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TEILDOKUMENT:




Podiumsdiskussion:
"Neue Wege. Das Grundgesetz für die alte und die neue Bundesrepublik Deutschland"




Peter Merseburger

Geht man vom Thema „Neue Wege. Das Grundgesetz für die alte und die neue Bundesrepublik Deutschland" aus, so ist der Parlamentarische Rat seinerzeit neue Wege gegangen. Die Gemeinsame Verfassungskommission des Bundestags jedoch, die untersuchen sollte, welche Verfassung die größere Bundesrepublik braucht, ist sehr alte Wege gegangen. Das ist genau das Problem, über das wir heute debattieren sollten.

Ich möchte zu Hans Mommsen aus meiner Anschauung hinzufügen, daß am Anfang das Mißtrauen der Ministerpräsidenten und der ersten gewählten Parlamentarier gegenüber der Bevölkerung sehr groß war. Es herrschte das Gefühl vor, dieses Land habe keine Demokraten und sei von Demokratie nicht überzeugt. Daß diese Verfassung so tief Wurzeln geschlagen hat, hat zweifellos auch damit zu tun, daß die Entwicklung des demokratischen Bewußtseins in der Bundesrepublik einherging mit einer enormen wirtschaftlichen Prosperität. Gewinnen wir heute in der früheren DDR den Eindruck, daß dort die Freiheit nach unseren Vorstellungen nicht genügend geschätzt wird und kein Verständnis für unsere demokratischen Institutionen herrscht, so hat das natürlich damit zu tun, daß dort die Freiheit in Verbindung mit einem wirtschaftlichen Zusammenbruch eingezogen ist. Der Aufschwung kommt dagegen erst sehr langsam. Das scheint mir ein wichtiger und großer Unterschied zur frühen Nachkriegszeit zu sein.

Dieses Grundgesetz war entworfen als Notdach und Provisorium, als ein Behelf für einen historischen Zwischenakt. Das führt zu der Debatte, die wir führen müssen, nämlich zu der Frage, ob man eigentlich nach Artikel 146 Grundgesetz eine neue Verfassung hätte ausarbeiten müssen. Keiner der Verfassungsväter, bestimmt nicht Carlo Schmid und bestimmt kein Sozialdemokrat, hätte sich 1948/49 träumen lassen, daß dieses Grundgesetz einfach zur Verfassung eines neuen, vereinigten Deutschland gemacht werden würde. Auch Carlo Schmid hätte wohl erwartet, daß man das Grundgesetz, wenn man es für das vereinte Deutschland akzeptiert, zumindest einer gründlichen Revision oder Überarbeitung unterziehen werde, und zwar durch eine frei gewählte Konstituante.

Das sind nur einige Anmerkungen, die zu unserer Diskussion hinführen. Wir hatten keine Konstituante, die das Grundgesetz hätte überprüfen können. Wir hatten vielmehr, wie Uwe Wesel einmal spitz formuliert hat, eine Debatte ‘für Bürger’, aber nicht eine Debatte ‘von Bürgern’. Statt dessen wurde eine Verfassungskommission gegründet, die eigentlich die wichtigsten Elemente hätte klären sollen, um die es heute noch geht: Dazu gehören die plebiszitären Elemente und die Festlegung von Staatszielen, die andeutungsweise durch die Aufnahme des Umweltschutzes als Staatsziel in die Verfassung berücksichtigt wurde. Dazu gehören ein verbesserter Grundrechtsschutz und die Frage der außenpolitischen Rolle eines geeinten Deutschland. Was die Verfassungskommission, der Bundestag und Bundesrat aus diesen Herausforderungen gemacht haben, meine ich, ist relativ wenig. Ich zitiere Steffen Heitmann, einen Konservativen aus Sachsen, der gesagt hat: „Diese Kommission war eine ungeliebte Kommission, der es an einem umfassenden Dialog mit dem Volk gefehlt hat." Die gegensätzlichen Auffassungen darüber, ob es für das wiedervereinigte Deutschland einer neuen Verfassung oder lediglich einer punktuellen Änderung des Grundgesetzes bedürfe, wurden nie offen ausgetragen.

Damit bin ich mitten in der Diskussion und möchte die Diskutanten vorstellen: Es sind zunächst Christel Hanewinckel aus Halle und Prof. Dr. Herta Däubler-Gmelin, die beide als Abgeordnete des Deutschen Bundestags für die SPD der Verfassungskommission angehörten, schließlich Prof. Dr. Hans-Peter Schneider von der Universität Hannover, der gleichfalls Mitglied der Verfassungskommission war. Ich bitte zunächst Frau Däubler-Gmelin, dann Frau Hanewinckel und Herrn Schneider um einleitende Stellungnahmen zur Problematik.

Herta Däubler-Gmelin:

Eine Bemerkung vorweg: Hört man Peter Merseburger und auch Hans-Peter Schneider, der darüber eingehend geforscht hat, über die Entstehungszeit des Grundgesetzes reden und Einzelheiten erzählen, so begreift man, was dies für eine faszinierende Zeit gewesen ist. Diese Erinnerung gilt es gerade auch für jüngere Leute wachzuhalten.

Der zentralen Frage nach der Arbeit der Verfassungskommission würde ich mich gern auf einem Umweg, in Form zweier Fragen, nähern. Zunächst, was fasziniert uns denn heute an diesem Grundgesetz und der Entscheidung des Parlamentarischen Rates? Dies war zunächst der Konsens, den Herr Mommsen angesprochen hat, ein Konsens, der in der unglaublich kurzen Zeit von nur etwa einem halben Jahr zum fertigen und dann in Kraft gesetzten Entwurf des Grundgesetzes geführt hat. Auch wenn die Besatzungsmächte den Rahmen dafür abgesteckt hatten, so ist doch die Vielzahl der Entscheidungen, z.B. im Bereich der Grundrechte, der Arbeits- und Eigentumsverfassung und im institutionellen Verfassungsbereich, eine ungeheure Leistung. Die entscheidende Erklärung für diese Leistung ist, daß seinerzeit Persönlichkeiten am Werk waren, die über sehr lange Zeit hindurch gemeinsame Erfahrungen und gemeinsame Denkprozesse, unter welchem Druck auch immer, durchlebt hatten. Ob wir in der gemeinsamen Verfassungskommission über diese gemeinsamen Erlebnisse und Erfahrungen verfügten, um innerhalb vergleichbar kurzer Zeit einen Konsens über die Weiterentwicklung des Grundgesetzes herzustellen, stelle ich doch sehr in Frage. Vielmehr war unser Erfahrungsbereich nach mehreren Jahrzehnten des Verfassungslebens ungleich breiter und differenzierter. Dies hat dazu beigetragen, daß nicht nur die Ergebnisse, sondern schon im Ansatz die Aufgabenstellung der Verfassungskommission eine andere war als 1948/49.

Aber der zweite Punkt, der mich am Grundgesetz fasziniert, ist noch ein ganz anderer. Damals ist es zum ersten Mal gelungen, politische Macht an Recht zu binden. Die Moralität des Grundgesetzes, wie der Verfassungsrichter Dieter Grimm es ausdrückt, besteht ja darin, daß es nicht nur in Form eines Programmsatzes beschlossen wurde, sondern daß man Teile daraus auch wirklich einklagen kann. Das bedeutet die Bindung von Politik und Macht an das Recht, und zwar auch die Bindung wirtschaftlicher Macht. Das bedeutet zugleich die verbindliche Schaffung einer Werteordnung für unsere Gesellschaft durch das Recht. Bedenkt man die Aufgabe der Weiterentwicklung des Grundgesetzes - und das finde ich am interessantesten -, so gilt es diese zunächst national beschränkte und nur im nationalen Rechtsbereich wirksame Bindung der Macht an Recht auszuweiten über den nationalen Bereich hinaus. Ich meine, wir stehen heute vor der Aufgabe, die nationale Rechtsgrundlage für die Werteordnung einer Gesellschaft zu modernisieren und fortzuentwickeln. Wir stehen vor allem darüber hinaus vor der Aufgabe, die Grundentscheidungen unserer Verfassung für Sozialstaatlichkeit, für Demokratie und Rechtsstaat in einem europäischen Rahmen wirksam zu machen. Denn es besteht die Gefahr, daß diese Grundentscheidungen, die wir im nationalen Rahmen so hoch schätzen, erodieren, wenn sie nicht auch im europäischen Rahmen geschützt werden. Das ist die vordringliche Aufgabe einer Weiterentwicklung des Grundgesetzes. In der Verfassungskommission entstand allerdings etwas anderes, als wir intendiert hatte (vgl. Anlagen 1-4).

