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Podiumsdiskussion

Kärrner und Zuchtmeister. Herbert Wehners Rolle in Partei und Parlament


August Hermann Leugers-Scherzberg

Susanne Miller

Rudolf Morsey

Moderation: Bernd Faulenbach

Bernd Faulenbach

In der Podiumsdiskussion wollen wir auf die Rolle Herbert Wehners in den verschiedenen Phasen der Nachkriegsentwicklung eingehen, in der Deutschlandpolitik der 50er Jahre und beim Weg der SPD nach Godesberg, im Prozeß des Aufstiegs der Sozialdemokraten zur Regierungspartei in der Zeit der Großen Koalition, in der Ära Brandt und in der Zeit Helmut Schmidts. Ansprechen wollen wir die Bedeutung Wehners als Parlamentarier und als Fraktionsvorsitzender. Wir wollen nicht an der Frage vorübergehen, wie seine Vergangenheit nach dem Krieg auf seine Freunde und Gegner gewirkt hat und wie er mit ihr umgegangen ist. Ebenso wollen wir uns der außerordentlich vielschichtigen Persönlichkeit Wehners zuwenden. Wir müssen auch fragen, worauf die Wirkung Herbert Wehners seit dem Kriege eigentlich basierte, was sein Charisma ausmachte.

Zuerst möchte ich Ihnen diejenigen vorstellen, die auf dem Podium Platz genommen haben. Frau Professor Dr. Susanne Miller war nicht nur Sekretärin der Kommission, die das Godesberger Programm ausgearbeitet hat. Sie ist - wie alle wissen - auch als Historikerin hervorgetreten; sie hat zahlreiche Bücher und Aufsätze zur Geschichte der Sozialdemokratie publiziert. Unter ihnen befindet sich auch ein Buch, in dem sie die Nachkriegsgeschichte der SPD darstellt. Herr Professor Dr. Rudolf Morsey lehrt an der Hochschule für Verwaltungswissenschaften in Speyer. Er steht der Kommission zur Geschichte für Parlamentarismus und der politischen Parteien in Bonn als Präsident vor. Er hat sowohl einen Grundriß der Geschichte der Bundesrepublik als auch Studien über Adenauer, Lübke und die Deutschlandpolitik in der Zeit nach dem Kriege geschrieben. Herr Morsey ist als Kenner der Nachkriegsperiode, vorzugsweise der CDU und des Katholizismus, ausgewiesen. Herr Dr. August Hermann Leugers-Scherzberg hat seine Habilitationsschrift über den späten Herbert Wehner nahezu abgeschlossen; sie wird in absehbarer Zeit erscheinen. Gleich Prof. Dr. Hartmut Soell oder Dr. Gerhard Beier gehört er zu den Wehner-Spezialisten, die an unserer Tagung teilnehmen.

Im Saal sehe ich zahlreiche Zeitzeugen, die sicherlich aus ihrer Sicht in die Debatte über Herbert Wehner eingreifen werden, aber auch Historiker, die über ihn gearbeitet haben. Zunächst werden Herr Leugers-Scherzberg, Frau Miller und Herr Morsey ein kurzes Statement abgeben, sodann wollen wir in die Diskussion eintreten, an der das Plenum bald beteiligt werden sollte.

August Hermann Leugers-Scherzberg

Zu Anfang möchte ich mich über eine Behauptung äußern, die Egon Bahr in seinen Memoiren über Herbert Wehner aufgestellt und die „Die Zeit" in der vergangenen Woche abgedruckt hat.

