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Widerstand gegen den Nationalsozialismus - eine "sozialistische Aktion"? : Zum 100. Geburtstag Carlo Mierendorffs (1897 - 1943) ; Vortrag vor dem Gesprächskreis Geschichte der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn am 3. März 1997 / Peter Steinbach. - [Electronic ed.]. - Bonn, 1997. - 104 S. = 86 Kb, Text . - (Gesprächskreis Geschichte ; 18). - ISBN 3-86077-676-2
Online-Ed. without appendices of the texts of C. Mierendorf. - Electronic ed.: Bonn: FES-Library, 1998

© Friedrich-Ebert-Stiftung


INHALT






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Widerstand gegen den Nationalsozialismus - eine „sozialistische Aktion"?
Zum 100. Geburtstag von Carlo Mierendorff

von Peter Steinbach


„Umfährt man die Umrisse dieses Mannes", schrieb Mierendorff Max Weber ins Grab, „um sein Eigentümliches hervorzukehren, so entwirft man das Bild eines Politikers" [ Carlo Mierendorff, Porträt eines Politikers: Max Weber ins Grab, in: Der Neue Merkur, 4, 1920/21, H.5, neu in René König u. Johannes Winckelmann, Hg., Max Weber zum Gedächtnis, KZfSS-Sonderheft 7, Opladen 1963, S.77 ff.] . Dieser Satz trifft gewiß auch meinen Versuch einer Annäherung an diesen bedeutenden sozialdemokratischen Widerstandskämpfer, der trotz mancher biographischer Skizzen [ Etwa Fritz Ursinger, Carlo Mierendorff: Eine Einführung in seine Werk und eine Auswahl, Wiesbaden 1965.] und einer beeindruckenden Biographie [ Richard Albrecht, Der militante Sozialdemokrat Carlo Mierendorff 1897 bis 1943: Eine Biografie, Berlin u. Bonn 1987. Vgl. weiterhin als grundlegenden biographischen Zugang Ulrich Amelung, Gudrun Richter und Helge Thied, „...von jetzt an geht es nur noch aufwärts: entweder an die Macht oder an den Galgen!": Carlo Mierendorff (1897-1943) - Schriftsteller, Politiker, Widerstandskämpfer, Marburg 1997.] weiterhin seine Rätsel aufgibt. Mierendorff ging es bei seiner Würdigung des von ihm ebenso verehrten wie bewunderten bedeutenden Heidelberger Sozialwissenschaftlers Max Weber nicht nur um einen Nekrolog, eine Totenwürdigung, sondern es ging ihm um die Verdeutlichung eines Prinzips, das Weber Tod deutlich werden ließ: „Tragische Verstrickung scheint es zu sein, daß immer erst schon Totes seinen Sinn und einmalige Bedeutsamkeit erschließt." Auch dieses könnte für den bedeutenden Sozialdemokraten im Widerstand gelten, an den ich heute zu erinnern versuche.

Mit ihm verbinden wir Nachlebenden vieles. Wir sehen in Mierendorff den Kern einer guten, abwehrbereiten und -willigen Weimarer Sozialdemokratie, den Beleg für die Widerstandskampf der deutschen Sozialdemokratie im Widerstand gegen den Nationalsozialismus, nicht selten auch eine potentielle Bereicherung der Nachkriegspartei. Sicherlich übertragen die Biographen und Gedenkreden dabei nicht selten das auf Mierendorff, was sie selbst suchen.

Vielleicht läßt sich von den parteipolitischen und -geschichtlichen Perspektiven auch abstrahieren? Alles konzentriert sich dann auf die Frage, wie sich Demokraten im europäischen Zeitalter der Diktaturen behaupten können. Dieses Jahrhundert ist nicht auf einen Begriff, schon gar nicht den des europäischen Bürgerkrieges zu bringen. Dazu war es zu vielfältig, zu unüberschaubar, zu verworren. Mierendorff steckte immer im Neuen, das für ihn auch die Sozialdemokratie verkörperte. Deshalb hatte er ohne Zweifel ein sehr gebrochenes Verhältnis zu vielen ihrer Strukturen, die als verkrustet, als überholt, als unbeweglich galten. Diese Grundstimmung teilte er mit anderen, denen er immer wieder beigesellt wird: mit seinem Schulkameraden Theodor Haubach, mit seinem Fraktionskollegen Julis Leber, mit seinem Altersgenosse Kurt Schumacher, dem einzigen aus diesem Viererkreis, dem es vergönnt war, die Entwicklung der Nachkriegssozialdemokratie nach der Befreiung vom Nationalsozialismus entscheidend zu prägen.

Auch diese Nachkriegsentwicklung wurde - je nach Option und Perspektive - von den Vertretern der Parteiflügel kritisiert. Mierendorff kam dies zugute, denn er steckte in den Flügelkämpfen, in den Programmdiskussionen, in dem Ringen um eine pragmatische Richtung nicht mehr drin. Wir wissen nicht, wo er gestanden hätte in der Nachkriegszeit. Sicher ist aber, daß er als ein begeisterungsfähiger politischer Brückenmensch auch nach 1945 seine Wirkung entfaltet hätte. Mit Sicherheit wäre dabei deutlich geworden, daß die Widerstandsgruppe des „Kreisauer Kreises" ein ganz starkes sozialdemokratisches Element enthielt.

So bleibt eigentlich nur das lang nachwirkende Entsetzen angesichts eines tragischen Todes, das alle lähmte, die ihn kannten. Selbst der berühmte britische Kommentator Kingsley Martin hatte sich für den Tod dieses Sozialdemokraten entschuldigt, als ihm die von Emil Henk [ Vgl. auch Emil Henk, Die Tragödie des 20. Juli 1944, Heidelberg 1946.] und Theodor Haubach unterzeichnete kleine Todesanzeige [ Amelung, Mierendorff, S.82.] bekannt geworden war: „Es tut mir leid, daß wir Mierendorff - anstatt ihn zu befreien - töten mußten." [ Amelung u.a., Mierendorff, S.9.]

Wir wissen nicht, ob das letzte Wort, das uns von Carlo Mierendorff überliefert wurde, wirklich authentisch ist. „Wahnsinn" [ Vgl. Franklin Kopitzsch, Carlo Mierendorff, in: Rudolf Lill u. Heinrich Oberreuter, Hg., 20. Juli: Portraits des Widerstands, Düsseldorf u. Wien 1984, S. 186] , dieses Wort hätte in der Stunde seines Todes ohne Zweifel zu ihm gepaßt. Der Ausspruch - Ausruf des Erstaunens, Ausdruck der Fähigkeit, sich wundern zu können, bezog sich nicht nur auf das unglaubliche Ereignis, das die doppelte Front - „zwischen Bomben und Gestapo" [ So eine schöne Formulierung von Ursula von Kardoff.] - des Widerstands schlagartig deutlich machte, sondern es charakterisierte vor allem auch Mierendorffs Fähigkeiten, eine Situation auf den Begriff zu bringen. Daß er, der Regimegegner, durch alliierte Bomben zu Tode kommen sollte - das war nicht nur eine tragische Ironie der Geschichte, das war Ausdruck des Wahnsinns im Deutschland der ersten Diktatur.

An seinem Todestag, dem 4. Dezember 1943, stand Mierendorff in der Mitte der Vierziger. Schon vorher war er manchen seiner Freunden durch eine merkwürdige Unruhe aufgefallen, die später nicht selten als Todesahnung gedeutet wurde und möglicherweise Ausdruck einer Zuspitzung oppositioneller Arbeit und durchlebter existentieller Gefahr war. Seit 1943 lebte Mierendorff in einem weiteren Kreis der Regimegegner, hatte den Rahmen der Diskussionen mit seinen früheren Parteifreunden überschritten, war in den Freundeskreis der Kreisauer [ Ger van Roon, Neuordnung im Widerstand: Der Kreisauer Kreis innerhalb der deutschen Widerstandsbewegung, München 1967] gestoßen. Er war für alle von Bedeutung, die für die Zeit „danach" neue geistige Konturen zu bestimmen suchten und wußten, daß dies ohne eine starke Berücksichtigung sozialstaatlicher und reformerischer Ordnungselemente nicht ging.

Wer über das „Danach" nachdachte, lebte im Deutschland der Nationalsozialisten gefährlich und ruhelos. Der erste Terror richtete sich gegen die politischen Gegner, der Drang der Denunzianten, der gerade in Diktaturen freien Lauf bekommt, gefährdete potentiell jeden, und ebenso schlimm war die bloße Vermutung, von Denunzianten umgeben zu sein. Unruhe gehörte seitdem zum Leben derjenigen, die Deutschland liebten und deshalb seine militärische Niederlage ersehnten. Seine Freunde setzten die Bestrebungen vor, im Nachdenken über das „Danach" den Umsturz vorzubereiten. Später wurde deutlich, daß Mierendorff seinen Freunden und Vertrauten aus dem Widerstand nur vorangegangen war, als er durch Bomben zu Tode kam.

Carlo Mierendorff war am 24. März 1897 in Großenhain bei Dresden in eine gutbürgerliche Familie hineingeboren worden. Die Eltern - der Vater war ein Textilkaufmann, die Mutter entstammte besten Verhältnissen - zogen einige Jahre später aus beruflichen Gründen nach Darmstadt. Hier kam Carlo Mierendorff, temperamentvoll und voller Ideen, als Gymnasiast mit Gleichaltrigen zusammen, die ihm eine lebenslange Anhänglichkeit und Verbundenheit bewahrten.

Es ist verführerisch, in diesen frühen Jahren den Grund für alles sich später Ereignende zu suchen. Biographen suchen immer nach Einflüssen und konzentrieren sich deshalb auf frühe Prägungen von Weltsicht und Weltverständnis. Deshalb sind frühe Zeugnisse so wichtig, obwohl nur Schul- und Spielkameraden, keineswegs die zuverlässigsten Zeugen der Geschichte, sie überliefern. Oft gaukeln die Erinnerungen nur eine Kontinuität vor und lenken von den Brüchen ab, die lebensgeschichtlich von demjenigen, den wir in Kontinuitäten rücken, zu bewältigen waren. Übereinstimmend wird berichtet, wie geborgen Mierendorff in seiner Familie war. Er musizierte, hatte ein gutes Verhältnis zu seinem - im 1. Weltkrieg gefallenen - Bruder und zu seiner Mutter, die er liebevoll despektierlich „Frau Tönnchen" nannte. Das geistige Klima war nicht wilhelminisch, sondern eher liberal-fortschrittlich, ja demokratisch.

