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1848 und 1918 - zwei deutsche Revolutionen : Vortrag vor dem Gesprächskreis Geschichte der Friedrich-Ebert-Stiftung am 4. November 1998 / Dieter Langewiesche. - [Electronic ed.]. - Bonn, 1998. - 31 S. = 67 Kb, Text . - (Gesprächskreis Geschichte ; 20). - ISBN 3-86077-776-9
Electronic ed.: Bonn: FES Library, 1999

© Friedrich-Ebert-Stiftung


INHALT








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Vorbemerkung des Herausgebers

Am 4. November 1998 hielt Herr Prof. Dr. Dieter Langewiesche (Universitäten Tübingen und Erfurt) im Gesprächskreis Geschichte der Friedrich-Ebert-Stiftung einen vielbeachteten Vortrag, der, mit Anmerkungen versehen, hiermit im Druck vorgelegt wird.

Anlaß dieser Veranstaltung war ein Doppeljubiläum: Vor 150 Jahren ging eine revolutionäre Welle durch Europa und erfaßte auch Deutschland. 1848 - das bedeutete früher in erster Linie eine halbe, eine unvollendete, eine gescheiterte Revolution. Heute neigen wir eher zu einer positiveren Sicht, die die langfristigen Auswirkungen in den Blick nimmt, ohne die von dort ausgehenden langen Schatten des Nationalismus zu übersehen. Das haben zahlreiche Veranstaltungen und Ausstellungen, Zeitungs- und Zeitschriftenartikel, Rundfunk- und Fernsehsendungen wie auch Bücher in diesem Jahr deutlich gemacht, die der 48er Revolution eine bis vor kurzem noch unvorstellbare Resonanz im öffentlichen Bewußtsein verschafft haben.

Völlig entgegengesetzt verhält es sich mit dem zweiten Jubiläum, das wir gerade begangen haben. Vor 80 Jahren fegte die Revolution von 1918 das Kaiserreich hinweg und begründete eine neue Phase der deutschen Geschichte, die Weimarer Republik, deren Defizite und letztliches Scheitern primär aus ihrer Entstehung in der Revolution erklärt wird. Während aber noch vor zehn Jahren - im Zeichen der Systemkonkurrenz - die Revolution von 1918 einen sehr hohen Stellenwert in der historisch-politischen Diskussion besessen hat, scheint sie nach 1989 in eine Falte im Mantel der Geschichte gerutscht zu sein. Zur Zeit nimmt man sie jedenfalls kaum zur Kenntnis.

In dem hier veröffentlichten Vortrag wird versucht, beide Revolutionen gemeinsam in den Blick zu nehmen, Übereinstimmungen und Unterschiede, Kontinuitäten und Diskontinuitäten herauszuarbeiten. Dies ist natürlich, wie in der Diskussion angemerkt worden ist, nur auf einer mittleren Abstraktionsebene und unter Ausklammerung mancher, nicht vergleichbarer Phänomene möglich. In gewisser Weise müssen Vergleiche ja immer einebnen. Dafür kommen durch die Gegenüberstellung spezifische Grundmuster schärfer in den Blick, werden langfristige Entwicklungstrends deutlicher herausgearbeitet als bei einer Beschränkung nur auf eine Revolution.

Beiden Revolutionen - der von 1848 und der von 1918 - sollten wir unser Augenmerk widmen, wenn wir nach den Traditionen unserer deutschen Demokratie suchen.

Bonn, im November 1998
Dr. Dieter Dowe
Leiter des Historischen Forschungszentrums

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Dieter Langewiesche:
1848 und 1918 - zwei deutsche Revolutionen



I. [Teil]

Ohne Revolution keine Demokratie: dieser Glaubenssatz, historisch unverbürgt, aber voller suggestiver Kraft, liegt dem Deutungsmuster ‘deutscher Sonderweg’ zugrunde. Inzwischen ist es verblaßt, doch lange hat es das Bild von der jüngeren deutschen Geschichte bestimmt und - das sollte bei aller Kritik nicht übersehen werden - die Forschung stimuliert. Deutschland, so sagte man, ist ein Land ohne Revolution und deshalb unfähig zur Demokratie. Zwar konnte auch Deutschland, als diese Sonderwegsthese entstand, auf zwei Revolutionen zurückblicken, aber sie gingen nicht ins kollektive Gedächtnis ein, schufen keine Ursprungsmythen, derer sich die Nachgeborenen vergewisserten, wenn es galt, Zukunft zu gestalten. Ganz anders die amerikanische, die französische, die russische, die chinesische Revolution. Mit ihnen sind die Revolutionen von 1848 und 1918 nicht zu vergleichen. [ Den gegenwärtigen Forschungsstand zur Revolution von 1848/49 vermitteln: - zu Deutschland: Wolfram Siemann, Die deutsche Revolution von 1848/49, Frankfurt a. M. 1985; Christoph Dipper (Hg.), 1848. Revolution in Deutschland, Frankfurt a.M. 1998; Christian Jansen, Thomas Mergel (Hg.), Die Revolutionen von 1848/49, Göttingen 1998; - zu E uropa : Dieter Dowe, Heinz-Gerhard Haupt, D. Langewiesche (Hg.), Europa 1848. Revolution und Reform, Bonn 1998; D. Langewiesche (Hg.), Demokratiebewegung und Revolution 1847 bis 1849. Internationale Aspekte und europäische Verbindungen, Karlsruhe 1998; ders. (Hg.), Die Revolutionen von 1848 in der europäischen Geschichte, München 1999 (Historische Zeitschrift, Beiheft); Wolfgang Hardtwig (Hg.), Revolution in Deutschland und Europa 1848/49, Göttingen 1998. Auch die Kataloge zu den Ausstellungen des gegenwärtigen Jubi läumsjahres bieten Überblicke und Neues; s. vor allem: 1848. Aufbruch zur Freiheit. Eine Ausstellung des Deutschen Historischen Museums und der Schirn zum 150jährigen Jubiläum der Revolution von 1848/49, hg. v. Lothar Gall, Berlin 1998; Badisches Landesmuseum (Hg.), 1848/49. Revolution deutscher Demokraten in Baden, Baden-Baden 1998 sowie die Kataloge zu den Ausstellungen des Hauses der Geschichte Baden-Württemberg: „Des Volkes Freiheit". Die Revolutionäre von Offenburg 1847-1849; Heute ist Freiheit. Bauernkrieg im Odenwald; Nationalität trennt, Freiheit verbindet; Freiheit oder Tod. Die Reutlinger Pfingstversammlung und die Revolution von 1848/49 (alle Stuttgart 1998). Den besten Zugang zur Revolution von 1918/19 bietet Eberhard Kolb, Die Weimarer Republik, München 3 1993 (mit der wichtigsten Literatur). Zur europäischen Dimen sion vgl. insbesondere Francis L. Carsten, Revolution in Mitteleuropa, Köln 1973; Charles Maier, Recasting Bourgeois Europe. Stabilization in France, Germany and Italy in the Decade after World War I, Princeton N.J. 1975.] Nicht weil sie gescheitert wären. Für 1918 kann man dies ohnehin nicht sagen. Immerhin wurde die monarchisch-konstitutionelle Herrschaftsordnung des Kaiserreichs, immer noch stark obrigkeitsstaatlich bestimmt, ersetzt durch eine parlamentarische Republik, und das revolutionäre Ende der Habsburgermonarchie veränderte zur gleichen Zeit die territoriale und die politisch-gesellschaftliche Ordnung eines großen Teils Europas zutiefst. Mit welchen Kriterien auch immer man den Erfolg einer Revolution messen will - sie sind außerordentlich umstritten -, erfolglos waren die Revolutionen am Ausgang des Ersten Weltkrieges gewiß nicht. Aber sie entfalteten keine Erinnerungskraft, zwangen nicht, die überkommenen Geschichtsbilder zu übermalen, erhielten keinen prominenten Ort im nationalen Mythenhaushalt. Nur dies kann gemeint sein, wenn Deutschland das Land ohne gelungene Revolution genannt wird.