Der Brief, den Herbert Wehner am 2. Dezember 1973 an Erich Honecker geschrieben hat, sei - so behauptet Bahr - dem damaligen Bundeskanzler Willy Brandt nicht vorgelegt worden. Er sei der „Persönliche Grundlagenvertrag" Wehners mit Honecker gewesen, womit er sich in die Hand der anderen Seite begeben habe. Diese Behauptung ist nachweislich falsch. Dieser Brief befindet sich im Nachlaß Willy Brandts, der ihn durchgesehen und Horst Ehmke beauftragt hat, ihn mit Egon Bahr und Günter Gaus durchzusprechen. Darauf hat der britische Historiker Timothy Garton Ash bereits 1993 in seinem Buch „Im Namen Europas" auf Seite 689 hingewiesen. Er bezeichnet den Brief Wehners als Memorandum und äußert sich hierüber folgendermaßen: „Es datiert vom 2. Dezember 1973 und befindet sich im Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung im Willy-Brandt-Archiv in der Akte BK Nr. 75. Aus den beigefügten Notizen Willy Brandts geht hervor, daß es Wehner in der Tat an ihn und an Honecker geschickt hat. Brandt hat daraufhin Horst Ehmke gebeten, es mit Egon Bahr und Günter Gaus zu diskutieren." So weit zu den Behauptungen Egon Bahrs. Für unsere heutige Diskussion scheint mir diese Anmerkung insoweit interessant, als hier aufs neue deutlich gezeigt wird: In der öffentlichen Diskussion über Herbert Wehner spielen oftmals weniger historische Fakten als persönliche Animositäten eine Rolle.

Jetzt will ich mein Statement zu Herbert Wehner abgeben, das womöglich nicht allen gefallen wird. Es stellt jedoch ein Ergebnis meiner bisherigen Arbeit über Wehner dar.

Wehners Bedeutung für die SPD gründet meiner Ansicht nach darauf, daß er imstande war, über den Tellerrand dieser Partei hinauszusehen. Wenn Wehner eine politische Strategie entwarf, bildete die SPD in ihr nur einen, wenngleich sehr wichtigen Faktor. Politisches Handeln erschöpfte sich für Wehner jedoch nicht darin, eine Parteistrategie zu entwerfen und an ihr festzuhalten. Vielmehr zielte sein politisch-strategisches Denken dahin, eine politische Gesamtstrategie zu finden. In ihr erhielt die SPD den Platz, der ihr zukam.

Man muß sich vor Augen halten, welcher politischen Tradition Wehner anhing. Zu Recht haben wir uns daher mit seiner Vergangenheit beschäftigt. Für die kommunistische Ideologie bildet die Verwirklichung des Kommunismus das Endziel. Da dieses Endziel nicht sofort und unmittelbar verwirklicht werden kann, sondern nur über Zwischenetappen, ist eine Strategie notwendig, um jede Zwischenetappe zu erreichen. Die Strategie macht sozusagen die mittelfristige Planung aus. Kurzfristige Schachzüge bilden die Taktik, um das strategische Ziel zu erreichen. Wer Wehners Politik über einen längeren Zeitraum hinweg untersucht, stellt fest, wie klar er zwischen dem eigentlichen Ziel seiner Politik und den strategischen Zielsetzungen unterschied. Wer nicht in den Fehler verfallen will, seine strategischen Zielsetzungen als die eigentlichen Zielsetzungen seiner Politik anzusehen, muß sich darüber Rechenschaft geben, worin das eigentliche Ziel seiner Politik bestand.

In dem Prozeß, der zu seiner Trennung vom Kommunismus führte, spielt diese Frage für ihn eine überragende Rolle. Der Kommunismus, schrieb er 1942, soll eine universale Freiheitsbewegung sein. Er soll der Fortsetzer der großen nationalen und sozialen Freiheitsbewegungen der Geschichte sein. Im Unterschied zu den früheren Freiheitsbewegungen gilt die Mission des Kommunismus, so sieht er es noch 1942, jedoch nicht einer sozialen Schicht oder nationalen Gemeinschaft, sondern der universalen Befreiung der Menschheit. In den Jahren von 1942 bis 1946 kommt Wehner zu der Einsicht, daß ihm der Kommunismus nicht ausreicht. Meiner Ansicht nach stellt die wesentliche Einsicht für ihn dar, daß der Kommunismus nicht diese Freiheitsbewegung ist, die er meint, daß sie es nicht ist und - was für ihn noch wichtiger ist - auch theoretisch nicht sein kann. Wenn man von Wehners Bruch mit dem Kommunismus redet, muß man diese beiden Stufen voneinander abheben. Seine universalistische Vision verliert Wehner jedoch nicht.