Mierendorff hatte in den Jahren 1918/19, 1933, 1942/43 drei Brüche zu bewältigen. Auf diese werde ich mich im folgenden konzentrieren. Diese Brüche hingen zusammen und spiegelten in der politischen Diskontinuität unverkennbar lebensgeschichtliche Kontinuität. Gewiß war für Mierendorff wichtig, daß er in einer liberalen Familie aufwuchs, deren Kennzeichen künstlerische Aufgeschlossenheit war. Daß diese Offenheit aber einmal in ein sozialdemokratisches Engagement oder gar in den Widerstand führen mußte, das war in Mierendorffs Jugendzeit keineswegs ausgemacht.

Darmstadt, das war Provinz, das war wohl auch Enge einer Residenz [ Eckhart G. Franz, Hg., Darmstadts Geschichte: Fürstenresidenz und Bürgerstadt im Wandel der Jahrhunderte, Darmstadt 1980.] , aber damals wie heute galt, daß Provinz immer im Kopfe sei, und daß sie folglich, wie Uwe Dick später sagte, dort am tiefsten ist, wo der Kopf am flachsten sei. Nein, Provinz war dort, wo Mierendorff war, zu keiner Zeit. Die Residenzstadt Darmstadt galt auch als Residenz kritischer Geister, als ein Zentrum des Jugendstils, aber auch der kritischen intellektuellen Diskussionen, und dies galt nicht nur im Nachklang an das Wirken von Georg Büchner, sondern vor allem auch unter dem Einfluß von Ernst Elias Niebergall, dessen „Datterich" gerade als Reflexion über die Provinz die Enge transzendierte.

Mierendorff war nicht nur in eine vielfältig musisch interessierte Familie hineingeboren, sondern viel wichtiger war, daß die Eltern ihn seinen eigenen Weg suchen und gehen ließen. Sie machten nicht lächerlich, was ihm wichtig war, als er begann, einen Kreis zu suchen und zu bilden. Wenn man Konturen des Erwachsenen suchen will, dann findet man sie in literarisch-künstlerischer Hinsicht in seinem Freundeskreis. Mierendorff konnte offensichtlich Gleichgesinnte aufspüren - Zuckmayer sprach später davon, man habe „einander gerochen wie Hunde oder Wölfe aus dem gleichen Wurf" [ Carl Zuckmayer, Als wär ‘s ein Stück von mir: Horen der Freundschaft, Frankfurt/M. 1973, S.231.] . Die Freunde fanden sich früh und schlossen sich zu einem Kreis zusammen. „Kreiselei", dies war eine typisch bürgerliche Gesellungsform, die nach Rothfels dann zwanzig Jahre später die Kommunikation im Widerstand prägte. Wenn wir also schon nach Anfängen suchen, dann hätten wir hier anzusetzen, in der Freundschaft eines Kreises, der sich durch den Gegensatz definierte, der ihn von der Umgebung, von dem Gängigen trennte.

In seinem ersten Zirkel, der Dachstube in der Hoffmannstraße 19, schloß Mierendorff eine lebenslange Freundschaft mit Theodor Haubach, dem zweiten der Dioskuren, wie die Freunde sagten, wenn sie nicht gleich Kastor und Pollux in beiden sahen. Mierendorff empfand sich als Anhänger eines „aktivistischen Idealismus", bekannte sich zur Aufgabe, Menschen zu revolutionieren, bemühte sich um die Einheit von Literatur und Politik. Sein Sprachrohr war die kleine, aber gehaltvolle Zeitschrift „Das Tribunal", die programmatisch durchaus in der Tradition des „Hessischen Landboten" stand und sich als Exemplar „hessischer radikaler Blätter" zu erkennen gab.

Es wäre für den Biographen nun weniger reizvoll als leicht, kräftig nach jenen Anfängen zu suchen, die Mierendorffs weiteres Leben, vor allem die Jahre 1940 bis 1943 zu erschließen helfen. Dies wäre historisch aber unaufrichtig und spiegelte nur aufs Neue den Makel, zumindest die Selbstgefährdung des Historikers, der sich in den Flügeln der Eule Minerva verfängt, wenn er erzählt, was sich ereignet hat, weil er rückblickend doch nur nachträglich scheinbar Folgerichtiges konstruiert.

Mierendorff stand zunächst mittendrin, mitten in der frühen Aufbruchstimmung des Kaiserreichs am Rande des Krieges und seines Untergangs, also nicht draußen vor der Tür. Er gehörte 1914 keineswegs zu den Zeitgenossen, die sich von ihrer Zeit und ihren Sogströmungen distanzierten. So lassen sich bündische Einflüsse finden, so lassen sich die zeitspezifischen Ausbruchsgefühle nachweisen. Mierendorff ließ er sich ganz auf die Zeitläufte ein. Die Konsequenz dieser Stimmung war der Wunsch, an den großen Herausforderungen, die schließlich die Weltkriegsgeneration prägten, beteiligt zu sein. Der Wunsch, ein neues Leben zu wagen, endete gleichsam im Schützengraben.

Mierendorff legte das Kriegsabitur ab und gliederte sich willig als Kriegsfreiwilliger in die Masse der Deutschen ein, die nicht nur das Reich verteidigen, sondern die deutsche Weltgeltung sichern wollten. Er nahm, offensichtlich tapfer, an den Kämpfen im Osten und Westen teil und wurde verwundet. Er überlebte den Krieg, ausgezeichnet mit dem Eisernen Kreuz I. Klasse. Ob er diese Auszeichnung wirklich aus der Hand des Kaisers - und dies mit den Worten: „Brav, mein Sohn!" - empfangen hatte, wie Willi Brundert [ Willi Brundert, Rede vom 29.9.1966 zur Einweihung der Carlo-Mierendorff-Schule in Frankfurt am Main, in: Carlo Mierendorff, hg. von der Carlo-Mierendorf-Schule, Frankfurt/M. 1966, S.6.] in den sechziger Jahren überliefert hat, möchte ich allerdings bezweifeln.

Verbindung hielt er in diesen kriegswirren Jahren zu den jüngeren Freunden in Darmstadt, die sich weiter in der Dachstube trafen und diesen Versammlungsort zum Titel einer Veröffentlichungsreihe machten, in der auch Mierendorff 1916 und 1917 seine ersten Erzählungen erscheinen ließ. Für die Germanisten zählt der Mierendorff dieser Jahre zu den bemerkenswerten deutschen Expressionisten, der nach 1918 zusätzlich gereift sei. In seinem kleinen Stück „Lothringer Herbst" gehe es nicht mehr um die Ich-Problematik, um die Erzählung, gar um Kunstliteratur, sondern vor allem um den Satz an sich, um Dynamik und Wort-Gewicht, um eine Prosa, die ihre Faszination in sich trägt. Dies aber ist das Kennzeichen der expressionistischen Literatur.

Expressionismus drängt aber nicht nur zum Ausdruck, sondern auch zur Aktion, und diese nutzt das Neue aus. In dieser Hinsicht traf sich Mierendorff, der im Kino [ Carlo Mierendorff, Hätte ich das Kino, in: Die Weißen Blätter 7, 1920, H.2, S.86-92] eine neue Möglichkeit der Artikulation und Beeinflussung, aber auch künstlerischen Verwirklichung erblickte, übrigens mit Adolf Reichwein, der den Film für die Pädagogik zu nutzen suchte. Wenn wir schon nach biographischen Anfängen suchen, dann liegen sie hier, in dem expressionistischen Bekenntnis zur Aktion, das im November 1918 mit der letzten Ausgabe der „Dachstube" hinausgeschleudert wird, im Ton eines Flugblattes, an der Schwelle einer neuen Epoche [ Vgl. Richard Albrecht, Der militante Sozialdemokrat: Carlo Mierdendorff1897-1943 - eine Biografie, Bonn 1987, S.31. ] .

Diese Bewußtsein vom Ende seiner Epoche im Kriege unterschied Mierendorff von vielen anderen Angehörigen seiner Kriegsgeneration. Konnten sich seine Kameraden in den Uniformen nicht an den Gedanken des Umbruchs gewöhnen und mußten sich deshalb in die Lüge vom Dolchstoß in den Rücken der Front flüchten, so wollte Mierendorff versuchen, das Ende des Kaiserreiches in eine neue Ordnung übergehen zu lassen: „Wir stehn am Ende!", rief er aus: „Nun dürfen wir nicht mehr still sein und uns von den Ereignissen rädern lassen." Er flüchtete nicht vor der Wirklichkeit, sondern er stellte sich: „Über vier Jahre flüchteten wir uns vor dem Ungeheueren in astrale Verse. Wir bogen aus und verleugneten, was Schicksalhaftes verhandelt wurde. Es war Lüge, daß wir es taten." [ Ebda.]

Kriegsende, das bedeutete keine Katastrophe, sondern Aufbruch in die Freiheit: An der Front, da, so rief er, „war das Wort uns sch ast, „sind wir frei - Doppelpunkt - Und Ungeheures geschieht - Doppelpunkt - Jetzt lebendig einspringen in den Strom der Geschichte, aktiv sein aufs äußerste und nichts in sich einreißen lassen." Überschießend selbstbewußt schließt sich die Frage an: „Wer wagt es noch, sich von den Dingen treiben zu lassen?" Bei aller Warnung vor der rückwärtsgewandten Prophetie des Historikers: Hier wird eine Lebenshaltung sichtbar, die späteres aus dem Charakter dieses Resistenten erklären könnte.

Entscheidung suchte Mierendorff, deshalb war er kein Bedenkenträger, das Neue suchte er, deshalb entschied er sich für das Risiko, Brüche bedeuteten Chancen, deshalb lebte er mit ihnen oder konnte sie nicht erwarten. Ein Attentist aber war er nicht. Niemals mehr Amboß, immer Hammer sein, allein dies erklärt den Willen zum Leben an der inneren Front, in der Gefahr, und dies erklärt nach 1933 die Bereitschaft zum Gang in den Feuerofen, immer wieder, jahrelang.

Der ausführlich zitierte Aufruf vom November 1918 ist ein Schlüsseldokument. Zentrale Abschnitte des flammenden Entwurfs aus dem Jahre später in Kreisau vorgelegten Aufrufs knüpfen in an den einleitenden Satz des früheren Aufrufs an, die Zeit fordere heraus. Damals, 1918, geht es um Kunst, geht es um das „letzte heißeste Ziel", um Kunst, die dem Leben, dem „ringenden Leben" etwas zu bieten habe, Brücke zum Unendlichen, zum Ewigen sein kann.

Ein Vierteljahrhundert später geht es um Lebensgestaltung, um Politik, um den Versuch, aus dem erneuten Untergang eine Form hervorgehen zu lassen, die politisch trug. Selbstbewußtsein wurde in beiden Aufrufen spürbar, Selbstbewußtsein in Gestalt einer mitreißenden Courage. „Formt euern Mut", so hieß es 1918, „sucht Richtung, Wege und Ziele: Unhemmbarer Wille zur Zukunft reiße uns hoch, sei unsere gläubigste Losung. Freunde, greift ein."