1848/49 und 1918/19 - zwei deutsche Revolutionen in einem Europa, das dramatische Umbrüche erlebte, zwei Revolutionen, die im Rückblick selten verglichen werden. Das gilt auch für das gegenwärtige Jubiläumsjahr. Es vergibt seine Gunst sehr einseitig. 150 Jahre achtundvierziger Revolution wird breit und in bunter Vielfalt erinnert [ Vgl. die Skizze bei D. Langewiesche, Die Revolution von 1848/49 in der Erinnerung des Jubiläumsjahres 1998 (Vortrag auf dem Deutschen Historikertag 1998; erscheint 1999 im Berichtsband).] ; 80 Jahre Revolution 1918, immerhin die Geburtsstunde der ersten demokratischen Republik in Deutschland, ist der heutigen Republik kaum die Rede wert. Meine Internet-Suche ergab 28 Ausstellungen derzeit in Deutschland zu 1848, aber keinen einzigen Eintrag zu 1918. [ Anfrage im Oktober 1998.] Wer heute an 1848 erinnert, hat die zweite deutsche Revolution - sie war bei allen Grenzen, die von der Forschung scharf herausgearbeitet wurden, weitaus erfolgreicher als die erste - nicht im Blick. Das war 1918 ganz anders gewesen. Dies gilt es, zunächst zu skizzieren, um dann, zum Teil damit verwoben, die beiden deutschen Revolutionen in einigen ausgewählten Aspekten zu vergleichen.

II. [Teil]

Wer in der Weimarer Nationalversammlung 1919 Rechenschaft ablegte über die Ziele der Revolution, die man soeben erlebt hatte und von der man noch nicht wissen konnte, ob sie bereits ihr Ende erreicht hatte, wogegen sie sich richtete, welche Traditionen sie fortsetzte, kurz: wie ihr Ort in der jüngeren deutschen Geschichte zu bestimmen sei - wer danach fragte, blickte gerne auf 1848 zurück. Es waren vor allem Repräsentanten der Mehrheitssozialdemokratie und der Linksliberalen, die eine Brücke zwischen diesen beiden Revolutionen schlugen. Einer von ihnen war Wilhelm Keil. In einer großen Rede [ Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Bd. 326, Berlin 1920, am 14. Februar 1919, S. 72-76; dort alle folgenden Zitate.] entwickelte er ein sozialdemokratisches Geschichtsbild, das ein Gegenmodell zu den etablierten Geschichtsvorstellungen entwarf, wie sie in Schulbüchern und auch in der professionellen Geschichtswissenschaft vermittelt wurden - damals. 30 Jahre später, nach den Erfahrungen mit der nationalsozialistischen Diktatur und dem Zweiten Weltkrieg begann sich dieser Außenseiterblick in ein Mehrheitsmodell zur Erklärung der jüngeren deutschen Geschichte zu verwandeln. Pointiert gesagt: vom „deutschen Weg" zum „deutschen Sonderweg", von der positiven zur negativen Wertung der Besonderheiten in der deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. [ Grundlegend dazu Bernd Faulenbach, Ideologie des deutschen Weges. Die deutsche Geschichte in der Historiographie zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, München 1980.]

Wilhelm Keil hat diese Urteilswende in seiner Rede vorweggenommen und in einer Weise begründet, wie sie später von der professionellen Sonderwegshistorie nicht grundsätzlich überholt worden ist. Er sprach damals den Sozialdemokraten aus dem Herzen; der häufige Beifall, der ihn unterbrach, beweist es. Indem er eine direkte Linie von 1848 zu 1918 zog, von der ersten Revolution zur zweiten, erklärte er die Arbeiterklasse zum Erben und zugleich zum Vollstrecker der gescheiterten ‘Revolution des Bürgertums’. 1918 vollende 1848 und reihe damit Deutschland verspätet in die westeuropäische Geschichte ein. In den Worten Keils: „Mit einem Schlage ward das alte konservative Deutschland zu einem freien demokratischen Staatswesen. Die Arbeiterklasse holte damit nach, was das deutsche Bürgertum versäumt hatte. War es England schon von 300 Jahren gelungen, die Feudalherrschaft zu zertrümmern, war Frankreich vor 130 Jahren mit ihr fertig geworden, so hatte das deutsche Bürgertum nach der mißlungenen Märzrevolution sich mit dem Fortbestehen der Junkerherrschaft abgefunden. Erst die Arbeiterschaft hat der Junkerherrschaft in Deutschland in der Novemberrevolution für immer ein Ende bereitet."

Keil sah durchaus, daß sich 1918 die Revolution im Vergleich zu 1848 in einem gänzlich veränderten Handlungsfeld ereignete. Doch es gab für ihn kein Zweifel: 1918 mußte geschehen, weil 1848 nicht verwirklicht hatte, was das Telos der Geschichte verlangte: die Demokratie verwirklichen, den „wirtschaftlichen Fortschritt" durch den „politischen Fortschritt" ergänzen. Hier nahm er mit seinem durch und durch auf Modernisierung gestimmten sozialdemokratischen Geschichtsbild ein zentrales Wertungskriterium der westdeutschen Geschichtsschreibung der sechziger Jahre vorweg: Es fordert als Normalweg in die Industriegesellschaft den Entwicklungsgleichschritt von Wirtschaft, Gesellschaft und Politik.