Peter Merseburger:

Ihre Forderung, Frau Däubler-Gmelin, wir sollten im Grunde den Verfassungsrahmen auf Europa ausweiten, ist ja nur realisierbar, wenn die anderen europäischen Staaten das auch machen, also im Verbund. Dies ist um so mehr eine enorme Anstrengung, wenn man die Machtlosigkeit des Straßburger Parlaments in Betracht zieht.

Hans-Peter Schneider:

Ich möchte im Hinblick auf unser Thema „Lernen aus der Vergangenheit" zunächst gern den Blick in die Zeit 1948/49 zurücklenken und die damaligen Entscheidungen kontrastieren mit den Versuchen einer Verfassungsreform, die im Zusammenhang mit der Wiedervereinigung stattgefunden haben. Herr Mommsen hat uns eindrucksvoll dargestellt, daß, soweit man überhaupt aus der Geschichte lernen kann, jedenfalls die Verfassungsmütter und -väter im Parlamentarischen Rat dies getan haben. Er hat dies auch zu Recht als einen Erfolg der politischen Parteien gewertet. Blickt man dagegen auf die Verfassungsberatungen nach der Wiedervereinigung, so ist genau das Gegenteil geschehen. Man hat nicht aus der Geschichte gelernt, und die politischen Parteien - es waren die Parteien in der Verfassungskommission - haben schlicht versagt vor der Herausforderung der deutschen Einheit.

Blickt man zum Vergleich auf die Situation im Sommer 1948, so war sie ziemlich kompliziert. Die Währungsreform hatte stattgefunden, aber auch die Berliner Blockade. Die Alliierten hatten die drei „Frankfurter Dokumente", inhaltliche Richtlinien zur Verfassungsberatung, den Ministerpräsidenten, nicht den Parteiführern, übergeben. Unter bewußt entwürdigenden Umständen waren sie ihnen im ehemaligen IG-Farben-Haus in Frankfurt am Main von den damaligen Gouverneuren einzeln vorgelesen worden. Die Reaktion der Ministerpräsidenten auf der „Rittersturz-Konferenz" bei Koblenz war dementsprechend eher negativ. Man wollte nicht den Weg gehen, den die Alliierten angedeutet hatten, und zwar aus Furcht, die Teilung Deutschlands auf diese Weise zu vertiefen. Es war vor allem die Berliner Regierende Bürgermeisterin Luise Schröder, die auf der „Rittersturz-Konferenz" dringend davor warnte, eine Verfassung zu beraten, wie sie die Alliierten gefordert hatten. Als dann die Ministerpräsidenten mit dem Ergebnis ihrer Konferenz vor den Militärgouverneuren erschienen, drohte der amerikanische Befehlshaber General Lucius D. Clay schlicht damit, den gesamten Prozeß der Reorganisation Deutschlands zu stoppen. Er drohte sogar damit, die Hilfsflüge nach Berlin einzustellen, und machte so den Ministerpräsidenten ihren geringen politischen Spielraum deutlich. Der Verfassungsgebungsprozeß damals war also mit erheblichen Einschränkungen durch politische Vorgaben der Alliierten belastet. Um so erstaunlicher ist es, daß in so kurzer Zeit das Grundgesetz entstand.

Fragt man sich, warum damals die Verfassungsschöpfer erfolgreich waren, nachdem die Verantwortung von den Ministerpräsidenten auf die Parteiführer übergegangen war, aber 1990 bis 1994 nicht, dann liegt der entscheidende Grund in einer für mich immer wieder überraschenden Tatsache: Die Verfassungsgebungsprozesse in Deutschland waren nämlich immer sehr stark exekutivisch geprägt. Bei der Reichsgründung liegt dieser Sachverhalt auf der Hand. Der Beitritt der süddeutschen Staaten zum Norddeutschen Bund im Jahre 1871 hatte ja im Grunde gar keine Verfassungsgebung zum Inhalt. Die Reichsgründung erfolgte vielmehr auf der Basis eines fait accompli, indem die Verfassung des Norddeutschen Bundes übernommen wurde - ähnlich der Vorgehensweise im Jahre 1989/90. 1919 war die Verfassunggebung der Weimarer Republik stark vorgeprägt durch die verschiedenen Entwürfe von Hugo Preuß aus dem Innenministerium. 1948/49 lag immerhin der Entwurf von Herrenchiemsee, auch ein von Beamten ausgearbeitetes Konzept, vor. Schließlich ist 1989/90 die deutsche Einheit wiederum durch die Exekutiven beider Seiten hergestellt worden. Selbst wenn Herr Mommsen sagt, es waren die Parteien, die das Grundgesetz im wesentlichen geschaffen haben, so waren auch sie stark exekutivisch geprägt. Das gilt nicht nur für Konrad Adenauer, der damals Oberbürgermeister in Köln war, das gilt auch für Carlo Schmid, den vormaligen Justizminister in Württemberg-Hohenzollern, und für andere. Dieses exekutivische Moment, das unsere Verfassungsgeschichte immer wieder kennzeichnet, hat auf der einen Seite 1948/49, als man zum Erfolg verurteilt war, außerordentlich erfolgreich gewirkt. Zwischen 1990 und 1994 aber, als im Grunde die Einheit schon hergestellt war und man eigentlich eine neue Verfassung gar nicht mehr brauchte, hat es gerade die Verfassungsreform verhindert. Bei dieser These will ich es zunächst bewenden lassen.

Peter Merseburger:

Mich würde vor allem interessieren, was Sie denn jetzt reformieren wollen?

Hans-Peter Schneider:

Dazu eine weitere Bemerkung: Das Erfreulichste an der Wiedervereinigung, wenn man die Verfassungsproblematik betrachtet, ist die Tatsache, daß in den neuen Ländern Verfassungen entstanden sind, die sehr viel moderner, vielleicht sogar in vieler Hinsicht besser, volksnäher und demokratischer sind als das Grundgesetz. In den neuen Ländern bestand eine sehr viel größere Bereitschaft, über eine Reform des Grundgesetzes nachzudenken, als bei uns im Westen.

Peter Merseburger:

Ja, in den neuen Ländern gab es verschiedene Anstöße, völlig neue Verfassungen, u.a. die des Runden Tisches. Frau Hanewinckel, die aus Halle kommt, wird dazu gerade unter dem östlichen Gesichtspunkt viel sagen können.