In den folgenden Jahren galt es, das eine zu tun, also einzugreifen, ohne das andere zu lassen: eine neue Grundlage für die berufliche Existenz zu suchen. Mierendorff studierte, entschieden und konsequent, hungrig nach der Verbindung von Wissenschaft und Politik. Politik war die neue Dimension seiner Existenz, „Tatsachenpolitik" war das Zauberwort, das ihn umtrieb und etwa mit Zuckmayer verband. [ Richard Albrecht, Mierendorff, S. 43] Im Januar 1920 trat er der SPD bei. Diesen Schritt hat er selbst reflektiert. „War bisher der Strom der Talente und Ehrgeiz in die Literatur geschossen", schrieb er 1920, weil allein dort ein Klima für freie und schöpferische Leute noch sich fand, so ist jetzt das Wehr umgelegt. Die großen Aufgaben haben immer die stärkste Anziehungskraft... In der Literatur sind sie nicht mehr. Dort gibt’s nichts mehr zu entdecken. Das läuft. Auf den anderen Flügel müssen die Heerhaufen nun geworfen werden. Es ist die Politik." [ Mierendorff, Weber-Nachruf, S.78]

Er war auf der Suche, nahm den Umbruch auch in der Wissenschaft wahr. Neue sozialpolitisch orientierte Gelehrte faszinierten ihn und gaben seinem Denken eine Richtung neben dem literarischen Interesse. Es ging nicht mehr um ein „Tribunal", sondern um die Tribüne. Mierendorff öffnete sich immer mehr der Publizistik, dem Versuch, öffentlich etwas zu bewirken, indem Diskussionsangebote gemacht wurde. Das zu tun ist die Aufgabe des Intellektuellen.

Und er suchte die Verbindung von Wissenschaft und Politik. Sie sei „kein Plunder, den der Politiker von heute auf den Mist werfen könne" [ Ebda., S.79] , sondern eine Realität. Volkswirtschaftslehre übte eine Faszination auf. Diese Disziplin hatte sich von den Staatswissenschaften gelöst, aber nicht völlig dieser Verbindungen begeben. Volkswirtschaft als akademische Disziplin war ein Integrationsfach, denn es verband weithin Staatswissenschaften und Soziologie, Geschichte und Philosophie in einer neuen, einer Mierendorff den Atem raubenden Disziplin.

Dieses Fach kam dem entgegen, der suchte, nicht nur, um sich aufzuklären, sondern um einen Stoß zu führen, politisch gestaltend sein zu können. Dies erklärt, weshalb Mierendorff der Faszination von Max Weber ganz erlag: „Es stand da ein Kerl, komplett, in sich rund, massiv, ... eine absolutistische Natur, ein Mann mit Unterkiefer." Die Attribute sind stark: „nüchtern, trocken, sachlich unerschrocken, nicht romantisch und bei Gott nicht sentimental - für einen Deutschen eine unerhörte Mischung", kein Boche, kein Opportunist - wir ahnen es, in diesem Bild des Anderen scheint das Selbstporträt, das Wunschbild von sich selbst, auf. Ein französischer Intellektueller sagte später einmal, nur der Nationalsozialist sei der Ausdruck des Sieges des Boche über die Deutschen.

Max Weber war aber nicht nur des Reflex von Mierendorffs Projektion seiner selbst. Er war in den Jahren nach der Revolution von 1918/19 das Idol derjenigen, die in der Bildung nicht das Privileg ihrer Klasse, sondern den Auftrag zur Entscheidung und zur rationalen Gestaltung der Wirklichkeit sahen. „Verflucht kühl Tatsachen gegenüber", das war Max Weber für Mierendorff, deshalb bezeichnete er ihn eben als kein „Bleichgesicht". Er konnte sich nur vorstellen, daß dieser Gelehrte von jedem zu schätzen war, „einerlei, auf welche Seite es sich schlägt".

Für Weber, der in der Revolutionsphase durch die „Junioren" des Bürgertum „niedergetrampelt" und niedergeschrien" worden war, war die Nachfolge anzutreten. Mierendorff war klar: Er brauchte andere Sachwalter als das Bürgertum, das seiner Kollision mit der Wirklichkeit nicht standhielt. Wer so formulierte, der hatte keine Berührungsängste gegenüber diesem Bürgertum, der suchte die Auseinandersetzung, der wußte, daß nur der die Zukunft gewann, der die Gegebenheiten erkannte.

Weber, das war für Mierendorff aber nicht nur „stiernackige Wucht", sondern das war die Verkörperung des Anspruchs, den „Staat aus dem menschlichen Beieinander (zu formen)." [ Ebda., S.81] Hier wird erstmals ein Thema angeschlagen, das in weiten Strecken die Diskussionen im Kreisauer Kreis bestimmt. An Weber faszinierte Mannigfaltigkeit statt Einseitigkeit, faszinierte ein „Denken", das „selber qualitätvoll ist, d.h. ...äußersten Maßstäben standhält." Spätestens jetzt ahnen wir es: Mit dem Nachruf des fünfundzwanzigjährigen Mierendorff liegt ein weiteres Schlüsseldokument vor, denn Mierendorffs Nachruf machte deutlich, was er nach seinem Abschied von der Kunst geistig schätzte. Weber Wissenschaft brach nicht den politischen Elan, sondern vermehrte für die Politik „die Wucht des Stoßes". Sein Ideal war klar: „Staatskunst, das ist die Wirklichkeit, gemeistert durch ein Temperament." [ Ebda., S.82]

Mierendorff hatte sich Weber weniger angeeignet als vielmehr anverwandelt, es hatte sich seine eigene Persönlichkeit in der Verehrung von Webers Realismus und Unbestechlichkeit entfalten lassen. Die Reihe seiner eigentlichen Lehrer ist ebenso beeindruckend wie die Zahl der Studienorte. Alfred Weber, Karl Jaspers, vor allem Emil Lederer stehen neben Julius Goldstein, dem Darmstädter Philosophen an der Technischen Hochschule, der als Kultursoziologe eigentlich Politikwissenschaftler war.

Mierendorff wurde durch Lederer und Goldstein zum Republikaner, nicht abstrakt, sondern ganz praktisch, ganz demonstrativ und kämpferisch. Dabei riskierte er etwas, wie seine Auseinandersetzung mit dem Physiker Philipp von Lenard zeigte, dessen Institut er besetzte, weil Lenard sich der Staatstrauer widersetzte, die nach der Ermordung von Rathenau angesetzt war [ Amelung, Mierendorff, S.34 f.] . Relegierung von der Alma Mater, Anklageerhebung der Badischen Staatsanwaltschaft, Verurteilung zu viermonatiger Haft, Konflikte im Tagesgeschehen waren die Folge. „Vorkämpfer irgendwelcher Ideologie" wollte er freilich ebensowenig sein wie der „Fahnenschwinger einer heraufstoßender Klasse". [ Ebda., S.81] Das akademische Disziplinargericht rehabilitierte den Heidelberger Mierendorff; Lenard vergaß die von einem Studenten der Universität bewiesene Zivilcourage aber niemals.

Neben dem Studium, das er 1922 mit einer Dissertation über die „Wirtschaftspolitik der Kommunistischen Partei" [ Erst im Hochsommer 1923 wurde ihm allerdings nach Abschluß des akademischen Disziplinarverfahrens die Promotionsurkunde ausgehändigt.] beenden konnte, blieb aber die publizistische Auseinandersetzung für Mierendorff prägend - er existierte eigentlich schreibend. Richard Albrecht hat eine umfassende, eine erschöpfende Bibliographie [ Albrecht, Mierendorff, S.327 ff.] vorgelegt, die belegt, wie Mierendorff seinen Weg als Publizist suchte und sich dabei zumindest stilistisch niemals vom Expressionismus löste. Er suchte weiterhin die Entscheidung, die Aktion, die Bewährung und immer zugleich das Neue. Vor allem die Suche nach dem neuen Anfang ließ ihn niemals los.

Die politische Kraft zum Neuanfang unterstellte er vor allem der SPD und den Gewerkschaften, und deshalb war es nur konsequent, daß er seine erste Anstellung in dem kulturell prickelnden und brodelnden Berlin als Angestellter des Deutschen Transportarbeiterverbandes fand, ehe er 1925 nach Darmstadt zurückkehrte, als Redakteur des sozialdemokratischen „Hessischen Volksfreundes". Voraussetzung dieses Wechsel war eine weitere Entscheidung, diesmal die für eine politische Karriere, die sehr erfolgreich war und nur durch persönliche Rückschlage, etwa den Tod der geliebten Eltern 1927 und 1928 überschattet wurde.

Nun gehörte Mierendorff, 28 Jahre alt, zu jener Gruppe sozialdemokratischer Journalisten, die dann durch die NS-Herrschaft jäh in ihrer politischen Entfaltung und Wirksamkeit beschnitten wurden und die eine gemeinsame Biographie verdienen: Julius Leber etwa, Kurt Schumacher, nicht zu vergessen Felix Fechenbach, auch Theodor Haubach, unverbrüchlich und bleibend der nächste Freund. Sie verkörperten die junge SPD und fühlten sich berufen, unter den Bedingungen der Weimarer Republik über den Kern eines sozialdemokratischen Selbstverständnisses nachzudenken, den wir heute mit dem Begriff der Identität beschreiben.

Der Kern des sozialdemokratischen Selbstverständnisses wurde von ihnen nicht nur theoretisch kohärent begründet, sondern er spiegelte auch Versuche, Wandlungen in Politik und Gesellschaft zu reflektieren: Identitätsbestimmungen spiegelten so zu einem guten Teil den Versuch, auf soziale, politische und kulturelle Entwicklungen zu reagieren, die das politische Leben - ein oft verwendeter Ausdruck der dreißiger Jahre - reflektierten. Identitäten wurden nicht bestimmt, um Abkapselungen zu fördern, sondern sie machten nicht selten gerade den Willen spürbar, die Angehörigen anderer Gruppen und Schichten zu erreichen. Annäherungen hatte Klärungen zur Voraussetzung, Klärungen aber verlangten deutliche Grenzziehungen.

Grenzziehungen scheiden das Eigene und das Fremde, sie geben Aufschluß über Kompromisse und Kooperationsmöglichkeiten, verdeutlichen aber auch Trennlinien, die nicht überbrückbar sind. Vielleicht erklärt diese Bestrebung die erstaunliche Tatsache, daß wir manche der „Jungen", die sich in den Jahren der endenden Weimarer Republik gerade die Wehrpolitik als Feld ihrer eigenen programmatischen Entwicklung und politischen Erprobung vorgenommen haben, dann in jenen Kreisen wiederfinden, in denen intellektuelle Diskussionen über die Grenzlinien von Gruppen, Bewegungen, Parteien, Schichten und Ständen die Voraussetzungen für politische Kooperationen schaffen sollen. Denn bei den Abgrenzungen geht es immer auch um Brücken über politische Lager hinweg.

