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Milieus, politische Sozialisation und Gemerationenkonflikte im 20. Jahrhundert : Vortrag vor dem Gesprächskreis Geschichte der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn am 11. Juni 1997 / Klaus Tenfelde. - [Electronic ed.]. - Bonn, 1998. - 31 S. = 71 Kb, Text . - (Gesprächskreis Geschichte ; 19). - ISBN 3-86077-679-7
Electronic ed.: Bonn: FES-Library, 1998

© Friedrich-Ebert-Stiftung


INHALT














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Vorbemerkung des Herausgebers

Prof. Dr. Klaus Tenfelde, Direktor des Instituts zur Erforschung der europäischen Arbeiterbewegung, Ruhr-Universität Bochum, plädiert für eine neue Sozialgeschichte, die die soziale Ordnung der Gesellschaft in ihren Veränderungen neu durchleuchten soll. Mit seinem Vortrag vom 11. Juni 1997 vor dem Gesprächskreis Geschichte zum Thema „Milieus, politische Sozialisation und Generationenkonflikte im 20. Jahrhundert" hat er schlaglichtartig das komplizierte Geflecht von sozialer Formierung und politischer Formung und deren wechselseitige Befruchtung erhellt, ohne hier einseitig einen Akzent setzen zu wollen.

Die Älteren wissen noch aus eigener Erfahrung, daß bis in die 50er Jahre hinein die Menschen in weitaus stärkerem Maße als heute geprägt waren von in sich abgeschlossenen, übergreifenden Strukturen, in die sie hineingeboren waren. Sowohl die Wertorientierungen der Menschen als auch ihr soziales und politisches Verhalten wurden von diesen Strukturen stark beeinflußt. Diese sind von den Sozialtheoretikern verschieden definiert worden, sei es als Klassen wie die Arbeiterklasse und die Bourgeoisie, sei es als Sozialmilieus wie etwa das sozialistische und das kommunistische Arbeitermilieu - für manche Forscher eine Einheit -, das protestantische und das katholische Milieu.

In der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts haben sich Klassen und Milieus in zunehmendem Maße aufgelöst, wobei sich das katholische Milieu noch am längsten gehalten hat. Was ist seitdem an die Stelle jener Strukturen getreten, die Verhalten und Orientierungen so stark geprägt haben? Wie sieht die politische Sozialisation der Menschen, vor allem der jungen Menschen, heute aus?

Das 20. Jahrhundert ist in Deutschland bestimmt von scharfen politischen Brüchen, für die hier nur die Jahreszahlen 1914, 1918/19, 1933, 1939, 1945/49 und 1989 stehen sollen. Bei allen Unterschieden im einzelnen ist nun folgendes unmittelbar einsichtig: Die Menschen, deren prägende Kindheits- und Jugendjahre vor diesen politischen Wendezeiten lagen, besaßen und besitzen einen anderen Erfahrungs- und Bewertungshintergrund als die Mitglieder der jeweiligen Generation, die nach diesen Umbrüchen aufgewachsen ist. Dies gilt allerdings nur im großen und ganzen, da der Generationsbegriff relativ unscharf bleibt. Die generationell unterschiedlichen Wahrnehmungs- und Verhaltensweisen können im Leben durchaus eine Bereicherung darstellen, aber sehr oft nicht nur zu Unverständnis und Abkapselungen führen, sondern auch zu Desorientierungen und Generationskonflikten, die nur zu entschärfen sind, wenn man sich ihrer Ursprünge bewußt wird.

Wie hängen die jeweilige sozialstrukturelle Prägung bzw. politische Sozialisation einerseits und die Entstehung von Generationskonflikten andererseits zusammen? Auf diese Frage versucht Klaus Tenfelde Antworten zu geben, die wir hiermit einer breiteren Öffentlichkeit vorlegen.

Bonn, im November 1997

Dr. Dieter Dowe, Leiter des Historischen Forschungszentrums


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I. Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts

Es sei begonnen mit einem knapp gefaßten Plädoyer für eine Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts, was heißen muß, für eine Erneuerung der Sozialgeschichte in anderer Terminologie. Am Ende des 20. Jahrhunderts und nach 50 Jahren stabiler verfassungsmäßiger Existenz eines föderativen deutschen Bundesstaates in der Mitte Europas muß sich der Blick der Sozialhistoriker, das Sonderproblem „Geschichtsschreibung über die DDR" sei hier vernachlässigt, endlich nicht nur der Geschichte der westdeutschen Gesellschaft und ihres Staatsgebildes, sondern den übergreifend im 20. Jahrhundert erkennbaren Veränderungen der sozialen Konfigurationen zuwenden. Die soziale Ordnung der Gesellschaft in ihren Veränderungen zu untersuchen und durchsichtig zu machen, das ist die prominenteste Aufgabe jedweder Sozialgeschichtsschreibung, und unbeschadet mancher Abwege in emphatische Formen der Geschichtsaneignung liegen in Typisierung und Vergleich die methodischen, in der Erfassung der Dimensionen sozialer Ungleichheit die inhaltlichen „Königswege" solcher Geschichtsbetrachtung.

Indessen könnte es sein, daß, fatalerweise, gerade die Geschichtsschreibung zur Arbeiterbewegung neben vielerlei Erfolgen auch gehindert hat, so zu beschreibende neue Ufer der Sozialgeschichte zu gewinnen. Das lag einmal an dem phänomenalen Aufstieg dieser Massenbewegung im „langen", bis 1914 tragenden 19. Jahrhundert, es lag weiter an der probaten inneren wie äußeren Begrifflichkeit dieses Aufstiegs: der Klassenbildung und gesellschaftlichen Modernisierung im Zuge der Industrialisierung. Weiter lag es an der Bedeutung des Nationalsozialismus für die deutsche Geschichte im allgemeinen und die Arbeiterbewegung im besonderen, und schließlich verstrickten seit den späten 1940er Jahren die wechselseitigen Legitimationsoffensiven im deutsch-deutschen Kalten Krieg die westlichen und östlichen deutschen Historiker in vielerlei Kontroversen über die nachhaltig gesellschaftsverändernde Bedeutung dieser großen Emanzipationsbewegung. Freilich ist die Herausforderung der marxistischen Historiographie im Westen erst seit den späten 1960er Jahren ernsthaft aufgenommen worden. Im Rückblick erweist sich, daß der Aufschwung der Sozialgeschichtsschreibung seither wesentlich auch eine Antwort auf diese Herausforderung war und übrigens hier und da damals auch so begriffen wurde. In mancher Weise argumentierten wir zu sozialgeschichtlich: Immer deutlicher wird, daß und wie sehr jene ganz und gar die Erfahrung der älteren deutschen Arbeiterbewegung dominierende Klassenbildung, von führenden Köpfen noch zudem theoretisch verherrlicht, nicht nur aus den gesellschaftsordnenden Einflüssen der Industrialisierung resultierte. Sie leitete sich eben auch und zugleich von den ganz eigenständigen politischen Formkräften jenes sozial-konstitutionellen Gebildes der Übergangszeiten her, der preußisch-deutschen Verfassungs- und Gesellschaftsordnung, und weiter von jener krampfig gewordenen Politik der Eliten zumal in der Spätphase des „langen 19. Jahrhunderts", im Wilhelminischen Deutschland. Die deutsche Arbeiterbewegung war weit mächtiger geworden, hatte sich, in Gewerkschaften und Parteibildung, weit fester verschmiedet, als eine demokratischere Gesellschaft es ihr gestattet hätte - der Blick nach England oder gar in die USA belehrt darüber. [ Als bisheriger Höhepunkt der sozialgeschichtlichen Betrachtungsweise in der Arbeiterbewegungsforschung kann sicher Jürgen Kockas große, noch unvollendete Darstellung gelten: Weder Stand noch Klasse. Unterschichten um 1800; Arbeitsverhältnisse und Arbeiterexistenzen. Grundlagen der Klassenbildung im 19. Jahrhundert, beide Bonn 1990. Vgl. zum Vorstehenden: Klaus Tenfelde, Die Arbeiterbewegung in der bürgerlichen Gesellschaft, in: Mitteilungsblatt des Instituts zur Erforschung der europäischen Arbeiterbewegung 18 (1997) S. 181-198.]

Es ist nicht ganz leicht, sich des strahlenden Lichts dieser Bewegung in der Geschichte zu erwehren und den Blick auf die Veränderungen der sozialen Konfiguration, die im 20. Jahrhundert nach neuen Begriffen verlangen, zurückzuwerfen. Noch schwieriger wird es, wenn man die gewaltige Deutungsaufgabe deutscher Geschichte im 20. Jahrhundert, Nationalsozialismus und Holocaust, auch in der sozialgeschichtlichen, fast immer auf längerfristige Entwicklungen gerichteten Interpretation nicht aus den Augen verlieren darf - und sei es nur, um in Debatten wie jener über die gesellschaftliche Modernisierung durch den Nationalsozialismus nicht einer verdeckten Exkulpationsstrategie verdächtigt zu werden. [ Vgl. Michael Prinz/Rainer Zitelmann (Hrsg.), Nationalsozialismus und Modernisierung, Neuauflage Darmstadt 1994, mit einem wichtigen Nachwort von M. Prinz, bes. S. 346f.]