Christel Hanewinckel:

Ich möchte mit einer sehr persönlichen Geschichte anfangen. Ich habe mir 1962, damals war ich 15 Jahre alt, die Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik gekauft. Warum, weiß ich nicht mehr. Jedenfalls habe ich damals bestimmte Dinge angestrichen, die ich beim Durchblättern in Vorbereitung auf dieses Gespräch wiederfand und die ich im Rückblick und nach dem, was ich in den letzten acht Jahren im Bundestag erlebt habe, zumindest interessant finde. Es gab in der DDR-Verfassung von 1949 auch den Abschnitt „Rechte des Bürger", und zwar unter der Überschrift „Inhalt und Grenzen der Staatsgewalt". Ich habe mir damals Artikel 9 angestrichen, der besagte, daß alle Bürger das Recht haben, in den Schranken der für alle geltenden Gesetze ihre Meinung frei und öffentlich zu äußern. Bereits für eine Fünfzehnjährige war damals relativ deutlich, daß das so ganz nicht stimmte. Auf der gleichen Seite stand Artikel 10, der Satz - doppelt unterstrichen - „Jeder Bürger ist berechtigt auszuwandern". Das war 1962. Im April 1968 wurde dann über eine neue Verfassung der DDR durch Volksabstimmung entschieden. Ich war damals 21 Jahre alt und im Volksbuchhandel beschäftigt. Die Abstimmung wurde so gehandhabt, daß ich im Vorfeld innerhalb dieses sozialistischen Kollektivs mit unterschreiben sollte, daß ich bei der Volksabstimmung mit Ja abstimmen werde. Das habe ich nicht getan und damit das Ansehen des Kollektivs beschädigt. So war das damals. Für mich hatte das zur Folge, daß mir nach langem, zähem Ringen mein Arbeitsplatz gekündigt wurde. Ich will nicht sagen: Berufsverbot, aber ich war danach 2 Jahre beschäftigungslos. Ich habe dann später noch Theologie studiert.

Ich wußte damals weder etwas vom Parlamentarischen Rat noch vom Begriff Grundgesetz. Mir war nur klar, daß die erste Verfassung, die in der Theorie gar nicht schlecht aussah, nicht in die Realität umgesetzt wurde. Das brachte mich zu der Überlegung, was in diesem Land anders werden könne und was ich dazu tun könne. Diese und ähnliche Beweggründe wurden auch für viele andere maßgeblich, die sich während der 80er Jahre in der DDR in den unterschiedlichsten Gruppen engagierten. Das waren in der Regel Friedensgruppen, die in der DDR die Veränderung zu einer tatsächlichen Demokratie herbeiführen wollten.

Dann kamen die Wende, der Deutsche Bundestag, in den ich hineingewählt wurde, und die Diskussion um die Erfüllung von Artikel 146 Grundgesetz. Wenn ich heute resümiere, muß ich sagen: Wir haben diesen Auftrag des Grundgesetzes und damit den Willen der Mütter und Väter des Grundgesetzes nicht erfüllt. Denn was stattgefunden hat, war eine von zahlreichen Änderungen des Grundgesetzes. Dafür hätte es dieses ungeheuren Aufwandes an Zeit und Arbeit einer Verfassungskommission nicht bedurft. Aus dem Rückblick nach vier bis fünf Jahren stelle ich für mich und auch für andere fest: Die Einsetzung der Verfassungskommission war eigentlich ein sehr peinlicher Akt. Ich hatte manchmal den Eindruck, daß die Kommission für viele der Mitglieder eine Nötigung war. Denn eigentlich hätte das Gebilde ja anders aussehen, ein Verfassungsrat sein müssen. Statt dessen wurde über das Volk geredet, aber das Volk hat kaum mitgeredet. Es hat sich zum Teil zu Wort gemeldet mit massenhaften Petitionen, wenn ich an Artikel 3 denke, als es um die Nichtbenachteiligung von Behinderten oder um die Gleichberechtigung ging. Aber das Engagement hätte sehr viel breiter seín müssen.

Bedenke ich die Frage des „Lernens aus der Vergangenheit", so stoße ich auf eine bittere Lehre. Die Erfahrungen der Bundesrepublik mit dem Grundgesetz des Parlamentarischen Rates einerseits, die Erfahrungen der DDR andererseits hätten erst einmal getrennt, aber dann nebeneinander diskutiert werden müssen. In diesem Sinne wäre ich damit einverstanden gewesen, das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland zur Diskussionsgrundlage zu machen, aber nicht in dem Sinne, daß wir nur mal schauen, wo es hier und da verändert werden könne. Die Vorstellung derer aus den östlichen Bundesländern war wirklich, mit Engagement Verantwortung zu übernehmen. Das war von unserer Seite gewünscht, aber es war von anderen nicht gewollt. So etwas ist nicht nur bitter, sondern auch enttäuschend. Ich denke heute manchmal, wenn wir über Politikverdrossenheit oder auch Parteienverdrossenheit reden, daß die, die aus der DDR-Erfahrung heraus mitgestalten wollten, gerade daran gehindert wurden. Wir hatten erlebt, daß uns die Berufung auf sinnvolle Aussagen der DDR-Verfassung nichts nutzte. Also wollten wir an den guten Erfahrungen des Westens teilhaben, aber so, daß auch unsere Erfahrungen mit eingebracht wurden. Wir wollten nicht auf der Grundlage des Grundgesetzes „Beigetreten werden", sondern die Chance haben, eigene Erfahrungen einzubringen und dann auch an der einen oder anderen Stelle zu sagen: Ihr habt hier keine oder nur gute Erfahrungen, also laßt uns das mitbedenken. Statt dessen fand an vielen Stellen eine Polarisierung statt gegenüber ostdeutschen Interessen. Eine ganze Reihe dieser sogenannten ostdeutschen Interessen - z.B. die Staatsziele, die Präambel, insbesondere das Verhältnis von Staat und Kirche - war ein heißes Eisen. Bezeichnenderweise haben die drei Theologen - zwei Theologen und eine Theologin - aus dem Osten die Formulierung „in Verantwortung vor Gott und den Menschen" in der Präambel zu thematisieren versucht. Wir hatten die Erfahrung gemacht, daß maximal 15% der Bevölkerung auf ihre Verantwortung vor Gott anzusprechen waren - auch wenn ich als Theologin mehr wollte. Es gab also eine Reihe von Bereichen, in denen die Erfahrungen so auseinandergingen, daß es nicht einmal möglich war, darüber zu diskutieren, wohl vielleicht in unserer SPD-Arbeitsgruppe, aber nicht in der Verfassungskommission.

Peter Merseburger:

Woran lag das? Wer hat sich dagegen gewehrt?

Christel Hanewinckel:

Es war an vielen Stellen keine Kommissionsarbeit, sondern das Nebeneinanderplazieren von Ideologien und Meinungen Es gab zwar eine Reihe von Vorschlägen, die in die Präambel aufgenommen wurden, aber eben nur mit der absoluten, nicht der Zweidrittelmehrheit der Verfassungskommission. Ich habe noch nie so oft in meinem Leben den Satz gehört: Die Väter des Grundgesetzes - die Mütter spielten kaum eine Rolle - wußten, was sie taten, und das ist gut so. Deshalb müssen wir das heute nicht verändern. Damit war vieles von vornherein vom Tisch. Das sind Sätze, die jegliches Engagement zu weiterer Mitarbeit abtöten. Zwar war die positive Seite dieser negativen Erfahrung für mich, daß ich mich viel intensiver mit dem Grundgesetz beschäftigt habe, als es sonst vielleicht der Fall gewesen wäre. Viele Sätze des Grundgesetzes sind mir geradezu lieb geworden, und es war ungeheuer schwer, an manchen Stellen gar nicht möglich, neue und bessere Formulierungen zu finden. Aber die Aufgabe, eine gemeinsame deutsche Verfassung (vgl. auch Anlage 4) für das geeinte Deutschland zu schaffen, haben wir noch vor uns.