Mierendorff hatte sich in seinen zahlreichen Artikeln, die in den zwanziger Jahren erschienen waren, einerseits als kämpferischer Sozialdemokrat gezeigt. Abgrenzungen gab es nach zwei Seiten: zu den Kommunisten und zu den Nationalsozialisten. Mit den Kommunisten hatte er das Terrain bereits in seiner Dissertation abgeklärt; mit den Nationalsozialisten setzte sich Mierendorff in Abhandlungen auseinander, denen bis heute eine über den Tag hinausweisende Bedeutung bescheinigt wird. Seine publizistische Basis fand er in den „Neuen Blättern für den Sozialismus", in den „Sozialistischen Monatsheften", in der „Deutschen Republik", auch im „Reichsbanner" und im Organ des Cartell-Verbandes der Staatsbürger jüdischen Glaubens. Hier erschienen Abhandlungen über Wahlrechtsfragen, über Parteireform, Generationskonflikte, über die Bedeutung der Propaganda und Symbolkonflikte, nicht zuletzt über die Nationalsozialisten. [ Vgl. auch Amelung, Mierendorff, S.87 ff.]

Mierendorff erschien seinen Parteifreunden als ein Mensch voller Inspirationen. So ist es nicht überraschend, daß er bereits ein Jahr nach der Übernahme seines Redakteurspostens in Darmstadt zum engeren Kreis einflußreicher Sozialdemokraten im Hessischen Landtag gezählt wurde. Rasch fand er breitere Anerkennung, denn er wurde 1926 zu einem der Sekretäre der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion berufen.

Nun ging es bemerkenswert rasch weiter aufwärts: 1929 wechselte Mierendorff wieder nach Darmstadt und wurde dort Pressereferent im Hessischen Innenministerium, faktisch engster und persönlichster politischer Mitarbeiter von Wilhelm Leuschner. Sein vielleicht wichtigster Gegner wurde in dieser Zeit Werner Best [ Ulrich Herbert, Werner Best: Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft 1903-1989, Bonn 1986, S.112 ff.] , den Mierendorff auf ein höchst wirksame Weise bloßstellte. Ende November 1931 fand als Folge einer innerparteilichen Indiskretion, die auf eine Auseinandersetzung innerhalb der örtlichen NSDAP zurückging, eine Hausdurchsuchung auf dem Boxheimer Hof statt, der einem Nationalsozialisten gehörte. Dabei wurden eine Reihe von Erklärungen gefunden, die aus der Feder des Assessor Best stammten und belegten, wie nach einer nationalsozialistischen Regierungsübernahme die Macht ergriffen, die Gegner verfolgt und ein Gewaltregime durchgesetzt werden sollte, welches die Verletzung rechtsstaatlicher Prinzipien voraussetzte. Die sozialdemokratischen Gegner sorgten für eine rasche und spektakuläre Veröffentlichung dieses Fundes und verursachten Wellen der Erregung. Best, der im „Vorwärts" als Putschist bezeichnet wurde, war zunächst untergetaucht.

„Blutpläne von Hessen" seien gefunden worden, schrieb der Vorwärts am 26.11.1931 in seiner Abendausgabe. Massenerschießungen seien geplant. An die Stelle Gesetzes träte der legalisierte Mord. Aber nicht nur gegen die NSDAP richtete sich die Aktion des hessischen Innenministers, sondern auch gegen die Reichsjustizverwaltung, die sich als nur wenig beunruhigt zeigte. Mochten die führenden Nationalsozialisten auch betonen, es handele sich bei den Dokumenten um Fälschungen, so war für die seriöse klar, daß die in Boxheim gefundenen Unterlagen eine „Vision des Dritten Reichs" [ Berliner Tageblatt, Nr.558 (Abend-Ausg) v. 26.11.1931] boten. Zwar legten die Wogen der Erregung nach gewisser Zeit - die Nationalsozialisten waren jedoch bleibend diskreditiert. Mierendorff und Leuschner hielten sie für die Hauptverantwortlichen und vergaßen ihnen die Blamage nicht, die sie erlitten hatten.

1930 wurde Mierendorff, 33 Jahre alt, das jüngste Mitglied der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion und engagierte sich bald als Angehöriger der Gruppe, die als die sogenannten „Neuen Rechten" [ Helga Grebing, Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, München 1977 (8.Aufl.), S.201; sie spricht in diesem Zusammenhang sogar von der „jüngeren Führergeneration".] bezeichnet wurden, innerhalb der Fraktion in der Innen-, der Verfassungs- und vor allem in der Wehrpolitik. Diese Bezeichnung war keineswegs Ausdruck seiner militaristischen Gesinnung, sondern spiegelte vielmehr ein ganz besonderes politisches Selbstbewußtsein. „Heran an den Staat" - dies war die Parole der selbstbewußten Sozialdemokratie seit dem Kieler Parteitag 1927. Sie spiegelte das Selbstbewußtsein jener Sozialdemokraten, die im demokratisch legitimierten republikanischen Staat nicht mehr ein Unterdrückungsorgan, sondern ein Veränderungsinstrument erblickten. Wer sich als Sozialdemokrat mit der Wehrpolitik beschäftigte, der mußte besonders selbstbewußt sein und über einen stark ausgeprägten Gestaltungswillen verfügen. Vielleicht lag es an dem Interessen an der Verteidigungspolitik, vielleicht an am Respekt vor der Bereitschaft zur „kämpferischen Haltung", wenn Vertreter der „Neuen Rechten" innerhalb der SPD auch als „militante Sozialdemokraten" bezeichnet wurden.

Mierendorffs Karriere verlief seit der Mitte der Zwanziger Jahre übrigens ganz ähnlich wie die seines engen Darmstädter Freundes Theodor Haubach [ Roon, Neuordnung, S. 181 ff.] , der nach seinem Studium auch Redakteur geworden war und drei Jahre der Hamburger Bürgerschaft angehört hatte, ehe er Pressereferent des preußischen Innenministers Carl Severing und, ein Jahr später, des Berliner Polizeipräsidenten geworden war. Im Innenministerium Dienst zu tun, dies bedeutet seit 1930 unausweichlich, die Nationalsozialisten zu bekämpfen.

Mierendorff bekämpfte die NSDAP nicht nur agitatorisch, sondern auch publizistisch und bemühte sich dabei um eine solide soziologische Grundlage seiner Erklärung nationalsozialistischer Erfolge in den zunehmend zwischen Selbstpreisgabe und Selbstauflösung oszillierenden Weimarer Republik. Seine Studien über die gesellschaftlichen Grundlagen der NSDAP gehören bis heute zu den klarsichtigten und beeindruckendsten Analysen, nicht nur in sozialgeschichtlicher, sondern vor allem in politischer Hinsicht. Denn Mierendorff wußte, daß die Nationalsozialisten nur sehr stark werden konnten, weil sie „Grenzwähler" an sich zu binden vermochten.

Die Konsequenzen dieser Analyse waren klar: Die Sozialdemokraten mußten dort ansetzen, wo die Nationalsozialisten stark waren, in der symbolisch vermittelten, d.h. auch emotionalisierbaren Auseinandersetzungen, im Versuch, eigene „Schweigespiralen" zu schaffen, vor allem aber, jeden Ansatz einer Monopolisierung des Vaterlandsbegriffs - wie Theodor Heuss einmal sagte - zu unterbinden. Dieser „Symbolkampf" war das eigentliche Kampffeld von Mierendorff, der ein begnadeter „Gesinnungskämpfer" war und die Methode emotionalisierenden Ringens um das „Herz der Wähler" wie kein anderer Sozialdemokrat seiner Zeit beherrschte [ Vgl. die Broschüe Carlo Mierendorff u. Sergej Tschachotin, Grundlagen und Formen politischer Propaganda, Magdeburg 1932] . So wurde er zum Gegner von Goebbels, den er durchschaute und deshalb sowohl auf parlamentarischer [ Vgl. dazu Anhang Nr. XXX] wie publizistischer Ebene herauszufordern wußte.

Einen Symbolkampf zu führen ist ebenso reizvoll wie gefährlich, denn man muß sich unausweichlich und ohne jede Berührungsangst auf vieldeutig zu interpretierende Symbole einlassen. Kampf der Symbole setzt in der Tat die Emotionalisierung von Politik durch die Symbolisierung von Konflikten voraus. Dies bedeutet, daß man semantisch die Gegner auf eine Weise angreift, die sie unglaubwü ch zu anderen Massenparteien alt erscheinenden SPD, ihre Schwierigkeiten, denn ähnelte seine Kampfweise nicht zuweilen sehr derjenigen der Nationalsozialisten? Begab er sich semantisch nicht allzu oft auf ein Gebiet, das eher die Nationalisten beherrschten als die Sozialdemokraten? Er sprach die Wähler an, erinnerte an kollektive Erfahrungen und kategoriale Prägungen politischer Generationen und traute sich den Tanz auf dem Vulkan zu, nicht, wie er bereits im Nachruf auf Weber angedeutet hatte, „aus Opportunismus", sondern „vielmehr weil das die einzig gegebene und einzig denkbare Basis ist". Er wurde zum Empiriker der politischen Psychologie [ Vgl. Carl Mierendorff, Gesicht und Charakter der nationalsozialistischen Bewegung, in: Die Gesellschaft 7, 1930, I, H.6, S.489 ff.] , nachdem er sich in die Mentalität der nationalsozialistischen Wähler hineingedacht hatte.

Getrieben von der Einsicht in die politische Gefahr, schrieb er in den Jahren der untergehenden Weimarer Republik rastlos seine Analysen, Warnungen, Vorschläge nieder - jedes aktuelle Ereignis erhielt nun seine Bedeutung durch den Blick auf das Ganze, auf die gefährdete, die von rechts und links bekämpfte, die preisgegebene, die sich selbst auflösende und die bald so unausweichlich und nachgerade unvermeidlich untergehende Republik. [ Vgl. als eindrucksvolle Gesamtdarstellung jetzt Hans Mommsen, Die verspielte Freiheit: Der Weg der Republik von Weimar in den Untergang 1918-1933, Berlin 1989.]

Mierendorff ahnte, was die Nationalsozialisten planten, denn er hatte ihre Unterdrückungsabsichten im Zusammenhang mit der Veröffentlichung der Boxheimer Dokumente geschickt entlarvt. Klarsichtige Zeitgenossen wußten, daß eine der ersten Maßnahmen der NS-Führung auf die „Legalisierung der Rache" (Theodor Wolff) zielten. Deshalb machte Mierendorff sich keine Illusionen; er wußte stets genau, was nach der nationalsozialistischen Regierungsübernahme geschah, denn er blickte genau hin - dadurch wurde er den Nationalsozialisten immer verhaßter.

