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Die "Frauenfrage" war schon immer eine "Männerfrage" : Überlegungen zum historischen Ort von Familie in der Moderne ; Vortrag vor dem Gesprächskreis Geschichte der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn am 9. November 1994 / Karin Hausen. - [Electronic ed.]. - Bonn, 1994. - 32 S. = 70 Kb, Text. - (Gesprächskreis Geschichte ; 7). - ISBN 3-86077-327-5
Electronic ed.: Bonn: FES Library, 1999

© Friedrich-Ebert-Stiftung


INHALT




[Seite der Druckausg.: 1-2 = Titelseiten]

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Vorbemerkung des Herausgebers

Im Gesprächskreis Geschichte der Friedrich-Ebert-Stiftung werden vornehmlich historische Themenkomplexe behandelt, die wie der Nationalismus und der Stalinismus weiterhin in unsere Gegenwart hineinwirken oder aber wie die nationale Frage und der Nationalsozialismus dauerhaft auf der politischen Tagesordnung bleiben. Zu diesen letzteren Problemkreisen zählen die Definition und Zuweisung von Geschlechterrollen, die bei aller natürlichen Unterschiedlichkeit der Geschlechter in starkem Maße historisch gewachsen, gesellschaftlich bedingt und damit auch wandelbar sind.

Frau Professor Dr. Karin Hausen von der Technischen Universität Berlin hat diese Problematik in einem Vortrag vor dem Gesprächskreis Geschichte am 9. November 1994 historisch entfaltet und insbesondere am Beispiel der Familien- und der Erwerbsarbeit seit der Aufklärung und dem Beginn der Industrialisierung eindringlich vor Augen geführt. Gleichzeitig hat sie ein engagiertes Plädoyer für eine grundsätzliche Neugestaltung des Geschlechterverhältnisses, für die gesellschaftliche Chancengleichheit von Männern und Frauen, vorgetragen, eine Forderung, die in der Diskussion starken Widerhall fand. Um diese Ausführungen über den Kreis der Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Veranstaltung hinaus einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen, legen wir diesen Vortrag hiermit in einer erweiterten Fassung gedruckt vor.

Bonn, im Dezember 1994


Dr. Dieter Dowe
Leiter des
Historischen Forschungszentrums



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Karin Hausen:
Die "Frauenfrage" war schon immer eine "Männerfrage"
Überlegungen zum historischen Ort von Familie in der Moderne


Es ist kühn, in einem kurzen Essay daran erinnern zu wollen, daß es bis heute ungelöste Strukturprobleme der modernen Gesellschaft gibt, die seit dem 18. Jahrhundert bisweilen bearbeitet, aber häufiger noch aus dem wachen Bewußtsein der Öffentlichkeit verdrängt worden sind. Dennoch ist es nach wie vor notwendig zu diskutieren, inwiefern in eben diesen Strukturproblemen die zählebigen historischen Widerstände wurzeln, wenn es darum geht, das Individuum und die autonome Persönlichkeit der Moderne endlich auch weiblich zu konzipieren. Hierüber wird wieder gestritten, seitdem es der Neuen Frauenbewegung seit dem Ende der 1960er Jahre weltweit gelungen ist, die nach dem Ersten Weltkrieg allmählich harmonisierte und schließlich stillgelegte Diskussion über eine gerechtere und lebenswertere Ordnung der Geschlechterverhältnisse mit schrillen Dissonanzen erneut zu beleben.

Mit dem politischen Schlagwort "Patriarchat" wurde die neue Kampfansage auf eine bündige internationale Formel gebracht. Die Fortexistenz des "Patriarchats" zu behaupten und das gesellschaftliche Geschlechterarrangement als Herrschaftsverhältnis zu charakterisieren wurde zum zündenden Funken des neuen politischen Aufbruchs. Überall in der Welt artikulierten Frauen nun öffentlich ihre Wut, Lust und Bereitschaft, sich gegen strukturelle und persönliche Benachteiligungen des weiblichen Geschlechts aufzulehnen und bessere Lebenschancen für alle Frauen zu erstreiten.

Welche geschlechterpolitischen Ärgernisse damals erneut auf die politische Tagesordnung gehörten, lag auf der Hand: Frauen sind selbst bei formaler Gleichberechtigung nirgendwo in der Welt den Männern tatsächlich gesellschaftlich gleichrangig gestellt. Eine deutliche Sprache über ungleiche Chancen sprechen die Statistiken der Einkommen und der Erwerbslosigkeit, die Zahlen über Frauen in

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Parlamenten, Regierungen und sonstigen Führungspositionen sowie die selbst in den reichen Ländern der Erde noch immer extreme Überrepräsentation von Frauen in der Armutspopulation. Überall leben Frauen nach wie vor in Gesellschaften, die nach dem Maß des Mannes eingerichtet sind. Zur gesellschaftlichen Normalität gehört immer noch die speziell gegen Frauen gerichtete Gewalt. Ebenfalls selbstverständlich wird das spannungsreiche Pendeln zwischen Erwerbsarbeit und Familie mit aller Doppelbelastung und Diskriminierung weiterhin vornehmlich Frauen zugemutet. Vor allem Mütter von kleinen Kindern haben in unserer so wenig kinder- und familienfreundlichen Welt extreme Belastungen auszuhalten und aufzufangen; und es ist noch keineswegs sicher, daß Frauen heute und später vor dem materiellen Elend im Alter besser geschützt sein werden als ihre Großmütter und Mütter.

Derartige Diagnosen der offenen oder verdeckten Frauendiskriminierung präzisiert, verschwiegene Mißstände bekannt gemacht und dafür in der Öffentlichkeit Aufmerksamkeit erzwungen zu haben, das sind die unbestreitbar großen Leistungen der Neuen Frauenbewegung. Die euphorischen Emanzipationsträume der siebziger Jahre reichten allerdings weit darüber hinaus. Die Hoffnung war groß, das nun als ein System der strukturellen Privilegierung und Dominanz von Männern begriffene moderne "Patriarchat" mit der Schubkraft der Neuen Frauenbewegung endgültig aus den Angeln heben zu können. In der praktischen Politik verwandelten sich diese Träume schnell in ein frustrierend schwieriges und langwieriges Unterfangen, dem bislang allenfalls Teilerfolge beschieden sind. Ja, heute, unter den Bedingungen der so entscheidend veränderten politischen Konjunktur der neunziger Jahre, ist es zudem fragwürdiger denn je geworden, ob es für feministische Politik in den nächsten Jahren weiterhin eine Chance geben wird, bleibende Erfolge zu erzielen. In Zeiten weltpolitischer Turbulenzen hat sich bislang noch immer die öffentliche Aufmerksamkeit zunehmend auf die "große Politik" konzentriert und gleichzeitig das Bestreben verallgemeinert, die innere Stabilität einer Gesellschaft politisch abzusichern. Beides aber schafft

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denkbar schlechte Voraussetzungen für das säkulare Vorhaben, die bestehenden Geschlechterverhältnisse so zu revolutionieren, daß die Belange, Bedürfnisse und Ansprüche von Frauen endlich tatsächlich gleichberechtigt mit denen von Männern in allen gesellschaftlichen Bereichen zum Zuge kommen können. Eine solche Politik würde zwangsläufig darauf hinauslaufen, die bisherige gesellschaftliche Position von Männern zumindest relativ zu der von Frauen zu verschlechtern und damit die noch funktionierende Geschlechterhierarchie empfindlich zu stören. Auf diese Weise die scheinbar privaten Verhältnisse zum Politikum zu machen, stünde im krassen Widerspruch zur Konzentration aller Kräfte auf die "große Politik". An den Umbrüchen in den Ländern des ehemals real existierenden Sozialismus zeigt sich inzwischen deutlich, in welchen Bereichen und in welchem Maße die Frauen das Nachsehen haben, wann immer es um wichtige politische Weichenstellungen geht.