Peter Merseburger:

Ich bedanke mich sehr für diesen Beitrag, der ins Zentrum der Diskussion führt. Verfassungen können gut sein, aber wenn die Menschen nicht mit ihnen umgehen können, geschehen trotzdem Unglücke. Umgekehrt haben die Engländer überhaupt keine Verfassung und trotzdem eine Demokratie. Die Engländer haben allerdings das, was Adenauer als Schreckgespenst hingestellt hat, nämlich die Diktatur der Mehrheit und die gnadenlose Diktatur der Mehrheit im Parlament, und trotzdem funktioniert die britische Demokratie. Eine Verfassung ist das eine, eine lebendige Demokratie das andere. Aber ich würde vorschlagen, daß wir systematisch vorgehen und fragen, was hätte man eigentlich im Zuge dieser möglichen Verfassungsrevision ändern sollen, Frau Däubler-Gmelin?

Herta Däubler-Gmelin:

Ich habe den Titel des Abends nicht nur rückwärts gewandt verstanden, sondern auch unter dem Aspekt, was uns denn heute aufgegeben ist. Ziehe ich dementsprechend die Lehre aus der Vergangenheit, den Versäumnissen der Jahre 1990 bis 1993, dann sollten wir als unsere Aufgabe begreifen, daß eine nationale Fortentwicklung der Verfassung allein nicht mehr hinreicht. Zugespitzt gesagt, würde es uns nach meiner Auffassung nicht viel helfen, könnten wir die Fehler von 1990 bis 1994 jetzt alle korrigieren. Wir ständen vielmehr in einigen Bereichen vor den gleichen Problemen wie heute. Meine These ist, daß sich die Umstände so verändert haben, daß wir die Grundgedanken dessen, was der Parlamentarische Rat vor 50 Jahren in eine nationale Verfassung gegossen hat, heute nur im europäischen Rahmen weiterentwickeln können. Ich sehe daher den Reformschwerpunkt heute nicht in der allein nationalstaatlichen Reparatur der deutsch-deutschen Verfassung.

Gehe ich jedoch zurück auf die Verfassungsentwicklung nach der Einigung, so gilt doch für alle drei, die wir am Tisch sitzen, daß wir etwas anderes wollten (vgl. Anlagen 1-4). Wir waren zum Teil Mitglieder des Kuratoriums für eine Verfassung an einem Bund deutscher Länder. Wir wollten weiterhin einen sogenannten Verfassungsrat einsetzen. 128 Leute sollten das sein. Das wäre die Größe des Parlamentarischen Rates gewesen. Wir wollten ihn von der Bundesversammlung berufen lassen. Er sollte zur Hälfte besetzt sein durch Parlamentarierinnen und Parlamentarier, zur anderen Hälfte durch Persönlichkeiten aus allen Bereichen des Lebens in West und Ost. Damit sollte eine Art Konstituante - nicht eine ganz echte Konstituante - geschaffen werden, um eine Fortentwicklung auf der Basis des Grundgesetzes zu ermöglichen. Dies alles wurde von der CDU/CSU und FDP nicht gewollt. Es wurde schlicht und einfach abgelehnt mit der Begründung: Wir wollen nur die Ergänzung des alten Grundgesetzes, um die unabweisbaren Besonderheiten, die sich aus der Vereinigung via Beitritt ergeben, zu berücksichtigen, und sonst nichts. Das heißt, die Chance, eine nationale, die deutsch-deutschen Erfahrungen aufnehmende Verfassung zu entwickeln, war mit der Institutionalisierung der Verfassungskommission vertan. Ich finde unter diesem Aspekt ganz beachtlich, was sie gleichwohl erreicht hat. Sie hat in einigen Bereichen das Bewußtsein dessen, was eigentlich sein müßte, festgehalten. Sie hat, indem sie den ursprünglichen Artikel 23 Grundgesetz durch die Beitrittsformulierung durch den Verfassungsartikel der Einbettung Deutschlands in Europa ersetzte, die Idee der Einbettung des Nationalstaats und seiner Transformation nach Europa festgehalten. Sie hat erreicht, daß einige der Verheißungen des Grundgesetzes, die sich trotz ihrer Einklagbarkeit in der Praxis anders oder weniger günstig entwickelt hatten, korrigiert wurden. Ich meine die Präzisierung der Gleichheit der Geschlechter in Artikel 3 Absatz 2 Satz 2 und die nach langen und mühseligen Protesten durchgesetzten Diskriminierungsverbote gegenüber Behinderten.

Das Fazit lautet: Eine Chance ist versäumt worden, weil eine politische Klasse ihre Macht und die politische Veränderungsfähigkeit in ihrem Sinne behalten wollte. Aber ich halte es für falsch, diese Chance nur noch zu beschwören, damit wir dies reparieren. Wir werden vielmehr die Fortentwicklung des Grundgedankens des Grundgesetzes in die europäische Dimension vorantreiben müssen, wenn wir nicht erleben wollen, daß uns die Grundentscheidungen des Parlamentarischen Rates unter den Händen zerrinnen.

Peter Merseburger:

Was haben Sie denn konkret beispielsweise zum Thema Plebiszit in der Kommission überlegt? Man kann argumentieren, das Grundgesetz hat zuviel Angst vor dem Volk. Das muß nicht auf ewig festgeschrieben bleiben. Könnte man also den Bundespräsidenten dadurch stärken, daß man ihn entweder plebiszitär wählt oder daß man ihm eine andere Rolle gibt? Richard von Weizsäcker zum Beispiel hat sich immer darüber beklagt, daß er im Gegensatz zu England nicht die Möglichkeit habe, durch Royal Commissions wirklich gute Sachverständige zu einer strittigen Frage einzuberufen. Herr Mommsen, diese Frage geht natürlich auch an Sie.

Hans Mommsen:

Ich sehe als Historiker eine zentrale Problemstellung darin, ob das klassische Parlamentarismusmodell in dieser Form, unter den modernen Bedingungen politischer Unübersichtlichkeit und einer transnationalen Organisation der Industrieverbände, fortgesetzt werden kann oder modifiziert werden muß. Ich sehe Probleme der Überorganisation und autoritärer Strukturen, die sich mit der zentralen Bedeutung der Verwaltung durchsetzen, während das Parlament nur begrenzt seine Kontrollfunktion wahrnehmen kann.

Ich will auf die Debatte zum Parlamentarischen Rat zurückkommen. Ich finde sehr interessant, Herr Schneider, was Sie zur spezifisch exekutivischen Variante der deutschen Verfassunggebung sagen. Das gilt für die deutsche Politik allgemein in sehr hohem Maße. Verglichen damit war allerdings die parlamentarische Tonart im Parlamentarischen Rat exzeptionell. Sie ist vermutlich heute im Deutschen Bundestag weit weniger gegeben, als das damals unter glücklichen Bedingungen, gleichsam einer Freisetzung der politischen Gestaltung durch die Parteien, möglich war. Denn vorher lagen die politischen Entscheidungen bei der weitgehend der Kontinuität verhafteten Beamtenschaft, die die Länderregierungen bildete. Hätte sich nicht der Eigenwille Konrad Adenauers durchgesetzt, wären die Entwicklungen wahrscheinlich noch sehr viel kontinuierlicher verlaufen.

Ich möchte zwei Punkte unterstreichen. Erstens zu den Voraussetzungen einer Verfassungsreform: Daß es im Parlamentarischen Rat zu Ergebnissen kam, lag natürlich auch daran, daß die politisch gegensätzlichen Wünsche für eine Dauerlösung auf die gesamtdeutsche Vereinigung vertagt werden konnten. Das gilt für die politischen Rechte und die Gewerkschaften. Das gilt nicht zuletzt für Kurt Schumacher, der mögliche Fragen aus der Verfassung eher ausklammern wollte, als fixierte Regelungen ohne sozialistische Mehrheiten zu haben. Insofern ist der Provisoriumsgedanke ganz unerwartet plötzlich zum Vehikel des Erfolgs geworden, und zwar des Erfolgs einer Dauerlösung.