Und darüber hinaus bildete ja politische Wirklichkeit stets auch soziale Wirklichkeit aus, nicht nur umgekehrt. Vom 19., dem industrialisierungsgeschichtlichen „Aufstiegsjahrhundert" herkommend, schienen die in Begriffe gefaßten sozialgeschichtlichen Prozesse so wirkungsmächtig, daß ihre Fortwirkung im 20. Jahrhundert gleichermaßen untersuchenswert erschien. Unbestreitbar verschärfte sich die Zerklüftung der Gesellschaft entlang den Klassenbildungen, und der imposante Aufschwung der deutschen Arbeiterbewegung erschien deshalb nachgerade determiniert - daß die Zusammenhänge komplizierter sind, daß vielmehr gerade der preußisch-deutsche Obrigkeitsstaat diese Arbeiterbewegung entscheidend mitgeformt hatte, daß er die nur vorübergehend bedeutendste soziale Klasse der Lohnabhängigen in der Industriegesellschaft marginalisierte und darin politisch radikalisierte, daß es also einen sich wechselseitig beeinflussenden Prozeß von sozialer Formierung und politischer Formung gegeben hatte, der weit in das 20. Jahrhundert hineinreichte, dies alles geriet dabei leicht aus dem Blick. Es soll Gegenstand dieses Beitrages sein, diesen Prozeß wechselseitiger Formation zum Ausgang zu nehmen und seine soziale Prägekraft am Beispiel der historischen Milieus und der demographischen, sozialen und politischen Generationenbildung im 20. Jahrhundert zu untersuchen.

An sich bedürfte dabei der für sozialgeschichtliche Untersuchungstechniken hochproblematische Generationenbegriff der Klärung, und es erschiene auch lohnenswert, die inzwischen sehr zahlreichen erklärenden Rückgriffe auf Generationsbildungen einmal systematisch zu erfassen und im Rahmen einer „Sozialisationsgeschichte des 20. Jahrhunderts" zu bewerten. Heranzuziehen wäre dafür etwa die Literatur zur Geschichte der Jugendbewegungen, der Arbeiterbewegungen insgesamt in der Weimarer Republik und der Ergebnisse der Revolution von 1918/19, zur Entwicklung des Rechtsradikalismus und zum Aufstieg des Nationalsozialismus unter Einschluß seiner Führungsgruppen, aber auch etwa zur Elitenbildung in der Bundesrepublik oder auch zu den Folgen der DDR-Sozialisation für Entwicklungen in der Gegenwart.

Im folgenden werde ich mich gelegentlich hierauf beziehen und den Sozialisationsbegriff, auf die sogenannte „sekundäre" (nachfamiliale) Sozialisation konzentriert, vor allem im Sinne von „Sozialisationsinstanzen" und „Sozialisationskohorten" benutzbar machen, ohne mich, beispielsweise, auf die sehr umfangreiche pädagogische und bildungsgeschichtliche, psychologische und sonstwie sozialwissenschaftliche Literatur zur Sozialisationsproblematik einzulassen. [ Ein Hinweis soll genügen: Auf eine sozialisationsgeschichtliche Gesamtdeutung zielt insbesondere der von Christa Berg und Ulrich Herrmann hrsg. Bd. 4 des Handbuchs der deutschen Bildungsgeschichte: 1870-1918. Von der Reichsgründung bis zum Ende des Ersten Weltkriegs, München 1991. Es ist bezeichnend, daß darin Alf Lüdtke in seinem Beitrag über „Lebenswelt und Alltagswissen" für „offen" hält und als Frage formuliert, „in welcher Weise Klasse und Schicht, Milieu und Mentalität sowie Generationen und Lebenszyklus zusammenwirkten - oder auch nicht direkt vermittelt waren und blieben. Ist von einer Art Stufenfolge auszugehen - oder geht es nicht vielmehr darum zu verstehen, daß Klassenlagen wie sozialmoralische Milieus erst in der Wahrnehmung und Aneignung in lebenszyklisch veränderten Lebensweisen zur gesellschaftlichen Wirklichkeit wurden?" (S. 62). Vgl. bes. Andreas Gestrich, Traditionelle Jugendkultur und Industrialisierung. Sozialgeschichte der Jugend in einer ländlichen Arbeitergemeinde Württembergs 1800-1920, Göttingen 1986.] Es geht mir vielmehr um das Deutungspotential, das demographisch, sozial und politisch formierten Generationen für die Erklärung gesellschaftlicher und politischer Entwicklungen beigemessen werden kann, und es geht um die Kontexte, in denen sekundäre Sozialisation gesellschaftlicher Großgruppen am Rande und abseits der Klassenbildungen und sonstwie induzierten gesellschaftlichen Ordnungsprozesse offenbar stattzufinden pflegte.

Die weitgreifende, im Rahmen eines Vortrags gewiß nicht hinreichend zu klärende These ist, daß die politische Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert durch ambivalente, wenn nicht konträre Sozialisationen und Generationenbildungen maßgeblich überprägt und erst unter den Bedingungen einer beschirmten Demokratie in der Nachkriegszeit gleichsam normalisiert worden ist. Ziel der Argumentation ist es, diese Entwicklung als Sonderung der sozialen Konfiguration Deutschlands im 20. Jahrhundert zu begreifen und darin das Verständnis für die Sozialisationsaufgabe der gegenwärtigen Generation, die nach Osten gerichtete Demokratisierung, zu verbessern.

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II. Generationen in der Arbeiterbewegung

Zuerst sei versucht, mit diesen Zielen eine gedankliche Mitte zwischen Empirie und Abstrahierung zu finden, und hierzu soll eine allzu knappe Betrachtung der Generationenbildung in der Arbeiterbewegung verhelfen. Dabei ist selbstverständlich zwischen Arbeitergenerationen und Arbeiterführergenerationen zu unterscheiden, und Einklang oder mutmaßlicher Widerspruch beider sind im Blick zu behalten. Wieder ohne Nachweise im einzelnen, seien einige Erträge sozialgeschichtlicher Forschung über die deutschen Arbeiterbewegungen aus den vergangenen zwei, drei Jahrzehnten skizziert:

Die soziale Struktur der frühen deutschen Arbeiterbewegung war transitorisch, akzidentiell und teilweise peripher. Transitorisch war sie vor allem, weil aufstiegs- wie abstiegsgeprägte Handwerker-Arbeiter seit den 1860er Jahren eine gewisse Majorität ausbildeten, während zugleich der demokratische Flugsand der gescheiterten Revolution von 1848 Mitglieder und Führer hineinschwemmte und der soziale Prozeß der Trennung von Bürgertum und Arbeitern noch widerruflich schien. Akzidentiell war sie, weil gelegentlich Heimarbeiter, typologisch eben keine Arbeiter, maßgeblich wurden, etwa für die Majoritäten August Bebels in seinem Reichstagswahlkreis, und weil sich der sonstige soziale Protest der frühen Jahrzehnte - in Deutschland seltene Maschinenstürme, Eisenbahn-Bauarbeiterunruhen u. a. - eben nicht hin zu gewerkschaftlichen oder politischen Organisationen kanalisierte. Diese waren vielmehr das Werk der meist mindestens in zweiter Generation städtisch geprägten und relativ gebildeten Handwerker-Arbeiter. Peripher wurde die Sozialstruktur der Arbeiterbewegung, als der lassalleanische Chiliasmus mancher Intellektueller der Übergangszeit die Massen auf sich zog und begeisterte.

Bei solchen schlagwortartigen Interpretationen wird sich Widerspruch regen, aber es kommt hier darauf an, die geringe Spezifität der Generationenbildung sowohl in dem, was erst später zutreffend Arbeiterschaft genannt werden konnte, als auch unter den Arbeiterführern hervorzuheben: Wie unterschiedlich waren doch der ältere Liebknecht und der junge Bebel, Lassalle gar, von Schweitzer, Motteler dann und Most, von Geib und York nach Lebensläufen und Sozialisationserfahrungen. Preußen, Sachsen und der Geist der Opposition gegen autoritäre Strukturen prägten sie und verbanden sie offenbar stärker als diejenigen Überzeugungen, die später erst, als im Sozialistengesetz der Versuch zur Marginalisierung der sozialdemokratischen Strömungen gipfelte, unter dem Einfluß von Marx und Engels gemeinsam werden sollten.