Die „Novemberrevolution", so Keil, sei historisch notwendig gewesen, um nachzuholen, was Deutschland im Gegensatz zum Westen versäumt hatte. Er hegte keinerlei Zweifel, was die Modernisierung Deutschlands blockiert habe - antidemokratische, fortschrittswidrige Sperriegel, die es beiseitezuräumen gelte: Militarismus und Bürokratismus als Hauptstützen eines im Machtkern immer noch feudalen Obrigkeitsstaates. So charakterisierte er das Kaiserreich. Die Revolution von 1918 sei deshalb erstens historisch unvermeidbar gewesen - damit verteidigte Keil die Revolution gegen alle, die meinten, der Reformweg sei bereits beschritten gewesen und der revolutionäre Aufstand der Arbeiter und Soldaten habe ihn nur gestört und gefährde ihn. Doch sie müsse zweitens unblutig auf geordnetem Wege vollendet werden, wie es der Mehrheitswillen der Deutschen verlange - damit grenzte Keil die Mehrheitssozialdemokratie gegen links ab, gegen die, wie er sagte, „links vom gesunden Menschenverstand sich bewegende Taktik des irregeleiteten extremen Bruchteils der Arbeiterschaft".

Wilhelm Keil präsentierte die Mehrheitssozialdemokratie als die Partei der demokratischen Revolution - eine Revolution „ohne Blutvergießen", denn das Blut des „Bürgerkrieges" komme auf „das Konto derer, die den Volkswillen als entscheidende Macht im Staate nicht anerkennen wollen." Vor allem aber forderte der Sozialdemokrat eine Revolution, die in die Verfassungsinstitutionen verlegt werden müsse: „Je kürzer der Zeitraum der gesetzlosen Zeit, desto besser für unser Volk. Die gewaltsame Revolution ist nicht Selbstzweck, sie ist das Mittel zur Erreichung eines bestimmten Zieles." Kann dieses Ziel „auf gesetzlichem Wege durchgesetzt werden, so muß dieser gesetzliche Weg beschritten werden." Diese Aufgabe habe die Nationalversammlung zu erfüllen. Sie sei selber ein Teil der Revolution, genauer: „ein Zeichen der fortdauernden Revolution. Ein revolutionierender Umbau des ganzen Reichsgebäudes ist auszuführen." Dieses revolutionäre Gesetzeswerk durchzusetzen, sei die historische Aufgabe der Sozialdemokratie - die Partei einer Revolution ohne Gewalt und Chaos.

Dieses sozialdemokratische Programm einer demokratischen Revolution auf gesetzlichem Wege verteidigten in der Nationalversammlung auch Redner, die stärker als Wilhelm Keil das Neue an 1918 gegenüber 1848 herausstrichen. Nur keine Revolution im historischen Kostüm, forderte zum Beispiel Hans Vogel - weder das Kostüm von 1848 noch „Kostüm und Sprache aus dem Lande des früheren Zarismus." [ Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Bd. 326, Berlin 1920; alle Zitate ebd., S. 458f. (3. März 1919). Hervorhebungen stets im Original.] Die gegenwärtige Revolution dürfe nicht lediglich auf die Mittel von 1848 zurückgreifen, weil sich beide Revolutionen nach ihren Ursachen und Trägern grundsätzlich unterschieden: nicht mehr bürgerliche Revolution, sondern proletarische. Doch, so auch Vogel, das „Ziel dieser Revolution", die „Errichtung einer sozialistischen Republik auf demokratischem Wege", könne nicht auf einem „wüsten Trümmerhaufen", einem „Scherbenhügel" erreicht werden. Deshalb wolle die Sozialdemokratie im Gegensatz zu den „Heilsaposteln aus dem Osten" mit dem Verfassungswerk der Nationalversammlung einer „organischen Entwicklung" den Weg ebnen.

Dieses sozialdemokratische bzw. mehrheitssozialdemokratische Revolutionsprogramm, das die beiden zitierten Redner in der Weimarer Nationalversammlung erkennen lassen, hätte - übersetzt in die politische Rhetorik des 19. Jahrhunderts - in seiner Handlungsperspektive und Handlungsanweisung auch in der Frankfurter Nationalversammlung von Repräsentanten der bürgerlichen Reformmehrheit, seien es gemäßigte Demokraten oder Liberale, vorgelegt werden können. [ Vgl. dazu Franzjörg Baumgart, Die verdrängte Revolution. Darstellung und Bewertung der Revolution von 1848 in der deutschen Geschichtsschreibung vor dem Ersten Weltkrieg, Düsseldorf 1976; D. Langewiesche, Liberalismus und Revolution in Deutschland 1789-1871, in: Liberalismus und Revolution. 2. Rastatter Tag zur Geschichte des deutschen Liberalismus, St. Augustin 1990, S. 25-40; ders., Revolution in Deutschland: Verfassungsstaat - Nationalstaat - Gesellschaftsreform, in: Europa 1848, S. 167-195.] Denn 1848 wie 1918 ging es diesen Reformern in revolutionärer Zeit im Kern um zweierlei: eine Revolution, die sie nicht ausgelöst hatten, entschlossen nutzen, um die alten Reformblockaden zu durchbrechen, dann jedoch sofort die Revolution kanalisieren zu einem Reformprozeß, der durch ein demokratisch gewähltes Parlament legitimiert wird. Dies war die Handlungsperspektive einer ‘Revolution auf gesetzlichem Wege’, einer möglichst gewaltfreien Revolution ohne staatliches Institutionenvakuum und ohne Chaos. Deshalb verzichtete man darauf, die eigenen Ziele durch einen radikalen Bruch mit der Vergangenheit erzwingen zu wollen. Statt dessen setzte man auf einen längerfristigen Entwicklungsprozeß, dem institutionell der Weg bereitet werden sollte. Die Revolution einhegen in Institutionen, die man so umzubauen gedachte, daß sie dauerhaft zu demokratisch legitimierten Reformen fähig sein würden - das war die Handlungsoption, die man vor Augen hatte: eine Institutionenrevolution als Reformoption auf die Zukunft. In dieser Grundhaltung stimmten die achtundvierziger Demokraten und Liberalen mit den Mehrheitssozialdemokraten und auch den Linksliberalen [ Vgl. etwa Friedrich Naumanns Ausführungen über „leitende Grundgedanken" von 1848 und 1919 in seinem Bericht über die Grundrechte; Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Bd. 336, Berlin 1920, S. 176-182, Zitat S. 176 (Aktenstück 391).] von 1918 überein. Darin liegt eine der zentralen Strukturanalogien zwischen den beiden Revolutionen.