Zum zweiten liegt ein Reformhemmnis in einem Verfassungsverständnis, für das das Schlagwort „fdGO" (freiheitlich-demokratische Grundordnung) später kennzeichnend wurde. Unter dem Siegel der „fdGO" mußte seit den siebziger Jahren jeder noch so kleine Angestellte des öffentlichen Dienstes in Form eines kurzgefaßten Gelöbnisses das Bekenntnis zum Grundgesetz ablegen. Darin steckte der grundlegende, fatale Irrtum, daß die Verfassung als solche eine festlegende Wertentscheidung enthalte, während sie doch einen rechtlichen Rahmen für unterschiedliche Positionen einräumen soll. Diese Mentalität, daß alle Wertentscheidungen der existierenden Bundesrepublik selbstverständlich im Grundgesetz enthalten seien, führte dazu, daß man im Zuge der Wiedervereinigung gar nicht darüber nachdachte, überhaupt etwas am Verfassungsrahmen zu ändern.

Wir müssen dagegen reformfähig werden, indem wir versuchen, diese Fehlentwicklung, das Stagnieren des Verfassungsbegriffes als einer kollektiven Wertentscheidung, zu bekämpfen. Sieht man die Wahlkämpfe und die politische Diskussion der letzten Jahre an, so herrscht die Tendenz, jemandem, der eine grundsätzlich abweichende Meinung äußert, mit dem Schlagwort zu begegnen, er wolle eine andere Republik, er weiche von der Verfassung ab. Das heißt, die Verfassung wird bedauerlicherweise von links und rechts, ich glaube von rechts deutlich mehr, als politischer Knüppel benutzt. Das nützt sie ab und macht gleichzeitig das politische System, wie im Falle der Verfassungskommission zu zeigen ist, zunehmend reformunfähig. Durch diese Ethisierung, ja ethische Aufpumpung, des Verfassungsrahmens wird eine Fortbildung der Verfassung immer weniger möglich. Die Vorstellung setzt sich schließlich durch, daß es eigentlich nicht so sehr auf einzelne Regelungen ankommt, Hauptsache, man bewahrt den Konsens als Selbstzweck. Das nenne ich eine kritische Entwicklung.

Kommt man zu den konkreten Problemen der Verfassungsentwicklung und -reform, so liegen sie zum Beispiel in der Europapolitik. Sollen neben dem Gesamtstaat auch die Länder, gar die Kommunen Europapolitik betreiben dürfen? Sie wird ja bereits international auf mehreren Ebenen betrieben. Hinzu kommt noch die eigene Europapolitik der Verbände.

Peter Merseburger:

Der gegenwärtige Artikel 23 Grundgesetz läßt überdies den Ländern zu viel Spielraum zu einer eigenen Europapolitik. Darin liegt ein überzogener Föderalismus, der insgesamt zurechtgestutzt werden sollte.

Hans-Peter Schneider:

Ich will zunächst der Kritik an dem neuen Art. 23 Grundgesetz entgegentreten. Die Ländervertreterinnen und -vertreter repräsentieren die Bundesrepublik Deutschland in Brüssel, und zwar nicht an der Bundesregierung vorbei, sondern abgestimmt mit der Bundesregierung über den Bundesrat. Das halte ich in der Tat für einen erheblichen Fortschritt. Denn die Länder tun das und dürfen das nur auf den Gebieten, auf denen sie ausschließlich für die Gesetzgebung zuständig sind. Ich habe es immer als Manko empfunden, daß der Bund, ohne die Länder zu fragen, Länderkompetenzen nach Brüssel übertragen konnte mit dem Ergebnis, daß die Länder weitgehend ausgehungert sind, und zwar gerade in ihrem Bereich, im Bereich der Kultur etwa. Es sind im übrigen nicht die Deutschen, die in Brüssel am häufigsten Ländervertreter in den Rat der Europäischen Union entsenden, sondern die Belgier. Sie haben bisher am häufigsten von dieser Regelung im Vertrag von Maastricht Gebrauch gemacht. Die Deutschen und die Österreicher machen das auch, die anderen werden folgen. Die Tendenz in Europa geht genau in die Richtung, die Art. 23 vorzeichnet, und viele Mitgliedsstaaten beneiden uns inzwischen um diesen Art. 23.

Jetzt aber zurück zum Thema der Bedingungen einer Verfassungsreform. Betrachtet man das Verfassungsverständnis, so herrscht bei uns Deutschen immer noch die Vorstellung vor: Zunächst gibt es den Staat mit seiner Bürokratie und seinem Militär, der ein Eigenleben führt. Dann erst wird eine Verfassung gemacht und begrenzt die Befugnisse des Staates im Interesse der Freiheit der Bürger. Tatsächlich ist es aber so, daß die Verfassung das Regelwerk enthält, das den Staat überhaupt erst hervorbringt; vorher gibt es keinen Staat. Das können Sie Deutschen nur sehr schwer klarmachen. In anderen Ländern ist dies selbstverständlich. Es gibt keinen Staat ohne Verfassung, jedenfalls keinen Nationalstaat herkömmlicher Prägung. Insofern gibt es auch keine vereinigte Bundesrepublik ohne eine entsprechende Verfassung. Wir spüren es noch heute, daß genau dieses Defizit das Zusammenwachsen erschwert.

Was die Chancen einer großen Verfassungsreform angeht, so bin ich gar nicht so pessimistisch, und zwar deshalb, weil auf allen Ebenen schlicht das Geld ausgeht. Es gibt Überlegungen zu einer Reform des Finanzausgleichs und ein Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe. Überdenkt man eine Finanzreform, so gelangt man zwangsläufig zu einer neuen Aufgabenverteilung zwischen Bund und Ländern, zu einer Föderalismusreform. Damit sind wir in einer großen Verfassungsreformdiskussion, die uns in den nächsten fünf Jahren ganz handfest beschäftigen wird.

Schließlich ein letztes Wort zu Herta Däubler-Gmelins europäischer Herausforderung. Ich bin nicht der Meinung, daß diese mit einer Änderung des Grundgesetzes beantwortet werden kann. Die Verfassungen sind da, um das Leben in Nationalstaaten zu ordnen, und wären überfordert, wenn wir ihnen zusätzlich die Aufgabe zumuteten, die europäische Einigung zu bewältigen. Auch der Individualrechtsschutz, wie wir ihn in den Grundrechten haben, kann, soweit das heute vorhersehbar ist, nur nationalstaatlich organisiert werden. Es wird kein europäisches Verfassungsgericht im Sinne etwa eines europäischen Bundesverfassungsgerichts geben, denn kein Mitgliedstaat in Europa würde sich daran wagen, die Individualverfassungsbeschwerde zu einem internationalen Gerichtshof irgend jemandem zuzugestehen. Das wird nicht kommen. Deswegen brauchen wir zumindest hier noch Nationalstaaten. Sie werden weiterhin wichtig sein. Ich denke, daß wir in Europa in eine Phase kommen, in der die Europabegeisterung eher ab- als zunimmt. Auch darauf müssen wir Rücksicht nehmen.

Peter Merseburger:

Das ist auch Ralph Dahrendorfs These, daß der Nationalstaat bisher das einzige Gefäß ist, in dem der Bürger seine Rechte einklagen kann. Allerdings gibt es auch das Gegenbeispiel. Ich kenne es aus England, daß einige Engländer in Europa Klage erhoben haben und daß auf diesem Umweg in England dann doch wieder einiges geschehen mußte.

Herta Däubler-Gmelin:

Zur Reform des Föderalismus und des föderalen Finanzausgleichs sage ich, im Unterschied zu Hans-Peter Schneider, voraus, daß die seit längerem spürbaren Probleme noch zunehmen, aber nicht zu schnellen Änderungen führen werden. Diese These bedürfte längerer Erläuterung, die ich hier nicht geben kann.

