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Die zweifache Vergangenheit : zum Vergleich politischer Systeme ; Vortrag vor dem Gesprächskreis Geschichte der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn am 11. Juni 1992 / Eberhard Jäckel. - [Electronic ed.]. - Bonn, 1992. - 20 S. = 42 Kb, Text . - (Gesprächskreis Geschichte ; 2). - ISBN 3-86077-086-1
Electronic ed.: Bonn: FES Library, 1999

© Friedrich-Ebert-Stiftung


INHALT





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Vorbemerkung des Herausgebers

Immer wieder hat sich gezeigt, daß die nationalsozialistische Vergangenheit beharrlich in unsere Gegenwart hineinwirkt. Nun, im vereinten Deutschland, stehen wir vor dem doppelten Problem, uns einer zweifachen Vergangenheit vergewissern zu müssen.

Nationalsozialistische Diktatur einerseits, Stalinismus und SED-Diktatur andererseits, die in einem zeitlich verschränkten und versetzten Wechselverhältnis standen, werden uns in den nächsten Jahren in historischer, politischer, juristischer und mentaler Hinsicht dauerhaft beschäftigen. Dabei wird es immer wieder um die Interdependenz der politisch-gesellschaftlichen Systeme und Prozesse gehen, um Schwierigkeiten der analytischen Erfassung und kollektiven wie individuellen Bewältigung. Wie lassen sich beide Systeme - oder gar drei: Nationalsozialismus, Stalinismus und poststalinistischer "Realsozialismus" - miteinander vergleichen, nicht im Sinne von gleichsetzen oder gar aufrechnen und bagatellisieren, sondern im Sinne der sorgfältigen, strukturelle Übereinstimmungen und Unterschiede gleichermaßen herausarbeitenden Komparatistik, wie sie einfach zur Methodik des Historikers gehört? Ob dazu die lange eher verpönte Totalitarismus-Theorie hinreichende Interpretationsansätze bietet, wird die weitere Forschung erweisen. Zunächst einmal - jedenfalls aus der Perspektive der jeweiligen Opfer - hat sie an Überzeugungskraft gewonnen.

Manche Probleme des sogenannten Historikerstreits aus der Mitte der 80er Jahre werden wieder aufzugreifen sein, hoffentlich aber, ohne die Emotionen in demselben Maße anzustacheln und Gräben auszuheben wie seinerzeit. Leichter ist ihre Bewältigung gewiß nicht geworden. Zu groß sind die konkreten Auswirkungen auf die einzelnen Betroffenen, bis hin zu Arbeitsplatz-, Eigentums-, Entschädigungs- und Wiedergutmachungsforderungen. Da erhebt sich die Frage, ob wir für die Lösung unserer heutigen Probleme aus den Schwierigkeiten lernen können, die wir Deutsche hatten, als es nach

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1945 darum ging, die NS-Vergangenheit zu bewältigen. Und wie können wir verhindern, daß die eine gegen die andere Vergangenheit instrumentalisiert und ausgespielt wird?

Schließlich - bleibt nach dem Untergang des Staatssozialismus etwas von den utopisch-humanitären Motiven, die bei der Entstehung des - heute begrifflich völlig desavouierten - Sozialismus im 19. Jahrhundert eine so wesentliche Rolle gespielt haben? Oder anders gewendet: Macht der Triumph des Kapitalismus, der noch lange nicht das Ende der Geschichte bedeutet, nicht erst recht eine weitere Fortentwicklung der Demokratie zur umfassend verstandenen sozialen Demokratie nötig?

Mit diesen und weiteren Themenkomplexen werden wir uns in den nächsten Jahren im Gesprächskreis Geschichte der Friedrich-Ebert-Stiftung wiederholt befassen. Wir haben es daher sehr begrüßt, daß Herr Prof. Dr. Eberhard Jäckel von der Universität Stuttgart sich bereitgefunden hat, auf der Basis seiner ausgedehnten Forschungen zum Nationalsozialismus unter dem Titel "Die doppelte Vergangenheit" einem großen Auditorium einen ersten breiten Überblick über die Probleme des Systemvergleichs zu vermitteln. Damit hat er eine gute Grundlage für weitere, speziellere Diskussionen gelegt. Einem vielfach geäußerten Wunsch folgend, stellen wir hiermit den Vortragstext in einer Druckfassung vor, die auf dem Manuskript und einer Tonbandnachschrift beruht.