Nach reiflicher Überlegung wählt er im Herbst 1946 die SPD als Ausgangspunkt, um für die Verwirklichung dieser Vision etwas unternehmen zu können. Wehner läßt sich von dem Ziel leiten, einen Beitrag zu leisten, um im Weltmaßstab Veränderungen hin zu einer menschlicheren Welt zu bewirken. Infolgedessen arbeitet Wehner in den fünfziger Jahren in der Sozialistischen Internationale, von den fünfziger bis zu den siebziger Jahren im Aktionskomitee für die Vereinigten Staaten von Europa - dem Jean Monnet vorsteht - intensiv mit. Darüber hinaus unterhält er direkte Kontakte zu einzelnen Regierungschefs. Seine Bündnispartner wählt er nicht unbedingt nach der Farbe der Partei. In der Innenpolitik bietet sich ein vergleichbares Bild. Wehner unterhält intensive Kontakte zu einzelnen Abgeordneten der Union und der FDP, und er arbeitet in deutschland-politischen Gremien wie dem Kuratorium Unteilbares Deutschland mit Nachdruck mit. Überall sucht und findet er Bündnispartner für seine Politik.

Wer nach einem Leitgedanken in der Politik Wehners sucht, stößt auf einen zentralen Begriff, auf den Begriff des Selbstbestimmungsrechts. Es stellt für ihn ein unteilbares Prinzip dar. Im nationalen Maßstab bedeutet es Demokratie, im internationalen Maßstab Selbstbestimmungsrecht der Nationen. Wehner geht zudem davon aus, daß das Selbstbestimmungsrecht im nationalen Maßstab nicht sichergestellt werden kann, wenn es nicht auch in den internationalen Beziehungen verwirklicht worden ist. Den letzten Gedanken habe ich vielleicht etwas abstrakt formuliert, weshalb ich ihn noch einmal auf eine andere Weise ausdrücken möchte. Wehner geht davon aus, daß die Prinzipien, die der internationalen Politik zugrunde liegen, auf Dauer Rückwirkungen auf die Gestaltung der politischen Ordnung in den einzelnen Staaten haben werden. Wenn zum Beispiel die internationale Politik durch imperialistische Prinzipien geprägt ist, wird das seiner Überzeugung nach auf Dauer auch zur Installierung autoritärer Regime in den einzelnen Staaten führen. Wenn aber demokratische Prinzipien der Politik das Gepräge geben, wird es in den einzelnen Staaten auch auf Dauer zur Durchsetzung von Demokratie und Freiheit kommen. So lautet eine Grundannahme Wehners, auf die wir in seinen politischen Analysen immer wieder stoßen.

Wir können eine Kontinuität erkennen, die bis in seine kommunistische Zeit zurückreicht. Wie wir wissen, ging Lenin ursprünglich davon aus, daß eine Revolution in einem Land nur erfolgreich sein könne, wenn es zur Weltrevolution komme. Insbesondere ausländischen Politikern, die mit Wehner politische Unterhaltungen führten, fiel die Weite seines politischen Horizonts auf. Henry Kissinger urteilte in einem Brief an Wehner im Juni 1965: „You are one of the few truly political minds that I know."

Susanne Miller

Soeben war von Historikern und von Menschen die Rede. Ich vereine wohl beide in mir. Ich möchte davon erzählen, was ich miterlebt oder aus Akten und Büchern erfahren habe.