Damit ist der politische Horizont abgesteckt für die historische Diskussion derjenigen Strukturprobleme der modernen Gesellschaft, die bislang der prinzipiellen und realen Chancengleichheit von Frauen und Männern im Wege gestanden haben. Seit den 1860er Jahren wurde es üblich, diese gesellschaftspolitischen Probleme ausschließlich als "Frauenfrage" anzudenken. Dazu ist etwa in Meyers Konversations-Lexikon 1876 folgende Definition nachzulesen:

    "Frauenfrage, die Zusammenfassung aller derjenigen Momente, welche in socialer, rechtlicher, politischer und wirtschaftlicher Hinsicht die Stellung des weiblichen Geschlechts im Volkshaushalt bedingen; sie stellt sich dar als ein Theil derjenigen Forderungen und Fragen, welche wir unter dem Namen der 'socialen Frage' begreifen. In der Stellung der Frau zu dem übrigen Leben einer Nation pflegt sich die zeitige Kultur derselben zu spiegeln. Die Stärke des Kopfs beim Mann muß an der Stärke des Herzens der Frau eine ausgleichende Ergänzung finden, wenn in einem Volk die rohe Gewalt des Stärkern nicht

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    vorherrschen, das Seelenleben nicht zurücktreten soll [...]."

Heute dürfte es wohl eher als abwegig erscheinen, gravierende Strukturprobleme der modernen Gesellschaft dadurch lösen zu wollen, daß man sie einfach zur "Frauenfrage" umdefiniert. Doch die naheliegende weitere Schlußfolgerung, daß die Strukturprobleme ebensosehr als "Männerfrage" wie als "Frauenfrage" begriffen werden müssen, damit sie in Zukunft gelöst werden können, stößt nach wie vor eher auf Abwehr. Die nun folgende historische Argumentation ist ein Versuch, die in der "Frauenfrage" verborgene "Männerfrage" aufzudecken und deren gesellschaftspolitische Bedeutung im Blick auf die Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts zu diskutieren. Ich bitte um Nachsicht, daß ich zur Vereinfachung der Argumentation das allzu weitmaschige Konzept der "modernen Gesellschaft" benutze und darauf verzichte, außer zu den auf der Basis kapitalistischer Marktwirtschaft errichteten Wohlfahrtsstaaten auch die auf der Basis zentral verwalteter Planwirtschaft errichteten sozialistischen Staaten zu berücksichtigen. Es wäre gewiß eine lohnende Aufgabe, die Privilegierung und Dominanz des männlichen Geschlechts zum Angelpunkt eines Vergleichs der beiden großen konkurrierenden gesellschaftlichen Systementwürfe des 20. Jahrhunderts zu machen.

Die politische Prämisse der folgenden Ausführungen ist eindeutig. Die in der Aufklärung konzipierte und über soziale Bewegungen seitdem immer umfassender in der Gesellschaft verankerte Idee der Emanzipation des Menschen gilt heute ebenso verbindlich für Frauen wie für Männer. Damit hat jegliche prinzipielle geschlechtsspezifische Benachteiligung oder Privilegierung von Menschen ihre Legitimität verloren. Wo dieses inzwischen unstrittig ist, müßte sich aber darüber hinaus zusätzlich auch verbieten, was derzeit noch wirkungsmächtige gesellschaftspolitische Praxis ist, nämlich: daß der Zugang zu gleichen gesellschaftlichen Chancen und Berechtigungen für Menschen weiblichen Geschlechts nach wie vor verbunden ist mit dem Zwang zur Assimilation an eine große Zahl dominanter Strukturen und

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Normen, die weiterhin auf Menschen männlichen Geschlechts zugeschnitten sind und eben deshalb die Menschen weiblichen Geschlechts beeinträchtigen.

Die Tragweite der auch in diesem Punkt konsequent zu Ende gedachten politischen Prämisse wird deutlich bei einem historischen Rückblick auf die Probleme und Lösungsversuche einer wünschenswerten Ordnung der Geschlechterverhältnisse seit dem 18. Jahrhundert. Bei einem solchen Rückblick sind drei Fragerichtungen zu kombinieren:

  • Wie und warum hat sich bis heute die ungleiche Plazierung von Frauen und Männern in dem gesellschaftlichen System der Verteilung und Bewertung von Arbeit, Einkommen, Zuständigkeiten und Macht erhalten?
  • Wie und warum konnte immer erneut über Religion, Sitte, Recht und Ideologie die gesellschaftliche Legitimation des hierarchischen Geschlechterarrangements gelingen?
  • Wie und warum wurden in Haushalten und Familien die nicht egalitären Geschlechterverhältnisse im Prozeß des sozialen Wandels tagtäglich im Leben der einzelnen Menschen und beim Aufziehen der nachwachsenden Generation immer erneut reproduziert?

Das Faktum der jahrhundertealten hierarchischen Ordnung der Geschlechterverhältnisse interessiert hier also als soziale historische Praxis. Das heißt, es ist in Rechnung zu stellen, daß Frauen und Männer je einzeln und zusammen schon immer die gesellschaftlich geltenden Handlungsspielräume und Wertorientierungen stets erneut interpretierten, nutzten, kritisierten und veränderten, wenn sie ihr eigenes Leben als Teil des historischen Wandels gestalteten. Der Rahmen dieses kurzen Essays und das Ziel, die historisch-systematische Argumentation möglichst übersichtlich zu entfalten, setzt allerdings der eigentlich erforderlichen umfassenden Analyse der historischen Geschlechterbeziehungen enge Grenzen. Um der gebotenen Kürze willen beschränke ich mich daher im Folgenden auf einige wenige Aspekte des Systems der geschlechtsspezifisch geteilten und bewerteten Arbeit.

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Das Interesse gilt der für die moderne Gesellschaft so folgenreichen strukturellen Entgegensetzung von Familien- bzw. Hausarbeit auf der einen und Erwerbs- bzw. Berufsarbeit auf der anderen Seite sowie der geschlechtsspezifisch verankerten Verteilung der primären Zuständigkeit für den einen oder anderen dieser Arbeitsbereiche. Beide Arbeitsbereiche sind bis heute gesellschaftlich ebenso notwendig wie äußerst spannungsreich und widersprüchlich aufeinander bezogen. Mit gesellschaftspolitischen Interventionen wird seit über hundert Jahren versucht, dieses Spannungsverhältnis zu entschärfen, um das Wechselspiel zwischen beiden Systemen zu optimieren. Die diversen Strategien des Interventionsstaates hatten u.a. den Effekt, in erster Linie immer massiver den Frauen als persönliches Dilemma aufzubürden, was sich als gesellschaftlicher Antagonismus zwischen dem familialen System der Produktion und Reproduktion von Menschen und dem gewinn- und marktorientierten System der Produktion und Reproduktion von Kapital, Gütern und Dienstleistungen herausgebildet hat. Diese thesenartig formulierten Sätze bedürfen der Erläuterung.

Die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft hat auch im 19. und 20. Jahrhundert weiterhin an der tradierten Praxis festgehalten, daß Familien und private Haushalte der primäre gesellschaftliche Ort sein sollen, um über Generationen hinweg Menschen physisch, psychisch und kulturell zu reproduzieren. Um diese Aufgabe zu erfüllen, braucht die Familie Arbeitskraft und Existenzmittel. Dies wurde niemals in Zweifel gezogen. Doch beides konnte vom neuen System der außerhalb von Einzelhaushalten und Familien organisierten gesellschaftlichen Arbeit keineswegs selbstverständlich bereitgestellt werden. Für die Funktionsweise der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft wirkten die Bedürfnisse der privaten Familienhaushalte eher wie störende Reibungen im gesellschaftlichen Getriebe. Sie drohten unterzugehen in der modernen Gesellschaft, sobald diese nicht länger auf das Familienmitglied als Teil einer Gruppe, sondern auf das vermeintlich autonome dispositionsfähige Individuum als Zielgröße und Funktionselement setzte. Für den Mechanismus des

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Arbeitsmarktes ist eine Familienorientierung ebenso systemfremd wie für das System der Lohnarbeit die Forderung nach einem "gerechten", ausreichenden Familienlohn. Auch ist haushaltsferne Erwerbsarbeit zwar ein wesentlicher Bestandteil des gesellschaftlichen Fortschritts, sofern dieser an der Steigerung der Produktivität abgelesen wird;

haushaltsferne Erwerbsarbeit schafft aber gleichzeitig für Familienhaushalte überhaupt erst das Problem, daß Produktion und Konsum, Erwerb und Verbrauch zeitlich und räumlich weit voneinander getrennt werden und daß die Verfügung über den Einsatz der familialen Arbeitskräfte den Familienhaushalten erschwert und tendenziell entzogen wird.