Zweitens eine Klarstellung zu meiner These der Europäisierung: Es ist nicht so, daß wir aufgrund der Veränderung des Nationalstaates und der Einbettung der Bundesrepublik in Europa eine Veränderung des Grundgesetzes bräuchten. Es ist vielmehr umgekehrt so, wenn wir nicht die Fortsetzung der damals nationalen Grundentscheidungen des Parlamentarischen Rates für eine rechtsstaatliche und soziale Demokratie auf europäischer Ebene schaffen, werden wir feststellen, daß uns auch die nationalen Rechte und Grundentscheidungen immer stärker unter den Händen wegfließen.

Ich will an einem Beispiel verdeutlichen, was ich für eine Aufgabe der Verfassungsgebung im europäischen Maßstab halte. Wir haben heute im Bundestag, wenn wir Wirtschafts- und Finanzgesetze machen, zu 85% Folgeregelungen europäischer Richtlinien. Europäische Richtlinien werden heute, wie wir wissen, von den Exekutiven gemacht, zur Zeit noch nach dem Prinzip der Einstimmigkeit. Das heißt, wenn wir die Grundentscheidung für eine bestimmte parlamentarische Form der Demokratie in Europa nicht durchsetzen, dann brauchen wir uns nicht lange Gedanken über den demokratischen Gehalt unserer nationalen Verfassung zu machen. Es wird dann aufgrund der europäischen Institutionen in der Praxis weniger und nicht mehr Demokratie auch im nationalen Bereich geben.

Ein letztes Beispiel in diesem Zusammenhang: Es besteht kein Zweifel, daß wir immer stärkere europäische Exekutiven bekommen, die Macht ausüben. Nehmen wir zum Beispiel Europol, eine europäische Polizeiorganisation, die wir alle wollen. Wenn wir im Bereich der Europäischen Union nicht eine parlamentarische Grundentscheidung für Rechtsstaatlichkeit durchsetzen, d.h. eine Rechtskontrolle der Exekutive auch auf europäischer Ebene durch ein Gericht wie den Europäischen Gerichtshof, wird dies nicht allein auf europäischer Ebene rechtsstaatliche Defizite nach sich ziehen, sondern auch Auswirkungen im nationalen Bereich haben. Was aber rechtsstaatliche Defizite angeht, sollten wir doch gerade aus unserer Geschichte gelernt haben.

Peter Merseburger:

Ich würde gern den Blick von Europa auf die deutsche Verfassung zurücklenken, z.B. auf das antiplebiszitäre Element. Müßte man nicht eigentlich eine neue Verfassung für die größere Bundesrepublik dem Volk zur Abstimmung vorlegen? Die Forderung nach einer freien Konstituante scheint mir selbstverständlich für republikanische Demokraten und wurde insbesondere von vielen Sozialdemokraten in der Nachkriegszeit erhoben.

Herta Däubler-Gmelin:

Forderungen nach plebiszitären Elementen, die wir in unserem Verfassungsentwurf Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid (vgl. Anlage 2) nennen, sind in den sozialdemokratischen Anträgen für die Verfassungskommission und auch im Grundsatzprogramm der SPD seit 1989 (vgl. auch Anlage 1) enthalten. Auch hier lohnt der Blick nach Europa. Wir können nämlich von Frankreich, Dänemark und Großbritannien viel lernen. Dort wurde nicht nur über den Vertrag von Amsterdam oder Maastricht abgestimmt. Dort hätte man auch eine Volksabstimmung zum Beispiel über solche politischen Grundentscheidungen wie die nationale Einheit Deutschlands abgehalten. Hinter dem deutschen Mißtrauen gegenüber einer direkten Bürgerbeteiligung auf Bundesebene, das fand ich an Hans Mommsens Referat sehr erhellend, steht doch eine falsche Interpretation der Weimarer Zeit und der Art der nationalsozialistischen Machtergreifung. Mir scheint hier in klassischer Weise das Versagen der damaligen Mehrheitsparteien des Reichstags verdrängt worden zu sein. Denn wenn jemand dazu beigetragen hat, daß Hitler seine Kompetenzen nutzen konnte, so war es vor allem der Reichstag durch das Ermächtigungsgesetz von 1933. Die SPD teilt diese Felhlinterpretation der Weimarer Geschichte nicht und hat die direkte Beteiligung des Volkes auch auf Bundesebene in Ergänzung - nicht als Alternative - zur parlamentarischen Demokratie in ihr Programm aufgenommen. Auch in einem europäischen Verfassungsgebilde muß diese direkte Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger auf jeden Fall enthalten sein.

Peter Merseburger:

Danke. Die Diskussion soll jetzt für das Publikum geöffnet sein.

Reinhard Götzen:

Ich bin hier in Bonn in der politischen Bildung engagiert. Was den Artikel 146 angeht, so haben wir in der politischen Bildung jahrzehntelang, um die Einheit ringend, immer darauf abgestellt, daß hier das Volk zu entscheiden hat im Gegensatz zu 1949, als die Verfassung von den Alliierten genehmigt werden mußte. Wir waren 1989/90 konsterniert. Meine Kollegen in diesem Bereich haben nach meinem Eindruck alle resigniert. Zum Glück haben Frau Hanewinckel und die anderen Beteiligten klargestellt, daß Art. 146 die Tür zur Volksbeteiligung noch immer offen läßt. Vergleicht man allerdings die alte und die neue Präambel, so stellt man fest, daß ein Halbsatz gestrichen wurde, und zwar ist der Dauerauftrag weggefallen, die nationale und staatliche Einheit zu vollenden. Ich meine, dieser Auftrag kann doch nicht mit dem Tag X der Einheit erledigt sein. Besteht ein Zusammenhang zwischen dieser Streichung und einem alliierten Einspruch?

Peter Merseburger:

Die erste Frage will ich gleich selber beantworten. Die Amerikaner haben nur darauf bestanden, daß die alten Verpflichtungen der Bundesrepublik von der größeren Bundesrepublik übernommen werden, mehr nicht. Auf die Vereinbarkeit dieser Verpflichtungen mit der Verfassung haben sie keinen Einfluß genommen.

Hans-Peter Schneider:

Zunächst zur Möglichkeit einer Verfassungsneuschöpfung: Der Parlamentarische Rat und die Ministerpräsidenten hatten ein Provisorium geschaffen und sich nur notgedrungen auf eine Weststaatslösung festlegen lassen. Klar war, daß sie keine Verfassung für Gesamtdeutschland wollten. Insofern ist der Auftrag des Art. 146 meines Erachtens nicht erledigt. Darin liegt auch, so meine ich, eine große Leistung der Sozialdemokraten zusammen mit anderen in der Verfassungskommission. Es war nicht zuletzt die ganz persönliche Leistung von Herta Däubler-Gmelin und Hans-Jochen Vogel, die darauf bestanden, diesen Artikel nicht aus der Verfassung herauszustreichen, denn er sollte gestrichen werden. Sein Auftrag ist noch nicht erledigt, und wir werden ihn noch einmal brauchen. Absurd ist hingegen - und ich habe das immer als schriftliche Lüge bezeichnet - die Formulierung der Präambel, nun habe das ganze deutsche Volk dieses Grundgesetz als seine Verfassung beschlossen.