Dr. Dieter Dowe
Stellv. Leiter des Forschungsinstituts


Bonn, im Juli 1992



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Eberhard Jäckel:
Die zweifache Vergangenheit - Zum Vergleich politischer Systeme


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Indem wir uns dem Ende des Jahrhunderts und sogar eines Jahrtausends nahem, erreichen wir höchstwahrscheinlich nicht das Ende der Geschichte, wie es der amerikanische Geschichtsdeuter Francis Fukuyama mit der Titel-These seines Bestsellers "Das Ende der Geschichte" behauptet. Aber in einem - in seiner Kernaussage eigentlich - hat er sicher recht: Die liberale Demokratie hat am Ende des Jahrhunderts einen überwältigenden Sieg errungen.

Nachdem die beiden führenden Faschismen, der italienische und der deutsche mitsamt ihren Vor- und Nachläufern, 1945 besiegt worden waren (außer den iberischen und ein paar lateinamerikanischen, die sich noch eine Zeitlang hielten), ist nun um 1990 auch die Sowjet-Diktatur mitsamt praktisch allen ihren Satelliten zusammengebrochen.

Damit dürfte die Geschichte, wie gesagt, ihr Ende wohl nicht erreichen. Eher könnte man sagen, sie kehre nach gewaltigen Abwegen und Umwegen, nach sozusagen außergewöhnlichen Springfluten, in ihren normalen Lauf zurück. In mancher Hinsicht scheint es, als stehe die Welt am Ende des Jahrhunderts wieder da, wo sie an seinem Anfang stand.

Mit welcher Zuversicht war das Jahrhundert 1900 begrüßt worden! Der Fortschritt erschien sicher und unaufhaltsam, nicht nur der der Technik und der Wissenschaft, sondern auch der von Freiheit und Demokratie. In den großen und vielen kleinen Ländern des Westens war er bereits erreicht; Deutschland schien auf dem Wege dazu - die

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Parlamentarisierung des Rechtsstaates war eigentlich nur eine Frage der Zeit -, und sogar in Rußland gab es damals Reformen, die um 1905 eindeutig auf eine Liberalisierung hinausliefen. (Wenn man, nebenbei gesagt, die russische Geschichte dieses Jahrhunderts ansieht, dann muß man sagen, daß die freiesten Jahre in Rußland diejenigen zwischen 1905 und 1914 gewesen sind.)

Dann kam der Erste Weltkrieg, und er erwies sich als die große Urkatastrophe des Jahrhunderts, wie George F. Kennan einmal sagte, "the great seminal catastrophe of this Century". Der Leninismus und der Stalinismus, der Faschismus in vielen Ländern und der Hitlerismus, schließlich der Zweite Weltkrieg - sie alle sind aus diesem Krieg hervorgegangen, sind ohne ihn nicht denkbar.

Natürlich wissen wir nicht, wie die Welt aussähe, wenn der Krieg nicht stattgefunden hätte. Es ist aber eine Tatsache, daß wir in vielen Teilen Europas, was die Menschenrechte und die Demokratie, übrigens auch die Reisefreiheit angeht, heute ungefähr auf dem Status von 1900 stehen: 1900 konnte man ohne Visum von Bordeaux nach St. Petersburg reisen, und jetzt zum erstenmal seit dieser Zeit kann man es eigentlich wieder. Wir stehen in mancher Hinsicht auf dem Status von 1900; man könnte sagen: glücklicherweise wieder oder leider immer noch.

Indem ich mit Kennan dem Ersten Weltkrieg die Funktion der Urkatastrophe zuweise, widerspreche ich der These von Ernst Nolte, die dem Bolschewismus diese Funktion zuschreibt. Dabei bin ich mir natürlich bewußt, daß etwas zum verursachenden Ursprung zu erheben in der Geschichte ungefähr so riskant ist wie in der Philosophie die Frage, was denn zuerst da gewesen sei, das Huhn oder das Ei.

Und doch: Sosehr der Bolschewismus auf gewisse Philosophien in der europäischen und vor allem deutschen Geistesgeschichte zurückgeführt werden kann und natürlich auf sozial-ökonomische Bedin

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gungen im Zarismus, sein Sieg in Rußland war offensichtlich eine Folge des Krieges. So wie auf den Krieg von 1904 die Revolution von 1905 gefolgt war, so folgten auf den von 1914 die beiden Revolutionen von 1917, erst die demokratische vom Februar und dann die bolschewistische vom Oktober.

Eine schwierigere Frage ist es, ob der Faschismus (ich spreche zunächst nur von dem italienischen Faschismus, der 1922 an die Macht kam) gleichfalls seinen Ursprung im Ersten Weltkrieg hatte oder nicht vielmehr eine Reaktion auf den Bolschewismus war. Sowohl für die eine wie für die andere Erklärung kann man mancherlei Belege anführen.