Über die konkreten Handlungsspielräume, die auch eine solche Politik der Reform-Revolution besaß, ist damit noch nichts ausgesagt. Die Forschung hat sie seit den späten fünfziger Jahren intensiv ausgeleuchtet. Stärker einschneidende Reformen wären 1918/19 möglich und nötig gewesen: Dieses Ergebnis, wie es in den damals bahnbrechenden Studien von Erich Matthias, Eberhard Kolb, Reinhard Rürup zu fassen ist [ Vgl. Erich Matthias, Zwischen Räten und Geheimräten. Die deutsche Revolutionsregierung 1918-1919, Düsseldorf 1970; Eberhard Kolb, Die Arbeiterräte in der deutschen Innenpolitik 1918 bis 1923, Düsseldorf 1962 ( 2 1978); ders. (Hg.), Vom Kaiserreich zur Weimarer Republik, Köln 1972; Reinhard Rürup, Probleme der Revolution in Deutschland 1918/19, Wiesbaden 1968. Vgl. neben E. Kolbs Forschungsbilanz in seinem Weimar-Buch (Anm. 1) auch seine knappen Gesamtdarstellungen: 1918/19: Die steckengebliebene Revolution, in: Carola Stern und Heinrich August Winkler (Hg.), Wendepunkte deutscher Geschichte 1848-1945. Frankfurt a.M. 1979, S. 87-109; Die Revolution 1918/19. Ausbruch, Verlauf, Interpretationen, in: D. Langewiesche (Hrsg.), Ploetz - Das deutsche Kaiserreich. Freiburg - Würzburg 1984, S. 227-238; Vom Kaiserreich zur Republik. Politische Neuordnung im Zeichen von militärischer Niederlage und Staatsumsturz, in: G. Schulz (Hg.), Ploetz - Weimarer Republik. Freiburg 1986, S. 18-31.] , läßt eine weitere Verbindungslinie zwischen den beiden Revolutionen sichtbar werden - eine Gemeinsamkeit in der Forschungsentwicklung und in der historiographischen Deutungsgeschichte. Natürlich geht es um Gemeinsamkeiten in einem kontroversen Feld, denn wie jede Deutung ist auch diese in doppelter Weise kontrovers: Entwickelt wird sie als Widerspruch gegen andere, und zugleich wird ihr durch andere widersprochen.

Diese Kontroversen müssen hier nicht nachzeichnet werden, und es ist auch nicht erforderlich, ein weiteres Mal die Frage nach den konkreten Handlungsspielräumen in dieser demokratischen Revolutionskonzeption aufzunehmen, um dann zu sehen, was die Demokraten und Liberale von 1848 mit Sozialdemokraten und Linksliberalen von 1918 verbindet. Dies würde voraussetzen, die Handlungsabläufe detailliert zu verfolgen. Statt dessen werden die beiden Revolutionen hier in ihren Grundproblemen und Grundentscheidungen verglichen. Die Frage nach ihrem jeweiligen Ablauf und den einzelnen Handlungsoptionen, die sich dabei feststellen lassen, einschließlich der unausgeschöpften, tritt dabei in den Hintergrund.

III. [Teil]

Bürgerliche Revolution 1848 - proletarische 1918, auf diesen Gegensatz haben die beiden zitierten Sozialdemokraten den Vergleich zwischen den zwei Revolutionen zugespitzt. Als aktuelle Gegenwartsaufgabe der proletarischen Revolution definierten sie die Durchsetzung der Demokratie als Grundvoraussetzung für einen evolutionären Weg zur sozialistischen Republik, dem Endziel sozialdemokratischer Geschichtserwartung. Friedrich Naumann, der Linksliberale, stimmte für die Gegenwart, nicht für das Endziel, durchaus zu, wenn er in der Weimarer Nationalversammlung zwischen dem Rechtsstaat von 1848 und dem Volksstaat von 1918 unterschied. „Indem die Sozialdemokraten in den Staat eintreten, bringen sie ein ganz anderes Grundprinzip mit sich." [ Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Bd. 336, Berlin 1920, S. 176-182; dort auch die folgenden Zitate.] Die „individualistischen" Grundrechte müßten nun durch „sozial-ökonomische" ergänzt werden. Ein „rein sozialistisches Staatsrecht" sei unmöglich, doch der „Versuch eines sozialen Staatsrechts" sei unverzichtbar. Als Ergebnis erhoffte er „eine Art Verständigungsfriede[n] zwischen Kapitalismus und Sozialismus."

Bürgerliche Revolution versus proletarische oder sozialistische Revolution - diese lange Zeit gebräuchlichen Etiketten sind von der Forschung gründlich in Frage gestellt worden. Da sie jedoch schon von den Zeitgenossen der Revolution benutzt wurden, also die Erwartungen, Hoffnungen oder Ängste der damals Handelnden und Miterlebenden ausdrücken, sollten wir diese Begriffe nicht vorschnell beiseite legen, sondern fragen: Was haben diese Worte damals bedeutet? Welche Revolutionskonzeptionen lassen sie im Vergleich zwischen 1848 und 1918 erkennen?

1848 - eine ‘bürgerliche Revolution’, diese Charakterisierung darf nicht verengt werden auf ‘Revolution des Bürgertums’. Das wäre völlig unangemessen, wie die Forschung der letzten Jahrzehnte gezeigt hat und wie auch schon die Zeitgenossen wußten. ‘Bürgerliche Revolution’ ist aber ein weiterhin angemessener, weil erhellender Begriff, vorausgesetzt, er wird so verstanden, wie ihn Liberale und Demokraten damals gemeint haben: eine Revolution, die der ‘bürgerlichen Gesellschaft’ zum Durchbruch verhelfen sollte [ Vgl. dazu genauer D. Langewiesche, Revolution in Deutschland. Verfassungsstaat - Nationalstaat - Gesellschaftsreform, in: Europa 1848, S. 167-195, 189f.] - ‘bürgerliche Gesellschaft’ verstanden als eine nicht mehr ständisch-korporativ verfaßte Gesellschaft in einem demokratisierten Staat, entwicklungsoffen, indem die politische Willensbildung sich auf einem freien Meinungsmarkt ohne staatliche Willkür vollzieht, umgesetzt in staatliches Handeln durch Institutionen, die durch Wahlen legitimiert sind. Diese Form staatlichen Handelns und gesellschaftlicher Teilhabe daran wollten Liberale und Demokraten 1848/49 durchsetzen. Deshalb versuchten sie, die politische Öffentlichkeit zu organisieren und das Parlament - 1848/49 heißt das vor allem: die Frankfurter Nationalversammlung - zum zentralen Entscheidungsort zu machen. Dies war ebenso die Leitlinie politischen Handelns der Mehrheitssozialdemokraten und der Linksliberalen, als das Kaiserreich im Kriegsende unterging.