Zweitens zum plebiszitären Verfassungsdefizit: Man hat ja nicht vor dem Volk insgesamt Angst, sondern vor ganz bestimmten Leuten. Man hatte vor allem - und deswegen wurde die Verfassungsdiskussion im Grunde nicht zugelassen oder abgebrochen - vor der Oppositionsbewegung in der DDR Angst. Denn sie war tonangebend. Man hatte vor den Leuten Angst, die am Runden Tisch gesessen und den Verfassungsentwurf gemacht hatten. Man wußte genau: Wenn wir jetzt eine Verfassungsdiskussion bekommen, dann werden die, die die Einheit erkämpft haben, möglicherweise Einfluß nehmen. Das wollte man nicht. Da saßen auf westlicher Seite westliche Beamtinnen und Beamte und auf östlicher Seite ebenfalls westliche Beamtinnen und Beamte. Es war ein reines exekutivisches Insichgeschäft, wie man in Schäubles Beschreibung genau nachlesen kann. Hinzu kam die Angst vor der Einschleusung sozialistischer Gehalte in die Verfassung.

Monika Wiesner:

Ich habe eine Frage an Frau Däubler-Gmelin. Sie sprachen davon, daß heute die Macht an das Recht gebunden sei. Doch sehe ich noch sehr große rechtliche Kontrolldefizite im Bereich der Gleichberechtigung und der Wirtschaft. Wie kann letztere angesichts der Globalisierung und der weiter steigenden Arbeitslosigkeit rechtlich gebunden werden?

Herta Däubler-Gmelin:

Zunächst, was die Präambel angeht: Die Streichung der Formulierung erklärt sich aus dem ein wenig technokratischen Vorgehen der Verfassungskommission. Es herrschte nämlich Konsens darüber, daß mit dem Beitritt der damaligen DDR die staatliche Einheit erreicht sei, eine weitere staatliche Einigung also nicht mehr bevorstehe und damit das Grundgesetz nationalstaatlich erfüllt sei. Daraus ergab sich mit gewisser Zwangsläufigkeit die Streichung in der Präambel.

Zur zweiten Frage nach der rechtlichen Bindung der Macht: Die umfassende rechtliche Bindung politischer und wirtschaftlicher Macht durch die Verfassung - eingeschlossen die entmündigende Auswirkung des Bundesverfassungsgerichts auf den Gesetzgeber, von der Hans Mommsen gesprochen hat - ist in der Tat das wirklich Neue des Grundgesetzes. Zugleich muß aber die These Adolf Arndts hinzugefügt werden, daß das Grundgesetz materiell nicht erfüllt war. Deswegen bestand unsere Aufgabe in der Rechtspolitik immer darin, das Vorhaben des Grundgesetzes in reale Politik umzusetzen. Auf dem Gebiet der Gleichberechtigung haben wir in diesem Zusammenhang einen der wenigen Pluspunkte der Verfassungskommission zu verzeichnen, indem eine konkrete Förderungspflicht in das Grundgesetz hineingeschrieben wurde. Nun setzt uns allerdings der Europäische Gerichtshof eine Grenze, übrigens der gleiche Gerichtshof, der in der Gleichberechtigung bisher immer sehr fortschrittlich war, und sagt, gesamteuropäisch sei diese Frage nur bis zu einer bestimmten Grenze voranzutreiben und nicht weiter. Genau an diesem Punkt können wir also feststellen, daß wir in eine nationale Verfassung viel hineinschreiben können. Wenn es uns nicht gelingt, die Grundprinzipien gleichzeitig auf den europäischen Bereich zu übertragen, bleibt alles Papier.

Im Bereich der Wirtschaft ist es noch komplexer. Ihre rechtliche Kontrolle war gerade Teil der Diskussion in der Verfassungskommission, die es auf westdeutscher Seite gab. Wer setzt den rechtlichen Rahmen für die Wirtschaft? Wie ist zum Beispiel das Verhältnis der Eigentumsgarantie zur Sozialisierungsmöglichkeit in Artikel 15 und zur zur kollektiven Mitbestimmung beschaffen? Dieses alles hat sich in der gelebten Verfassungsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland auf eine ganz bestimmte Weise entwickelt. Dies alles ist durch die zunehmende Europäisierung im Binnenmarkt - man braucht nicht einmal bis zur Globalisierung zu gehen - weiter in Gefahr geraten. Dies unterstreicht nochmals, was ich vorhin im Hinblick auf die europäische Verfassungslage meinte.

Monika Wiesner:

Ich möchte doch anfügen, daß gerade im europäischen Bereich die Gleichberechtigung relativ weit vorangeschritten ist, der Europäische Gerichtshof jedoch nur aus männlichen Richtern besteht. Das sind meiner Ansicht nach Dinge, die nicht passieren dürfen. Im wirtschaftlichen Bereich ist es noch viel schlimmer. All die Arbeitgeber sind Männer. Und diese Männerzirkel müssen meiner Ansicht nach unbedingt aufgebrochen werden. Es müssen Gesetze her, die diese Möglichkeiten eröffnen.

Peter Merseburger:

Es werden Frauenquoten für den Europäischen Gerichtshof verlangt. Weitere Fragen aus dem Publikum? Bitte.

Elisabeth Fischer:

Ich wollte nur fragen, woher Sie den Optimismus nehmen, jetzt doch noch eine Verfassungsänderung oder -erweiterung im Sinne von Art. 146 zustandezubringen. Die Blockierer sind doch alle noch da.

Peter Merseburger:

Das ist eine Frage an die Optimisten. Wer rechnet sich hier zu den Optimisten? Herr Schneider?

Hans-Peter Schneider:

Das entscheidende Antriebsmoment ist, daß niemand mehr Geld hat. Das heißt, in den nächsten Jahren muß, möglicherweise angestoßen durch das Bundesverfassungsgericht, eine grundlegende Reform des Föderalismus stattfinden. Damit müssen etwa 80% der Grundgesetzartikel, die sich allesamt auf den Föderalismus beziehen, einer Revision unterzogen werden. Das hat natürlich auch Auswirkungen auf die verfassungsrechtliche Bestimmung der Staatsaufgaben, auf die Grundrechte, auf das Verhältnis Deutschlands zu Europa. Wenn sich die Situation noch verschärft, ist nicht auszuschließen, daß sich daraus Konsequenzen für die innere Einheit ergeben, die wir noch nicht vollendet haben. Was Bayern und Baden-Württemberg jetzt anstreben, ist die Verabschiedung aus dem Solidarpakt. Was das bedeutet, dazu können Sie vielleicht etwas sagen, Frau Hanewinckel.

Christel Hanewinckel:

Es klingt vielleicht etwas verwegen, aber ein Teil meines Optimismus kommt aus zwei Quellen. Die eine Quelle ist, daß ich in DDR-Zeiten gelernt habe, an einer Sache, von der ich überzeugt bin, penetrant festzuhalten, auch wenn ich dafür verschrien sein sollte. Diese Einstellung habe ich auch während der acht Jahre, in denen ich zur Bundesrepublik Deutschland gehöre, dringend gebraucht.

Das zweite Antriebsmoment meines Optimismus ist eigentlich Angst und Sorge, wenn ich mir ansehe, wie wenige Mitwirkungsmöglichkeiten viele für sich erkennen und wie wenige Mitwirkungsmöglichkeiten tatsächlich vorhanden sind. Damit bin ich wieder bei den plebiszitären Elementen der Verfassung. Auf Länderebene sieht es zwar besser aus, denn es gibt zum Beispiel in den ostdeutschen Bundesländern eine ganze Reihe von Mitwirkungsmöglichkeiten in der Verfassung. Ich habe allerdings Angst davor, daß ein Großteil der Leute sagt: Die da oben machen sowieso, was sie wollen. Dem kann ich nicht einmal begegnen, denn es müssen Möglichkeiten her, daß es dabei nicht bleibt. Das Ansehen der parlamentarischen Demokratie ist inzwischen so weit heruntergewirtschaftet, daß uns die politische Realität meiner Meinung nach geradezu dazu zwingt, an dieser Stelle neue Wege in einer gesamtdeutschen Verfassung zu gehen.