Auf diesem Wege prägte das preußisch-deutsche Reich die Arbeiterbewegung und gab ihr Gestalt, geformt durch Tessendorf und Bismarck, durch Marx und das Sozialistengesetz, und die Wirkung des ersteren würde ohne das letztere nur schwer verständlich. Die Arbeiterklassen verschiedenster Märkte wuchsen und vereinheitlichten sich unter dem Aufschwung des Gründerbooms, den Entbehrungen der großen Depression und dem Versuch der politischen Zwangsbefriedung hin zur Arbeiterklasse als einer sozialen Klasse. Die erste bedeutende Generation deutscher Arbeiterführer ist mit der Arbeiter-
bewegung unter dem Sozialistengesetz verschmiedet worden, und sie hat darüber Legenden ausgebildet, ja, sie hat den Mythos von der Stärke der deutschen Arbeiterbewegung begründet. Bebel als Heldengestalt führte eine Riege von Parteiführern an, die das Sozialistengesetz erfolgreich bekämpft hatten, und daneben kennzeichnete ihn die Fähigkeit, unter dem Banner der Revolution auf Dauer zu vereinen, was sich in einem reformfähigeren Reich und dann vielleicht ohne ihn nach der Jahrhundertwende zu einer politischen Reformkraft mit großem Einfluß hätte mausern können.

Beinahe interessanter sind die Gewerkschaften. Von diesem Staat fest an die Seite der politischen Bewegung geschmiedet, sich seit den 1890er Jahren dennoch gegen das sozialdemokratische Patriziat sträubend, nutzten sie die Chance der Verbotszeit zu einem großen organisatorischen Schwung, der seit etwa 1888 nicht nur ganz neue Arbeitergruppen umfaßte, sondern auch und zugleich eine starke Gruppe junger und fähiger Gewerkschaftsorganisatoren hervorbrachte. Das galt übrigens nicht nur für die freien, sondern auch für die christlichen Gewerkschaften, und das Beispiel der nach 1918 ungemein einflußreichen Arbeitersekretäre belehrt über die innovative sozialreformerische Kraft, ja, Sozialtechnokratie, die hier geboren wurde.

Wichtiger noch war, darauf komme ich im nächsten Abschnitt zurück, daß sich Arbeiterschaften, Gewerkschaften und Sozialdemokratie zu einem historisch einzigartigen, tiefgegliederten, in sich starken Milieu verschmolzen. Wie ambivalent diese Verschmelzung war, erwies sich 1914 und dann in anderer Weise seit 1917, als sich die Welle der Kriegsmüdigkeit und Kriegskritik auftürmte und ganz neue, eher jugendliche Mitgliedermassen den Arbeiterbewegungen zuführte. Im Blick auf die Deutsche Revolution von 1918 sprach Eduard Bernstein von den „Novembermitgliedern", und gerade die jetzt älter gewordenen Gewerkschaftsführer der Gründerzeit behaupteten die Ziele und Formen ihrer Organisationen nur sehr mühsam gegen diese anbrandende Woge.

Die Weimarer Arbeiterbewegung war als politische Bewegung eben auch generationell gespalten. Trotz jüngerer, in Teilen überzeugender Kritik [ Klaus-Michael Mallmann, Kommunisten in der Weimarer Republik. So zialgeschichte einer revolutionären Bewegung, Darmstadt 1996, S. 106ff.] halte ich daran fest, daß die - in sozialstruktureller Hinsicht erst ab etwa 1922 klarer erkennbare - kommunistische Bewegung unter dem Schwung, der sie vom Osten beflügelte, nach Mitgliedern und Führungspersonal weit jugendlicher war als die sozialdemokratisch-freigewerkschaftliche Bewegung, deren Führungspersonal sich aus der Zeit von vor 1914 hinübertrug und deren meist ältere Mitgliedschaften eben deshalb und aus Milieubindung loyal blieben. Darin lag eine schwere Hypothek, gelang es doch nicht, die im Bevölkerungsaufbau besonders stark vertretene Generation derjenigen, die zwischen 1890 und 1914 geboren waren, hineinzubekommen in die Gewerkschaften und die Sozialdemokratie - eher schon in die Kulturorganisationen, die ja nach 1918 erst richtig zur numerischen Blüte gelangten.

Es ist diese Generation, die der zwischen 1890 und 1914 Geborenen, die unsere ganze Aufmerksamkeit zur Deutung der politisch zerklüfteten ersten Jahrhunderthälfte verlangt. Ihr entstammten die Nazi-„Goldfasane" ebenso wie die Kommunistenführer. Sie war nach ihren Kriegserfahrungen zerspalten: Die eine Hälfte hatte kämpfen, den Blutzoll entrichten und nach 1918 den Weg in die Normalität wieder finden müssen, die zweite Hälfte wuchs, noch zu jung zum Soldatsein, der Kriegskritik und den revolutionären Nachkriegsbewegungen zu und erlitt in besonderem Maße die Sockelarbeitslosigkeit selbst der Blütejahre Weimars und um so mehr das Arbeitsplatzdesaster der Weltwirtschaftskrise. Gliedert man sie nach Schichten, so zerstückelt sich die Sozialisation dieser Kohorte noch weiter: Dem Bürgertum gingen die Söhne verloren, wie das in der Forschung bemerkt worden ist [ Reinhard Preuß, Verlorene Söhne des Bürgertums. Linke Strömungen in der deutschen Jugendbewegung 1913-1919, Köln 1991.] , aber keineswegs nur nach links und in den Nachkriegsjahren nicht zuletzt, weil das Bürgertum in sehr erheblichem Maße an Existenzsicherheit durch die Vermögenseinbußen während der Inflation verlor.

An dieser großen und schwierigen, quantitativ wegen des Rückgangs der Säuglingssterblichkeit bei noch anhaltend hoher Gebürtigkeit unverhältnismäßig stark im Bevölkerungsaufbau vertretenen Generation derjenigen Menschen, die zwischen 1890 und 1914 geboren wurden, wird deutlich, daß man die Prozesse der Generationenbildung in Arbeiterschaften und Arbeiterbewegungen nicht von denjenigen trennen kann, die sich einigermaßen zuverlässig in der Gesellschaft identifizieren lassen: Es gab Konvergenzen zwischen beiden, zum Beispiel hinsichtlich der nach der Jahrhundertwende aufstrebenden Jugendbewegungen - und es gab Divergenzen, was vermutlich deutlicher würde, wenn man die politischen Generationen der Weimarer Zeit sauberer unterschiede. Für die zweite Hauptgruppe der bezeichneten Generation muß man im Blick behalten, daß sie auch deswegen für das 20. Jahrhundert prägend wurde, weil sie von den Soldatenopfern des Ersten Weltkrieges nur in ihren älteren und von denen des Zweiten Weltkrieges eher in ihren jüngeren Jahrgängen betroffen gewesen ist. Dabei neige ich dazu, gestützt auch durch einen Teil der jüngeren, auch methodisch hochinteressanten Forschungen über die Wirkung von Kriegserfahrungen [ Vgl. Gerhard Hirschfeld u. a. (Hrsg.), Keiner fühlt sich hier als Mensch... Erlebnis und Wirkung des Ersten Weltkriegs, Essen 1993; ders. u. a. (Hrsg.), Kriegserfahrungen. Studien zur Sozial- und Mentalitätsgeschichte des Ersten Weltkriegs, Essen 1997; kritisch zur Brutalisierungs these bes. Benjamin Ziemann, Front und Heimat. Ländliche Kriegserfahrungen im südlichen Bayern 1914-1923, Essen 1997. ] , deren Einflüsse jedenfalls nicht zu überschätzen und allenfalls schichtspezifisch zu differenzieren. Für bayerische ländliche Soldaten, meistens Bauernkinder, ist jüngst überzeugend gezeigt worden, wie rasch und durchschlagend sich das Leben auf dem Lande nach 1918 normalisierte; wenn weiterhin von einer „Frontgeneration" gesprochen werden soll, so scheint es mir dringlich, diesen Erfahrungshorizont in bürgerlichen Schichten mit dem Zusammenbruch der wilhelminischen Wertewelt durch die Niederlage, mit dem Systemwechsel und mit der inflationären Depossedierung zu verbinden. Für die sozialdemokratischen und wenigstens zum Teil auch die christlich orientierten Arbeiterschaften waren Revolutionsenttäuschungen und die Spaltungsprozesse der Arbeiterbewegung sowie die materiellen Notlagen während der Inflation wichtiger.