Sie hatten vor 1933 gespürt, wie er sie auf ihrem eigenen Terrain herausgefordert und argumentativ in die Enge getrieben hatte. Das hatten sie ihm niemals vergessen. Seine Freunde hingegen ahnten, wie er litt und was es ihn kostete, nicht aufzugeben, obwohl er scheiterte. Fremd wurden ihm andere, nicht gleichgültig, so wenig sie auch begriffen, worum es ihm ging. Symbolkämpfe kann nur der Selbstbewußte führen. Mierendorff besaß ein Selbstbewußtsein, das mehr war als das Selbstwertgefühl des Klugen und des Jungen, der wußte, daß die Zeit für ihn arbeitete.

Selbstbewußtsein kann nur der zeigen, der sich seiner selbst gewiß ist. So besaß Mierendorff mehr als Selbstbewußtsein: Er wußte, daß seine Sozialdemokratie auch nach 1933 eine Mission zu erfüllen hatte. Dies war mehr als Gesinnungspflege im kleinen Kreis. Sie war für ihn vor 1933 die Kraft, die für die Republik jene Kräfte binden könnte, die zu ihrer Verteidigung nötig war. Das war mehr als die Programmatik des Hofgeismarer Kreises und des rechten Parteiflügels. Dies war aktiver, kämpferischer, mutiger Republikanismus. Dabei ergänzte sich Mierendorff bestens mit Haubach. Während Mierendorff die Eiserne Front beflügelte, prägte Haubach das Reichsbanner, also den republikanischen Kampfverband, der sich zu „Schwarz-Rot-Gold" bekannte.

Wer einen Symbolkampf vorbereitet, kann sich keinen Pessimismus leisten, denn dies würde bedeuten, dem Gegner die Zukunft zu überlassen. Dies bekam vor allem Goebbels zu hören. In einer turbulenten Reichstagssitzung hatte Kurt Schumacher am 23.2.1932 dem nationalsozialistischen Trommler erklärt, dieser werde mit seiner Bewegung niemals „an den Grad unserer Verachtung" heranreichen. [ Vgl. Willy Albrecht, Hg., Kurt Schumacher - Reden, Schriften, Korrespondenzen 1945-1952, Berlin und Bonn 1985, S.71.] . Bereits ein Jahr vorher hatte Mierendorff den enragiert-entnervt aus dem Plenarsaal stürmenden Propagandisten der NSDAP Josef Goebbels, der sich zum Sprecher der Weltkriegsgeneration machen wollte, nach seinem Eisernen Kreuz gefragt [ Vgl. Anhang Nr. XXX] . Später zahlten beide „Jungen" und „Militanten", Mierendorff wie Schumacher, einen hohen Preis für ihren rhetorischen Triumph, übrigens ohne sich zu beklagen.

Bei Mierendorff kam überdies hinzu, daß er eines der prominentesten Objekte jener Rache war, welche die Nationalsozialisten sehr früh angekündigt hatte. Nie hatten sie ihm verziehen, daß er Ende 1931 den verfassungsfeindlich-umstürzlerischen, rechtsbrecherischen Charakter der nationalsozialistischen Bewegung sehr überzeugend entlarven konnte, wenige Monate, nachdem Hitler den legalistischen Kurs der NSDAP so behend beschworen hatte.

Wilhelm Hoegner hatte später im Exil beklagt, den Sozialdemokraten hätte vor 1933 die Phantasie gefehlt, sich die Wirklichkeit nationalsozialistischer Herrschaft, die Zerstörung des Rechtsstaates, den Terror gegen politisch Andersdenkende vorzustellen. Mierendorff hatte es keineswegs an dieser Phantasie nicht gefehlt. Dennoch kehrte er aus dem sicheren Aufenthalt in der Schweiz im Frühjahr 1933 nach Deutschland zurück. „Wir können unsere Freunde dort nicht allein lassen in den nächsten Monaten", hörte man von ihm. Andere Jungen dachten ähnlich. Leber schrieb seiner Frau in diesen Monaten, er müsse seinen Weg zuende gehen, Fechenbach übermittelte seiner Frau, das Schicksal habe bestimmt, „daß ich hierbleibe".

Mierendorff wurde am 13. Juni 1933 verhaftet und wie viele andere Sozialdemokraten in diesen Wochen von den sich zu Siegern der Geschichte erklärenden Nationalsozialisten „wie ein ausgebrochenes Tier" durch die Straßen geschleift. [ Kpoitzsch, Mierendorff, S.195] Ihm, dem „Presseschwein", wollten es die Nationalsozialisten heimzahlen, aus ihm wollten sie die Namen der Verbindungsleute in der NSDAP herausprügeln. Die Qualen der folgenden Wochen, Monate und Jahre teilte Mierendorff mit vielen anderen Sozialdemokraten. Er hält sie in seinen „Haftnotizen" fest: „Schläge, Fußtritte, Leib, Gesicht, Genick..." Und dann stellt er die für ihn entscheidende Frage: „Menschen?" Bei allem Leid - seine Peiniger schlagen ihn im Dunkel der Nacht in seiner Zelle so, daß er in das Wormser Krankenhaus eingeliefert werden muß - hatte er gewiß Glück, daß er nicht wie Fechenbach auf der Flucht erschossen wurde. Im Ausland aber war sein Schicksal bekannt geworden, dies zu einer Zeit, als diese Tatsache der Entdeckung nationalsozialistischen Terrors noch schützte. Leuschner selbst intervenierte telegraphisch aus Genf, wo er zu einer Delegation von Robert Ley gehörte.

Nicht nur die Nationalsozialisten zahlten Mierendorff alles heim. Neben die Legalisierung trat die Privatisierung der politischen Rache. Mierendorffs ehemaliger Heidelberger Gegner Lenard protestierte gegen die geplante Entlassung - Osthofen, Börgermoor, Lichtenburg, Esterwegen, Buchenwald, schließlich die Berliner Prinz-Albrecht-Straße 8 sind Stationen seines Weges, und immer neue Entehrungen, Mißhandlungen, Entbehrungen sollten ihre Rechtfertigung in der Wahnvorstellung finden, Mierendorff sei ein „besonders verderblicher ... Intellektueller". Im Ausland glaubte man das freilich nicht. Man fragte nach, man nahm Anteil - und vielleicht bewahrte dies Mierendorff vor dem Tod.

Die Geschichte seiner Terrorisierung ist inzwischen gut rekonstruiert worden [ Albrecht, Mierendorff, S.154 ff.; ferner Amelung, , Mierendorff , S.58 ff.] . Mierendorff beugte sich nicht, sondern blieb ein militanter Sozialdemokrat an einer doppelten Front: Die Nationalsozialisten bestimmten über seine Lebensbedingungen; er selbst aber hatte seinen politischen Optimismus zu behaupten, dies in einer konzentrationären Schichtungsgesellschaft, in der jeder Tag neue Lebenschancen entziehen oder eröffnen konnte.

Nach langen Jahren wurde Mierendorff 1938 aus der Haft entlassen. Eine persönliche Tragödie bedeutete für ihn die Trennung von Franziska Kinz, seiner großen Liebe, die ihn mit Sicherheit auch überlebensstark gemacht hatte. Franziska Kinz hatte sich in den Jahren der Haft mit einem regimetreuen Journalisten verbunden; die Entlassung von Mierendorff hatte sie zwar mit betrieben, aber wenig später seinem Nebenbuhler das Jawort gegeben. Für Mierendorff brach eine Welt zusammen. Das aus diesen Tagen überlieferte Bild [ Amelung, Mierendorff, S.70] läßt die Strapazen ahnen, die er überstanden hatte. Spürbar ist aber auch den Wille, der ihn weiter beseelte, ihn wie manchen anderen aus dem Kreis der ehemaligen „Neuen Rechten". Diese „Rechten" und „militanten Sozialisten" waren politisch gewiß gescheitert, denn ihre Annäherung an semantisch und symbolisch vermittelbare Positionen einer nationalistisch orientierten deutschen Gesellschaft hatte die Machtergreifung Hitlers nicht verhindern können. Aber sie gaben sich nicht verloren.

Das Jahr 1938 markiert persönlich und politisch eine Wende. Mierendorff hatte neuen Tritt zu fassen, neue Verbindungen aufzubauen, sich in der deutschen Gesellschaft einzurichten, die so wenig mit derjenigen, die er aus der Zeit vor der Haft kannte, Ähnlichkeiten aufwies. Er gehörte nun ohne Zweifel in den großen Kreis der politisch geschlagenen Sozialdemokraten aus der Weimarer Zeit. Er mußte und wollte überleben. Deshalb ließ er sich wenig durch die gängigen pessimistischen Diagnosen sozialdemokratischer Zukunft beeinflussen. Offensichtlich glaubte er an die Zukunft seiner Partei. Ohne Zweifel litten gerade die Jungen unter dem Zustand der Weimarer SPD, unter ihrer abnehmenden Attraktivität bei den Jüngeren und auch unter ihrem politischen Versagen in den Monaten der nationalsozialistischen Machtergreifung. Julius Leber hat uns in seiner Auseinandersetzung mit der SPD diese Haltung eines geistig beweglichen und publizistisch aktiven kritischen Sozialdemokraten demonstriert.

Die Haltung der „Jungen" innerhalb der SPD, die von ihren innerparteilichen Gegnern der „Rechten" zugeordnet wurden, aber hätte niemals den Ruf erklären können, den sie nach dem Kriege erlangt haben. Dieser Nachruhm war zum einen Ausdruck des Respekts vor ihren Mut in der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus vor 1933. Zum anderen wirkte sich die Hochachtung aus, die man angesichts ihrer Verfolgung nach 1933 vor ihnen empfand. Schließlich aber war die hohe Achtung, die sie errangen, das Ergebnis der Zugehörigkeit zum Kreisauer Kreis. Weniger wichtig war, daß sich die Anerkennung aus der treuen Verehrung von Freunden aus einer viel früheren Zeit speiste, wie sie in Haubachs Grabrede für seinen Freund Mierendorffs oder in Zuckmayers machtvoller Demonstration in New York zum Ausdruck kam.

Neben Leber, Leuschner, auch Haubach, war Carlo Mierendorff in besonderer Weise ein Objekt der Verehrung, obgleich wir nur wenig zuverlässige Nachrichten über seine Rolle und seine Bedeutung innerhalb des Freudenskreises von Moltke und Yorck haben. Diese Verehrung war gewiß die Folge seiner persönlichen Ausstrahlung. Er war Begeisterungsfähig, zuverlässig, mitreißend und zupackend. Er ging selbst ein Risiko ein, ohne vorauseilend jedes potentielle Risiko vermeiden zu wollen. Er „tarnte" sich, ohne sich zu verstellen.