Das gilt auch für den Hitlerismus, der 1933 in Deutschland an die Macht kam. Man kann ihn als Folge des Ersten Weltkrieges auffassen (daß Versailles der Ursprung war, das war lange die klassische Erklärung), und man kann ihn vielleicht und zumal seinen Erfolg auch verstehen als Folge von Angst vor dem Bolschewismus und der entsprechenden Abwehrreaktion. 'Versailles' und 'Moskau', hat einmal einer gesagt, das seien die beiden verursachenden Schlagworte gewesen.

Ich selbst habe (in meinem Buch "Hitlers Herrschaft") eine Erklärung vorgetragen, in der der antibolschewistischen Reaktion nur ein sehr geringes Gewicht beigemessen wird. Ich sehe die Verursachung in einer Koinzidenz, in einem zufälligen Zusammentreffen von drei Faktoren: langfristige innere Faktoren (in der deutschen Geschichte, im deutschen Klassenkampf) einerseits, kurzfristige äußere Einwirkungen, nämlich im Ersten Weltkrieg, andererseits und drittens menschliches Versagen einiger Politiker wie Papen und Hugenberg.

Doch wie auch immer, wenn der Bolschewismus aus dem Ersten Weltkrieg hervorging, dann ging natürlich der Faschismus, selbst dann, wenn man ihn auf den Bolschewismus zurückführt, mindestens

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mittelbar aus diesem Krieg hervor. Ich bleibe also bei meiner ersten Aussage, der Erste Weltkrieg sei die Urkatastrophe des Jahrhunderts gewesen.

Zur Nolteschcn These ist noch zu sagen, daß sie, ausgesprochen oder unausgesprochen, den Versuch einer Rechtfertigung enthält. Wenn der Nationalsozialismus eine Antwort auf den Bolschewismus war, dann war nach Noltes vielzitierten und vielgescholtenen - auch von mir gescholtenen - Worten der GULag ursprünglicher als Auschwitz und der Mord an den Juden eine "'asiatische' Tat". Wenn das als Rechtfertigung dienen soll, dann kann es auch mit schlichteren Methoden als denen der Wissenschaft widerlegt werden. Niemand, und das gilt auch für Völker, kann seiner Verantwortung dadurch entgehen, daß er behauptet, er habe Vorbilder nachgeahmt oder gewissermaßen nur einen Präventivmord begangen.

Was auch immer die Ursachen gewesen sein mögen, vollständig unbestreitbar ist die Tatsache, daß die beiden Regime sich gegenseitig vielfach bedingt haben. Nichts wohl hat Hitler vom Anfang bis zum Ende in Deutschland und außerhalb Deutschlands bei seinen Wählern, aber auch bei einem großen Teil der europäischen und der Weltöffentlichkeit, sowohl in den 30er Jahren wie im Krieg, mehr Zustimmung verschafft als sein Antikommunismus ("wenigstens ist er antikommunistisch"), und nichts wohl hat Stalin und seinem Regime mehr Kredit eingebracht als sein Antifaschismus, oder auf das System bezogen: als der heldenhafte (ich wähle das Wort mit Absicht) Kampf erst der Kommunisten und dann der Sowjetmenschen gegen den Nazismus.

Nichts aber hat auch die Erkenntnis, die Kategorisierung und den Vergleich der beiden Systeme mehr verunsichert, zumal bei den Intellektuellen. Einerseits haben einige von ihnen dem Faschismus aus Antikommunismus mehr nachgesehen, als nachträglich gerechtfertigt erscheint. Andererseits und viel wichtiger aber haben weit mehr und

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weit bessere Geister, große Teile der linken Elite in der ganzen Welt, dem Kommunismus vor allem deswegen angehangen oder zugeneigt, weil er antifaschistisch war. Ich komme auf die Frage des kategorisierenden Vergleichs politischer Systeme noch einmal zurück.

Was zunächst die deutsche Geschichte und also unsere zweifache Vergangenheit angeht, so lassen sich hier wieder mehr oder weniger unbestreitbare Ursachenlinien ziehen. Daß Hitlers Erfolg tatsächlich ursächlich auf den Bolschewismus zurückzuführen ist, das ist nicht unbestreitbar, wie ich schon gesagt habe; das mag auch andere Gründe gehabt haben. Daß aber der Bolschewismus 1945 auf deutschem Boden einen Staat errichtete, das ist ganz unbestreitbar ohne Hitler nicht denkbar.