Überdies muß man die fundamentale Ambivalenz im Blick behalten, in der die so gewaltig anwachsende Anhängerschaft der Sozialdemokratie gerade innerhalb der eben genauer bezeichneten Generation der zwischen 1890 und 1914 Geborenen hin zur Gesellschaft sozialisiert worden ist. Schon in der primären, also familienverbundenen Sozialisation überwogen auch in Arbeiterhaushalten bürgerliche Orientierungen, die man manchmal in der Forschung als „kleinbürgerlich" diffamiert hat, die sich aber wie selbstverständlich in den alltäglichen Lebensformen und unbeschadet mancher pädagogischen Utopien, auch aus Kreisen der Arbeiterbewegung, bestens etablierten. Und zugleich wuchs diese Generation in hohem Maße in politische Orientierungen hinein, die bereits familiär disponiert wurden, weil es nun schon eine Generation von Altsozialdemokraten gab. Dies gilt in deutlich geringerem Maße für die zweite Teilgruppe der bezeichneten Hauptgeneration, die sich nach der Jahrhundertwende gern den von der Arbeiterbewegung ausgehenden und in die Familien reichenden Sozialisationserwartungen entzog und dafür seit 1917, jedoch vielfach vorübergehend nur, den Gewerkschaften und auch den sozialdemokratischen Parteien zuwuchs. Es muß nicht eigens betont werden, daß sich dieser Differenzierungsversuch nicht von den Ausnahmen her, sondern allein ausgehend von innerer Plausibilität kritisieren läßt. Es ist aber, etwa durch die zum Teil auf Oral-History-Methoden fußenden Forschungen zur Arbeiterfamilie von Heidi Rosenbaum, [ Heidi Rosenbaum, Proletarische Familien. Arbeiterfamilien und Arbeiterväter im frühen 20. Jahrhundert zwischen traditioneller, sozialdemokratischer und kleinbürgerlicher Orientierung, Frankfurt a. M. 1992. Vgl. auch, wegen zahl reicher Quellen, Michael Seyfarth-Stubenrauch, Erziehung und Sozialisation in Arbeiterfamilien im Zeitraum 1870 bis 1914 in Deutschland. Ein Beitrag historisch-pädagogischer Sozialisationsforschung zur Sozialgeschichte der Erziehung, Frankfurt a. M. etc. 1985.] sehr gut belegt, daß und in welchem Maße sich die politischen Orientierungen der Elterngeneration im sozialen Ordnungsgefüge des Kaiserreichs mit gewisser Zwangsläufigkeit auf die Kindergeneration übertrugen. Das hing mit der Milieubildung zusammen, auf die ich sofort eingehen werde. Doch zunächst ein paar Worte zur Generationenbildung seit 1933:

Soweit die so wichtige Sozialisationskohorte der zwischen 1890 und 1914 Geborenen den christlichen und sozialistischen Arbeiterbewegungen zugewachsen und in Führungsfunktionen hineingewachsen war, bezahlte sie, ebenso wie die oft noch im Amt befindliche „Reichsgründungsgeneration" der in den beiden Jahrzehnten zuvor geborenen Arbeiterführer, bitter für ihr politisches Engagement durch Verfolgung und Exil. Sie war es, die den Wiederaufbau von Gewerkschaften und Sozialdemokratie nach 1945 gestaltete, und bei jeder einzelnen Persönlichkeit lassen sich insofern fundamentale Lernprozesse ausmachen. Man soll die zahlreichen, nach 1933 angepaßten Existenzen auch aus dieser Altersgruppe nicht geringschätzen, aber mit guten Gründen gehörten die Partei- und Gewerkschaftsführer in zwei Jahrzehnten seit 1945 ganz überwiegend zur Opfergruppe. Das traf sogar noch für die in den 60er und 70er Jahren bestimmende Führergeneration zu, aber sie vermengte sich mit einer neuen, emporgewachsenen Gruppe von Partei- und Gewerkschaftsführern, die ihre sekundäre Sozialisation im Nationalsozialismus erfahren hatten und großenteils Kriegsteilnehmer waren - der HJ-Generation also. Der Prozeß der Ablösung dieser beiden Hauptgruppen hat sich seit den 80er Jahren anscheinend ziemlich rasch und unter den Bedingungen einer hierfür günstigeren Oppositionsrolle vollzogen und ist heute vollendet. Das trifft indessen nur für den Westen zu; generationengeschichtlich hat die wichtige Gruppe der um die Jahrhundertwende Geborenen in der DDR bis zu deren Abgesang das Sagen behalten, und nur ganz zögernd wuchs eine auch schon ziemlich alte, in den 30er und 40er Jahren sozialisierte Generation dort in Führungsämter. Das gehört zu den Deutungsmöglichkeiten für den Niedergang der DDR.

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III. Milieu und Sozialisation

Die Annahme, daß die sozialen Ordnungsgefüge der deutschen Gesellschaft etwa seit der Reichsgründung und durchgehend in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in einem für die modernen europäischen und nordamerikanischen Gesellschaften ganz untypischen Ausmaß durch besondere soziale Konfigurationen, Milieus, überlagert worden sind, wird, sicher unter allfälligen Modifikationen [ Vgl. etwa über „Milieus" und „Lager" Karl Rohe, Wahlen und Wählertraditionen in Deutschland. Kulturelle Traditionen deutscher Parteien und Parteiensysteme im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1992.] , heute von der Sozial-, Wahl- und auch Politikgeschichtsschreibung weitgehend geteilt. Empirisch wurde diese Annahme vor allem auf drei Wegen erhärtet: Durch die Forschung über Arbeiterkultur und Arbeiterbewegungskultur zunächst, seit den späten 1980er Jahren durch eine starke Welle von lokal- und regionalgeschichtlichen Arbeiten über den deutschen Katholizismus, schließlich von seiten der Politikwissenschaft durch Untersuchungen über die Weimarer Republik. [ Vgl. mit zahlreichen Hinweisen: Klaus Tenfelde, Historische Milieus - Erblichkeit und Konkurrenz, in: Manfred Hettling/Paul Nolte (Hrsg.), Nation und Gesellschaft in Deutschland. Historische Essays, München 1996 (Festschrift für Hans-Ulrich Wehler), S. 247-268; einige Beispiele: Cornelia Rauh-Kühne, Katholisches Milieu und Kleinstadtgesellschaft. Ettlingen 1918-1939, Sigmaringen 1991; Siegfried Weichlein, Sozial-milieus und politische Kultur in der Weimarer Republik. Lebenswelt, Vereinskultur, Politik in Hessen, Göttingen 1996; Detlef Lehnert/Klaus Megerle (Hrsg.), Politische Teilkulturen zwischen Integration und Polarisierung. Zur Politischen Kultur in der Weimarer Republik, Opladen 1990; Antonius Liedhegener, Christentum und Urbanisierung. Katholiken und Protestanten in Münster und Bochum 1830-1933, Paderborn 1997.]

Es ist üblich geworden, sich an die Formulierungen von Lepsius anzuschließen, wonach Milieus soziokulturelle Gebilde sind, die „durch eine Koinzidenz mehrerer Strukturdimensionen wie Religion, regionale Tradition, wirtschaftliche Lage, kulturelle Orientierung, schichtspezifische Zusammensetzung" etc. zusammengefügt werden und jeweils bestimmte Bevölkerungsteile betreffen. [ M. Rainer Lepsius, Parteiensystem und Sozialstruktur: zum Problem der Demokratisierung der deutschen Gesellschaft, in: Gerhard A. Ritter (Hrsg.), Deutsche Parteien vor 1918, Köln 1973, S. 56-80 (zuerst 1966).] Lepsius unterschied vier große Milieus: das ostelbisch-konservative, das katholische, das liberal-bürgerliche und das sozialistische. Es gibt dabei gute Gründe, unter diesen das katholische und das sozialdemokratische Milieu deshalb besonders hervorzuheben, weil sich in diesen Milieus - im Unterschied zum modernen Milieubegriff der Soziologen [ Etwa: Michael Vester u. a., Soziale Milieus im gesellschaftlichen Strukturwandel. Zwischen Integration und Ausgrenzung, Köln 1993.] - bestimmte politische und soziale Konfigurationen der historischen Gesellschaft eklatant manifestiert haben. Die Faktoren der Milieubildung und deren wichtigste Folgen lassen sich wie folgt zusammenfassen:

1. Klasse und Konfession waren in Deutschland konstitutiv für die Herausbildung der großen historischen Milieus. Das sind zwei sehr unterschiedliche soziale Ordnungskategorien, die sich überlappen und die auch in ihren Folgen zum Teil deckungsgleich waren; daß sie milieubildend wirkten, hing mit der Gesamtkonstellation zusammen. Hierin war zunächst

2. die globale Minderheitenrolle des sozialdemokratischen bzw. katholischen Milieus entscheidend. Man kann hier sowohl soziologisch als auch historisch argumentieren: Ab einem bestimmten Maße ihrer gesellschaftlichen Repräsentanz sind Minderheiten nur im Generationentransfer assimilierbar, und die politische Konstellation ist hierfür entscheidend. Das wird