Familien, die auf der Basis gewerblicher Erwerbsarbeit wirtschaften mußten, waren zwar, solange die Erwerbsarbeit hausindustriell organisiert war, auch bereits den Zwängen des Marktes unterworfen. Ihnen blieb aber bei aller dürftigen Lebenshaltung immerhin noch die Autonomie, über die Art und Weise des täglichen Einsatzes der in der Familie vorhandenen Arbeitskräfte zu disponieren. Die Zentralisierung der Produktion in einer Fabrik bedeutete für die Arbeiterfamilien den Verlust eben dieser Verfügungsmöglichkeiten. Die Arbeitsbedingungen innerhalb der zentralisierten Fabrik wurden immer konsequenter so eingerichtet, daß sie weder Gelegenheit, Zeit noch Kraft ließen, während der Erwerbsarbeit auch die erforderliche Haushaltsarbeit, Kinderversorgung, Betreuung von kranken und alten Menschen zu erledigen. Stellt man einmal die größere materielle Sicherheit nicht in Rechnung, so ergab sich die gleiche Arbeitssituation auch in den Behörden und in den im Laufe des 19. Jahrhunderts ebenfalls zunehmend großbetrieblich organisierten diversen anderen Arbeitsbereichen des tertiären Sektors. Ein entscheidender Unterschied lag allerdings darin, daß das Gehalt des Beamten für ein standesgemäßes Auskommen der Familie ausreichen sollte. Für Beamten-Ehefrauen war Erwerbsarbeit nicht vorgesehen. Dieses Modell machten sich seit dem Ende des 19. Jahrhunderts auch die zahlreicher werdenden Angestellten zu eigen, und es war der Traum vieler Facharbeiter. Im Gegensatz dazu definierte sich der

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Arbeitslohn in der Fabrik nach Quantität und Qualität der jeweils geleisteten Arbeit, wenn die Prinzipien der Entlohnung zwischen Unternehmern und Lohnarbeitern erst einmal ausgehandelt waren. Ob von dem erzielten Verdienst, den eine einzelne Arbeitskraft ausbezahlt bekam, eine oder zehn Personen leben mußten, sollte im Lohnsystem keine Rolle spielen. Hier setzte der Kampf der organisierten Arbeiter um den Ernährerlohn an, von dem allerdings ledige Männer gleichermaßen profitieren konnten. De facto aber blieb im ganzen 19. Jahrhundert für die allermeisten Fabrikarbeiter der Lohn so niedrig bemessen, daß alle erwerbsfähigen Familienmitglieder zum Familieneinkommen auf irgendeine Weise beitragen mußten.

Der bekannte deutsche Ökonom und seit den 1870er Jahren exponierte Sozialpolitiker Gustav Schmoller charakterisierte 1900 das Ergebnis dieser Auseinanderentwicklung von Privathaushalt und Berufswelt folgendermaßen:

"Die wichtigste Folge der ganzen, immerhin heute für einen großen Teil der Bevölkerung vollzogenen Scheidung liegt darin, daß damit zwei ganz gesonderte und doch innig miteinander verbundene, aufeinander angewiesene Systeme der socialen und wirtschaftlichen Organisation entstanden sind: das wirtschaftliche Familienleben einerseits, die Welt der Gütererzeugung, des Verkehrs, des öffentlichen Dienstes und was sonst noch dazu gehört andererseits [...] Die beiden Systeme der socialen Organisation gewinnen ihr eigenes Leben, verfolgen ihre speciellen Zwecke und müssen das thun. Von verschiedenen Principien regiert, können sie in Kollision kommen, sich gegenseitig schädigen und hindern. Die neue Sitte und das neue Recht für beide ist nicht leicht zu finden. Die Familienwirtschaft existiert jetzt gleichsam nur als Hülfsorgan, häufig als schwächeres, neben den neuen, stärkeren, größeren Gebilden der Volkswirtschaft. Sie kann und muß in

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loserer Form als früher ihre Rolle spielen, muß ihren Gliedern alle mögliche Freiheit geben. Sie ist teilweise sogar mit vollständiger Auflösung bedroht, wo die anderen Organe die Kinder und die Erwachsenen ganz mit Beschlag belegen, alle Zeit und Kraft für sich in Anspruch nehmen; das ist der Fall, wo schon die Kinder verdienen sollen, wo Frau und Mann von morgens 6 Uhr bis spät abends in der oft weit entlegenen Fabrik tätig sein müssen." (Gustav Schmoller, Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre, Bd. l, Leipzig 1900, S. 250.)

Sozialreformer nahmen sich im Laufe des 19. Jahrhunderts immer aufmerksamer der Aufgabe an, das brisante Spannungsverhältnis zwischen Familienwirtschaft und Volkswirtschaft zu entschärfen. Dabei galt die Frauenerwerbsarbeit als Symptom und Ursache der gesellschaftlichen Fehlentwicklungen. Doch wenn bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts der Verfall von Moral und Sitte und danach zusätzlich die systemgefährdende Zerstörung der Familie hauptsächlich der Frauenerwerbsarbeit angelastet wurden, dann war als Wurzel allen Übels allein die Frauenarbeit in Fabriken und Bergwerken gemeint. Weiterhin sozial erwünscht blieb dagegen die in Landwirtschaft, Kleingewerbe und Kleinhandel übliche Zusammenarbeit von Eheleuten und Kindern beim Erwerb des Familieneinkommens; denn diese Arbeit blieb familienintegriert, und der Mann als Haushaltsvorstand behielt die Kontrolle über die zusammen mit den übrigen Familienangehörigen geschaffenen Werte. Außerhäusliche Erwerbsarbeit wurde bezeichnenderweise nur bei Frauen als Krisensymptom für den Bestand der Familie verbucht. Die außerhäusliche Arbeit der Männer alarmierte niemanden. Diese unterschiedliche Bewertung folgte ganz ohne Zweifel dem traditionellen Muster der bei Frauen und Männern verschieden verankerten Zuständigkeiten für häusliche und außerhäusliche bzw. hausnahe und hausferne Tätigkeiten. Die Bewertung transportierte aber wahrscheinlich noch stärker die vom nichtgewerblichen Bürgertum schon im 18.

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Jahrhundert entwickelten Ideologien und Praktiken, die die Rolle der "Gattin, Hausfrau und Mutter" neu ausstaffierten und die Ehefrauen und noch ledigen Töchter auf die im Haus privat und von der Öffentlichkeit abgeschirmt lebende Familie festzulegen versuchten.