Die DDR war eine von außen, von der siegreichen Sowjetunion auferlegte Herrschaft, und was sie an inneren Stützen bekam im Laufe der Zeit, nährte sich neben der Dankbarkeit einiger dafür, daß sie durch die Sowjetunion von der Naziherrschaft befreit worden waren, weithin aus dem Antifaschismus. Er war sozusagen, seit es Wahlen nicht mehr gab, die einzige Legitimation dieses Regimes, und deswegen mußte der Gegenstaat, die Bundesrepublik, ständig als faschistisch denunziert werden.

Ohne Hitler keine DDR - das ist eine These von fast unwiderleglicher Beweiskraft. Ohne Stalin (oder Lenin) kein Hitler - diese These ist viel weniger beweiskräftig.

Es ist nun einmal ein durch nichts hinwegzudisputierender Unterschied in unserer zweifachen Vergangenheit, daß der Nazismus in Deutschland an die Macht kam, daß die SED-Diktatur aber von außen, von einer Besatzungsmacht, auferlegt wurde. Die DDR war und blieb ein von der Bevölkerung weithin nicht akzeptiertes Okkupationsregime und brach deswegen mit dem Regime des Okkupanten zusammen, während die westliche Bundesrepublik, obwohl sie ja auch

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aus einem Okkupationsregime hervorgegangen war, fortbestand und ihre Ordnung, die Ordnung des Grundgesetzes, zur Ordnung des wiedervereinigten Deutschland wurde.

Der zweite Unterschied zum Nazismus liegt in den Taten begründet (und ich wiederhole es ungern, weil es so banal ist): Die DDR führte keine Angriffskriege und beging keine Völkermorde. Und insofern das das wesentliche Charakteristikum des Hitlerstaates war, ist es ein wesentlicher Unterschied zu dem DDR-Staat.

Dies sind Gründe genug, die beiden Regime - wie ich immer wieder sage - zwar ständig zu vergleichen, sie aber nicht gleichzusetzen. Wir haben mit unserer Sprache ja schon Schwierigkeiten, diesen Unterschied zwischen "vergleichen" und "gleichsetzen" klarzumachen, indem wir vielfach, wenn wir "gleichsetzen" meinen, sagen: "Aber dies kann man doch miteinander nicht vergleichen! Äpfel und Birnen kann man doch nicht miteinander vergleichen!" Natürlich kann man sie miteinander vergleichen. Und dann stellt man Gemeinsamkeiten fest: Beide sind Obst. Und man stellt Unterschiede fest: Sie haben verschiedenes Aussehen und einen verschiedenen Geschmack. Das ist eigentlich ganz einfach.

Was die beiden Regime anbelangt, so haben einfachere Gemüter sie seit jeher gleichgesetzt, von Anfang an (nach 1945 gab es in Deutschland einen Gesang, der lautete: "Herrgott, gib uns das Fünfte Reich! Das Vierte ist dem Dritten gleich."), und die Verkünder der Totalitarismustheorie haben dieser Gleichsetzungstendenz die wissenschaftlichen Argumente geliefert. Differenziertere Geister, zumal auf der Linken, haben die Unterschiede meist sehr stark hervorgehoben, und diese Tendenz, die Unterschiede hervorzuheben, hatte merkwürdigerweise in den letzten Jahren der DDR noch stark zugenommen, und jetzt entdeckt man viele, die damals die Unterschiede sehr betonten, nun aber sagen: "Eigentlich müssen wir die beiden Regime doch gleichsetzen."

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Es scheint mir, daß dem zu widersprechen sowohl historisch wie politisch von großer Bedeutung ist. Unsere zweifache Vergangenheit ist und bleibt eine verschiedene, und dies müßte dann auch Auswirkungen haben auf die praktische Bewältigung. Wenn die DDR ein Okkupationsregime war, das gegen den Widerstand einer Weltmacht, solange sie eine war, nicht abgeschüttelt werden konnte, dann sind seine Helfer eher als Kollaborateure anzusehen, während unter dem Naziregime, das eine hausgemachte Diktatur war, mehr von zu verantwortenden Verstößen gegen die Rechtsordnung die Rede sein mußte.

Aber wir setzen in vielem - unausgesprochen oder ausgesprochen - die beiden Regime doch gleich, führen sie im Grunde auf das Versagen der Bevölkerungen zurück. Ein Argument, das man immer wieder (jedenfalls mit Halbtönen) hört, ist: "Wie konnten die Menschen in der DDR dieses Regime entweder hervorbringen oder doch so lange tolerieren?" Und wir fragen - vielfach jedenfalls - wie bei der Entnazifizierung nicht, was einer getan hat, sondern was er war. War er Mitglied der NSDAP oder irgendeiner anderen NS-Organisation, dann war er nicht tragbar (wenn auch nur für verhältnismäßig kurze Zeit), und ebenso fragen wir auch: "War er IM des MfS, oder war er es nicht?" Wir sollten eigentlich fragen, was jemand in dieser Funktion getan hat.