3. an der Oppositionsrolle sehr schön deutlich, in die diese beiden Milieus, das sozialdemokratische und das katholische, anders als die beiden anderen, von Lepsius betonten Milieus, historisch versetzt worden sind. Sowohl bei den Sozialdemokraten als auch bei den Katholiken reichten die Verfolgungserfahrungen in den Vormärz zurück, reproduzierten sich in den folgenden beiden Jahrzehnten und erreichten im Reichsgründungsjahrzehnt einen die Milieus dann endgültig konstituierenden Höhepunkt. Das katholische Milieu formte sich im Kulturkampf wie das sozialdemokratische unter dem Sozialistengesetz. Es waren dies die Opfer- und Heroenzeiten der Milieus, ihre historischen Urgründe, die sich mithin leicht aus der mangelnden Integrationskraft der sozialen und politischen Verfassung im reichsdeutschen Konstitutionalismus deuten lassen. In unterschiedlicher Weise wirkten sich darin die jeweils milieukonstituierenden Grundzüge aus: Die Glaubensüberzeugung wirkte sozialprägend und ordnend, während bei den Sozialdemokraten die soziale Konstellation den Horizont der Überzeugungen maßgeblich formte - jedoch eben unter der Bedingung ihrer Unterdrückung. Gewiß, die Oppositionsrolle des katholischen Milieus schwächte sich seit den späten 1880er Jahren ab, aber die konfessionelle Landkarte des Reiches, die deutscher Geschichte über vier Jahrhunderte ihren Stempel aufprägte, trug entscheidend dazu bei, daß der Katholizismus milieuverwurzelt blieb und daß sich das Milieu sozial reproduzierte.

4. Zu den allgemeinen sozialgeschichtlichen Voraussetzungen der starken Milieubildung in Deutschland gehört, daß als wichtiges Instrument zusätzlicher Organisationsbildung über Familien und Gemeinden hinaus das Vereinswesen im 19. Jahrhundert, aber gerade eben auch unter obrigkeitlicher Reglementierung, verfügbar wurde und als Rückgrat der Milieus in diesem „Jahrhundert der Vereine" Umsetzung fand. Der Verein war das adäquate, da hinreichend flexible Instrument der Milieuorganisation; im polyfunktionalen Vereinsinstrument ließen sich die verschiedensten Bedürfnisse und Interessen gerade im Umfeld von religiösen und politischen Überzeugungen übersichtlich organisieren, in der Tiefe gliedern und als Gesinnungsgemeinschaften profilieren. Industrialisierung und Urbanisierung setzten Bedürfnisse nach überfamilialer Kommunikation, nach Bindungen und Beziehungen oberhalb und außerhalb der Familie frei, und in dieses Vakuum traten gerade die milieuverbundenen Vereine, um den Menschen Orientierungen und Anleitungen zu bieten.

5. Ein weiterer Faktor der Milieubildung ist weniger leicht verständlich zu machen: Gemeint ist, was Lepsius an anderer Stelle mit „ständischer Vergesellschaftung" umschrieben und dabei insbesondere auf die bürgerlichen Mittelschichten bezogen hat. [ Das Bildungsbürgertum als ständische Vergesellschaftung, in: M. Rainer Lepsius (Hrsg.), Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert, T. III: Lebensführung und ständische Vergesellschaftung, Stuttgart 1992, S. 9-18.] Die Ablösung der sozialen Konfiguration der ständischen Welt durch Netzwerke, die sich in Klassenbeziehungen gruppierten, vollzog sich in Deutschland besonders rasch. Der ständische Ordnungsgedanke blieb virulent, auch wenn das Ordnungsprinzip „Stand" bereits weitgehend, wenn auch noch nicht vollständig, der rechtlichen, sozialen und politischen Definierung entbehrte. Das Ständische blieb für Katholiken gar sozialtheoretisch begründet; es floß in den Mittelschichten, man denke an den „Mittelstand" als Bollwerk gegen Reform und Arbeiterbewegung, in vielerlei Gestalt ein, und es betraf auch die Arbeiterschaften und ihre Organisationen, wenn man etwa die frühe Gewerkschaftsbildung in den Blick nimmt. Überdies begünstigte die soziale und politische Ordnung des Kaiserreichs in gewissem Umfang korporative Zuordnungen, ja, ließ neue entstehen oder verhalf älteren zur Fortgeltung. Man kann an das Kammerprinzip denken - nicht zufällig erwog Bismarck immer wieder die Möglichkeit der Gründung von Arbeiterkammern -, aber auch an die sonstigen „Ständeorganisa-
tionen" etwa der freien Berufe oder an das handwerkliche Innungs-
wesen.

Von diesen fünf hauptsächlichen, vielleicht nicht vollständigen oder in anderer systematischer Ordnung denkbaren Faktoren der Milieubildung waren mindestens drei: die Minderheitenkonstellation, die radikalisierende Oppositionsrolle und die Grundzüge ständischer Vergesellschaftung, dem Maße nach und zum Teil auch grundsätzlich deutsche Spezifika. Es hat vergleichbar starke Milieubildungen in Europa offenbar vornehmlich in denjenigen Staaten gegeben, die ähnliche soziale und politische Ordnungsgefüge in der Übergangsverfassung des Konstitutionalismus ausbildeten. Von diesen Staaten waren allerdings alle außer Deutschland und den Niederlanden eindeutig katholisch, so daß sich die Milieubildung in den bezeichneten Grundzügen auf die sozialdemokratischen Arbeiterbewegungen beschränkte und als katholische Milieubildung zur gesamtgesellschaftlichen Verfaßtheit gehörte. Zu denken ist an Österreich, Italien und auch die iberische Halbinsel, wo allerdings Industrialisierung spät stattfand, ferner natürlich an Frankreich. Ganz anders hingegen England. Soweit zu sehen, haben sich dort katholische Milieus unter der katholischen ansässigen Minderheit und unter irischen Migranten ausgebildet, ohne daß diese in einen konfessionspolitisch induzierten Kulturkampf gedrängt worden wären. Arbeiterklassen und die Arbeiterbewegung entwickelten Milieus mit unscharfen Grenzen, die sich aber entlang der Unterscheidungen zwischen „respectables" und „roughs" sowie zwischen „skilled" und „unskilled" hin zur unteren Mittelschicht öffneten. Das Milieu war weit weniger exklusiv und wies eine geringere organisatorische Tiefengliederung sowie ein jedenfalls geringeres Maß an Erblichkeit auf [ Dagegen hält Stefan Berger in seinem jetzt übersetzten, wichtigen Buch (Ungleiche Schwestern? Die britische Labour Party und die deutsche Sozialdemokratie im Vergleich. 1900-1931, Bonn 1997, S. 195) die „Arbei ter bewegungskulturen" in beiden Ländern für „qualitativ [...] sehr ähnlich"; quantitativ bedeutende Unterschiede räumt er ein. Es erweist sich der Vorteil des Milieubegriffs gegenüber dem der Arbeiterkultur, lassen sich auf diese Weise doch die konstituierenden gesamtgesellschaftlichen und politischen Einflüsse besser umfassen.] .

Mit „Exklusion" und „Erblichkeit" sind bereits einige wesentliche Folgen der Milieubildung bezeichnet, die sich wiederum in fünf Punkten zusammenfassen lassen:

1. Die pure Existenz dieser beiden großen historischen Milieus verstärkte Inklusion und Exklusion - oder, anders ausgedrückt: Die konkurrierende Existenz der beiden großen, in hohem Maße um dieselbe Anhängerschaft streitenden Milieuorganisationen ließ die Folgen der Milieubildung kumulieren. Darin vor allem gewannen die Milieus an Schwerkraft, deshalb zementierten sie ihre Gefüge. Nachdem diese beiden großen deutschen Milieus historisch oppositionell legitimiert waren, sich in der Vereinsorganisation institutionell verfestigt hatten und sich in sich vergesellschafteten, war es nur konsequent, daß sich die Gewerkschaftsbewegung in ihrer Formationsphase der 1890er Jahre entlang der Milieuorientierung zerstritt. Der Blick nach Holland ist hier lehrreich. Einerseits wies Holland eine in gewissem Umfang mit Deutschland vergleichbare Konfessionslandschaft auf, in der allerdings der Calvinismus eine sehr wichtige Rolle spielte. Die niederländischen Historiker sprechen von der „Versäulung" der holländischen Gesellschaft im 19. Jahrhundert [ Eine Diskussion dieser und anderer Ansätze s. etwa in Gangolf Hübinger, Kulturprotestantismus und Politik. Zum Verhältnis von Liberalismus und Protestantismus im wilhelminischen Deutschland, Tübingen 1994,
S. 305-310.] entlang der Konfessionsgrenzen, die bedingt auch Klassengrenzen bezeichneten. Obwohl in den 1860er und 1870er Jahren eine anscheinend mit Deutschland ganz vergleichbare christlich-soziale, katholische Bewegung entstanden war, verdankte sich die Herausbildung der späteren christlich-katholischen Arbeiterbewegung in Holland doch eher deutschem Vorbild, das sich mithin auch außerhalb der sozialistischen Parteien der II. Internationale auswirkte. Deutschland, seine Institutionen und Modernisierungserfolge, galten im späten europäischen 19. Jahrhundert als einflußreich und vielfach vorbildlich. Zumal die kleineren Nationen orientierten sich in vielem an diesem bedeutenden Land. Die deutsche Arbeiterbewegung und ihre so gefeierte wie fehlleitende Eindeutigkeit von Erfurt wurden nachgeahmt, gar abgeschrieben. Wenige nur, wie der französische Sozialistenführer Jean Jaurès, durchblickten den sehr geringen politischen Rang dieses imposanten Gebildes. [ Vgl.: Internationaler Sozialisten-Kongreß in Amsterdam 14.-20. August 1904, Berlin 1904, S. 37-39.] Den Unsinn einer christlich-sozialistischen Gewerkschaftsspaltung hat man in England, wenn ich das richtig sehe, nirgends so recht angefangen.

