militärtribunal des Don-Militärbezirkes zu 25 Jahren Haft verurteilt als Angehöriger einer antisowjetischen Gruppe, die die Befreiung aller deutschen Kriegs

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gefangenen aus der Haft und ihre Repatriierung nach Deutschland zum Ziel habe. Das war seine zweite Verurteilung während der Kriegsgefangenschaft.

Die Prüfung beider Strafsachen ergab, daß E. Hartmann und andere zusammen mit ihm zum zweiten Mal verurteilte Kriegsgefangene ohne Grund verurteilt worden waren.

Ablehnung der Rehabilitierungsanträge von Schuldigen

Von dem Militärtribunal in Minsk wurden im Januar 1946 18 deutsche Generale und Offiziere als ehemalige Chefs der repressiven und polizeilichen Organe auf dem Territorium Weißrußlands wegen zahlreicher Greueltaten gegen die Bevölkerung Weißrußlands verurteilt, das am meisten unter dem Krieg leiden mußte. Diese Verurteilung erfolgte nach sorgfältiger Prüfung des Falles zu Recht. Eine Rehabilitierung kommt daher nicht in Frage.

Ebenso wurde der Rehabilitierungsantrag eines der ehemaligen MG-Schützen des Aufklärungstrupps 21 einer deutschen Infanteriedivision abgelehnt, der der Erschießung der Zivilbevölkerung im Bezirk Pskov (Rußland) bezichtigt wurde.

Bei der Prüfung von Archivakten wurde bei einer Reihe von Verurteilungen das gerichtliche Prüfungsverfahren geändert. Das erstreckt sich auf die Personen, die in der Nachkriegszeit wegen unerlaubten Besitzes von Schußwaffen und wegen konterrevolutionärer Sabotage gemäß Art. 58,14 des Strafgesetzbuches des RSFSR angeklagt worden waren. Falls bei der Prüfung solcher Akten festgestellt wird, daß trotz des unerlaubten Waffenbesitzes keine Absichten vorlagen, ein Staatsverbrechen zu begehen, werden solche Verbrechen von den Gerichten als Straftaten allgemeinen Charakters subsumiert (Art. 182,1 des Strafgesetzbuchs der RSFSR). Dadurch wird das früher angesetzte Strafmaß gemindert.

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Z.B. wurden die deutschen Bürger Hoffmann und Fleckenstein im Juni 1946 von einem Militärtribunal der konterrevolutionären Sabotage beschuldigt, da sie entgegen dem Befehl des sowjetischen Oberbefehlshabers über die Rückgabe von Waffen zu Hause Gewehre und Patronen aufbewahrt hatten. Sie wurden zu Haftstrafen von jeweils acht Jahren verurteilt. Auf Grund unseres Beschlusses hat das Gericht entschieden, daß die frühere Qualifizierung der Vergehen der Angeklagten falsch war. Durch einen Gerichtsbeschluß sind Hoffmann und Fleckenstein z.Z. als zu vier Jahren Haft Verurteilte ausschließlich wegen des unerlaubten Waffenbesitzes zu betrachten. Sie können jedoch aus diesem Grund nicht rehabilitiert werden.

Laut Gesetzgebung Rußlands wird die Zeit der zu Unrecht verbüßten Strafe der Rentenanwartschaft angerechnet, hat Auswirkungen auf die Rentenzuschläge und berechtigt die Betroffenen zu einer finanziellen Entschädigung.

In den Anträgen, die bei uns zur Entscheidung eingehen, werden oft Probleme von Deutschen angesprochen, die von Sowjetischen Militärtribunalen verurteilt worden waren, ihre Strafen in Deutschland verbüßten und den Behörden der DDR übergeben wurden.