Aber ich will diese praktischen Fragen nicht zu weit ausdehnen; man könnte sie auf vieles andere noch erweitern, praktische Folgerungen ziehen aus dem fundamentalen Unterschied der beiden Regime unserer Geschichte im 20. Jahrhundert.

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Ich komme aber nun zu der anderen Frage, der ich nachgehen wollte, nämlich dem Vergleich politischer Systeme. Wie kann und wie soll

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man sie unterscheiden? Da so viele und oft so gebildete Geister dabei Fehler gemacht haben, indem sie die Natur beider politischer Regime, die wir hatten, verkannt haben, muß es eigentlich an anwendbaren Kategorien gemangelt haben, und vielleicht kann man sie jetzt im Rückblick auf unsere zweifache Vergangenheit gewinnen. Man wird sie ja auch immer wieder brauchen.

Ich will dazu folgende, zunächst wieder wenigstens teilweise historische Differenzierungen, aus der Geschichte abgeleitete, mögliche Kategorisierungen vortragen:

Das erste und entscheidende Unterscheidungsmerkmal politischer Systeme liefern die Menschenrechte. Sie standen auch am Anfang der neueren westlichen Verfassungsgeschichte. Sowohl die amerikanische wie die französische Revolution des 18. Jahrhunderts begannen mit entsprechenden Erklärungen der Menschen- und Bürgerrechte. Und das ist in der Tat das Grundmerkmal, von dem man sich durch keinerlei andere Erwägung abbringen lassen sollte: Wo die Menschenrechte geachtet werden, ist Freiheit. Wo sie mißachtet werden, ist Unfreiheit und meistens Diktatur. Insoweit übrigens sind die beiden Regime unserer zweifachen Vergangenheit gleich, wenn auch in sehr unterschiedlicher Intensität und Quantität. Die Menschenrechtsverletzungen des Nazi-Regimes waren unendlich viel tiefer und härter als die des DDR-Regimes.

Historisch folgte auf die Menschenrechte und die Freiheit die Gleichheit, freilich zunächst sehr stark eingeschränkt. Ungeachtet ihrer Devise "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" verwirklichte die Französische Revolution zunächst nur die Gleichheit vor dem Gesetz. Das Wahlrecht
z. B., das politische Mitbestimmungsrecht, war nicht gleich, sondern begünstigte die Wohlhabenden. Während zu Anfang, 1789, unter der Monarchie die Generalstände nach fast allgemeinem und gleichem Wahlrecht gewählt worden waren, führte dann die im Namen von Freiheit und Gleichheit siegreiche Bourgeoisie das un

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gleiche Wahlrecht ein, das Zensuswahlrecht, das zum erstenmal in der Verfassung von 1791 verankert wurde. Dieses Zensuswahlrecht ist dann von vielen anderen Ländern übernommen worden und hat etwa in Preußen als Dreiklassenwahlrecht bis 1918 gegolten. Dieses System der Bourgeoisie, die durch das eingeschränkte Zensuswahlrecht die politische Mitbestimmung für sich selbst reservierte, nennt man Liberalismus.

Doch bald schon erhob sich die Forderung, das Wahlrecht allen zu geben, vorerst freilich nur den Männern. Dieses System des allgemeinen und gleichen Wahlrechts nannte man, im Unterschied zum Liberalismus, Demokratie. Das Wort hat sich heute so durchgesetzt, daß die Unterschiede zwischen Liberalismus und Demokratie nur noch historische Bedeutung haben. Im 19. Jahrhundert jedoch war der Unterschied ganz klar und die Demokratie eine ungeheure Herausforderung der neuen Ordnung. Daß alle einmal mit dem gleichen Recht abstimmen könnten, wählen könnten, erschien vielen als der Untergang des Staates. "Gegen Demokraten helfen nur Soldaten": Der Ausspruch war Ernst, blutiger Ernst. Und als ein einziges Mal auf deutschem Boden eine demokratische Revolution erfolgreich war, ich meine die badische vom Mai 1849, da rückten preußische Interventionstruppen an und unterdrückten diese demokratische Revolution mit Waffengewalt.

Es folgte eine dritte grundlegende Bewegung, und sie ging davon aus, daß die Gleichheit noch auf weitere Bereiche des Lebens ausgedehnt werden müsse, vor allem auf die Gleichheit der Chancen. In der jakobinischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1793 steht, wovon in der bürgerlichen von 1791 noch kein Wort stand, die Gesellschaft, das heißt der Staat, müsse allen Bürgern den Schulunterricht ermöglichen, also finanzieren. Die Vorstellung des Liberalismus war, daß jeder sich so viel Bildung beschaffen könne, wie er wolle, allerdings koste sie Geld. Dies war der neue Gedanke.