Sofort eine Nationalversammlung wählen, in ihr die staatliche Entscheidungskompetenz konzentrieren und das Verfassungswerk schnellstens beenden, um den zu langen Weg zur Verfassung von 1849, auf den Naumann warnend verwies [ Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Bd. 336, Berlin 1920, S. 176.] , nicht erneut gehen zu müssen - diese Marschroute diente 1918/19 dazu, die neue Ordnung gegen nichtdemokratische Versuche aller Art zu festigen, gegen monarchische Restauration von rechts und zugleich gegen Diktatur von links. Naumann verglich die Weimarer Verfassung nicht nur mit den deutschen Verfassungen von 1849, 1867 und 1871; „direkte Konkurrenz der Verfassung, die wir jetzt herstellen", sei „die neueste Verfassung der Gegenwart, die bolschewistisch-russische Verfassung vom
5. Juli 1918". Wie die französischen Verfassungen von 1791 und 1793 „ostwärts gerollt" seien, obwohl dies die meisten Deutschen nicht gewollt hätten, könne heute niemand wissen, „welchen Weg die bolschewistische Verfassung von Moskau aus nach Westen geht." „Die politische Frage heißt für uns heute: Entweder wir werden hineingezogen in die russische Sowjeträte-Auffassung oder wir werden herangegliedert an die westeuropäisch-amerikanische Form." [ Alle Zitate ebd., S. 180.]

Daß diese Diagnose nicht realitätsgerecht war, hat die Forschung gezeigt. Das spielt hier jedoch keine Rolle. Gefragt wird nach der Konzeption, die von denen vertreten wurde, die 1919 die Institutionenrevolution bejaht haben, um dieses Programm vergleichen zu können mit den Erwartungen derer, die sich 1848 für eine solche Revolution eingesetzt hatten. In beiden Fällen, 1848/49 wie 1918/19, ging es ihnen darum, mit der neuen institutionellen Ordnung, niedergelegt in der Verfassung und legitimiert durch die demokratisch gewählte Nationalversammlung, zwei Dämme zu errichten, zwischen denen sich die neue politische Ordnung entfalten sollte. Der eine Damm richtete sich gegen die Kräfte der Restauration, die mit Blick zurück in die Vergangenheit die Gegenwart ablehnten, der andere gegen die Verfechter einer Revolution, die im Namen der Zukunft mit der Gegenwart radikal brechen wollten.

Die reformwilligen Deichgrafen von 1918/19 kamen aus der Mehrheitssozialdemokratie und dem Linksliberalismus, 1848/49 aus den Kreisen der gemäßigten Demokraten und der Liberalen. Als Gegner von rechts hatten beide die restaurativen Monarchisten vor Augen und auf der Linken diejenigen, von denen sie eine revolutionäre Minderheitendiktatur befürchteten. Die Gegner rechts und links hatten ihre Gestalt verändert, doch die Überzeugung, die demokratische Revolution sei von beiden bedroht und könne nur gefestigt werden, wenn die staatliche Ordnung nicht zusammenbreche, beherrschte 1848 wie 1918 gleichermaßen das Denken der revolutionären Reformer. Die Realität wurde von diesem Denken in beiden Revolutionen nicht angemessen erfaßt. Das hat die Forschung gezeigt. Die Verfechter einer Revolution nach bolschewistischem Muster verfügten 1918/19 auch in den neuen Revolutionsinstitutionen, den Arbeiter- und Soldatenräten, nicht über Mehrheiten, und 1848/49 stellten die entschiedenen Republikaner, die einen kompromißlosen Bruch mit der Vergangenheit verlangten, auf allen Ebenen der Politik nur eine Minderheit. Alle ihre Versuche, eine zweite Revolution gegen die Nationalversammlung durchzusetzen, scheiterten. In der Wahrnehmung der reformwilligen Mehrheit bedeuteten gleichwohl die Revolutionäre von links, die sich den Mehrheitsentscheidungen nicht fügen wollten, eine reale Bedrohung. Unter dem Eindruck dieser Gefahr verengten sich in der Perzeption der Reformer die Handlungsspielräume, die sie für realisierbar hielten, und sie suchten den Rückhalt bei Stützen der alten Ordnung, insbesondere dem Militär und der Bürokratie.

Richard Löwenthal hat diese Deutung über das Handeln der politischen Eliten hinaus ausgeweitet, indem er aus dem Vergleich europäischer Revolutionen des 20. Jahrhunderts einen „Anti-Chaos-Reflex" der „industriellen Bevölkerungen in Krisenzeiten" erschließt. [ Richard Löwenthal, Bonn und Weimar. Zwei deutsche Demokratien, in: Politische Weichenstellungen im Nachkriegsdeutschland 1945-1953, hg. v. Heinrich August Winkler (Geschichte und Gesellschaft, Sonderheft 5), Göttingen 1979, S. 9-25, 11.] Seine Analyse zielt also nicht auf den begrenzten Kreis derer, die in Entscheidungspositionen saßen. Er spricht vielmehr von der „Revolutionsscheu der demokratisch gesinnten Massen" als einem „Merkmal entwickelter Industriegesellschaften" [ Ebd., S. 12.] - eine stimulierende Deutung, die jedoch nicht auf die Phase der entwickelten Industriegesellschaft eingeengt werden sollte. 1848 kann man für Deutschland zwar noch nicht von einer solchen Gesellschaft sprechen, doch die staatliche Ordnung griff bereits stark genug in das Alltagsleben der Bürger ein, um den gesellschaftlichen Anti-Chaos-Reflex auszulösen, der das republikanische Experiment mit seiner Kampfansage an die historisch gewachsene Staatlichkeit nicht mehr zuließ. Obwohl radikale Republikaner 1848/49 nur eine Minderheit stellten, sah die Reformmehrheit aus Liberalen und gemäßigten Demokraten in ihr ebenso eine akute Untergangsdrohung wie die Reformmehrheit von 1918/19 in der Minderheit derer, die ein bolschewistisches Rätedeutschland erzwingen wollten.

Rote Republik 1848, Bolschewismus 1918 - in diesen Schreckworten bündelten sich die Ängste der Reformer vor dem Abgleiten in eine Minderheitendiktatur, die vor Terror nicht zurückschrecken würde. [ Zum dramatischen Wandel in der Geschichte des Begriffs ‘Republik’ vgl. D. Langewiesche, „Republik" und „Republikaner". Zur historischen Entwertung eines politischen Begriffs, Essen 1993.] Um diese Gefahr, die ihnen als real galt, abzuwehren, setzten Mehrheitssozialdemokratie und Linksliberalismus 1918/19 auf den gleichen politischen Kurs wie 1848/49 Liberale und gemäßigte Demokraten: die Revolution durch rasche Parlamentarisierung in eine Politik der legalen Reform verwandeln. Sie verlangten Strukturreformen, die Reformpolitik als künftige gesellschaftliche Daueraufgabe ermöglichen sollten, lehnten hingegen jeden Fortschrittssprung ab, der so stark mit der Gegenwart brechen würde, daß auf Gewalt nicht verzichtet werden könnte. Was an jakobinische terreur erinnerte, war 1848 unter der Reformmehrheit ebenso verpönt wie 1918 alles, was in die Nähe bolschewistischer Gewalt zu führen schien.