2. Inklusion und Exklusion machten die Milieus, solange die kritische Distanz zu den hegemonialen Kräften in Staat und Gesellschaft und deren Unfähigkeit zur Reform fortbestanden, unbeschadet der Entwicklung der Klassenbeziehungen in der Gesellschaft erblich. Das ist für den Katholizismus gleichsam Bestandteil der Selbstdefinition, begleitet doch die Kirche über die Generationen, während es sich für das sozialdemokratisch-freigewerkschaftliche Milieu mit anhaltender Exklusion durch Staat und Restgesellschaft verstärkte und verhärtete. Man erkennt dies am ehesten an den altersspezifischen Organisationsformen in beiden Milieus - von der Wiege bis zur Bahre, so lautet hier die einschlägige Formulierung. Der Milieutransfer im Generationswechsel war oder wurde ritualisiert und gegenseitig nachgeahmt. Man denke an sozialdemokratische Beerdigungsformen, die Etablierung der Jugendweihe und vieles andere.

3. In sich scharten sich die Milieus, im katholischen Fall, um den eigenen Wertehimmel - oder sie entwickelten ihn, so bei der Sozialdemokratie. Die Formen dieser Orientierung konnten sich zeitweise gleichen - zumal die frühe Arbeiterbewegung zeigt in ihren Loyalitätsbekundungen auch religiöse Züge. [ Heiner Grote, Sozialdemokratie und Religion. Eine Dokumentation für die Jahre 1863 bis 1875, Tübingen 1968; Lucian Hölscher, Weltgericht oder Revolution. Protestantische und sozialistische Zukunftsvorstellungen im deutschen Kaiserreich, Stuttgart 1989.] In unterschiedlichen Graden waren die Wertorientierungen den Zugehörigen verbindlich. Sie wiesen geringe Veränderungen auf, und die aus ihnen abgeleiteten, eher sekundären Tugenden wie Loyalität und Disziplin glichen sich.

4. Mit solchen Wertorientierungen hing zusammen, daß aus je eigenen Geschichtsbildern Sinn bezogen wurde. Die Milieus erschrieben sich ihre eigene Geschichte. Im Gewerkschaftsbereich führte dies gelegentlich zu konkurrierenden Geschichtsbildern christlicher oder sozialdemokratischer Prägung, so in der Bergarbeitergeschichte. Es gab im Kaiserreich deshalb eine dezidiert unterschiedliche katholische und eine sozialdemokratische neben der universitären Offizialgeschichtsschreibung.

5. Die Arbeiterbewegungshistoriker wissen natürlich, daß und in welchem Maße die Existenz der beiden großen historischen Milieus mit jeweils eigenen Gewerkschaftsbewegungen und in klarer politischer Affiliation zum Zentrum bzw. zur Sozialdemokratie die historischen Kräfte der Arbeiterbewegung absorbiert hat. In aktuellen Konfliktsituationen zumal der Gewerkschaften konnte der Kampf zwischen den Lagern die gewollten Wirkungen neutralisieren. Die enge Bindung der Milieus und der in ihnen wirkenden Gewerkschaften an die politische Parteienlandschaft verhinderte eine lagerübergreifende Gewerkschaftsbewegung, und die Zementierung dieser Lagerbindungen ist vor allem ihrer frühzeitigen Entstehung, virulenten Formen ständischer Vergesellschaftung und dem Fortwirken der sozialen und politischen Verfassung des Konstitutionalismus zu danken.

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IV. Politische Generationen

Konflikte, die innerhalb von Milieus aufbrechen, weisen offenbar eine bis zur Erbitterung und Gewalttätigkeit reichende Schärfe auf. Das scheint in erster Linie mit der affektiven Qualität zusammenzuhängen, die sich in den Beziehungen innerhalb der Milieus und, als scharfes Ressentiment, zwischen den Milieus entfaltet: Während diejenigen zwischen den Milieus in einer globalen Konfliktlage fortwirken, wird ja gerade diese Konfliktlage durch innere Spannungen gefährdet. Nur mühsam überstanden die katholischen Gewerkschaften den „Gewerkschaftsstreit", der sich übrigens, soweit er auf der Ebene der Arbeitervereine stattfand, in weit abgeschwächterer Form auch bei evangelischen Arbeitervereinen fand; was die sozialdemokratische Arbeiterbewegung anlangt, so wird die These, daß sie sich längst vor 1914 entlang ihrer Flügel zerspalten hätte, wenn sie nicht der Obrigkeitsstaat und die strukturelle Vorenthaltung von Partizipation verschmolzen hätten, unter Historikern seit langem diskutiert. Auch in diesem Lager gerieten die Gewerkschaften trotz ihrer so beeindruckenden Solidaritätserfolge nach der Jahrhundertwende bekanntlich, mit der Massenstreikdebatte und den Auseinandersetzungen um das Masse-Führer-Problem, in eine Legitimationskrise.

Der Hinweis auf die besondere Sprengkraft milieuinterner Konfliktlagen erklärt nun insbesondere, daß es mit der Spaltung der so-
zialdemokratischen Arbeiterbewegung seit Kriegsbeginn und in den folgenden beinahe zwei Jahrzehnten, vor allem in Krisenphasen rasch zunehmend, zu jenen höchst unerfreulichen Formen der Auseinandersetzung im „Lager" der Arbeiterbewegung kam, die aus der Weimar-Historiographie wohlbekannt sind. Lokalstudien [ Vgl. etwa Helge Matthiesen, Zwei Radikalisierungen - Bürgertum und Arbeiterbewegung in Gotha 1918-1923, in: Geschichte und Gesellschaft 21 (1995) S. 32-62, ebd. S. 5-31 auch der Aufsatz von Klaus-Michael Mallmann, Milieus, Radikalismus und lokale Gesellschaft, wo eine Reihe weiterer Lokalstudien referiert wird.] bestätigen, daß der milieuinterne Streit offenbar von den Menschen nicht gewollt, über sie vielmehr gleichsam verhängt worden ist, und zur bitteren Trennung trugen Weltkrieg, Revolution und Inflation und deren oft radikal gegensätzliche Wahrnehmungen das Ihre bei.

Gerade die milieuinternen Konflikte entfalteten also ein hohes Radikalisierungspotential. Es wirkte sich in erster Linie in der zahlenmäßig bedeutenden, seit 1918 rasch zunehmend das Wahlverhalten bestimmenden Generation derjenigen Menschen aus, die zwischen 1890 und 1914 geboren worden waren. So verband es sich mit den Folgen jener ambivalenten Sozialisationen der Vorkriegs- und Kriegszeit. In den Radikalisierungssog geriet insbesondere die um 1900 geborene Sozialisationskohorte gleich welcher Schichtzugehörigkeit, jedoch aus unterschiedlichen Gründen und vermutlich mit der relativen Ausnahme derjenigen, die sich stabil dem vergleichsweise wenig gestörten katholischen Milieu zuordneten. Wie man heute weiß, hält die politische Prägung, die ein Mensch sich mit seiner ersten Wahlentscheidung bewußt macht, in der Regel ein Leben lang vor. Das ist heute vermutlich in weitaus geringerem Maße der Fall; für diejenigen aber, die sich schon vor 1914 zu einem der Milieus unter anderem durch ihre Wahlentscheidung bekannt hatten, galt dies jedenfalls. Es galt weitaus weniger für die zweite Hauptgruppe dieser Großgeneration, deren sekundäre Sozialisation und gesellschaftlich-politische Adoleszenz in den Wechselbädern von Weltkrieg, Revolution, Bürgerkrieg und Inflation bis hin zur Massenarbeitslosigkeit stattfinden mußte. Wo immer man nun für die Weimarer Zeit lokale Wahlresultate untersucht, überrascht der Befund, daß die Lagertreue letztlich über alle Krisen und die wenigen Konjunkturjahre angehalten hat - für das Zentrum sowieso, wir sprechen bekanntlich vom „Zentrumsturm", aber eben vor allem auch unter den Wählerstimmen für die Parteien der Arbeiterbewegung. [ Vgl. Rohe, S. 148 u. ö.; im Vergleich lokaler Arbeitermilieus differenzierend: Wolfgang Jäger, Bergarbeitermilieus und Parteien im Ruhrgebiet. Zum Wahlverhalten des Katholischen Bergarbeitermilieus bis 1933, München 1996.] In der Endphase der Weimarer Republik ergänzten sich die Desorientierung zumal der jeweiligen Jungwähler-Gruppen und die Entwicklung von Radikalität zum Prinzip politischer Auseinandersetzung hin zu einer gewissen Austauschbeziehung in einem nur noch radikalen Lager für sich, in dem es für viele Menschen ziemlich unerheblich war, was sie wählten, wenn sich ihnen nur eine umwälzende Perspektive bot.