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Dieses neue System (nicht nur auf Bildung, sondern auch auf andere Lebenschancen bezogen) nannte man in Deutschland und auch anderswo im 19. Jahrhundert Social-Demokratie, anfangs mit c und mit Bindestrich geschrieben. Und dies wurde das politische System der Arbeiterbewegung.

Mit diesen drei Axiomen der Menschenrechte, der Demokratie und des Sozialismus in diesem ursprünglichen Sinne - Gleichheit, auf den sozialen Bereich bezogen - sind die Kriterien der Vergleiche politischer Systeme genannt. Mehr braucht man nicht. Von entscheidender Bedeutung ist jedoch der Zusatz, daß sie sich gegenseitig bedingen, daß sie eine Rangfolge darstellen und daß sie nicht voneinander getrennt werden können.

Das erste Kriterium sind die Menschenrechte. Sie können auch in einer Demokratie mißachtet werden, und insofern hat der Rechtsstaat einen noch höheren Rang als die Demokratie.

Viel entscheidender aber, zumal für unser Jahrhundert, ist, daß auch Demokratie und Sozialismus einander bedingen und eine Rangfolge darstellen. Demokratie ohne Sozialismus (Sozialismus immer verstanden als "mehr Gleichheit schaffen, auf möglichst vielen Gebieten mehr Gleichheit schaffen"), Demokratie ohne Sozialismus ist also immer noch Demokratie, Sozialismus ohne Demokratie aber ist Diktatur und hat sich übrigens immer, auch theoretisch, selbst so verstanden: Diktatur des Proletariats.

Es ist die Tragödie der Arbeiterbewegung, daß ein Teil von ihr dies verkannte und Sozialismus unter Verzicht auf Demokratie, auf dem Wege einer vielleicht nur zeitweilig gedachten "Diktatur des Proletariats" anstrebte. (Es ist dann immer gleich die Diktatur einer Nomenklatura daraus geworden, denn das Proletariat als solches kann natürlich gar keine Diktatur ausüben.)

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Der Gegensatz zwischen diesen beiden (Demokratie und Sozialismus) geht übrigens auf die Anfänge der Arbeiterbewegung zurück. Wie viele andere Intellektuelle im 19. Jahrhundert, in dem man sich nach den Erschütterungen der napoleonischen Zeit auf diesem Gebiet der Rechte verhältnismäßig sicher fühlte, hatte auch Marx wenig Sinn für demokratische Grundrechte als zentrale Forderung. Seine Aufmerksamkeit war immer auf etwas ganz anderes gerichtet. Als sich die deutsche Arbeiterpartei 1875 in Gotha ein Programm gab und darin demokratische Grundlagen des Staates forderte, mokierte sich Marx von London aus (in seiner berühmten "Kritik des Gothaer Programms") über die "Litanei", wie er sagte, vom allgemeinen Wahlrecht und nannte diese Programmpunkte "jene schönen Sächelchen". Bebel und seine Genossen dachten anders darüber. Für sie hatte Demokratie eine zentralere Bedeutung. Sie waren nicht bereit, den Sozialismus von der Demokratie zu lösen. Sie waren und blieben im wörtlichen Sinne Sozial-Demokraten.

Die Kontroverse wurde im sogenannten Revisionismusstreit erneut ausgetragen und führte dann unter den Bedingungen des Ersten Weltkrieges schließlich zur Spaltung der Arbeiterbewegung, übrigens in fast allen Ländern, keineswegs nur in Deutschland.

Den Sozialismus auf dem Wege einer zeitweiligen Diktatur des Proletariats verwirklichen zu wollen, das war sozusagen die große Urkatastrophe der Arbeiterbewegung, so wie der Erste Weltkrieg die Urkatastrophe des Jahrhunderts war.

Sozialismus ohne Demokratie verwirklichen zu wollen heißt und hieß ganz bewußt immer die Menschenrechte mißachten. Es ist die Ehre der Mehrheit der deutschen Sozialdemokraten, daß sie dies niemals angestrebt hat, weder nach dem Ersten noch nach dem Zweiten Weltkrieg, sondern sich widersetzt hat, als die Trennung von Sozialismus und Demokratie von den Kommunisten mit Gewalt durchge

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setzt wurde, einmal nach dem Ersten Weltkrieg mit revolutionärer Gewalt und das zweite Mal nach 1945 mit militärischer Gewalt.

Das heißt aber nicht, daß Sozialismus (also: mehr Gleichheit) eine schlechte Idee war oder ist. Es heißt lediglich, daß Sozialismus nur in Verbindung mit Demokratie die Menschenrechte wahrt.