Carl Zuckmayer [ Vgl. Karl Zuckmayer, Carlo Mierendorff: Portrait eines deutschen Sozialisten, in: Aufruf zum Leben:Porträts und Zeugnisse aus bewegten Zeiten, Frankfurt/M. 1982, S.20-42] ahnte von Mierendorffs Leben im Untergrund zunächst nichts und zeichnete ebenso wie Emil Henk [ Emil Henk, Die Tragödie des 20. Juli 1944: Ein Beitrag zur politischen Vorgeschichte, Heidelberg 1946] und Otto John [ Otto John, Carlo Mierendorff, in: Blick in die Welt, Hamburg u. Essen, 4 (1948), H.10, S.14] sehr früh vor allem ein schönes persönliches Bild von Mierendorff, vielfach lange vor der Würdigung anderer Regimegegner aus dem Umkreis des 20. Juli 1944. In den Darstellungen zum militärischen und bürgerlichen Widerstand aber gibt Mierendorffs spärliche direkte Hinterlassenschaft aus dem Widerstand nach 1938, also nach seiner Entlassung aus der Haft, große Rätsel auf. Sie liegen nicht in seiner Person begründet, sondern in den Umständen seines Überlebens.

Als er nach langen Qualen entlassen wurde, wurde er mit einer neuen Form der Existenz in jenem Deutschland konfrontiert, das ihm einfach fremd geworden sein mußte. Er war als ein ebenso entschiedener wie unbeugsamer Gegner der Nationalsozialisten bekannt und gab diesen keinerlei Veranlassung, sich in Sicherheit zu wiegen. Mierendorff blieb für die Nationalsozialisten gefährlich, das war ihnen klar. Deshalb findet sich sein Name in der Kartei jener „Systempolitiker", die im Falle des Krieges zu verhaften wären.

Zunächst aber wurde er durch die Unsicherheit seiner wirtschaftlichen Lage gezwungen, von den Nationalsozialisten die Erlaubnis zur schriftstellerischen Tätigkeit - unter dem Pseudonym Willmer - zu erwirken. Mierendorffs Gesuch vom Mai 1938, verknüpft mit einem Lebenslauf, in dem auf eine sehr geschickte Weise seine angebliche innere Wende in die politische Harmlosigkeit angedeutet werden soll [ Vgl. Auszüge bei Amelung, Mierendorff, S.37.] , läßt sich nicht mißverstehen, so sehr es in einzelnen Formulierungen auch einen Schnitt mit der Vergangenheit zu suggerieren scheint [ Vgl. Albrecht, Mierendorff, S.178 ff.] . Es ist ein Zeugnis politischer Klugheit, diktiert vom Wunsch, als Schriftsteller im NS-Staat zu überleben, und dies trotz menschlicher Enttäuschung, denn seine große Hoffnung und Liebe Franziska Kinz hatte einen Nationalsozialisten geheiratet.

Das Mißtrauen der Nationalsozialisten ließ sich so nicht abbauen. Sie stellten Mierendorffs in der BRABAG [ Amelung, Mierendorff, S.72 ff.] , der Braunkohlen-Benzin-Aktionsgesellschaft an, keinem Unternehmen, das, wie manchmal zu lesen ist, dem Wirtschaftsverwaltungshauptamt (WVHA) der SS zugeordnet war, aber doch gute Kontrolle des Oppositionellen gestattete. Vermutlich hatte sich Werner Best wie Mierendorffs Haftentlassung, so auch später selbst vermittelnd eingeschaltet, dem Mierendorff auch persönlich begegnet war. Seine Tätigkeit bot Mierendorff die Möglichkeit, sich in Berlin aufzuhalten. Berlin war das Zentrum eines Widerstands von Sozialdemokraten, die Kontakte zu jenen hielten und ausbauten, die im Zentrum der Macht standen und von dort aus eine Alternative zum NS-Staat entwickeln wollten. In Berlin lebten alte Darmstädte Freunde und Bekannte, darunter Victor Bausch, hier fand er neuen Kontakt zu Leber und Reichwein, hier konnte er neue Verbindungen aufbauen oder alte, zu Leuschner, Schwamb und Maass, pflegen. Diese Verbindung ließ sich auch aufrechterhalten, als sich Mierendorffs beruflicher Schwerpunkt in das sächsische Böhlen nahe Leipzig verlagert hatte.

So merkwürdig es klingt: Mierendorffs alter Gegner aus Darmstädter Zeiten kreuzte immer wieder dessen Weg. Die Rolle von Best ist nicht leicht zu verstehen. Handelte er, weil er Mierendorff unterschätzte, wollte er ihn ganz und gar demütigen, suchte er immer wieder den Konflikt mit dem Ebenbürtigen? Wir wissen es nicht. Helmuth James Graf von Moltke, der bedeutende und wichtige Kreisauer, fand den nationalsozialistischen Juristen Best in dieser Zeit nicht nur faszinierend, sondern er setzte zu einer gewissen Zeit geradezu auf ihn, was mancher Historiker bis so befremdlich findet, daß er bei der Edierung von Zeugnissen des Widerstands diese Verbindung Moltkes zu Best bis zur Unkenntlichkeit entfremdet [ Ger van Roon, Helmuth James Graf von Moltke: Völkerrecht im Dienste der Menschen, Berlin 1986, Nr.8, S.295 ff.] .

Mierendorff sah in Best einen Gegen-, keinen Mitspieler. Im Unterschied zu manchen Vertretern des bürgerlichen und militärischen Widerstands brauchte er keine Ziele zu überwinden, die er ursprünglich einmal mit den Nationalsozialisten geteilt hatte; statt dessen zahlte sich jetzt aus, was in den Endjahren der Weimarer Republik für Befremdung gesorgt hatte. Konnte er zwar durch seinen Versuch, mit der Rechten in einen Symbolkampf einzutreten, nicht das Ende der Weimarer Republik verhindern, so war jetzt gerade durch die ideologische Vertrautheit mit den nationalkonservativen Argumentationsmustern die Voraussetzung für eine Kooperation im Widerstand geschaffen, die geradezu in einer ganz folgerichtigen Weise an die Zeit vor der Haft in den NS-Lagern anknüpfen konnte.

Wir wissen bis heute wenig über die Verbindungen Mierendorffs zum bürgerlich-militärischen Widerstand. Gewiß, Moltke schätze Mierendorff, den er seit einer frühen Begegnung mit Zuckmayer kannte. Anfang 1942 besaß Mierendorff im Kreis einen Tarnnamen: „Dr. Friedrich" . Moltke selbst war fasziniert von Mierendorffs Präzision und Zuverlässigkeit und nannte ihn etwa ein Vierteljahr vor Mierendorffs Tod in einem Brief an seine Frau am 10. August 1943 „klar, entschieden, klug, taktvoll, witzig". Mit Mierendorff wurde der Kreis der Sozialdemokraten und Sozialisten in dieser Freundesgruppe größer. Reichwein kannte Moltke seit längerem, ebenso natürlich Maass und Leber. Nun stellte sich auch der Kontakt zu Leuschner, von diesem ausgehend zu anderen Widerstandsgruppen ein.

Mierendorffs Einbeziehung in den Kreis der Regimegegner erfolgte menschlich ohne Probleme; politisch war seine Mitarbeit im Kreisauer Kreis dringend erwünscht, und für Mierendorff war sein Engagement gewiß eine Frage der Selbstachtung. Dennoch ist die Rolle, die er seit Sommer 1941 im Freundeskreis von Yorck und Moltke übernahm, nicht klar, weil Mierendorff an keiner der großen Tagungen teilnahm, vermutlich aus Sicherheitsgründen. Dennoch gehörte er zum Kern der Kreisauer, vermutlich, weil er der erste war, der die enge soziale Basis der Mitglieder überwand, die sich seit dem Sommer 1940 zusammengefunden hatten. Er sollte, so wurde immer wieder vermutet [ Vgl. Wilhelm Ernst Winterhager, der Kreisauer Kreis: Porträt einer Widerstandsgruppe, Berlin 1985, S.47.] , die Bestrebungen der Gruppe in der Arbeiterschaft verankern. Moltke berichtet seiner Frau aber von vielen Begegnungen, und es wird dabei deutlich, im welchem Maße ihm Mierendorff menschlich nahekam. Ebenso erhellend für den unkomplizierten Umgangsstil der Freunde wie auch für die selbstironische Färbung mancher konspirativer Zusammenkünfte war folgende kleine Episode: Während eines langatmigen Vortrags von Maass war Mierendorff eingeschlafen und erst durch die aus seinem Mund fallende Zigarre geweckt worden. Er lachte Moltke zu, hob die Zigarre auf, schlief wieder, „bis er sie erneut verlor" [ Helmuth James Graf von Moltke, Briefe an Freya 1939-1945, München 1988, S.471 (13.4.1943).] .

Immer aber ging es um mehr als um Gespräche an sich. Das Ringen um die Prinzipien der Neuordnung wurde schärfer, auch kontroverser. Es ging um Kernbereiche, die unverzichtbar, nicht zu verwässern und zu behaupten waren. „Wir durchlaufen eine grundsätzliche Gefahrenzone", schrieb Moltke etwa am 9.11.1943 seiner Frau, „in der manche hoffen, das Boot schwimmfähiger zu machen, indem sie Grundsätze opfern, dabei aber vergessen, daß sie dadurch dem Boot die Steuerbarkeit nehmen." Mochte man sich auch streiten, so kam eine Kapitulation vor den nicht in Frage. Mierendorff blieb sich treu, nicht nur in seinen Zielen, sondern auch in seinen Methoden.

Die Zeitdiagnosen, die im Kreisauer Kreis diskutiert wurden, kamen seiner Neigung entgegen, soziologische

Gesellschaftsanalyse für die gemeinsamen Ziele zu schaffen, das christliche Kreuz im sozialistischen Ring, dazu die Farben schwarz, rot, gelb. „Aufwärts zum Sieg - oder zum Galgen", dieser aus seinem Munde stammende Ausspruch war Ausdruck seines Lebensgefühls.

Gestorben war er vor 1938 viele Tode, und das letzte Wagnis der aktiven Konspiration war keineswegs mehr der Schritt über die Grenze, sondern die Beteiligung an der ersehnten „Aktion". Dieser Begriff, 1918 im November erstmals so ganz politisch formuliert, prägte dann auch die einzige Programmschrift, die ganz zweifelsfrei von Mierendorff stammt. Sie gehört zu den Kreisauer Dokumenten, die Ger van Roon erstmals breit gesammelt und dokumentiert hat. Man findet sie in maschinenschriftlicher Kopie als ein kurzes Schriftstück in der Mappe „Grundtexte". Dieses Schriftstück hatte ursprünglich keine Überschrift, sondern nur eine Datumsbezeichnung: „Berlin, 14.6.43". In der Literatur findet es sich allerdings immer wieder unter der Schlagzeile „Sozialistische Aktion" behandelt.