Wichtig für die Neufundierung und Stabilisierung der hierarchischen Geschlechterordnung war nicht zuletzt, daß sich mit der verallgemeinerten Trennung von Hauhalts- und Erwerbsarbeit sowohl diese beiden Arbeitsbereiche als auch der Charakter der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung tiefgreifend veränderten. Beruf und Familie, Erwerbs- und Haushaltsarbeit, Männer- und Frauenarbeit entwickelten sich nicht nur räumlich, sondern parallel dazu auch in der Qualität und Bewertung der Arbeit weit auseinander. Das, was im gebildeten Bürgertum längst weit verbreitete Praxis geworden war, nämlich Männer immer intensiver und ausschließlicher für ihre am Geldverdienst orientierte, familienferne Berufsrolle zu trainieren und umgekehrt Frauen voll und ganz auf ihre an Liebe orientierte Familienrolle festzulegen, sollte im späteren 19. Jahrhundert zur Lösung der sozialen Probleme möglichst in der Gesellschaft generell als normative Ordnung der Geschlechterverhältnisse durchgesetzt werden. Auch im Proletariat müsse, so wurde gesagt, ergänzend zur außerhäuslichen Erwerbsarbeit des Mannes die Frau ihre ganze Kraft und Zeit auf die unbezahlte Arbeit für die eigene Familie konzentrieren können, denn nur so lasse sich die Reproduktion der Lohnarbeiterschaft in der gesellschaftlich erwünschten Form sicherstellen. Deshalb versprach einerseits eine spezielle Schutzgesetzgebung, die Fabrikarbeiterinnen vor allzu weit reichenden Übergriffen der Erwerbsarbeit zu schützen und in ihrer Funktion als Hausfrauen und Mütter zu stärken. Gleichzeitig versprach andererseits der Aufbau von Sozialversicherungen, die Risiken der Erwerbskarriere eines Lohnarbeiters abzufedern und damit für dessen Ehefrau den Zwang zur Lohnarbeit zu mildem. Am konsequentesten aber wurde für Arbeiterfrauen die öffentliche Erziehungsarbeit in Form von Haushaltungsunterricht, Unterweisung in Säuglingspflege und Auf-

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klärung über Kindererziehung verstärkt, um über diesen Weg die Frauen als Mütter wirkungsvoller in die Pflicht zu nehmen.

Dieses seit dem späten 19. Jahrhundert in Gang gesetzte und im 20. Jahrhundert zügig weiter ausgebaute familienpolitische Sozialprogramm war eine Antwort auf die Probleme des Zusammenspiels zwischen dem privat-familialen Arbeitssystem und dem System der gesellschaftlich außerhalb der Haushalte organisierten Arbeit. Das Sozialprogramm zielte darauf ab, den privaten Haushalten der Lohnabhängigen gegenüber dem mächtigen familienfremden Betrieb der Erwerbsarbeit Schonräume zu verschaffen und gleichzeitig die Familien immer genauer in die ihnen zugewiesenen gesellschaftlichen Aufgaben einzupassen. Eine der Grundanschauungen der bürgerlichen Gesellschaft, daß nämlich Öffentlichkeit und Privatheit, Berufswelt und Familie polar getrennte soziale Einheiten seien, ging in dieses Sozialprogramm ebenso ein wie die Überzeugung, daß beide Seiten dieser Gegensatzpaare auf Dauer funktionstüchtig ausgebildet werden können, solange die Zuständigkeiten von Männern und Frauen in dem System der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung ebenfalls polar verteilt werden. Wie für den Mann die Familie, so sollte deshalb für die Frau die Berufswelt sekundär bleiben.

Diese bereits im bürgerlichen Diskurs des 18. Jahrhunderts voll ausgebildete und bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts für immer breitere Bevölkerungsgruppen formulierte Programmatik gestaltete insbesondere für Frauen die Arbeitspraxis auf eine äußerst komplizierte Weise. Um die Wende zum 20. Jahrhundert zeichnete sich bereits deutlich ab, daß die gesellschaftliche Situation für die allermeisten Frauen keineswegs durch die eindeutige Familienrolle, sondern durch das vieldeutige und spannungsreiche Pendeln zwischen Familie und Beruf geprägt sein werde, wofür in dieser Zeit der Begriff "Doppelberuf" in die Diskussion kam. Volkswirtschaftlich hatte es schon immer als ein zu teurer Luxus gegolten, im Erwerbsleben auf die Arbeitskraft von Frauen generell zu verzichten. Es stand daher auch am Ende des 19. Jahrhunderts niemals ernsthaft zur Debatte, die Töchter aus Arbeiter- und Mittelstandsfamilien nach der

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Schulentlassung und bis zur Eheschließung strikt vom Arbeitsmarkt fernzuhalten. Das erwerbslose Warten einer Tochter auf eine Versorgungsehe konnten sich die wenigsten Familien leisten. Auch hatten sich Industrie und Dienstleistung immer selbstverständlicher darauf eingestellt, Frauen als Arbeitskräfte zu beschäftigen, die üblicherweise nur 50% dessen kosteten, was für Männer als Lohn hätte aufgewendet werden müssen. Erwerbsarbeit der noch ledigen Frauen wurde als Intermezzo betrachtet, was sie selten genug blieb, da eine Heirat den wirtschaftlichen Zwang zur Erwerbsarbeit nicht einfach beseitigte. Doch selbst als vorgestelltes Intermezzo störte die Frauenerwerbsarbeit empfindlich die gesellschaftlich wünschenswerte konsequente Erziehung zur unbezahlten Familienarbeit.

Aber nicht allein die wirtschaftliche, sondern diese ergänzend auch die gesellschaftspolitische Entwicklung verfestigte für Frauen die Realität der "Doppelrolle". Das sicherste Mittel, zumindest die Frauen des wirtschaftlich besser gestellten Mittelstandes an die ihnen zugedachte Familienrolle zu ketten, hatte jahrzehntelang darin bestanden, ihnen in der öffentlichen Gesellschaft die den Männern zustehenden Rechte und Chancen und damit Entfaltungsmöglichkeiten prinzipiell zu verweigern. Seit den 1860er Jahren gelang es der Alten Frauenbewegung immer wirksamer, dieses illiberale Instrumentarium der Sozialtechnologie einer öffentlichen Kritik auszuliefern. Sie gründete ihre Emanzipationskampagne u.a. auf das Argument, die Diskriminierung der Frauen stehe im Widerspruch zur Programmatik der bürgerlichen Gesellschaft, die von der freien Entfaltung der Persönlichkeit ausgehe; sie erreichte in mühsamen Einzelschritten, den Frauen Schul- und Berufskarrieren zu eröffnen und ihnen außerhalb der Familie einen Platz in der bis dahin Männern vorbehaltenen Öffentlichkeit einzuräumen. Diese Entwicklung schuf für wirtschaftlich besser gestellte Frauen den Anreiz und die Möglichkeit, ihr Verhältnis zur Familie neu zu bestimmen. Frauenbewegung hat so gut wie nie die herrschende Lehre von der primären "Bestimmung der Frau zur Hausfrau und Mutter" in Frage gestellt und auch nicht zur Provokation eine parallele Lehre von der "Bestimmung des Mannes

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zum Hausmann und Vater" erfunden, wie es später die Neue Frauenbewegung tun wird. Diese Zurückhaltung hat die erste wirkungsmächtige Emanizipationsbewegung der Frauen keineswegs vor heftigen Attacken geschützt. Jeder Schritt in Richtung Gleichberechtigung der Frauen wurde einerseits als Gefährdung der Familie und andererseits als der Beginn eines gefürchteten Geschlechterkampfes bei der Konkurrenz um Positionen in Öffentlichkeit und Erwerbsleben beargwöhnt und bekämpft.

Die in der öffentlichen Diskussion lang geübte Praxis, die Familie den Frauen und die Frauen der Familie zuzuschreiben, wurde im 20. Jahrhundert nicht etwa aufgegeben, sondern eher noch verstärkt. Die beiden Weltkriege und die verschärften sozialen Konflikte der Nachkriegszeiten taten ein übriges, um Bilder im Kurs steigen zu lassen, die dem kämpfenden Mann die fürsorgende Familienmutter zur Seite stellten. Den Frauen wie selbstverständlich die Verantwortung für die Familie zuzuschreiben, eröffnete nicht zuletzt die Möglichkeit, für die Krise oder das Wohlergehen und die Stabilität der Familie nicht die mehr oder weniger gelungene Harmonisierung der strukturellen Spannungen zwischen familialem System und Erwerbs- und Marktsystem verantwortlich zu machen, sondern die Fähigkeiten und den Einsatz der Familienfrau. Auf diese Weise ein Strukturproblem zu personalisieren hat entscheidend dazu beigetragen, daß das strukturelle Spannungsverhältnis zwischen Beruf und Familie nicht von Männern, wohl aber von Frauen in der "Doppelrolle" bis heute als persönliches Dilemma erfahren und gelebt wird.