In vielerlei Hinsicht ist übrigens die Demokratie in unserem Lande und vielen anderen Ländern längst auf dem Wege in den so verstandenen Sozialismus. Viele Ungleichheiten sind im Laufe der Zeit beseitigt worden. Wenn man sich vorstellt, wieviel ungleicher diese Gesellschaft in ihren materiellen, aber auch in anderen Ausprägungen noch in der Weimarer Republik war, dann sieht man diesen Unterschied: Die allgemeine Schulbildung ist verwirklicht. Versicherungen, Sozialversicherungen der verschiedensten Art, gleichen die sozialen Unterschiede wenigstens teilweise aus.

Das ist sogar so sehr der Fall, daß Ralf Dahrendorf wiederholt die These vorgetragen hat, die Sozialdemokratie habe sich selbst überlebt, weil sie ihre Ziele erreicht habe. Daher stünden wir, so behauptete er schon 1983, "am Ende des sozialdemokratischen Jahrhunderts", denn wir seien "(fast) alle Sozialdemokraten" geworden, indem wir die wichtigsten Vorstellungen wie Gleichheit und Internationalismus in uns aufgenommen hätten.

Das ist eine bemerkenswerte Variante der These von Fukuyama. Er spricht vom Ende der Geschichte, weil die liberale Demokratie sich durchgesetzt habe, Dahrendorf etwas bescheidener vom Ende der Sozialdemokratie, weil deren Forderungen allgemeine Anerkennung erlangt hätten. Aber diese These ist mit großer Wahrscheinlichkeit ebenso falsch wie diejenige von Fukuyama.

Die Demokratie als Parteienstaat ist derzeit bei uns in einer Krise, vielleicht sogar in einer tiefen Krise, und es ist sicher gut, sie als

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ständigen Prozeß zu denken, der alsbald scheitert, wenn er einmal als beendet angesehen wird. Es kann in diesem Sinne kein Ende geben.

Und das gilt noch mehr vom Sozialismus. Ich verwende das Wort bewußt, und ich denke, wir sollten das Wort nicht meiden, weil es von anderen mißbraucht worden ist. Es bezeichnet historisch, und es kann wieder bezeichnen die unentbehrliche Erweiterung der Demokratie in Richtung auf erweiterte Gleichheit. Und indem hier noch viel größere Defizite vorliegen als im Bereich der Freiheit, ist es aktuell und kann sogar die Vision der Politik im 21. Jahrhundert andeuten.

Es geht dabei keineswegs nur um materielle Gleichheit, die ohnehin vollständig nicht erreichbar ist. Es geht mehr um die Verwirklichung der rechtlichen Gleichheit etwa, die wirkliche Gleichstellung von Frau und Mann, und es geht vor allem um die Gleichheit der Chancen, um die Gleichheit der Würde des Menschen.

Arbeitslosigkeit ist kein materielles Problem allein, das man mit Geld lösen kann. Es ist auch ein Problem der Würde des Menschen. Ich glaube, wir übersehen das vielfach in unserer Diskussion; auch bezogen auf die neuen Bundesländer, scheint mir, daß Lösungsmöglichkeiten für verschiedene Probleme instinktiv hauptsächlich als finanzielle Probleme angesehen werden, aber das sind sie nicht allein. Warum eigentlich bietet man den Unternehmern nicht an, Arbeitslose zu einem Teillohn einzustellen, und gleicht die Differenz durch das Arbeitslosengeld aus, das man ohnehin bezahlen muß? Wenn sich solche Unternehmer fänden, fühlten sich die Arbeitslosen weniger entwürdigt, es würde ihnen ihre Würde zum Teil zurückgegeben, und vielleicht diente es sogar dem wirtschaftlichen Aufschwung.

Ich bin kein Spezialist auf diesem Gebiet. Ich habe mich mit anderen über diesen Vorschlag beraten. Ich meine ihn eigentlich mehr beispielhaft dafür, daß wir diese Probleme unter dem Gesichtspunkt

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von Gleichheit und von Würde und nicht allein von Finanzen ansehen sollten.

Ein anderes Beispiel: Es genügt nicht, daß alle Menschen lesen und schreiben können. In Wahrheit machen sie davon immer noch höchst ungleichen Gebrauch. Es gibt noch immer eine Hochliteratur für die Minderheit und eine Trivialliteratur für die Mehrheit, man könnte auch sagen: für die Oberschicht und die Unterschicht. Und was für die Literatur gilt, gilt in gleicher Weise für sehr viele andere Bereiche des Lebens, für die Presse, die Musik, das gilt für die Küche, für den Geschmack schlechthin. Überall gibt es noch immer Unterschiede im Niveau.