Zunächst möchte ich auf Herbert Wehner und das Godesberger Programm eingehen. Dessen Hintergrund bildet für mich vor allem die Wahlniederlage der SPD von 1957, die in der Partei eine große Unruhe hervorgerufen hat. Als Erich Ollenhauer, der zu dieser Zeit Vorsitzender der SPD gewesen ist, von einem Journalisten gefragt wurde, welche Konsequenz er aus dem großen Mißerfolg der SPD ziehe, erwiderte er: „Wir werden ein neues Grundsatzprogramm vorlegen." Er trieb die Kommission, die an einem Entwurf für ein solches Programm arbeitete, zur Eile an. Herbert Wehner gehörte dieser Kommission an, nahm jedoch nur selten an deren Sitzungen teil. Für gewöhnlich schwieg er. Ich war Protokollantin, und ich hatte nicht viel aufzunehmen, wenn Herbert Wehner das Wort nahm.

Mit der Absicht, die SPD durch ein neues Grundsatzprogramm zu erneuern und deren Anziehungskraft zu steigern, gingen Bemühungen führender Sozialdemokraten einher, sowohl die Struktur der Partei zu erneuern als auch die Personen an deren Spitze durch andere zu ersetzen. An die Stelle des sogenannten Büros - des geschäftsführenden Vorstands der Partei - sollte ein attraktiveres Gremium treten, an die Stelle Erich Ollenhauers, des Vorsitzenden, der 1957 für die Partei für das Amt des Kanzlers kandidierte, einer, der auf ein breites Publikum eine stärkere Anziehungskraft ausübte. Diese Ziele verfolgte eine Gruppe, der Willy Brandt und Carlo Schmid, Helmut Schmidt und Fritz Erler, vielleicht auch Herbert Wehner angehörten. Auf jeden Fall neigte er zu dieser Gruppe, deren Bemühungen von Erfolg gekrönt waren. Auf dem Parteitag der SPD, der 1958 in Stuttgart stattfand, wurde deren geschäftsführender Vorstand von einem Präsidium ersetzt, Erich Ollenhauer als Vorsitzender bestätigt, jedoch mit zwei Stellvertretern - Waldemar von Knoeringen und Herbert Wehner - versehen. Von Knoeringen vertrat den traditionalistischen, rechten Flügel der SPD, Wehner den linken. Indem der Parteitag sie wählte, wollte er hervorheben, wie weit das Spektrum reichte, auf das die SPD einzuwirken gedachte.

1958 lag auch der Entwurf für ein neues Parteiprogramm vor. Der linke Flügel, der einem neuen Programm abgeneigt war, wies ihn ab. Noch wenige Wochen vor dem Parteitag in Bad Godesberg, auf dem das Programm - das inzwischen gestrafft und mit Ergänzungen aus den Ortsvereinen und Landesbezirken versehen worden war - verabschiedet wurde, sagten mir Angehörige des linken Flügels der SPD: „Du wirst sehen, Herbert Wehner wird die Front deren anführen, die das neue Programm ablehnen." Zur großen Sensation geriet auf dem Godesberger Parteitag von 1959 die Rede Herbert Wehners, in der er voller Leidenschaft für das Programm eintrat und die Worte sprach: „Glaubt einem Gebrannten." Seine sehr auf ihn zugeschnittene, eindrucksvolle Rede hat wahrscheinlich diejenigen, die noch schwankten, bewogen, für das Programm - das letzten Endes von einer großen Mehrheit gebilligt wurde - zu stimmen. Sodann hat Herbert Wehner mit Energie und Härte, die ihm eigen waren, der Kritik des Programms, dessen Ablehnung oder Abänderung entgegengewirkt.