Diese Blatt stellt wohl eines der merkwürdigsten, schwierigsten, gewiß aber auch reizvollsten Schriftstücke der sogenannten „Kreisauer" dar und belegt, daß es nicht nur um die „Wiedererrichtung des Bildes vom Menschen in den Herzen der Mitbürger" und um das „Nachdenken über das Danach", sondern auch um die Vorbereitung von Aktivitäten und Aktionen ging. Denn daß sich die Kreisauer auch in die Politik nach dem Umsturz einmischen wollten, zeigten Schriftstücke wie die Entwürfe über die Landesverweser und die Bestrafung der Rechtsschänder. Aus dem Rahmen dieser Texte fällt jedoch der Aufruf vom 14. Juni 1943 weit heraus, der als ein Diktat Mierendorff beschrieben und somit zweifelsfrei diesem zugeschrieben wird.

Bereits die Betitelung dieses eineinhalbseitigen Dokuments in der Literatur verrät etwas über die Schwierigkeiten einer Interpretation. Spricht van Roon noch schlicht von dem „Aufruf Mierendorffs" [ Ger van Roon, Neuordnung im Widerstand: Der Kreisauer Kreis innerhalb der deutschen Widerstandsbewegung, München 1967, S.589 f.] , so nennt Klaus Drobisch [ Klaus Drobisch u. Gerhard Fischer, Hg., Ihr Gewissen gebot es: Christen im Widerstand gegen den Hitlerfaschismus, Berlin (Ost) 1980, S.294 ff.] in einer DDR-Veröffentlichung aus dem Jahre 1980 das Schriftstücken bereits einen „Aufruf zur Sozialistischen Aktion vom 14. Juli 1943" und rückt ihn mit der Überschrift „Sammlung aller Kräfte gegen Hitler" in den politischen Kontext der Volksfrontbestrebungen. Eingebürgert hat sich heute die Überschrift „Sozialistische Aktion", vielleicht, weil dieser Text verdeutlicht, daß es bei den Kreisauer Zusammenkünften wirklich um eine radikale Erprobung von Möglichkeiten der Neuordnung ging.

Kennzeichen dieses Aufrufs ist seine Vielschichtigkeit. Es ging um Aktion, aber nicht um die nackte Tat, schon gar nicht um eine Demonstration des blanken politischen Willens. Tragende politische Begriffe fallen ins Auge. „Wiederherstellung von Recht und Gerechtigkeit, Beseitigung des Gewissenszwanges und unbedingte Toleranz in Glaubens-, Rassen- und Nationalitätenfragen" stehen neben der Forderung, die „sozialistische Ordnung der Wirtschaft" zu realisieren, „um menschenwürdige und politische Freiheit zu verwirklichen" und „den bürokratischen Zentralismus abzubauen". Visionär klingt die Forderung und das Versprechen einer „aufrichtigen Zusammenarbeit mit allen Völkern, insbesondere in Europa mit Großbritannien und Sowjetrußland".

Der Aufruf zur „sozialistischen Aktion" belegt den Willen der Gegner Hitlers, eine qualitativ neue, liberaldemokratische, freiheitlich geprägte Ordnung zu erreichten, in keiner Weise aber die vorrangige Bedeutung von Aktionen an sich oder gar die Vereinheitlichung des Parteiensystems durch die Schaffung von Einheitsparteien zu fördern. So gesehen, wirkte sich bei der Formulierung dieses Aufrufs die Erfahrung der Verfolgung, aber auch der Wille aus, die eigenen Ziele respektiert zu sehen. Der Sozialismus gehörte zu den großen Zielen der politischen, kulturellen und konfessionellen Volksbewegungen. Er saugte diese weder auf noch wollte er sie unterordnen, aber er hatte das Recht, neben diesen Bewegungen zu stehen und in den neuen Kompromiß integriert zu werden, der sich im Widerstand, im Gegensatz zum Nationalsozialismus abzeichnete.

Die Gestapo konnte sich später nicht erklären, wie Regimegegner, die lange Jahre drangsaliert worden waren und sich eine bürgerliche Existenz zu schaffen wußten, mit aller Energie wieder in den Widerstand zum NS-Staat gehen konnten. Dies war nicht nur Ausdruck persönlicher Loyalität, etwa gegenüber Leber oder Reichwein. Sondern dies war in einem bewegenden Maße auch das Zeichen des Willens, dem verhaßten Gegner und den verachteten Mitläufern gerade nicht die Gestaltung der Zukunft zu überlassen. Mierendorff stand seit 1939/40 in Verbindung mit seinen Freunden und befand sich 1943 dann endgültig im innersten Kreis der Regimegegner. Er wußte genau, was er tat, was er riskierte und was er wollte.

Der tragische Tod symbolisiert so nicht nur ein Rätsel, sondern er läßt sich als Schlußstrich unter ein reiches und konsequent geführtes Leben ziehen. Mierendorff verkörperte durch seinen Tod eine Ambivalenz, die wohl jede Existenz antitotalitär denkender Menschen in einer Diktatur nach sich zog. Bei seinen Freunden, aber auch bei den Vertrauten aus dem Umkreis von Moltke, Yorck und Stauffenberg wurde die Lebenslage eines Menschen, der im Innern des Reiches zu den Regimegegnern zählte, auf eine besonders eindringliche Weise deutlich. Mierendorffs Tod machte auf eine ganz real werdende Weise deutlich, was ein Leben „zwischen Bomben und Gestapo" zu bedeuten hatte.

Als „Junger Rechter" empfand Mierendorff in besonderer Weise die Tragik seiner Zeit, die den Nationalismus überwand, weil sein Grundgedanke pervertiert war. Wie Mierendorff die Zerstörung des deutschen Nationalstaats bewertet und verkraftet hätte, entzieht sich unserer Phantasie, es sei denn, wir nehmen seine sich bereits zu Beginn der Zwanziger Jahre nachweisbaren Appelle an das europäische Gemeinsamkeitsgefühl ernst.

Mierendorff hatte ein Gefühl für die Kraft von Visionen, nicht zuletzt aber ebenso ein sicheres Gespür für das aus der Vision zu entwickelnde Machbare. Er hatte aber auch stets, und dies zeigt sein Interesse an künstlerischen Fragen, ein feines Gefühl für den Effekt des Unglaublichen, des Absurden, des Sinnlosen. Die „Aktion", die er 1918 beschwor, vollzog sich nun in anderer Weise vor seinen Augen. Die Tat, die er als Folge der Entscheidung deutete, stellte ihn zunächst abseits.

Die Realität, die er als Herausforderung für das Denken und den empirisch orientierten Willen zur Analyse sah, begleitete ihn auch nach 1933 und begründete ein Spannungsverhältnis, daß sich wissenschaftlich kaum fassen läßt. Wir fangen diese Spannung mit dem Blick auf die Zwischenkriegs- und Kriegszeit heute vor allem in der Kunst ein, in den von der Wirklichkeit eingeholten Visionen von Malern, die sich, wie Mierendorff, nicht selten aus dem Expressionismus und Surrealismus zu den Vermessern des Wahnsinns entwickelt haben, der unserem Jahrhundert über weite Strecken sein Gesicht gab.

Mierendorff wollte die Kreisauer vielleicht nicht von den Zielen seiner „Aktion" überzeugen, sondern er wollte nur vorführen, wie Menschen seiner Herkunft und geistigen Prägung, nicht zuletzt auch seines Selbstwertgefühls und Selbstbewußtseins dachten. Er gehörte zu den Kreisauern, ging aber nicht in ihnen auf. Er muß deshalb zwar jenem Freundeskreis um Helmut James von Moltke und Peter Graf Yorck von Wartenburg zugerechnet werden, der in der Widerstandsrezeption als Keimzelle eines anderen und besseren Deutschland gedeutet wurde; aber er ragte zugleich aus ihm hinaus. Mierendorff gehörte als entschiedener, tatkräftiger, begeisterter und begeisternder demokratischer Sozialist in diesem Keim. Aber, und dies ist wichtig, er bliebt dabei Sozialdemokrat.

Es wäre an dieser Stelle keineswegs angemessen, Mierendorff zum Besitz der nachlebenden oder einer Partei zu erklären, wie es immer wieder mit Kreisauern geschieht. Im Freundeskreis verkörpert er das Fremde; deshalb sollten sich Biographen hüten, immer das bei ihm zu suchen, was sie bei ihm finden wollen. Mierendorff verkörpert gewiß keinen Typus des Sozialdemokraten seiner Zeit. Er verstand sich als Intellektueller und hatte ein Gespür auch für seine Einsamkeit innerhalb der Partei. Dies hatte er vor 1933 durchaus gespürt. Vielleicht hat ihn dieses Gefühl so fähig gemacht, die Einsamkeit zu suchen, die der Widerstand verkörperte, lebte und auch hütete.

Weil er in den symbolisch vermittelten Auseinandersetzungen der späten Weimarer Zeit gezwungen war, über die Grenzen seiner Partei, seiner Traditionen und Gruppe hinauszuschauen und sich zu fragen, wie seine eigene Haltung für andere, die ihm ferner standen, Überzeugungskraft gewinnen konnte, mußte er wohl in besonderem Maße jene Kraft mobilisieren, die Max Weber als Befähigung zur Empathie beschrieben hatte. Mierendorff mußte die Welt eben auch mit anderen Augen als seinen eigenen sehen können. Deshalb war er ein begnadeter politischer Vermittler, deshalb konnte er auch in den gedanklichen Austausch mit Vertretern jener Kräfte und Gruppen treten, die im bürgerlichen und militärischen Widerstand Positionen überwinden mußten, die sie ursprünglich vielleicht mit den Nationalsozialisten geteilt hatten.

Vor 1933 war Mierendorff gewiß wichtig, aber es hieße, seine Bedeutung zu übertreiben, wenn wir den Eindruck erwecken würden, er sei in der Lage gewesen, das Gesicht der SPD vor 1933 und nach 1933 zu prägen. Verbunden muß sein Name vielmehr mit einer scharfen Diagnose der Weimarer SPD werden, die parteiprogrammatisch vielfach in den alten Argumentationsmustern verharrt und zunehmend ihre Basis in der jungen Generation verloren hatte. Haubach gehörte zu den Jungen, zu dem Kreis von Abgeordneten, die neue Wege suchen wollten und erprobten und die dabei auch die ideologischen Grenzlinien überschritten, vor allem in der Wehrpolitik. Er gehörte ohne Zweifel zum Kreis der „Junge Rechten in der SPD" und wurde so - wie es heute heißt - diskursfähig für den bürgerlichen, militärischen und national-konservativen Widerstand.

Was also bleibt?