Die Frauen selbst durchleben diese Personalisierung der Strukturprobleme - im 20. Jahrhundert wohl noch schärfer als früher - bis heute in allen Phasen ihres Lebens. Während der schulischen und beruflichen Ausbildung gereicht ihnen die eigene, aber auch die ihnen von der Umwelt unterstellte mangelnde bzw. nicht ausreichend eindeutige Berufsorientierung zum Nachteil. In der Phase der möglichen eigenen Berufsarbeit sehen sie sich unvergleichlich stärker als die Männer beansprucht von den Bedürfnissen der Menschen in der eigenen Familie, den Eltern aus den Herkunftsfamilien, zumal wenn

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diese gebrechlich geworden sind, und häufig auch noch von den Familien ihrer Töchter und Söhne. Im eigenen Alter aber rächt es sich, wenn die Familienfrau Zeit ihres Lebens vorrangig unbezahlte und nicht mit einer Alterssicherung verbundene Familienarbeit geleistet hat, sofern die Altersversorgung des Ehemannes nicht für angemessenen Ausgleich sorgt.

Die Erfahrungswelt der "Doppelrolle" zwingt die Frauen hinein in unzählige ambivalente Entscheidungssituationen, fordert nicht selten die übermäßige Belastung der physischen und psychischen Kräfte, konfrontiert mit quälenden Gefühlen der Schuld und des Versagens. Die Akrobatik der "Doppelrolle" zu leben heißt für Frauen immer noch (und bei den schnell steigenden Leistungsstandards sowohl für die Familien- als auch für die Berufsarbeit eher zu- als abnehmend), die allein möglichen "Halbheiten" der eigenen Leistung auszuhalten und nicht selten auch noch zu verteidigen. Die bei Frauen mit Familienverpflichtungen bezeichnenderweise anhaltend große Nachfrage nach beruflicher Teilzeitarbeit, obwohl diese nur zu diskriminierend schlechten Bedingungen zu bekommen ist, wirft ein deutliches Licht auf die typische Lebens- und Arbeitssituation dieser Frauen.

Erst die Neue Frauenbewegung hat sich wirkungsmächtig die Freiheit herausgenommen, nicht mehr als ein persönliches Dilemma zu akzeptieren, was bislang die Entfaltungsmöglichkeiten und Einflußchancen von Frauen in der modernen Gesellschaft sehr viel einschneidender beschränkt hat als die von Männern. Frauen, die sich trotz ihrer Zuständigkeit für kleine Kinder um 1970 aktiv beteiligen wollten am politischen Aufbruch, begannen, ihre individuelle Not mit der Kinderbetreuung kreativ experimentierend und politisch herausfordernd umzusetzen in der Kinderladenbewegung. Es gelang, die bis dahin als schlechte Notlösung dargestellte außerfamiliale Betreuung von kleinen Kindern aufzuwerten, eine vehemente Diskussion über die vermeintliche Idylle der Kleinfamilie zu entfachen; es gelang damit auch, andere Frauen zu ermutigen, nicht länger um der Familie willen eigene Wünsche nach Geselligkeit, Ausbildung, außerfamilialen Anregungen und Aktivitäten stets

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zurückzustellen und die ebenso vielfältigen wie wohlfeilen privaten und öffentlichen Schuldzuweisungen an die Mutter energischer zurückzuweisen. Die Auseinandersetzungen über antiautoritäre Erziehung, die öffentlichen Demonstrationen gegen die Kriminalisierung der Abtreibung, die Lohn-für-Hausarbeit-Kampagne, die mobilisierende Diagnose des allgegenwärtigen, aber überwindbaren "Patriarchats" und anderes mehr boten hinreichend Zündstoff, um die sicher gewähnte Ruhe der privaten und öffentlichen Verhältnisse in Unruhe zu versetzen. Die lange Tradition der Privilegierung von Männern geriet unverhofft in das grelle Licht der Kritik. Frauen erlangten zunehmend Übung darin, einzeln und in Gruppen privat und öffentlich ihre Ansprüche auf Wertschätzung, Definitionsmacht und Gestaltungschancen energisch anzumelden und gegen Widerstände durchzusetzen.

Es fehlt inzwischen nicht mehr an Ideen, wie eine von den Relikten des "Patriarchats" entlastete moderne Gesellschaft aussehen könnte. Es kommt darauf an, die bislang allein dem weiblichen Geschlecht zugemutete "Doppelrolle" zu überwinden. Das kann nur gelingen, wenn die gesamte Ordnung der geschlechtsspezifisch geteilten und bewerteten Arbeit aufgebrochen wird. Heute beflügeln aus gutem Grund nicht mehr Entwürfe der Vergesellschaftung von Hausarbeit die Phantasie, sondern Überlegungen, wie die Last und damit auch die sozialen, wirtschaftlichen und politischen Konsequenzen der "Doppelrolle" prinzipiell gleichgewichtig auf Männer und Frauen verteilt werden können. Das Ziel ist eine Teilemanzipation der Männer von der Berufsarbeit und der Frauen von der Familienarbeit bzw. für beide Geschlechter die Freiheit zu entscheiden, wie und wo sie ihre Zeit und Kraft verausgaben wollen, ohne daß sie Gefahr laufen, deswegen gesellschaftlich diskriminiert zu werden. In Experimenten kurzer Reichweite sind derartige Ideen inzwischen durchaus mit Erfolg erprobt worden. Für das Zusammenleben von Müttern, Vätern, Töchtern und Söhnen in den verschiedenen Phasen ihres Lebens, von Erwachsenen und Kindern werden heute in Ergänzung zum Kleinfamilienmodell die unterschiedlichsten Wohnformen sowie

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Lebens- und Arbeitsgemeinschaften ausprobiert und nach veränderten Vorstellungen in den persönlichen Beziehungen das Verhältnis von Distanz, Nähe, Intimität ausgemessen. Neue Möglichkeiten des Job-Sharing und der flexibleren Arbeitszeitgestaltung kommen dabei ebenso ins Spiel wie eine selbstbewußtere Inanspruchnahme des umgebenden Raumes, Mitgestaltung von Märkten und Einflußnahme auf die öffentlich gesetzten Rahmenbedingungen für Lebensverhältnisse. Eine Neuordnung der Geschlechterverhältnisse gesellschaftlich im großen Stil zuzulassen und zu befördern würde wohl zwangsläufig zur Folge haben, daß nicht allein die Menschen weiblichen Geschlechts ihren Platz in der Gesellschaft besser ausgestalten können, sondern auch die privaten Familienhaushalte mit ihren Interessen besser zum Zuge kämen.

Denn bislang hat das moderne System der geschlechtsspezifisch geteilten Arbeit eine folgenreiche Ergänzung in dem ebenfalls geschlechtsspezifisch geordneten System der öffentlichen Artikulation, Definition und Vertretung von Interessen. Dieses politische System wird nach wie vor dominiert von Männern, und im Namen des Gemeinwohls werden Männerinteressen deutlich favorisiert. Frauen verfügen generell, aber insbesondere als verheiratete Frauen und mit kleinen Kindern, über sehr viel schlechtere Chancen als Männer, wollen sie ihre eigenen Interessen und Prioritäten politisch wirkungsvoll zur Geltung bringen. Im Gerangel der politischen Kräfte gehen die Interessen von Frauen leicht unter. Mit ihren Interessen aber verschwinden aus dem politischen Raum meistens auch die mehr oder weniger ausschließlich den Frauen überantworteten Belange der täglichen Versorgung von Menschen in den Familien.