Wehner hat zweifellos die Rolle des Zuchtmeisters der SPD gespielt, um eine Akzeptanz des Godesberger Programms zu erreichen. Sowohl die Rede von Bad Godesberg, in der er sich zur großen Überraschung vieler, insbesondere der Journalisten, für den Entwurf des Programms ausgesprochen hat, als auch die Rolle, die er später spielte, um das Programm zu bewahren, haben die Legende hervorgebracht, daß das Godesberger Programm auf Wehner zurückginge. Gewiß gefiel Wehner diese Legende. Er hat sie genährt, indem er später auch solchen, die der SPD nicht zugehörten, erklärte, er habe seinerzeit mit dem Godesberger Programm ganz allein dagestanden. Es stimmte aber nicht. Ein Mitarbeiter Willy Brandts sagte mir einmal: „Von Jahr zu Jahr wächst die Zahl der Väter des Godesberger Programms an." Dieser Satz erinnert an den bekannten Spruch: „Der Erfolg hat viele Väter." Und das Godesberger Programm war ein Erfolg, wenn er auch nicht sogleich in Wählerstimmen zum Ausdruck kam. Es geriet zu einer Art von Markenartikel, auch in der Sozialistischen Internationale. Es widerspiegelte, wie gut es einer alten, traditionsreichen Partei gelungen war, sich zu erneuern.

Über das Godesberger Programm hinaus halte ich die Rede, die Wehner am 30. Juni 1960 gehalten hat, für eine große Tat. In ihr brach er dem Gedanken, eine Große Koalition einzugehen, Bahn. In der Sozialdemokratie zeichnete sich Wehner durch die Ansicht aus, daß eine Partei, die Wirkung gewinnen will, an die Macht kommen muß. Hierzu hat er viel beigetragen; hierin besteht sein besonderes Verdienst.

Rudolf Morsey

Ich möchte einige Gedanken vortragen, die im besonderen den Jahren der Großen Koalition gelten. Wehner hat einen entscheidenden Satz formuliert, an dem er festgehalten hat. Dieser Satz, der die Christdemokraten faszinierte, lautete: „Das geteilte Deutschland kann nicht unheilbar miteinander verfeindete christliche Demokraten und Sozialdemokraten ertragen." Nachdem 1978 die Wehner-Biographie von Freudenhammer und Vater, den beiden Redakteuren des „Spiegel", die Wehner überhaupt nicht gefiel, herausgekommen war, entrüstete sich Heinrich Krone - sein Gegenpart aus der Union, der sich mit ihm in diesen Jahren wieder versöhnt hatte -, daß die beiden Autoren geschrieben hätten, Wehner habe die Christdemokraten für nützliche Idioten gehalten und dazu gebracht, sich seiner Position anzuschließen. Krone schrieb Wehner damals: „Im Grunde waren wir für Sie also nur nützliche Idioten. Mir liegt daran, Sie wissen zu lassen, daß ich dieses Urteil nicht teile und überdies ein anderes Bild von Ihnen habe." Wehner antwortete auf der Stelle: „Was Leute dieser Art", wie er bestimmte Journalisten zu bezeichnen pflegte, "über mich und von mir zu wissen behaupten, gibt nur wieder, was sie sich selbst zurechtgemacht haben. Ich bedaure, daß Sie die ‘Spiegel’-Leute so nehmen, wie diese sich gerne genommen wissen möchten, was immer Sie von mir halten. Ich darf Sie an die Schlußsätze meiner Bundestagsrede vom 30.6.1960 erinnern." Er hat diese Rede also wie eine Fahne auch weiterhin vor sich her getragen. Das Wort Zuchtmeister, das Frau Miller soeben benutzt hat, ist ein Terminus, den Wehner in einem Aufsatz über Adenauer verwendet hat, nachdem dieser zurückgetreten war. Dieses Wort hat er auf sich selbst durchaus selbstkritisch bezogen. Alois Mertes, der Abgeordnete der Union aus Rheinland-Pfalz, der aus dem diplomatischen Dienst kam und dann Abgeordneter des Bundestages wurde, hat 1978 über die kommunistische Vergangenheit Wehners geschrieben, nachdem viele Christdemokraten enttäuscht von Wehner abgerückt waren, weil sie meinten, er habe ab 1966 eine andere Deutschlandpolitik betrieben, als sie sie im Auge gehabt hätten: „ Ich halte seine Abkehr für echt und endgültig. Sein Pflichtgefühl und seine Selbstlosigkeit bar jeder Eitelkeit sind vorbildlich. Seine langen Mannesjahre im Dienste der KP und der Komintern gehören der Geschichte an." Diese Version mußten sich die Christdemokraten erst mühsam zu eigen machen. Die Rede von 1960 bildete den Ausgangspunkt.