Diese Niveauunterschiede auszugleichen, nicht indem man das Niveau senkt, sondern indem man das höhere Niveau möglichst vielen und schließlich allen zuteil werden läßt, nicht aufoktroyiert, ihnen die Chancen dazu eröffnet, das, scheint mir, ist die Zukunftsaufgabe des Sozialismus. Lassen wir uns nicht von den Einwänden beirren, dies sei unmöglich, niemals könne man diese Niveauunterschiede beseitigen, das sei nicht einmal erwünscht, die meisten Menschen seien mit dem, was sie hätten, ganz zufrieden usw. Das sind alles Argumente der Konservativen, und sie sind z. B. gegen die allgemeine Schulbildung im 19. Jahrhundert genauso vorgetragen worden. Das sei gar nicht erwünscht; das sei auch nicht nötig, daß alle Leute lesen und schreiben könnten. Das sei doch zu schwierig für viele. Sie wollten das auch gar nicht, sie seien ohne dies viel glücklicher usw. - Wir haben diese Argumentationen vergessen. Ich empfehle - das ist es, was der Historiker gelegentlich in öffentlichen Äußerungen machen kann -, uns das in Erinnerung zu rufen, um dem Argument, das wir jetzt wieder hören werden, einen Teil seiner Glaubwürdigkeit zu nehmen.

Es ist die Vision des Sozialismus, daß nicht nur, was weithin erreicht ist, die Klassen- und Abstammungsunterschiede aufgehoben

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werden, sondern am Ende auch diejenigen von Bildung und Kultur. Hier besteht eine wechselseitige Bedingtheit zur Demokratie. So wie Sozialismus ohne Demokratie menschenunwürdig ist, so ist Demokratie auf die Dauer ohne Sozialismus nicht überlebensfähig. Denn wenn alle mitbestimmen sollen, müssen sie alle dazu qualifiziert sein.

Es ist auch zu bedenken, daß die Erwerbsarbeit, die wöchentliche und die Lebensarbeit, immer weniger Zeit erfordert und daß damit die Mehrheit erstmals in den Genuß von etwas gerät, das immer die Voraussetzung von Kultur, aber nur in der Reichweite einer Minderheit, war, nämlich Muße. Diese neue Muße nicht zum sinnlosen Zeitvertreib verkommen zu lassen, sondern zu sinnvoller Kultivierung zu benutzen, dazu aufzufordern, dazu Anleitung zu geben, das sind die neuen Aufgaben. So wie die Beseitigung des Analphabetismus im engeren Sinne im 19. Jahrhundert nicht nur viele Menschen befreit, sondern auch Begabungen freigesetzt hat, die sonst gar nicht die Möglichkeit gehabt hätten, sich zu verwirklichen, und damit Fortschritt bewirkt hat, so wird und soll die Beseitigung des kulturellen Analphabetismus im 21. Jahrhundert zu weiterer Befreiung von mehr Menschen führen - und damit zu mehr Gleichheit.

Vielleicht kann man die Geschichte so sehen - kommen wir damit zum Schluß -, daß das 19. Jahrhundert, großzügig gerechnet von 1776 oder 1789 bis 1914, eine große Zeit der Selbstbefreiung des Menschen war, und daß dann von 1914 oder 1917 bis 1945 und in einigen Teilen der Welt bis 1990 eine Zeit folgte, in der die Menschheit sich auf eine bis dahin unvorstellbare Weise selbst zerfleischte, den Fortschritt weithin blockierte, und daß nun für das 21. Jahrhundert die Fortsetzung der Selbstbefreiung des Menschen auf der Tagesordnung der Politik stehen sollte.

Gewiß kommen andere Aufgaben, von denen ich nicht gesprochen habe, hinzu oder sind sogar vorrangig: Umweltschutz und Weltfriedensordnung. Ich habe nur aus historischer Perspektive, weil ich die

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Dinge historisch ableiten wollte: einerseits über die zweifache Vergangenheit und dann über den Vergleich politischer Systeme, von diesem Aspekt des Sozialismus gesprochen.

Jedenfalls, scheint mir, stehen wir weder am Ende der Geschichte noch am Ende des sozialdemokratischen Jahrhunderts. Wir tun gut daran, uns darauf einzurichten und uns nicht von schlagwortartigen Vereinfachungen ablenken zu lassen. Richtig verstanden, können wir dabei aus unserer zweifachen Vergangenheit viel lernen, um etwa niemals wieder Fehleinschätzungen beim Vergleich politischer Systeme zu unterliegen.


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