Dementsprechend war und ist es eine schwierige Aufgabe, gegen die als gesellschaftliche Notwendigkeit akzeptierten Zwänge der Kapitalverwertung bzw. der Märkte für die ebenfalls als notwendig erachtete familiale Versorgung von Menschen annehmbare Bedingungen immer wieder durchzusetzen und zu behaupten. Denn da Familienarbeit und Familienleistung als Privatangelegenheiten

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gesellschaftlich verankert worden sind, erscheinen sie als kaum politisierbare Belange. Die Regel sollte seit dem 18. Jahrhundert eine möglichst strikte Trennung zwischen den privaten und öffentlichen Angelegenheiten sein. Den Frauen fiel in dieser gesellschaftlichen Ordnung die Rolle der Spezialistinnen für das private Familienleben zu, und wegen dieser Beschränkung erschien es folgerichtig, ihnen das Recht auf eine öffentlich-politische Stimme vorzuenthalten. Die Ausnahme von der Regel kam zum Zuge, wenn Frauen die von ihnen erwarteten Familienarbeiten nicht mehr leisten konnten oder wollten. Erst diese Fehlleistungen wurden als ein öffentliches Problem wahrgenommen, welches zur politischen Gestaltung herausforderte. Meistens trat dann an die Stelle oder als Ergänzung der privaten Familienarbeit die öffentliche Dienstleistung. Diese öffentliche Dienstleistung gestaltete sich allerdings wiederum nach den Regeln und gemäß der Hierarchie der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung. Dementsprechend wird bis heute die berufliche Frauenarbeit in Kinderkrippen, Kindergärten, Krankenhäusern, Pflegeheimen und Familienfürsorge sozial zwar hoch geschätzt, aber in Lohn und Gehalt gering bewertet. Diese Ordnung der wohlfahrtsstaatlichen Intervention bekommt erst in jüngster Zeit bedrohliche Risse. Einer der destabilisierend wirkenden Faktoren ist die Tatsache, daß mit der schnell vermehrten außerhäuslichen Erwerbsarbeit von Frauen die Nachfrage nach öffentlicher Dienstleistung - z.B. für die Betreuung von alten und kranken Menschen und von Kindern - steigt und daß die zunehmend auf lebenslange Erwerbstätigkeit eingestellten Frauen gleichzeitig mit sehr viel größerem Nachdruck für eine gerechtere Entlohnung kämpfen und in besser bezahlte Arbeitsplätze abzuwandern versuchen. Sobald es jedoch den Frauen gelingt, für ihre schon immer entlohnt oder nicht entlohnt geleistete soziale Arbeit einen angemessenen Preis und erträgliche Arbeitsbedingungen zu erzwingen, gerät das bisherige soziale System unter erheblichen Druck, weil die sozialen Kosten bislang unbekannte Höhen erreichen.

Die gesamtwirtschaftliche Kalkulation von Kosten und Nutzen wird über kurz oder lang auf einer neu konzipierten Berechnungs

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grundlage erfolgen müssen. Bislang wurde auf eine volkswirtschaftliche Bewertung der in Familien geleisteten Arbeit zur Produktion und Reproduktion von Menschen verzichtet. Die im 20. Jahrhundert immer raffinierter entwickelte volkswirtschaftliche Gesamtrechnung registriert bei ihrer Buchführung nur die marktvermittelten Wertbewegungen. Wenn in den zurückliegenden zwanzig Jahren das Interesse, von den Leistungen einer Volkswirtschaft ein weniger verzerrtes Bild zu entwerfen, deutlich gewachsen ist, so mag dazu vielleicht auch feministische Kritik einen Anstoß gegeben haben. Doch mit Sicherheit begann die Kritik an diesen etablierten Berechnungsmodi zu greifen, seitdem die für die Dritte Welt besonders offensichtlichen und irreführenden Wachstumskalkulationen unter dem Segel der Begriffe "dual economy" und "Schattenwirtschaft" diskussionswürdig geworden sind. Beide Konzepte lenken allerdings ab von der Geschlechterspezifik der Bewertungsdefizite in der gesamtwirtschaftlichen Kalkulation. Der wirtschaftliche Wert der Haus- und Familienarbeit einer Ehefrau und Mutter kommt nach wie vor am präzisesten nur im Einzelfall und zwar dann zur Sprache, wenn eine Ehefrau durch Verschulden einer anderen Person bei einem Unfall getötet oder arbeitsunfähig geworden ist und der Ehemann auf Entschädigung für den ihm entstandenen Schaden klagt. Wiederum ist es also die fehlende Leistung der Hausfrau und Mutter, die dazu herausfordert, über deren Arbeitswert Klarheit zu gewinnen.

Es wäre an der Zeit, die öffentliche Wertschätzung des Wirtschaftens neu zu konzipieren mit dem Ziel, einerseits endlich auch die nicht über Märkte vermittelten Wirtschaftsleistungen in Rechnung zu stellen, statt sie wie bisher stillschweigend als gegeben vorauszusetzen, und andererseits mit größerer Aufmerksamkeit die sozialen Folgekosten des marktvermittelten Wirtschaftens zu registrieren. Eine derartige Neubewertung hätte zweifellos erheblichen Einfluß auf die zukünftige Wirtschafts- und Sozialpolitik und auf unser bisheriges Bild vom Prozeß der Industrialisierung und vom säkularen Wirtschaftswachstum. Ich vermute allerdings, daß eine

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derartig tiefgreifende Korrektur der Wahrnehmung, wie sie die gleichgewichtige Wertschätzung des "privaten" Wirtschaftens in den Familienhaushalten des 19. und 20. Jahrhunderts bedeuten würde, erst dann zum Zuge kommen wird, wenn Frauen und Männer in prinzipiell gleicher Weise für alle gesellschaftlich notwendigen und erwünschten Arbeiten zuständig werden können und wenn mit dem System der geschlechtsspezifischen Teilung der Arbeit auch die politisch so folgenreiche polare Zuweisung von Öffentlichkeit zu den Männern und von Privatheit zu den Frauen überwunden würde.

Diese Spekulationen über wünschenswerte zukünftige Veränderungen lenken das Interesse zurück auf eine historische Befragung der polar strukturierten Ordnung der modernen Gesellschaften. Warum fanden Frauen mit ihren Familienarbeitsplätzen in diesen Gesellschaften jahrhundertelang nur am Rande der politischen Arena einen Platz? Warum konnte sich so zählebig die alte und seit der Aufklärung eigentlich obsolete Rechtsfigur behaupten, derzufolge der Mann als Haupt der Familie das Recht und die Pflicht hat, alle zu seiner Familie gehörenden Menschen nach außen zu vertreten? Warum behielten Männer ihr Politikmonopol selbst dann noch, als im Laufe des 20. Jahrhunderts die rechtliche Diskriminierung des weiblichen Geschlechts aufhörte und Frauen zusätzlich zum erstrittenen gleichen Recht auf Ausbildung und Berufsarbeit schließlich auch die vollen staatsbürgerlichen Rechte zuerkannt bekamen?

Wer diesen Fragen nachgeht, entdeckt unschwer, daß seit dem späten 18. Jahrhundert und bis weit in das 20. Jahrhundert hinein mit immer neuen Mitteln des öffentlichen Diskurses darauf hingearbeitet worden ist, die angestammten und jeweils neu erworbenen politischen Rechte als Sonderrechte des männlichen Geschlechts zu reklamieren und zäh zu verteidigen. Das ist durchaus bekannt. Aber kaum jemand hat systematisch danach gefragt, welche gesellschaftspolitische Bedeutung diese kontinuierlich intonierte Begleitmusik öffentlicher Diskussion über die richtige Ordnung der Geschlechterverhältnisse für die säkularen gesellschaftlichen Umwälzungen durch fortschreitende Industrialisierung, Parlamentarisierung und Demokratisierung gehabt

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haben könnte. Die nachlesbaren Quellen sind in diesem Punkt völlig eindeutig. Die Beibehaltung einer, trotz aller Liebesdiskurse letztendlich herrschaftlich strukturierten Geschlechterordung und die polare geschlechtsspezifische Zuteilung der Erwerbssphäre und politischen Öffentlichkeit zu den Männern und der Familienssphäre zu den Frauen, so glaubte man, sei zwingend erforderlich, um der auf Fortschritt programmierten modernen Gesellschaft dennoch den nötigen Bestand zu verleihen. Zunächst wurde die Natur und seit dem Ende des 19. Jahrhunderts immer häufiger die Biologie bemüht, um in der vorgefundenen gesellschaftlichen Ordnung die natürliche Ordnung wiederzuentdecken.