Ein Jahr danach regte dann von Guttenberg, der fränkische Reichsbaron und Großgrundbesitzer, der Wehner in mehrjähriger Arbeit im Auswärtigen Ausschuß des Bundestages kennen- und schätzengelernt hatte, ein Gespräch an. Er hielt Wehners Konzeption für entwicklungsfähig. Nachdem die „Spiegel-Affäre" vorüber war und Adenauer im Dezember 1962 zum letzten Mal ein Kabinett bilde, führten Guttenberg und Lücke mit Wehner in Berlin im geheimen Verhandlungen, um die letzte Regierung Adenauer in eine Regierung der Großen Koalition umzuformen. Als sich 1966 abzeichnete, daß Kanzler Ludwig Erhard scheitern würde, haben Guttenberg und Krone die Kontakte zu Wehner intensiviert. Krone hielt im November 1966 in seinem Tagebuch fest: „Dieser Mann leidet und kämpft. Er ist der Größte im Lager der Linken." So sahen ihn seine politischen Gegenspieler. Ihnen erschien Wehners Konzeption trefflich geeignet, um den von Ludwig Erhard und der damaligen Koalition in den Dreck gefahrenen Karren wieder herauszuziehen. Der frühere Zentrumspolitiker Johannes Schauff, den ich vor einigen Jahren in einem Aufsatz in die Forschung „eingeführt" habe, hatte einen bedeutenden Anteil daran, die Große Koalition vorzubereiten. Schauff und Wehner kannten sich vermutlich seit den zwanziger Jahren. Johannes Schauff, den nur wenige kennen, kehrte 1947 aus Brasilien zurück, wohin er emigriert war. Fortan trat er als Vermittler in der deutschen Politik in Erscheinung. Er rechnete gleichermaßen zu denjenigen, die die deutsche Entwicklungspolitik anregten. Sie haben ihn, Herr Ehmke, in Ihren Memoiren gewürdigt. Ich glaube, Sie sind der erste, der auf diesen Zusammenhang verwiesen hat. Schauff war ein Freund Heinrich Lübkes. Über diesen Umweg entstand eine Koalition einiger Christdemokraten aus der CDU und der CSU. Guttenberg zählte zu den Abgeordneten der CSU, die glaubten und hofften, mit Wehner eine neue Linie bilden zu können. In den ersten beiden Jahren brachte die Große Koalition zustande, was sie sich von ihr versprochen hatten. Hierüber waren sie glücklich. Von 1967/68 an änderte sich die Situation insofern, als die Christdemokraten in der Regierung und im Parlament spürten oder zu spüren glaubten, daß Wehner in der Deutschlandpolitik - insbesondere in Hinsicht auf eine Anerkennung der DDR - weiter gehen wolle als sie.