Mierendorff stand seit seinen Schülerzeiten in Darmstadt mitten in einem bürgerlichen Spannungsfeld, seit den frühen Diskussionen, die nicht nur unter dem Eindruck des Expressionismus standen, sondern diese Kunstrichtung auf eine anspruchsvolle Weise verkörperten und mehr prägten als reflektierten. „Wahnsinn", diese Feststellung, die zugleich auch ein Ausruf war und Erstaunen anzeigte, und es hätte zugleich viel über sein Verhältnis zur Welt ausgesagt, die er stets scharf beobachtet hatte, die er verändern wollte und die er doch nicht zu ändern vermochte.

Mierendorff gehörte dem engsten Kreis der Regimegegner an, daran ist kein Zweifel. Sein früher Tod in Leipzig kam seiner Hinrichtung nach dem 20. Juli 1944 zuvor. Er bewahrte ihn vor der entwürdigenden Behandlung; ihn zu entehren hätten die Nationalsozialisten ebenso wie bei seinen anderen Freunden nicht vermocht. Sein Tod erschütterte seine Vertrauten, seine Mitverschwörer und seine Freunde. Erst mehr als ein halbes Jahr später begann eine neue Phase der Widerstandsgeschichte: dem Scheitern des Umsturzes folgte die Verfolgung der Beteiligten, folgten die Verhaftung vieler Regimegegner und deren Demütigung, folgten die unmittelbare Gewaltanwendung bei Verhören durch Mißhandlungen und die Bedrohung der engsten Familienangehörigen, folgten schließlich die Prozesse und Verurteilungen der Angeklagten, deren Hinrichtung durch den Strang, schließlich die sogar die Auslöschung ihrer sterblichen Überreste, um den Zeitgenossen und Nachlebenden jede Möglichkeit zu nehmen, sich irgendwo an einen der entschiedenen Regimegegner zu erinnern.

Bei jeder Begegnung mit Mierendorff hatten die Nationalsozialisten gespürt, daß ihnen ein Mensch gegenüberstand, der ihnen den Anspruch auf die Zukunft streitig machte. Ihr Selbstbewußtsein sollte durch ihn erschüttert werden; darauf hatte er es als ein bewußter „Symbolkrieger" stets abgesehen. Den Konflikt wußte er nicht nur zu inszenieren; er legte es vielmehr ganz bewußt auf diesen Konflikt an, suchte die Konfrontation und machte sich so bei den Nationalsozialisten verhaßt.

Carlo Mierendorff verkörperte auf seine unvergleichliche Art die Möglichkeiten eines sozialdemokratisch geprägten Widerstands: Er erkannte den verbrecherischen Charakter des Systems schon lange vor 1933 und bekämpfte die Nationalsozialisten vor der Machtergreifung. Er paßte sich nicht an, sondern blieb seinen Traditionen treu. Er suchte nach Gemeinsamkeiten mit anderen Regimegegnern, ohne deshalb seine eigenen Prinzipien zu verraten. Vielleicht liegt in dieser Offenheit gegenüber den Strömungen und Möglichkeiten seiner Zeit und der Prinzipienhaftigkeit seiner Grundüberzeugungen die Erklärung für seine Selbstgewißheit und die Leichtigkeit, mit der seinen Weg auch nach der Entlassung aus der langjährigen Haft fortsetzte. Wenn wir uns heute mit Mierendorff beschäftigen, so hat das nichts mit dem Versuch zu tun, jahrestagsbedingt wieder einmal den sozialdemokratischen Widerstand zu beschwören.

Es müßte bereits mit dem Blick auf Mierendorffs Partner im Widerstand deutlich sein, daß sich der Widerstand nicht als Gegenstand einer geschichtspolitischen Auseinandersetzung oder Besitznahme eignet: Mierendorffs enger Mentor Wilhelm Leuschner und Habermann, der aus der deutschnationalen Gewerkschaftsbewegung kam, starben zehn Tage nach den Kommunisten Saefkow und Bästlein, zu denen die Regimegegner auf der Suche nach einer breiten Basis des Widerstands Kontakt aufgenommen hatten, vermutlich gegen Vorbehalte Leuschners. Sie starben gemeinsam mit anderen, die Hitlers Staat zerstören wollten - ich denke, gerade auch im Sterben der Regimegegner wird deutlich, wofür sie gelebt haben und was ihnen gemeinsam war.

Eines aber ist gewiß, und Claus von Dohnanyi hat daran erinnert, als er betonte, sein Vater sei nicht für einen Teil Deutschlands gestorben: Kein Regimegegner ist nur für eine Hälfte Deutschlands gestorben. Ich denke, dieses Gespür für die Gesamtheit der deutschen Geschichte über alle Teilungen hinweg verweist in besonderer Eindringlichkeit auf Mierendorff, der in der Nähe von Dresden geboren worden war, in Darmstadt aufwuchs, in Nordwestdeutschland in Konzentrationslagern litt, aber nicht gebrochen wurde, in Berlin einen Schwerpunkt seiner politischen Widerstandsarbeit fand und in Leipzig umkam - ein wahrhaft gesamtdeutscher Regimegegner.

Traditionen entstehen nicht allein durch Vorbilder, vermutlich schon gar nicht, wenn der Staat sie zu schaffen sucht. Traditionen entstehen durch Nachvollzug und durch Aneignung, und diese ist fast immer das Ergebnis einer Auseinandersetzung. Je sperriger der Regimegegner, desto schwieriger der Nachvollzug, desto nachhaltiger vielleicht der Eindruck, den eine Begegnung hinterläßt.

Mierendorff verkörpert auf eindrucksvolle Weise eine Alternative zur nationalsozialistischen Zeit. Er ist ein Sinnbild für Konsequenz und Zivilcourage, für Zukunftsoptimismus und Kompromißbereitschaft, aber auch für einen bewundernswerten, nicht zu brechenden Gestaltungswillen, der ihn davor bewahrte, seinen Gegnern die Zukunft zu überlassen. Er entlastet nicht die deutsche Geschichte, sondern macht ihr Gewicht schwerer. Denn er zeigt, was möglich war. Dies meinte Haubach, als er am Grab von Mierendorff sagte, sein Leben sei ungewöhnlich an Gnade, ungewöhnlich an Last gewesen. Er gab Mierendorff mutig zurück, was dieser bei der Beerdigung einer jüdischen Freundin gesagt hatte, im Oktober 1942, als er ihr nachgerufen hatte, sie hätte „das Bild des Menschen, nur allzu oft von seiner eigenen Hand verzerrt, geschändet und in den Dreck gezogen" gereinigt und gerettet und auf diese Weise den Glauben an den Menschen und das Menschtum im Menschen nicht verlieren lassen." [ Zit. nach Albrecht, Mierendorff, S.217]

Widerstand gegen den Nationalsozialismus - das war für Mierendorff auch der Versuch zu einer sozialistischen Aktion, aber nicht, um die Produktionsverhältnisse umzustürzen oder eine neue Eigentumsordnung zu errichten, sondern um überhaupt Ordnung in die Welt zu bringen. Ohne diese neue Ordnung war nicht daran zu denken, das Bild vom Menschen im Herzen der Mitmenschen zu errichten. Dies verband ihn mit den Konzepten eines personalistisch geprägten Sozialismus, welches der Jesuit Delp keineswegs ablehnte. Sozialismus, das war ein Lebens- und Weltentwurf, eine Tradition, eine Überzeugung und ein Ziel.

Das werden wir immer schwerer begreifen in einer Zeit, die keine Brücken sucht, sondern Konfrontationen braucht, die Spaltungen nutzt, um Mehrheiten zu schaffen und sich auf eine verhängnisvolle Weise von der Wirklichkeit entfernt, die Mierendorff, den Tatsachenpolitiker, den Anhänger des Umbruchs, des Neuen, den Analytiker und Symbolkämpfer faszinierte. Als es nicht mehr um die Macht ging, da ging es um die verstellten Möglichkeiten.

In der Tat: Nur das Wort „Wahnsinn" drückt aus, was die Zerstörung einer Zivilgesellschaft durch eine moderne Diktatur, die Antizivilgesellschaft sein wollte, bedeutete und bewirkte. Ich weiß nicht, ob Mierendorff es wirklich gesagt hat, aber - zuzutrauen wäre es ihm.

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Reihe Gesprächskreis Geschichte

Heft 1

Jürgen Kocka, Die Auswirkungen der deutschen Einigung auf die
Geschichts- und Sozialwissenschaften, Bonn 1992 (24 S., vergriffen)

Heft 2

Eberhard Jäckel, Die zweifache Vergangenheit. Zum Vergleich politischer Systeme, Bonn 1992 (24 S., vergriffen)

Heft 3

Von der Bürgerbewegung zur Partei. Die Gründung der Sozialdemokratie in der DDR, Bonn 1993 (180 S.)

Heft 4

Die Ost- und Deutschlandpolitik der SPD in der Opposition 1982-1989, Bonn 1993 (208 S.)

Heft 5

Reinhard Rürup, Die Revolution von 1918/19 in der deutschen Geschichte, Bonn 1993 (32 S.)

Heft 6

Dieter Langewiesche, Nationalismus im 19. und 20. Jahrhundert: Zwischen Partizipation und Aggression, Bonn 1994 (32 S.)

Heft 7

Karin Hausen, Die "Frauenfrage" war schon immer eine "Männerfrage". Überlegungen zum historischen Ort von Familie in der Moderne, Bonn 1994 (32 S.)

Heft 8

Hans-Ulrich Wehler, Angst vor der Macht? Die Machtlust der Neuen Rechten, Bonn 1995 (24 S.)

Heft 9

Peter-Christian Witt, Friedrich Ebert 1871-1925. Vom Arbeiterführer zum Reichspräsidenten, Bonn 1995 (72 S.)

Heft 10

Leonid Pawlowitsch Kopalin, Die Rehabilitierung deutscher Opfer sowjetischer politischer Verfolgung, Bonn 1995 (40 S., vergriffen)

Heft 11

Michael Schneider, Völkspädagogik von rechts (56 S.)

Heft 12

Klaus Schönhoven, Gewerkschaften und soziale Demokratie im 20. Jahrhundert, Bonn 1995 (32 S.)

Heft 13

Kurt Schumacher und der "Neubau" der deutschen Sozialdemokratie nach 1945, Bonn 1996 (192 S.)

Heft 14

Die Deutschen - ein Volk von Tätern? Zur historisch-politischen Debatte um das Buch von Daniel Goldhagen, Bonn 1996 (80 S.)

Heft 15

Herbert Wehner (1906 - 1990) und die deutsche Sozialdemokratie, Bonn, 1996 (64 S.)

Heft 16

Carlo Schmid 1896 - 1979 (24 S.)

Heft 17

Die »Goldhagen-Debatte«

Ein Historikerstreit in der Mediengesellschaft (xxx S.)

Heft 18

Widerstand gegen den Nationalsozialismus - eine sozialistische Aktion?


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