Dieser vermeintlich natürlichen Ordnung zufolge hatte sich das männliche Geschlecht in heroisch anmutenden Individuen zu verwirklichen. Deren natürliche Bestimmung sollte es sein, den Familienhaushalt zu verlassen, um sich im "Kampf ums Dasein", wozu schließlich die soziale Kombination von Leistung und Konkurrenz stilisiert worden war, zu bewähren und zu behaupten. Im Gegensatz dazu wurde das weibliche Geschlecht als Schoß oder auch als Herz der Familie gedacht. Im geborgenen Innenraum des Hauses sollten Frauen Leben gebären und erhalten und einen Hort einrichten für die rein menschlichen Werte. Das Vertrauen in die organisch durch die Frau hindurchwirkende Kraft der lebenspendenden Natur mußte in dieser Basisideologie der bürgerlichen Gesellschaft um so grenzenloser ausfallen, je gewaltiger und unmenschlicher die von heroischen Männern bezwungene Umwelt der Familie vorgestellt wurde.

Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurde diese Ideologie auf allen Ebenen der Kommunikation breit ausgestaltet und variiert. Sie kam ganz offensichtlich dem Bedürfnis nach Interpretation und Gestaltung der modernen Gesellschaft weit entgegen. Sie bekräftigte das von alters her bekannte System der Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern, indem sie es gleichzeitig auf formale Grundelemente reduzierte und damit sozial verallgemeinerte. Die Betonung der Natürlichkeit der Geschlechterordnung machte es überflüssig, der Frage nach der Gerechtigkeit oder Zweckmäßigkeit der Ordnung

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nachzugehen. Die Ideologie katapultierte zudem Frauen mit ihrem häuslichen Innenraum als gleichsam organisches Ensemble mit seinem Zyklus des Werdens und Vergehens aus der Geschichte heraus und schirmte sie auf diese Weise als ruhenden Pol gegen die Dynamik des vom männlichen Geschlecht in Gang gehaltenen gesellschaftlichen Fortschritts ab. Die Ideologie bot durchaus die Möglichkeit, Alltagserfahrungen zu interpretieren und vorauseilenden Wünschen eine Richtung zu geben. Sie enthielt darüber hinaus das Versprechen, durch exklusive Verankerung der Zuständigkeiten entweder beim weiblichen oder beim männlichen Geschlecht die denkbar beste Ergänzung der Leistungen dauerhaft abzusichern. Unüberhörbar war gleichzeitig die Drohung, daß bei einer "widernatürlichen" Grenzüberschreitung das kunstvolle Gesellschaftsarrangement zusammenbrechen würde. Die breite Palette der politischen Bemühungen, in diesem Punkt dem freien Spiel des Marktes zu mißtrauen und Frauen, zumal wenn sie verheiratet waren, daran zu hindern oder zumindest zu behindern, nach eigener Wahl eine Erwerbsarbeit aufzunehmen, fand hierin ihre weitgehend akzeptierte Legitimation.

Im 20. Jahrhundert ist der Glanz dieser Basisideologie verblaßt. Aus vielen Gründen lehnen es junge Frauen immer entschiedener ab, sich ausschließlich oder auch nur vorrangig an zukünftigen Familienaufgaben zu orientieren und sich später allein auf den Dienst an ihrer Familie festlegen zu lassen. Auch für junge Männer ist die ausschließliche Orientierung an einer Berufskarriere nebst Ernährerrolle in der Familie zunehmend suspekt geworden. Doch wie nun die wünschenswerte Vielfalt der Formen des Zusammenarbeitens und Zusammenlebens zwischen Menschen beiderlei Geschlechts für alle erträglich gestaltet und dabei verhindert werden kann, daß Menschen ins gesellschaftliche Abseits geraten, nur weil sie für Menschen, die noch nicht oder nicht mehr aus eigener Kraft ihr Leben bewerkstelligen können, Sorge tragen, ist weiterhin eine offene Frage. Trotz der tiefgreifenden ideologischen, sozialen und wirtschaftlichen Veränderungen im Geschlechterarrangement sind es weiterhin in erster Linie Frauen, die wegen solcher sozialen Aufgaben

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wirtschaftlich und sozial diskriminiert werden. An der in extremer Weise durch Armut gekennzeichneten Lebenssituation von ledigen Müttern, aber häufig auch von geschiedenen oder verwitweten Frauen mit noch unselbständigen Kindern wird die Diskriminierung überdeutlich.

Zum Glück für die Gesellschaft tun sich die Frauen bis heute schwer damit, dem männlich konzipierten Berufsmenschen und Politiker, der im beruflichen Konkurrenzkampf seine Prioritäten selbst gegen die Interessen der ihm nächsten Menschen in der eigenen Familie formulieren und durchsetzen soll, so bedingungslos nachzueifern, wie es Arbeitsmarkt und Berufswelt mit ihrem differenzierten Entlohnungs- und Karriereangebot nahelegen. Noch akzeptieren Frauen ihre Zuständigkeit für familiale Aufgaben, wenngleich sie je einzeln ganz offensichtlich darauf hinarbeiten, über den Zeitpunkt und die Zahl ihrer Schwangerschaften selbst zu entscheiden und die Familienarbeiten mit anderen Erwachsenen zu teilen. Aber eben diese Zuständigkeiten sind es, die Frauen weiterhin nachhaltig daran hindern, ihre Interessen so individuell zu formulieren und durchzusetzen, wie es jenseits des Familienzusammenhangs gesellschaftlich erwartet und honoriert wird.

Dieses nach wie vor offene Problem der Sozialpolitik war schon immer gleichzeitig der neuralgische Punkt einer egalitären Geschlechterpolitik. Denn sobald Frauen sich in demselben Maße wie Männer von den "natürlichen" Familienarbeiten emanzipieren und sich dergestalt freigesetzt als gleichberechtigte Individuen in Gesellschaft und Staat engagieren würden, wäre es um die seit dem 18. Jahrhundert im "natürlichen Beruf der Hausfrau und Mutter" familial verankerten gesellschaftlich notwendigen Leistungen schlecht bestellt gewesen. Eben deshalb wurde wie schon im Prozeß der Französischen Revolution, so auch in der Russischen Revolution das zunächst den weiblichen ebenso wie den männlichen Individuen eingeräumte hohe Maß an Selbstbestimmung schon bald wieder reduziert, um nicht schließlich mit der familialen Basis die Reproduktion der Gesellschaft insgesamt zu gefährden. Aus demselben Grunde wurde in Deutschland

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1919 parallel zum Grundsatz der vollen Gleichberechtigung der Geschlechter auch der Auftrag, die Familie besonders zu schützen, in die neue Verfassung aufgenommen. In der Praxis waren es dann überwiegend die Rechte der Frauen, die um des Schutzes der Familie willen eingeschränkt blieben. Noch das seit 1900 geltende Bürgerliche Gesetzbuch hatte die rechtliche Privilegierung des Ehemannes gegenüber der Ehefrau festgeschrieben. Eine Überarbeitung dieser ehe- und familienrechtlichen Normen gemäß dem Gleichheitsgrundsatz der Verfassung begann erst in den 1950er Jahren. Sie erstreckte sich auch auf sozial- und arbeitsrechtliche Regelungen und beschäftigte den Gesetzgeber in der Bundesrepublik mehr als dreißig Jahre. Im Alltag wurden Frauen - und nicht nur verheiratete Frauen - insbesondere auf dem Arbeitsmarkt und durch die Regelungen der staatlichen Arbeitsmarktpolitik seit dem Ersten Weltkrieg immer erneut damit konfrontiert, daß um der Familie willen der männliche Ernährer der Familie und mit ihm das männliche Geschlecht insgesamt bevorzugt berücksichtigt wurde, wann immer es darum ging, äußerst knappe Erwerbsgelegenheiten zu verteilen und bei der Erwerbslosenfürsorge die Unterstützungsbeiträge nach Bedürftigkeit zuzumessen. Die öffentliche Kampagne gegen die "Doppelverdiener" diente in den Zeiten der Massenarbeitslosigkeit in erster Linie der Verständigung darüber, daß der Anspruch von Männern auf einen Erwerbsarbeitsplatz prinzipiell höherrangig sei als der von Frauen.