Die Brüche, die es im Leben von Herbert Wehner gegeben hat, müssen deutlich herausgestellt werden; sie dürfen nicht wegdiskutiert werden. Vor allem als Historiker sind wir verpflichtet, aus den Quellen ein eigenes Bild zu gewinnen, in das wir die Urteile der Zeitgenossen selbstverständlich einfügen. Es gibt einen Roman von Elisabeth Langässer aus dem Jahre 1946 oder 1947, der den Titel „Das unauslöschliche Siegel" trägt. Ich halte diesen Titel, der sich auf das Priestertum bezieht, für geignet, Wehner zu entschlüsseln. Wir werden ihn damit sicher nicht enträtseln können, ihm jedoch näher kommen, denn er hat unter diesem Siegel selber gelitten. Dieses Gefühl hat er immer wieder zum Ausdruck gebracht, auch in langen Gesprächen mit Christdemokraten. Sie haben persönlich oder in ihren Memoiren berichtet, wie Wehner unter diesem Siegel gelitten hat. Immer verstand er es, den Eindruck zu erwecken, daß der jeweilige Gesprächspartner derjenige sei, dem er zum ersten Mal sein Herz ausschüttete und bis auf dessen Grund blicken ließ. Auf diese Weise hat er sie sehr für sich eingenommen. Ich halte das nicht nur für Taktik, obwohl wir selbstverständlich bei jedem Politiker, bei jedem derart machtbewußten Politiker, ein Stück Taktik ins Kalkül ziehen müssen.

Von 1959 bis 1969, in den Jahren, in denen Heinrich Lübke das Amt des Bundespräsidenten innehatte, bestand ein erstaunlich enges Verhältnis zwischen Lübke und Wehner, über das Arnulf Baring 1982 in seinem Buch „Machtwechsel. Die Ära Brandt/Scheel" - wie ich meine - allzu kritisch geschrieben hat. Baring hieß es eine bewußte Anbiederung, um den jeweiligen Gegenspieler für sich einzunehmen und auf die eigene Linie zu bringen. Ich halte diese Bewertung für falsch. Aus der Korrespondenz mit Guttenberg und Krone, soweit ich sie kenne, habe ich einen anderen Eindruck gewonnen: Wehner wußte sich mit einzelnen Persönlichkeiten des christdemokratischen Lagers in Grundfragen einig. Mit Lübke stimmte er in der Deutschlandpolitik und in der Berlin-Frage überein. Gleich ihm strebte er um jeden Preis die Wiedervereinigung an, gleich ihm gedachte er, die deutsche Frage offenzuhalten. Es gehört natürlich dazu, daß sie sich hin und wieder freundliche Briefe schrieben, die den Eindruck erweckten, als ginge es nicht nur um Machtfragen.

Aus der bisherigen Forschung gewinnen wir einen zwiespältigen Eindruck. Die Wehner-Forschung steht erst am Anfang. Sobald der Nachlaß von Wehner, von Brandt und anderen freigegeben worden ist, werden wir ein Bild von Wehner gewinnen, das sich von dem, das wir heute besitzen, wesentlich unterscheiden wird.

Bernd Faulenbach

Sie haben eine ganze Reihe von Komplexen angesprochen, die es alle verdienten, im einzelnen diskutiert zu werden. Ich möchte zunächst die Frage aufwerfen, was Wehner unter sozialdemokratischer Politik verstand. Hebert Wehner, so hat Susanne Miller ausgeführt, fängt auf dem linken Flügel der Sozialdemokratie an, treibt dann jedoch die Wendung zur Volkspartei voran. Am Ende scheint er eher wieder ein Repräsentant der traditionellen Arbeiterbewegung zu sein; er scheint sich in gewisser Weise wieder zurückgewendet zu haben. Würden Sie, Herr Leugers-Scherzberg, zwischen verschiedenen Phasen unterscheiden, was Wehners Verhältnis zur Sozialdemokratie bzw. Was seine Position in der Partei angeht? Mir erscheint es schwierig, die verschiedenen Phasen auf einen Nenner zu bringen.