Einen solchen Antrag brachte W. Molotow im Namen des MID der UdSSR am 30. September 1954 im ZK der KPdSU ein. Die Übergabe erfolgte auf Grund des Beschlusses des Ministerrats der UdSSR vom 5. Oktober 1954. Dieser Beschluß wurde von G. Malenkow unterzeichnet. Laut diesem Beschluß wurden 5.628 von sowjetischen Gerichten verurteilte Deutsche, die ihre Strafe auf dem Territorium der DDR verbüßten, den Behörden der DDR übergeben. Dabei wurde vereinbart, daß kompetente deutsche Behörden alle Strafakten der Betroffenen mit dem Ziel prüfen lassen sollten, diese vorzeitig aus der Haft zu entlassen und diejenigen, die weniger schwere Verbrechen begangen hätten, zu amnestieren. Als Termin wurde der 1.1.1955 angesetzt; später wurde der Termin auf den 1.5.1955 verschoben. Das Außenministerium der UdSSR wurde beauftragt, die DDR-Regierung

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von dieser Entscheidung der sowjetischen Regierung in Kenntnis zu setzten. Ferner mußte das Außenministerium vereinbaren, daß die deutschen Behörden ihre Entscheidungen in bezug auf die genannten Verurteilten mit den entsprechenden sowjetischen Organen über den Stellvertreter des Obersten Kommissars der UdSSR in Deutschland, General Pitovranov, absprechen sollten. Dieser mußte die anstehenden Probleme mit einer extra dafür in der UdSSR gegründeten Kommission mit KGB-Chef Serov als Vorsitzendem abstimmen. Laut Statistiken verbüßten damals in der DDR wegen Spionage 2.250 Personen ihre Haft, wegen verschiedener Kriegsverbrechen 2.313 Personen, wegen terroristischer Tätigkeit 229, wegen Sabotage 162 und wegen antisowjetischer Propaganda 674 Personen. Sie wurden in deutschen Gefängnissen mit deutschem Personal gefangengehalten. Aber alle Fragen in bezug auf die Gerichtsbarkeit und Entlassung dieser Personen gehörten zum Kompetenzbereich der sowjetischen Organe in Deutschland.

Der Präsident der DDR, W. Pieck, schlug vor, aus Anlaß des 5. Jahrestages der Gründung der DDR einen Teil der Verurteilten zu amnestieren. Der Oberste Kommissar der UdSSR in Deutschland, Puschkin, bat die Führung der UdSSR, diese deutschen Bürger im Eilverfahren an die DDR zu übergeben, damit diese einen Teil dieser Personen noch bis zum 7. Oktober, d.h. noch vor dem 5. Jahrestag der Gründung der DDR, amnestieren könne. Seiner Meinung nach könne dies eine positive Auswirkung auf die bevorstehenden Wahlen zur Volkskammer der DDR haben. So verlief denn auch die gesamte Entwicklung.

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Dieses komplizierte und unerschöpfliche Thema abschließend, möchte ich betonen, daß gemäß Gesetz vom 18. Oktober 1991 die Rehabilitierung von Opfern politischer Repressalien vor allen Dingen die Wiederherstellung ihrer Bürger- und Eigentumsrechte, die Beseitigung anderer Folgen der Willkür, die Gewährleistung einer finanziellen Entschädigung in dem Umfang, wie es z.Z. möglich ist, bedeutet. Die Auszahlung einer solchen Entschädigung ist im Gesetz allerdings nur an diejenigen Ausländer vorgesehen, die unmittelbar auf dem Territorium Rußlands verfolgt wurden.

Trotz der Ereignisse der vergangenen Jahre darf man die Bedeutung der Rehabilitierungstätigkeit nicht unterschätzen. Sie ist unsere Pflicht allen unschuldig Verfolgten gegenüber, unabhängig von ihrer Nationalität und Staatsbürgerschaft.

Ein von uns vor kurzem rehabilitierter Deutscher (er ist 82 Jahre alt) gab seiner Zufriedenheit Ausdruck, als er in der Hauptmilitärstaatsanwaltschaft Rußlands die Akten seiner Strafsache eingesehen hatte, in der er unbegründet der Spionage gegen die UdSSR beschuldigt worden war: Endlich stehe er im Alter völlig rein da, nicht nur vor Gott, sondern auch vor seinen Kindern, Bekannten und der ganzen übrigen Welt. Dem ist nichts hinzuzufügen.

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Rehabilitierungsantrag








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