Um ein angemessenes Gesamtbild zu erhalten, dürfen über diese strukturellen Parallelitäten in der Politik der Reformmehrheiten der beiden deutschen Revolutionen die markanten Unterschiede selbstverständlich nicht unbeachtet bleiben. Auch die Zeitgenossen der entstehenden Weimarer Republik haben sie nicht übersehen, wenn sie sich in die Kontinuität zu 1848 stellten oder sich davon abgrenzten. Beides gab es. Ihre Haltung zur 48er Revolution wurde bestimmt von ihrer Gegenwartsdeutung und ihren Zukunftserwartungen. Je entschiedener sie den Bruch mit der Vergangenheit forderten, desto stärker betonten sie die Unterschiede zu 1848. Deshalb verneigte sich der Sprecher der USPD in der Grundrechtsdebatte der Weimarer Nationalversammlung, Oskar Cohn, zwar vor dem Verfassungswerk der Paulskirche, warnte aber, sich daran zu binden. Nur keine „aufgewärmte[n] Liebesschwüre" und kein „schal gewordenes Getränk". Die eigene „Umwälzung" gehe an „Größe und Tiefe weit über die von 1848 hinaus". [ Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Bd. 328, Berlin 1920, Zitat S. 1505 (11. Juli 1919).] Deshalb dürfe man die Revolution auch nicht vorschnell schließen wollen: „nach unserer Überzeugung [ist es] viel zu früh [...] jetzt bereits von einem Abschluß der geschichtlichen Periode zu sprechen, die man sich gewöhnt hat, die ‘deutsche Revolution’ zu nennen." Jetzt schon die „Kodifizierung" der Revolutionsergebnisse vorzunehmen führe nur zu deren „Mumifizierung", [ Ebd., Bd. 326, S. 355 (27. Februar 1919).] meinte der USPD-Redner, der den entschlossenen revolutionären Bruch forderte. Wer hingegen der Revolution von 1918 Kontinuität im Wandel abringen wollte, knüpfte an 1848 an, um das Neue zu begründen und ihm zugleich Grenzen zu ziehen. Einen entschiedenen Grenzstrich gegen jede Revolution zog die Rechte. So sprach der Abgeordnete Kahl von der DVP in der Grundrechtsdebatte davon, „die ganze Revolution" sei nichts als „ein großer Putsch" gewesen. Sein Geschichtsbild gründete auf dem monarchischen Nationalstaat von 1871, nicht auf der Revolution von 1848. [ Vgl. Kahls Rede v. 20. Februar 1919, in: ebd., Bd. 326, Zitat S. 222.]

Als Hugo Preuß, Staatssekretär des Innern, am 8. Februar 1919 den Entwurf eines Gesetzes über die vorläufige Staatsgewalt vorstellte, bündelte er Gemeinsamkeiten und Unterschiede der beiden Revolutionen in zwei Punkten, die auch heute noch Bestand haben: [ Ebd., S. 26-35; die folgenden Zitate S. 27f.; Hervorhebungen im Original.]

• Erstens, eine Verfassung zu schaffen, habe Vorrang vor allem anderen. Sie werde gestiftet aus der „Souveränität der Nation. Deutschland will eins sein, ein Reich, regiert vom Willen des Volkes unter Mitwirkung aller seiner Gliederungen." Darin sah er „die wunderbare Wiederholung der Erscheinungen".

• Zweitens, ganz anders sei hingegen die Grundvoraussetzung, unter der dieses Verfassungswerk geschaffen werden müsse: „Damals nach einer langen Zeit des Friedens ein aufsteigendes Volk, ein auch wirtschaftlich aufsteigendes Volk [...]; heute ein Volk nach schweren Kriegsleiden, nach dem Verlust eines der gewaltigsten Kriege der Weltgeschichte".

Der Gegensatz scheint radikaler kaum sein zu können: 1918 ereignete sich eine Revolution kriegsmüder Massen als eine „Frucht des Weltkrieges" (Wilhelm Keil) [ So Wilhelm Keil am 14. Februar 1919, ebd., S. 72.] , 1848 hingegen hoffte die Revolution auf den „Völkerfrühling", zeigte aber keine Scheu, Krieg als Wegbereiter von ‘Fortschritt’ einzusetzen. Dieser Unterschied ist aber nicht so fundamental, wie es auf dem ersten Blick aussehen mag. Denn die Vorstellung, mit dem Mittel des Krieges die Vision einer neuen, besseren Ordnung von Staat und Gesellschaft verwirklichen zu können, war im Ersten Weltkrieg nicht weniger wirkungsmächtig, als sie es unter den Achtundvierzigern gewesen war, und die bitteren Kriegserfahrungen hatten diese Vorstellung, wie Europa noch lernen mußte, keineswegs desavouiert. Der Erste Weltkrieg, so wurde nach 1918 offenkundig, hatte nicht die Idee vom Krieg als Fortschrittsinstrument entwertet, wohl aber zerstörte er auf Seiten der Verlierer das Vertrauen in die bestehende staatliche Ordnung.

Die Wege in die Revolution verliefen 1848 und 1918 anders, doch die zentrale Revolutionsursache war in beiden Fällen der Legitimitätsverfall der alten Ordnung. 1848 ging er aber noch nicht so tief wie 1918. 1848 wollte sich nämlich die Mehrheit der bürgerlichen Reformer noch mit einer liberalisierten Monarchie begnügen, 1918 hingegen konnte Friedrich Naumann in der Nationalversammlung unter dem Beifall der Linksliberalen und der Sozialdemokraten erklären, die deutsche Monarchie habe im Weltkrieg, dem „großen Fegefeuer der Weltgeschichte", nicht ihren „Befähigungsnachweis" erbracht. [ Ebd., S. 127 (13. Februar 1919); Hervorhebungen im Original.] 1848/49 hatte die bürgerliche Reformmehrheit noch geglaubt, auf die Monarchie als letztes Bollwerk gegen die ‘rote Republik’, als Reserveverfassung für den politischen Notfall, nicht verzichten zu können; [ Vgl. D. Langewiesche, Republik, konstitutionelle Monarchie und „soziale Frage". Grundprobleme der deutschen Revolution von 1848/49, in: ders. (Hg.), Die deutsche Revolution von 1848/49, Darmstadt 1983, S. 341-361.] 1918/19 lernte sie, daß sich die republikanische Staatsform auch einsetzen ließ, um die „sozialistische Republik" [ Zu ihrer Begründung in der Nationalversammlung vgl. u.a. die oben zitierte Rede Vogels.] abzuwehren und die überkommene Gesellschaftsordnung zu bewahren. Das französische Bürgertum hatte diese historische Lektion bereits 1848 begriffen, das deutsche holte sie erst 1918 nach. [ Vgl. Langewiesche, Republik. ] Auch dies hat Friedrich Naumann klar gesehen und scharf formuliert: „Der Satz ‘Mehrheit entscheidet’ ist heute ein staatserhaltender Satz nach rechts und nach links." [ Wie Anm. 6.] Dies hätten die Liberalen von 1848 nicht zu sagen gewagt. Sie vertrauten nicht auf die politische Einsicht der großen Zahl. Legitimität war für sie kein Produkt von Mehrheitsentscheidungen aller Erwachsenen. Das hatte sich 1918 geändert. Der Wille zur Demokratisierung verlangte nun, den Willen aller möglichst unverzerrt im Parlament zur repräsentieren - deshalb das Verhältniswahlrecht, Untergang alles dessen, was ihm lieb und teuer ist, hätte der liberale Achtundvierziger gewähnt; deshalb das Frauenwahlrecht, über das 1848 kaum ein Mann, gleich welcher politischen Couleur, als ernsthafte Möglichkeit nachgedacht hat.