Die Milieubildung hatte vor 1914 ihren Höhepunkt erreicht, aber sie mußte, bedenkt man die dargelegten Faktoren und Folgen der Milieubindung, notwendig mindestens eine Generation weiterwirken, ja, die Untersuchungen von Franz Walter und anderen über die Arbeiterkulturbewegungen sowie eine Reihe neuerer Studien zu den katholischen Vereinsorganisationen in der Weimarer Republik zeigen, daß sich nach 1918 die Schleusen zu einer noch durchgreifenderen Milieuorganisation geradezu geöffnet haben. Das führte zu der merkwürdigen Kontroverse unter einigen Arbeiterkultur-Historikern, die einerseits den Höhepunkt der Arbeiterkultur vor 1914, andererseits, quantitativ nachgewiesen, in den 1920er Jahren erblickt haben. [ Vgl. die Hinweise bei Tenfelde, Historische Milieus, S. 256f.] Beide Ansichten widersprechen sich keineswegs notwendig, sondern bezeichnen vielmehr mehrere Seiten desselben Arguments.

Der Sozialdemokratie ist es in der Weimarer Zeit nicht gelungen, die zahlenmäßig so bedeutende Generation der Jugendlichen zu konsensualem politischen Verhalten auf der Grundlage der Weimarer Verfassung zu führen. Das hatte viele, innere und äußere Gründe, die allesamt längst unter den verschiedensten Ansätzen diskutiert worden sind: Innerhalb der Partei hinderte der Überhang einer selbst anders sozialisierten Führergeneration am Abschneiden von Zöpfen, die noch aus der Kaiserzeit herrührten; vor allem gelang keine programmatische Erneuerung, mit der man sich dem Bild einer demokratischen Bürgergesellschaft angenähert hätte. Im Gegenteil, die Wiedervereinigung mit Teilen der USPD veranlaßte zur eher traditionalistischen Revision des schon revidierten Programms. Die alten Chiliasmen saßen viel zu tief. Generell war Weimar zu kurz, umfaßte kaum die Sozialisation auch nur einer neuen politischen Generation, zumal von den 14 Jahren allenfalls fünf eine gewisse Normalität brachten. Die sonstigen Kräfte der Gesellschaft machten es der Sozialdemokratie nicht leichter, ganz im Gegenteil: Sie hatten immens mit ihren je eigenen Sozialisationsproblemen zu kämpfen, und zwar in den Mittelschichten in einer Weise, die eher noch stärker von den verfassungsmäßigen Grundlagen wegführte. Das, was früher einmal als Bürgertum gegolten und sich als solches verstanden hatte, weinte dem Verlust seiner Privilegien u. a. in Gestalt der kommunalen Wahlrechte nach und beschwor das Menetekel des Arbeiterstaates, eines beherrschenden Arbeitertums gar, und seine Söhne besetzten den rechten Radikalismus. [ Vgl. Klaus Tenfelde, Stadt und Bürgertum im 20. Jahrhundert, in: ders./Hans-Ulrich Wehler (Hrsg.), Wege zur Geschichte des Bürgertums, Göttingen 1994, S. 317-353.]

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V. Beschirmte Demokratie und Nachkriegssozialisationen: Orientierungen der Gegenwart

Zum Schluß dieser hoffentlich plausiblen Argumentation sei der Blick auf die Nachkriegszeit gelenkt. Es ist heute gut bekannt, das die einst so weitreichende Milieubildung im sozialdemokratisch-gewerkschaftlichen Lager rasch nach 1945 auch wegen des teilweise ganz bewußten Nicht-Handelns von Partei- und Gewerkschaftsführern wie Waldemar von Knoeringen und Hans Böckler versiegt ist. Die Milieufolgen wirkten fort in jener Generation, die Weimar mitgestaltet und hellwach erlebt hatte, sie klangen nach in der Generation ihrer Kinder, die heute auch bereits ihr siebtes und achtes Jahrzehnt erreicht hat. Sie sind zur Erinnerung aus historischer Neugierde verkümmert unter denen, die heute handeln und gestalten - da gab es übrigens eine Zwischenphase der 1968er Zeit, in der unter vielen Nachwuchs-Anhängern der Sozialdemokratie das alte Milieu für einen Lidschlag der Entwicklung noch einmal als Integrationsfaktor und antikapitalistisches Band der Solidarität beschworen wurde: Manche Jungsozialisten, heute gelten sie als wohletabliert und führend, gedachten, noch einmal das Milieu und zumal seine Organisationen zu beleben.

Im katholischen Lager dauerte der Milieuverlust weitaus länger und ist noch nicht abgeschlossen. Hatte man sich hier im 19. Jahrhundert nur zögernd zum vereinsorganisierten Laienkatholizismus bekannt, so übertrugen sich die Milieubindungen, die ja stets durch Werte und Daseinsdeutungen von viel größerer Dignität als in jenem anderen Lager getragen und verknüpft wurden, noch weit in die Generation der „Kriegs- und Konsumkinder", wie das Phänomen von Soziologen und Pädagogen bezeichnet worden ist. Am Rande sei bemerkt, daß Veranlassung besteht, Abschied zu nehmen von jener manchem liebgewordenen Vorstellung von der Adenauer-Zeit als gesellschaftlicher Stagnation oder gar Restauration. Massenkonsum drang, das zeigen neueren Studien [ Vor allem: Axel Schildt/Arnold Sywottek (Hrsg.), Modernisierung im Wiederaufbau. Die westdeutsche Gesellschaft der 50er Jahre, Bonn 1993.] , in den 50er Jahren durch. Mindestens ebenso wichtig war, daß, in einer urbanisierungsgeschichtlich zweiten Phase, Urbanität, also (groß-)städtische Lebensweise, weithin diffundierte - dorthin, wo nicht einmal notwendig Städte sind. Das geschah unter den Folgen einer überaus starken, immer noch nicht genügend untersuchten Entagrarisierung bei gleichzeitiger Verfügbarkeit moderner Lebensstile und Kommunikationsformen auch auf dem Lande. Und zugleich verlor die handwerkliche Selbständigkeit, eine Bastion des sozialen und mittelständischen Katholizismus, weiterhin und bis heute an Bedeutung. Dem katholischen Milieu entglitten die strukturellen Grundlagen. In diesen Jahren klagen die Bischöfe wohl vorwiegend intern über das Desinteresse am organisierten Laien-
katholizismus.

Während diesem also in der Bundesrepublik die soziale Basis entglitt, was die, so sagt man heute, Erosion des christlich-katholischen Milieus seit den 1960er Jahren beschleunigt hat, verwirkte sich auch die unter Arbeitern dereinst zentrale Lebenserfahrung der Milieukonkurrenz durch die Gründung der Einheitsgewerkschaft. Zögernd zwar, aber dann doch eindeutig sind Gewerkschaften geworden, was sie in England immer waren: Interessenvertreter ohne Milieugehabe, ohne affektive, bekenntnishafte Lagerkonflikte. Die Kontexte der alten, großen Milieus haben sich heute beinahe vollständig verschliffen. Was heute milieuartig wirkt und wovon die Soziologen sprechen, wenn sie den Milieubegriff benutzen, das entspricht nicht entfernt der alltäglichen und lebenszyklischen Bedeutung der beiden großen historischen Milieus. Es handelt sich vielmehr um Neubildungen, wie sie in hochmobilen Industriegesellschaften entstehen und meist vergehen, ohne Konkurrenz und Erblichkeit, damit eine milieugebundene Sozialisationskraft, als selbstperpetuierende Stabilisatoren zu entfalten: Jugendmilieus etwa und Ethnien infolge Zuwanderung, die großstädtischen Randmilieus der Ausgestoßenen, Armen und dauerhaft Arbeitslosen, das neue Milieu der Armen und Alten mit der wohl geringsten Bindekraft, Konsumenten- und Aufsteigermilieus, vielleicht auch ein neues protestantisch-asketisches Milieu der Grünen und Territorialmilieus - das Bayerische gar und jenes starke Stück Ruhrgebiet. Das ist ein ganz anderes Thema als die generationstragende Verflechtung der großen alten und ziemlich deutschen Milieus.