Gewiß, die Frau als prinzipiell unmündig zu konzipieren, ist im Europa des 20. Jahrhunderts aus der Mode gekommen. Situationen, in denen die Bevormundung erwachsener Personen weiblichen Geschlechts noch aufscheint, sind rar geworden. Die zum Schütze der Familie jahrhundertelang bewährte Tradition der rechtlichen und sozialen Diskriminierung der unverheirateten Mutter und des außerehelich geborenen Kindes wurde sukzessive überwunden. Deren Leben auch wirtschaftlich abzusichern wird inzwischen als Aufgabe der Sozialpolitik zwar noch nicht gelöst, aber immerhin akzeptiert. Nach jahrzehntelangen massiven, u.a. vom Wahn des nationalen

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Aussterbens inspirierten Abwehrkampagnen sowie gesetzlichen Verboten und Behinderungen werden inzwischen auch die verschiedenen Möglichkeiten einer wirksamen Empfängnisverhütung öffentlich bekannt gemacht. Das ist für Frauen ein gesellschaftspolitischer Fortschritt von weitreichender Bedeutung. Sie können sich nun selbst von der ständigen Furcht vor ungewollter Schwangerschaft befreien und Sexualität genießen.

In einer für die betroffenen Frauen entscheidenden Situation wird jedoch einer prinzipiellen Bevormundung von erwachsenen Frauen immer noch das Wort geredet. Frauen, die schwanger geworden sind, diese Schwangerschaft nicht akzeptieren und sich durch eine Abtreibung aus der als unerträglich erfahrenen Zwangssituation befreien wollen, können dieses Vorhaben bis heute in vielen Ländern nur mit großen Schwierigkeiten realisieren. In der immer wieder mit äußerster Heftigkeit geführten Debatte um eine akzeptable rechtliche Regelung der Abtreibung stoßen im Extrem zwei unversöhnliche Positionen aufeinander. Für das eine Extrem würde sich eine rechtliche Regelung gänzlich erübrigen, weil auch eine schwangere Frau als freie Persönlichkeit ein uneingeschränktes Recht auf Selbstbestimmung hat. Im anderen Extrem wird mit größter Selbstverständlichkeit dafür plädiert, eben dieses Grundrecht auf Selbstbestimmung bei Menschen weiblichen Geschlechts dann zu suspendieren, wenn mit einer Schwangerschaft deren Vermögen, Leben zu produzieren, virulent geworden ist. Konsequente Abtreibungsgegner machen sich zu Anwälten des im befruchteten Ei angelegten Anspruchs auf Leben und halten es für notwendig, diesen Anspruch auch gegen den erklärten Willen der zukünftigen Mutter durchzusetzen. Zwischen diesen Extremen ist Platz für politische Kompromisse.

Im Zusammenhang der hier vorgetragenen Argumentation interessiert die Diskussion um Abtreibung als ein rechts- und gesellschaftspolitisches Problem vor allem deshalb, weil hinter dieser Diskussion der noch immer nicht eingelöste Auftrag durchscheint, die moderne autonome Persönlichkeit auch weiblich zu konzipieren. Nicht

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von ungefähr war es der Kampf um das Recht auf Abtreibung, der in den 1960er und 1970er Jahren zur Neuen Frauenbewegung mobilisierte. Wie prekär es immer noch um die gleichberechtigte soziale Plazierung von Frauen bestellt ist, zeigt sich in der Abtreibungsdebatte überdeutlich. Noch ist es möglich zu fordern, das gelebte und eigenständig gewordene Leben einer schwangeren Frau müsse in jedem Fall zurückstehen hinter dem gerade erst in der Gebärmutter eingenisteten, befruchteten Ei. Die beredten Anwälte des "ungeborenen Lebens" lassen sich nicht beirren von stichhaltigen Nachweisen, daß ungewollt geborene Kinder geringere Chancen haben, ohne größere physische und psychische Schäden erwachsen zu werden, als gewollte Kinder. Sie investieren ihre Energien in ausgefeilte Strafrechtsregelungen, obwohl bekannt ist, daß Strafandrohung ein wirkungsloses Mittel ist, um die Zahl der Abtreibungen zu reduzieren. Die wirtschaftlichen und sozialen Perspektiven, die eine Gesellschaft für das Leben mit noch abhängigen Kindern anzubieten hat, ist ein weitaus wirkungsmächtigerer Faktor für die Entscheidung, ein oder auch mehrere Kinder gebären und aufziehen zu wollen oder nicht. Auf die Ausnahmesituation der Abtreibung konzentriert sich heute nicht von ungefähr die seit dem 18. Jahrhundert allmählich immer weiter zurückgedrängte heftige Gegenwehr gegen eine umfassende Emanzipation des weiblichen Geschlechts. Warum fällt es so schwer, Frauen als autonome weibliche Persönlichkeiten zu konzipieren, in deren Leib die exklusive Möglichkeit, Leben zu gebären, verkörpert ist? Der immer wieder verhandelte Kompromißvorschlag, in definierten Ausnahmefällen eine Abtreibung zuzulassen unter der Voraussetzung, daß dann nicht allein die schwangere Frau, sondern als Experte eine Ärztin oder ein Arzt über die Abtreibung entscheidet bzw. mitentscheidet, verleiht dem tiefverwurzelten Mißtrauen gegen weibliche Autonomie deutlichen Ausdruck.

Noch immer macht es große Schwierigkeiten, diejenigen gesellschaftlichen Belange, die speziell den Lebenszusammenhang von Frauen prägen, politisch nachhaltig zur Geltung zu bringen. Als im 19. Jahrhundert das moderne politische System mit Wahlrecht, Parlament,

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verantwortlicher Regierung und Bürokratie ausgebaut wurde, war dieses ein ausschließlich für Männer reservierter Bereich. Frauen blieb noch jahrzehntelang das Recht auf institutionell anerkannte politische Partizipation vorenthalten. Sie sollten ihre Aktivitäten auf die Familie konzentrieren. Als Frauen im 20. Jahrhundert schließlich offiziell auf der politischen Bühne agieren konnten, mußten sie als Spätgekommene zunächst einmal damit beginnen, gegenüber der Männerpolitik überhaupt erst einen sicheren, angesehenen und einflußreichen Platz für sich durchzusetzen. Das war schwierig genug. Darüber hinaus auch noch die bewährte Hierarchie der politisch respektablen Themen und Inhalte infragezustellen, dafür hat das Durchsetzungsvermögen bisher nicht ausgereicht. Gewiß, es wurde ein Regierungsressort für Familie und Frauen eingerichtet und das Ministeramt mit einer Frau besetzt. Die ehrwürdige Hierarchie dessen, was politische Relevanz beanspruchen kann, aber sorgt bis heute wie selbstverständlich noch weiterhin dafür, daß Ressort und Ministerin am Rande der wirklich als wichtig erachteten Politik angesiedelt bleiben. In der Öffentlichkeit das Private anzusiedeln, einer Politik der Männer die Frauenpolitik gleichberechtigt zu integrieren, neben der Entfaltung der männlichen Individuen auch die der weiblichen zu fördern und dennoch menschliches Leben auch in Zukunft nicht zu gefährden, das sind gesellschaftliche Aufgaben, die noch immer einer befriedigenden Lösung harren.

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