Die emanzipatorischen Entwicklungen, die sich zwischen 1848 und 1918 auf dem Wege in eine demokratische Gesellschaft, in der alle über gleiche Rechte verfügen, vollzogen haben, lassen sich bis in Einzelheiten verfolgen. Dabei werden allerdings auch die Grenzen sichtbar, die immer noch bestanden. An der Rolle der Juden und der Haltung ihnen gegenüber tritt beides, Emanzipationsweg und dessen Grenzen, scharf hervor. 1848 zeigte sich die Paulskirche gewillt, mit ihrem Verfassungswerk den deutschen Weg der Judenemanzipation aufzugeben: nicht mehr Erziehungsemanzipation mit Assimilationspflicht, nicht mehr Emanzipation, auf „daß der Jude entjudet werde", wie es ein Emanzipationsbefürworter 1828 auf dem württembergischen Landtag formuliert hatte, sondern rechtliche und politische Gleichstellung des Juden als Juden. [ Vgl. mit weiterer Literatur Reinhard Rürup, Der Fortschritt und seine Grenzen. Die Revolution von 1848 und die europäischen Juden, in: Europa 1848 (wie Anm. 1), S. 985-1006; D. Langewiesche, Revolution und Emanzipation 1848/49: Möglichkeiten und Grenzen, in: Franz D. Lucas (Hg.), Geschichte und Geist. Fünf Essays zum Verständnis des Judentums, Berlin 1995, S. 11-34; zum Zitat aus dem württembergischen Landtag von 1828 vgl. D. Langewiesche, Liberalismus und Judenemanzipation im 19. Jahrhundert, in: Juden in Deutschland. Emanzipation, Integration, Verfolgung und Vernichtung, hg. v. Peter Freimark, Alice Jankowski, Ina S. Lorenz, Hamburg 1991, S. 148-163, 149.] Das war neu und für die Gesellschaft so revolutionär, daß sie mit einer breiten Abwehr reagierte: von antijüdischen Pogromen vor allem in der Anfangsphase der Revolution bis zu den vielen antijüdischen Äußerungen, die sich durch die Revolution hindurchzogen und nach ihrem Scheitern noch zunahmen. [ Vgl. insbes. Stefan Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier. Antijüdische Ausschreitungen in Vormärz und Revolution (1815 - 1848/49), Frankfurt am Main 1993. ] Nicht die staatliche Reaktion versuchte, die in der Reichsverfassung von 1849 garantierte Judenemanzipation zurückzunehmen; diese Forderung entstammte vielmehr der nachrevolutionären Gesellschaft. 1919 war Judenemanzipation kein Thema mehr für die Verfassungsschöpfer, wohl für die deutsche Gesellschaft. Die aktive Rolle, die Juden in der Revolution übernahmen, trieb damals Juden und Nichtjuden um und trug dazu bei, die Trennlinien zwischen beiden zu verschärfen. [ Vgl. Paul Mendes-Flohr, in: Deutsch-Jüdische Geschichte in der Neuzeit, 4. Band 1918-1945, hg. v. Avraham Barkai, P. Mendes-Flohr, Steven M. Lowenstein, München 1997, S. 28ff.; zu 1848/49 und zu den nachrevolutionären antiemanzipatorischen Petitionen vgl. Band 2 dieses Werkes.] 1848 wie 1918 erweiterte die Revolution die politischen Handlungsspielräume für die deutschen Juden, doch die nichtjüdische Mehrheitsgesellschaft antwortete jedesmal darauf mit Abwehr. Vieles hatte sich zwischen den beiden Revolutionen verändert, doch das Grundmuster hatte überdauert - erweiterte Handlungschancen ermöglichen nicht nur Emanzipationsschübe, diese verschärfen auch alte Konflikte.

Ein systematischer Vergleich müßte viele solcher Handlungsfelder durchmustern, die sich in den Revolutionen öffneten. Sichtbar würde dann auch, wie selektiv die zweite Revolution auf die erste geblickt und was sie nicht wahrgenommen hat. Die Linksliberalen von 1919 hatten einseitig die Verfassungsrevolution von 1848, vor allem das Werk der Paulskirche im Blick, während die Sozialdemokratie stärker auch die außerparlamentarische Revolution und damit ihre eigenen Wurzeln würdigte. Beiden gemeinsam war jedoch, daß sie jenen Revolutionsstrang übersahen, den die neuere Forschung die elementare Revolution oder die ‘Basisrevolution’ nennt. Ihre Hoffnungen zielten nicht auf eine Änderung der staatlichen Herrschaftsordnung; für die Institutionen-Revolution mit ihren langfristigen Reformperspektiven hatten sie kein Verständnis. Sie wollten ihren unmittelbaren Lebensbereich hier und heute verändern. Sie wandten sich nicht gegen abstrakt erscheinende ‘Strukturen’, sie kämpften gegen diejenigen, denen sie ihre Not unmittelbar anlasteten - seien es Maschinen oder ‘fremde’ Arbeiter, die ihnen den angestammten Arbeitsplatz streitig machten, gegen Zollstationen, welche mit den Abgaben, die sie erhoben, die Nahrungsmittel verteuerten, gegen ausländische Waren, die mit ihren eigenen konkurrierten, oder auch gegen Juden, denen sie die wirtschaftliche Misere anlasteten. Diese elementare Revolution hatte andere Ziele, und sie setzte andere Mittel der Interessenpolitik ein als die Institutionen-Revolution. Bürgerliche Demokraten und Liberale, aber auch die junge Arbeiterbewegung standen bereits 1848 dieser elementaren Revolution distanziert bis offen ablehnend gegenüber. In der Rückschau von 1918/19 blieb sie gänzlich unbeachtet. Erst die neuere Forschung hat diesen aus der kollektiven Erinnerung ausgeblendeten Revolutionsstrang aufgedeckt. [ Eine knappe Bilanz bei Langewiesche, Revolution in Deutschland (wie Anm. 11).] Die gegenwärtigen Erinnerungsreden zur Feier der demokratischen Traditionen gehen weiterhin über sie hinweg.