Eine ganz andere historisch gewordene Ausprägung dieser alten Milieutradition muß noch angesprochen werden. Es war, aus dem sozialdemokratischen Milieu geboren, der radikalisierte Teil der großen Jahrhundertwende-Generation, der die DDR auftragsgemäß konstituierte und der seine Lebenserfahrungen und Utopien als gesellschaftliches Leitbild dort hineintrug und, beschirmt vom Osten, als Grundlage aller sekundären Sozialisation vereinseitigen durfte oder mußte. Das konnte über 40 Jahre hinweg wirken - im Vergleich damit ließen sich die schlimmstenfalls zwölfjährigen nationalsozialistischen Erfahrungen weitaus rascher abschleifen, schon allein, weil sie relativ viel weniger Menschen, nämlich eine weitaus kleinere Altersgruppe, prägten. Wenn man so will, hat sich, natürlich durch die globale Nachkriegs-Konfliktlage verstärkt, der extrem und affektiv radikalisierte Teil des alten Milieus in der DDR fortgesetzt und das gewonnen, was - man ist versucht zu sagen: natürlich - im Westen nicht erreicht werden konnte: Staatsförmigkeit und das Begehren nach Umsetzung einer chimärischen Utopie. Deshalb steht die deutsche Gesellschaft noch einmal vor einem weltweit bisher einzigartigen Sozialisationsproblem, das die Generation der jetzt östlich der Elbe erwachsen Werdenden noch überdauern wird. Keine andere große Gesellschaft der westlich-modernen Nationen hat solche Wechselbäder an generationellen Sozialisationen im 20. Jahrhundert durchleiden müssen, ganz im Gegenteil, die großen und notwendigen Siege gegen Deutschland haben anderwärts allezeit bestätigt, daß man auf dem richtigen Wege war.

Und auch im Westen des alten Reiches wären die Milieus politisch wohl wieder wirksamer geworden, als sie es wurden, hätte die beschirmte westdeutsche Demokratie sich nicht, zynisch gesagt, unter dem Schutz des Kalten Krieges zwei wichtige Generationen lang entfalten und verankern dürfen. Welches neue Milieu gar mit revanchistischen Zügen hätten Geflohene und Vertriebene zum politischen Einfluß führen können, wenn es etwa, sagen wir, 1953, zur Vereinigung von West- und Mitteldeutschland gekommen wäre, ganz ohne den Osten! Oder ein anderes, eher ironisches Beispiel: Da war, 1968, eine ganze Generation angetreten, diesen westlichen Staat zu verändern, hatte sich gar unter das Banner aller denkbaren Antis gestellt: antibürgerlich und antikapitalistisch vor allem und gegen vieles Andere, und die große Pazifizierung dieser Generation erst erwies den Westdeutschen die Integrationskraft ihrer Demokratie. Man begann gar, vom Verfassungskonsens, von „Verfassungspatriotismus" zu reden, gerade unter den linken Philosophen. Was im Bismarckreich gründlich mißlang, die „innere Reichsgründung", das als Aufgabe vollzog die alte Bundesrepublik jetzt erst, in der Generation der Nachgeborenen, in der dann der restliche politische Extremismus zum Terrorismus verkam. Statt dessen gebaren Preußen-Deutschland und das konstitutionelle Kaiserreich, unfähig zur Reform und Integration, eine gesellschaftlich und politisch isolierte und marginalisierte, unversöhnliche Massenopposition, die sozialdemokratische Arbeiterbewegung. Die Weimarer Zeit war, abgesehen von den politischen Wechselbädern, dann einfach zu kurz, um durch demokratische Sozialisation der Heranwachsenden eine starke, konsensfähige und krisenfeste politische Mitte zu konstituieren. Ganz im Gegenteil: wo es diese Chance gab, etwa in der sozialdemokratisch-gewerkschaftlichen Arbeiterbewegung, bedrängten politische Ereignisse, Rahmenbedingungen und wirtschaftliche Krisenlagen dieses Potential.

Die in der demokratischen Sozialisation während eines halben Jahrhunderts westdeutscher Geschichte gewonnene Kraft wird zweifellos reichen, um die jüngste generationelle Sozialisationsaufgabe der deutschen Geschichte im ausgehenden 20. Jahrhundert zu bewältigen. Diese Aufgabe ist in Wahrheit schon vor 1989 angegangen worden, und sie hat sich heute längst mit globaleren Problemlagen, Europa und die Weltwirtschaft, verwuchert. Die sozialisationsgeschichtliche Sonderung der deutschen Gesellschaften im 20. Jahrhundert klingt nun aus. Man kann und muß diese Sonderung als in hohem Maße durch jenen Sonderweg ausgeprägt begreifen, den die deutsche Sozial- und Verfassungsgeschichte unter dem Eindruck rascher Industrialisierung und Urbanisierung bei anhaltend spröden gesellschaftlichen Strukturen und mangelnder gesellschaftspolitischer Reformfähigkeit während des „langen" 19. Jahrhunderts genommen hatte.

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Reihe Gesprächskreis Geschichte

Heft 1

Jürgen Kocka, Die Auswirkungen der deutschen Einigung auf die Geschichts- und Sozialwissenschaften, Bonn 1992 (24 S., vergriffen)

Heft 2

Eberhard Jäckel, Die zweifache Vergangenheit. Zum Vergleich poliischer Systeme, Bonn 1992 (24 S., vergriffen)

Heft 3

Dieter Dowe (Hrsg.), Von der Bürgerbewegung zur Partei. Die Gründung der Sozialdemokratie in der DDR, Bonn 1993 (180 S.)

Heft 4

Dieter Dowe (Hrsg.), Die Ost- und Deutschlandpolitik der SPD in der Opposition 1982-1989, Bonn 1993 (208 S.)

Heft 5

Reinhard Rürup, Die Revolution von 1918/19 in der deutschen Geschichte, Bonn 1993 (32 S.)

Heft 6

Dieter Langewiesche, Nationalismus im 19. und 20. Jahrhundert: Zwischen Partizipation und Aggression, Bonn 1994 (32 S.)

Heft 7

Karin Hausen, Die „Frauenfrage" war schon immer eine „Männerfrage". Überlegungen zum historischen Ort von Familie in der Moderne, Bonn 1994 (32 S.)

Heft 8

Hans-Ulrich Wehler, Angst vor der Macht? Die Machtlust der Neuen Rechten, Bonn 1995 (24 S.)

Heft 9

Ausstellungskatalog: Friedrich Ebert 1871-1925. Vom Arbeiterführer zum Reichspräsidenten, Bonn 1995 (72 S.)

Heft 10

Leonid Pawlowitsch Kopalin, Die Rehabilitierung deutscher Opfer sowjetischer politischer Verfolgung, Bonn 1995 (40 S., vergriffen)

Heft 11

Michael Schneider, „Völkspädagogik" von rechts. Ernst Nolte, die Bemühungen um die „Historisierung" des Nationalsozialismus und die „selbstbewußte" Nation, Bonn 1995 (56 S.)

Heft 12

Klaus Schönhoven, Gewerkschaften und soziale Demokratie im 20. Jahrhundert, Bonn 1995 (32 S.)

Heft 13

Dieter Dowe (Hrsg.), Kurt Schumacher und der „Neubau" der deutschen Sozialdemokratie nach 1945, Bonn 1996 (192 S.)

Heft 14

Dieter Dowe (Hrsg.), Die Deutschen - ein Volk von Tätern? Zur historisch-politischen Debatte um das Buch von Daniel Goldhagen, Bonn 1996 (80 S.)

Heft 15

Dieter Dowe (Hrsg.), Herbert Wehner (1906 - 1990) und die deutsche Sozialdemokratie, Bonn 1996 (64 S.)

Heft 16

Helmut Schmidt, Carlo Schmid 1896 - 1979, Bonn 1996 (24 S.)

Heft 17

Michael Schneider, Die „Goldhagen-Debatte". Ein Historikerstreit in der Mediengesellschaft, Bonn 1997 (31 S.)

Heft 18

Peter Steinbach, Widerstand gegen den Nationalsozialismus - eine „sozialistische Aktion"? Bonn 1997 (104 S.)

Heft 19

Klaus Tenfelde, Milieus, politische Sozialisation und Generationenkonflikte im 20. Jahrhundert, Bonn 1997 (31 S.)


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