Peter Merseburger:

Hatte nicht die Tatsache, daß man den Ostdeutschen praktisch das Grundgesetz übergestülpt hat, zur Folge, daß dort das Vertrauen in die parlamentarische Demokratie, wie alle Umfragen zeigen, ganz besonders gering ist?

Christel Hanewinckel:

Ja, es hat mit Sicherheit damit zu tun, weil sie an keiner Stelle, bis auf die Rufe „Wir sind das Volk" und „Wir sind ein Volk", gehört wurden.

Herta Däubler-Gmelin:

Ich finde das ja alles ungeheuer sympathisch, nur trifft es meiner Ansicht nach nicht den Punkt: Auch im Westen sind die Menschen nicht gehört worden. Ich rüge das und sage nochmals, ich habe zu denen gehört, die leidenschaftlich für einen echten Verfassungsrat und für eine Abstimmung über eine wirklich weiterentwickelte Verfassung gestritten haben. Nur glaube ich nicht, daß man mit der These vom ‘Überstülpen’ den Frust heute in irgendeiner Weise erklären kann. Ansonsten stimme ich dem Gesagten vollauf zu.

Peter Merseburger:

Ich muß dem etwas widersprechen. Ich lebe in Berlin. Wenn ich mit Ostdeutschen rede, ist das ein Punkt, und Frau Hanewinckel gibt mir Recht.

Hans-Peter Schneider:

Frau Hanewinckels Satz „Wir sind beigetreten worden" gibt das Problem genau wieder.

Man hat ja auch die Verfassungsentwicklung, die demokratische Entwicklung der DDR, abgebogen und abgebrochen. Es gab am 17. Juni 1990 eine Verfassungsänderung, durch die sich die DDR als Bundesstaat konstituierte. Es gab ein Ländereinführungsgesetz, aber man hat die Länder gar nicht zur Entstehung kommen lassen. Die Länder sollten am 14. August 1990 geschaffen werden, dort sollten Landtagswahlen stattfinden. Dies sollte alles noch vor der Einigung, in der DDR, stattfinden. Der Prozeß sollte wiederholt werden, den wir im westlichen Staat nach 1945 durchlaufen haben. Dies ist durch den Einigungsvertrag abgeschnitten worden, der vorsah, daß die Länder erst am 3. Oktober 1990 zur Entstehung kommen sollten.

Hans Mommsen:

Ich meine, daß die Frage der Eingliederung der neuen Bundesländer ein Spezialfall des allgemeinen Problems ist, das mit der Globalisierung der Politik und namentlich auch mit der europäischen Einbindung erkennbar wird: Unter den modernen Bedingungen verringern sich die technischen Möglichkeiten, auf den politischen Entscheidungsprozeß Einfluß zu nehmen. Das heißt, der alte liberale Weg - wir setzen das Parlament zusammen, und dann reden wir darüber und finden die beste Lösung in der Diskussion - ist überhaupt nicht mehr gangbar. Es wird neue Methoden geben müssen, die vielen unübersichtlichen Expertenkommissionen, die im Hintergrund der parlamentarischen Beratungen stehen, so einzubinden, daß der Bürger nicht den Eindruck gewinnt, dieser Prozeß finde unabhängig von seinem Dafürhalten statt. Das wird von den Ostdeutschen besonders stark artikuliert, aber Frau Däubler-Gmelin sagt auch, daß das ist im Westen natürlich nicht sehr anders ist.

Wir könnten jetzt darüber debattieren, ob etwa der Versuch, Nichtparteimitgliedern Einfluß auf die Kandidaturen einzuräumen, ob weiter der Versuch, Parteivorsitzende oder Kandidaten durch die Mitglieder in plebizitärer Weise zu wählen, ob diese Versuche der Auflockerung des vorher sehr starr vertretenen Repräsentativsystems zu Lösungen führen. Das sind ganz offene Felder. Ich glaube nur, daß von seiten der Ostdeutschen etwas zu viel erwartet wurde, was die objektiven Möglichkeiten dieser großen politischen Systeme angeht, und daß im Grunde eben doch die Identifikation des Bürgers mit dem System auf der Ebene der Kommune und der Region gesucht werden muß.

Schließlich will ich drittens nur als Merkposten festhalten, daß nach meiner Ansicht die Parteien nicht so weitergeführt werden dürfen wie bisher. Dies ist weniger eine Frage des Verfassungsrechts als der allgemeinen politischen Ordnung. Aber ich bin der Auffassung, daß die Monopolstellung der Großparteien mit riesigen Apparaten auf Dauer nicht weiter tragfähig ist, übrigens auch im europäischen Zusammenhang. Auch wenn ich mich hier damit unbeliebt mache, halte ich zum Beispiel die Außenvertretungen der deutschen politischen Parteien in Konkurrenz zu den Goethe-Instituten und den Botschaften für völlig überflüssig. Überhaupt wird die politische Initiative der Parteien durch die Übernahme staatlich finanzierter Pflegeaufgaben von ihrer eigentlichen Tätigkeit, der politischen Mobilisierung des Wählers, abgelenkt. Hier wäre einiges zu tun, was uns wahrscheinlich europafähiger machen würde. Das Grundproblem liegt darin, daß wir immer gegen feste Parteienmehrheiten anrennen. Da weiß ich mir keinen Ausweg.

Peter Merseburger:

Zum Abschluß bitte ich die Damen und Herren auf dem Podium um eine kurze resümierende Stellungnahme.

Hans-Peter Schneider:

Ich unterstreiche nochmals meine Skepsis gegenüber der Hoffnung, daß alles in Europa gerechter, besser und einfacher wird als im nationalen Rahmen. Wir sollten statt dessen überlegen, ob wir nicht doch West und Ost über Gespräche näher zusammenbringen können, die unser Grundgesetz zum Gegenstand haben, vor allem, wenn es jetzt um existentielle finanzielle Fragen gehen wird im Osten.

Christel Hanewinckel:

Angesichts der Föderalismus-Debatte fürchte ich mehr und mehr, daß wir in Kleinstaaterei abgleiten. Genau das will ich nicht. Ich will Ihnen deshalb ein Zitat aus dem Entwurf zur Änderung des Grundgesetzes mit auf den Weg geben, den die SPD-Fraktion und die SPD-regierten Länder in die Verfassungskommission eingebracht haben (vgl. Anlage 2). Darin wird deutlich, wie sehr Deutschland die innere Einheit nötig hat, um eben dadurch einem geeinten Europa angehören zu können. Wir wollten folgende Präambel für das Grundgesetz:

„Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden, der Gerechtigkeit und der Solidarität in der einen Welt zu dienen, und in dem Bestreben, die innere Einheit Deutschlands zu vollenden, hat sich das Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben".

Herta Däubler-Gmelin:

Diese Präambel zeigt genau, was im derzeitigen Stadium des Nationalstaates unsere Verfassung sein kann und leisten soll. Komme ich zurück auf das Leitthema unserer Veranstaltung - Lernen aus der Geschichte - , so hat der Parlamentarische Rat aus den Erfahrungen der Geschichte optimal gelernt, soweit man dies kann. Nach meinem Eindruck ist uns das nach der deutschen Einheit nicht gelungen. Ich hoffe allerdings, daß wir aus beiden Erfahrungen für die neue Aufgabe, die Gestaltung Europas, lernen können.

Peter Merseburger:

Anstelle eines Schlußworts will ich abschließend Hans Mommsen zitieren, der gesagt hat: „Das Grundgesetz ist ein großes Erbe, es ist gut zu verwalten, aber es ist weiter zu entwickeln." Die Diskussion hat klargemacht, daß diese Weiterentwicklung gerade nach der deutschen Einigung erst am Anfang steht.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | April 1999

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