Dieser in der Erinnerungsgeschichte ungeliebte Teil der Revolution wird auch hier nicht weiter ausgeführt, denn er stiftete keine Traditionen. Er war nicht einmal umkämpft, auch nicht im Erbschaftsstreit zwischen West und Ost um die deutsche Geschichte. [ Vgl. dazu und zur sozialistischen Tradition der Revolutionserinnerung Beatrix Bouvier, Zur Tradition von 1848 im Sozialismus, in: Europa 1848 (wie Anm. 1), S. 1169-1200; Walter Schmidt, Die Revolution von 1848 als historisches Erbe, Berlin (O) 1972.] Niemand wollte diesen Revolutionsstrang haben, ein geschichtspolitisch blinder Fleck und deshalb erinnerungsgeschichtlich unergiebig.

IV. [Teil]

Zum Abschluß soll nochmals der Blick auf die Reformmehrheiten von 1848 bzw. 1918 gerichtet werden: Wie reagierten sie langfristig auf ihre Revolutionserfahrungen? Welche Wirkungen lassen sich erkennen?

Auch hier ist im Vergleich der beiden Revolutionen eine gleichläufige Entwicklung zu erkennen. Das Grundmuster der politischen Strategie veränderte sich 1848 wie 1918 grundsätzlich, ein Wandel, der zuvor schon begonnen hatte, sich jedoch erst durch die Revolutionserfahrungen mehrheitlich im eigenen Lager durchsetzen konnte: Die Revolution verschwindet nun aus dem Arsenal politischer Handlungsoptionen. Auch vor 1848 hatten gemäßigte Demokraten und erst recht Liberale ein distanziertes Verhältnis zur Revolution, aber als letzte Möglichkeit, Reformblockaden zu durchbrechen, schlossen sie eine Revolution nicht aus, zumindest waren sie bereit, sie für ihre Ziele zu nutzen, wenn andere sie auslösten. Nach 1849 vertrauten Liberale und auch Demokraten in Deutschland ganz auf Wandel durch Reform. Evolution, nicht Revolution hieß fortan ihre politische Leitlinie. Aus „Revolutionären wider Willen" (Theodor Schieder) verwandelten sich die Liberalen zu Revolutionsgegnern aus Überzeugung.

Die Revolution von 1918/19 und ihr Erfolg, die Weimarer Republik, hatten in der Sozialdemokratie eine vergleichbare Wirkung. Die uneingelösten Ziele sollten auf dem Reformweg verwirklicht werden, nicht durch Revolution. Als Sozialdemokratie und Gewerkschaften 1918/19 darauf verzichteten, durch eine Revolutionsdiktatur auf Zeit einen Umbau von Staat und Gesellschaft erzwingen [ Vgl. Susanne Miller, Die Bürde der Macht. Die deutsche Sozialdemokratie 1918-1920, Düsseldorf 1978; Klaus Schönhoven, Die Vision der Wirtschaftsdemokratie. Programmatische Perspektiven der Freien Gewerkschaften in der Weimarer Republik, in: Hermann Weber (Hg.), Gewerkschaftsbewegung und Mitbestimmung in Geschichte und Gegenwart, Düsseldorf 1989, S. 33-53; Heinrich Potthoff, Das Sozialismusproblem in der Programmatik der Freien Gewerkschaften, in: Horst Heimann/Thomas Meyer (Hg.), Reformsozialismus und Sozialdemokratie. Zur Theoriediskussion des Demokratischen Sozialismus in der Weimarer Republik, Berlin-Bonn 1982, S. 317-344.] , als sie es ablehnten, die Schalthebel des staatlichen Herrschaftsapparats revolutionär zu besetzen und ihr ökonomisches Hauptziel, die Sozialisierung der Großindustrie, zu erzwingen, als sie vielmehr die Einhaltung rechtsstaatlicher Spielregeln durchsetzten und alle weiteren Entscheidungen dem demokratisch gewählten Parlament überantworteten, auch wenn beides für sie ungünstig sein sollte, als sie durch diese Grundsatzentscheidungen die Revolution in einen offenen, parlamentarisch legitimierten Reformprozeß verwandelten, öffneten sie sich einer Entwicklung, die ich Liberalisierung des Sozialismus nenne. [ Vgl. dazu genauer D. Langewiesche, „Fortschritt" als sozialistische Hoffnung, in: Klaus Schönhoven und Dieter Staritz (Hg.), Sozialismus und Kommunismus im Wandel. Hermann Weber zum 65. Geburtstag. Köln 1993, S. 39-55.]

Die Revolutionen am Ende des Ersten Weltkrieges - die russischen muß man einbeziehen - lösten wie die europäischen Revolutionen von 1848 in den Reformmehrheiten des Bürgertums und der Arbeiterschaft Erfahrungen aus, die zum Abschied von der Revolution als einem politischen Handlungsinstrument führten - eine Konsequenz, welche die deutsche Geschichte des 19. wie des 20. Jahrhunderts maßgeblich geprägt hat: zwei deutsche Revolutionen also, die, bei allen Unterschieden, vergleichbar sind in ihrer zentralen Entscheidung über den Weg in die Zukunft: Reform, nicht Revolution, hieß diese Entscheidung.

Die Revolution in eine Verfassungsreform überführen und damit die Möglichkeit zur Reform dauerhaft institutionalisieren, um künftig Revolutionen unnötig zu machen - dieser Gleichklang des politischen Handlungsmusters ermöglichte es 1919 Linksliberalen und Sozialdemokraten in der Weimarer Nationalversammlung, sich auf die achtundvierziger Revolution als historisches Vorbild zu berufen. Das war zugleich ein Versuch, die Revolution von 1848/49 im Geschichtsbild der Deutschen positiv zu verankern. Das gegenwärtige Jubiläumsjahr nimmt diesen Versuch einer demokratischen Traditionsstiftung wieder auf und verstärkt ihn noch. Die zweite deutsche Revolution hat solche Fürsprecher, ihr einen prominenten Ort im deutschen Geschichtsbild zu sichern, noch nicht gefunden. Auch dies lehrt das gegenwärtige Jubiläum. Festredner und Politiker feiern gerne die ferne Revolution als frühen - wenn auch gescheiterten - Versuch, Deutschland in eine Demokratie zu verwandeln, doch die nicht so ferne Revolution, der es gelang, die erste deutsche Demokratie zu schaffen, wird von den derzeitigen Erinnerungsveranstaltungen nicht in die deutsche Demokratietradition eingeholt. Obwohl also die beiden deutschen Revolutionen viele Parallelen aufweisen und obwohl die zweite Revolution sich zu großen Teilen selbst in die Tradition der ersten gestellt hat - die Erinnerungsgeschichte hat die beiden deutschen Revolutionen bis heute voneinander getrennt.

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