August Hermann Leugers-Scherzberg

Meiner Meinung nach machte es die Größe Wehners aus, weit über die SPD hinauszublicken. Wehner hat es immer zurückgewiesen, dem linken oder dem rechten Flügel der Partei zugeordnet zu werden. Susanne Miller hat den Versuch unternommen, Wehners Verhältnis zum Godesberger Programm darzustellen. In der Tat hat sich Wehner zunächst sehr zurückgehalten, als über eine Reform des Programms diskutiert wurde. Den Programmentwurf von 1958 hat er in einem Brief vom 15. April, den er an Willi Eichler richtete, bis ins kleinste kritisiert. An manchen Teilen hat er kein gutes Haar gelassen. Wehner wies den Entwurf insbesondere zurück, weil er ihn zum Teil für eine Anleitung hielt, wie der Reichtum der sowieso schon privilegierten deutschen Bevölkerung sichergestellt werden könne. Daher, meinte Wehner, dürfe man es nicht wagen, ihn der internationalen Sozialdemokratie vorzulegen.

Seine Argumentation leitete er von internationalen Gesichtspunkten ab, was ich immer herauszustellen suche. So führte er sowohl die Aufgabe des Deutschlandplanes im März 1960 als auch seine Rede vom Juni desselben Jahres auf außenpolitische Erwägungen zurück. Nachdem die Genfer und 1960 auch die Pariser Konferenz fehlgeschlagen waren, mußte die internationale Lage, die sich verändert hatte, seiner Ansicht nach zu einer Radikalisierung in der Bundesrepublik führen. Verschärfte sich die Konfrontation zwischen Ost und West, dachte er, bildete sie sich auch gesellschaftlich ab. Infolgedessen hob er in seiner Rede im Juni 1960 hervor, daß das geteilte Deutschland unheilbar verfeindete Christdemokraten und Sozialdemokraten nicht vertragen könne. Da sich der Osten und der Westen Deutschlands als Feinde gegenüberstünden, so argumentierte er, litte die demokratische Substanz in Westdeutschland, wenn die Konfrontation zwischen Christ- und Sozialdemokraten zunähme.

Diese Idee finden wir bereits in seinem Buch „Selbstbesinnung und Selbstkritik". Für einen wesentlichen Aspekt der NSDAP hielt er nämlich deren Politik, das Volk systematisch zu entzweien. Indem sie sich außenpolitischer Argumente, indem sie sich vorzugsweise des Friedens von Versailles bediente, stempelte sie jeden innenpolitischen Gegner als Feind und Volksverräter ab. Eine Eskalierung des Ost-West-Konflikts könnte, so fürchtete Wehner, eine große Gefahr heraufbeschwören.

Wenn wir aus der Perspektive der SPD auf die Politik Wehners sehen, fallen zuerst die abrupten Brüche ins Auge. Und wo die Brüche auftreten, greift er auf außenpolitische Argumente zurück. Für das Godesberger Programm setzte sich Wehner nicht erst auf dem Parteitag im November 1959 ein. Er stimmte ihm vorher bereits im „Vorwärts" und im Rundfunk zu. Er schloß sich ihm an, nachdem die Genfer Konferenz gescheitert war. Es fällt schwer, Wehner links oder rechts einzuordnen. Er glaubte wohl vielmehr, über beiden Ausrichtungen zu stehen.

Bernd Faulenbach

Wenn wir die Entwicklung von Herbert Wehner sehen, müssen wir wohl verschiedene Phasen unterscheiden . Eine Politik der Gemeinsamkeiten betreibt er vor allem in den sechziger Jahren. In dieser Phase, auf die Susanne Miller in besonderer Weise eingegangen ist, unternimmt Wehner den Versuch, manchmal auch mit autoritären Mitteln, sowohl ein Konzept der Volkspartei als auch eine Politik der Gemeinsamkeiten durchzusetzen, um eine große Koalition zustande zu bringen.

Susanne Miller

Wehner kam es darauf an, die SPD an die Macht zu bringen. Er vermochte die Situation, in der dieser Weg möglich war, wahrzunehmen und entsprechend zu handeln. Ein theoretisches Gerüst - auch im Hinblick auf die Brüche - kann man wohl nicht konstruieren. Die Brüche sind oft darauf zurückzuführen, daß er zu vielen Problemen einfach geschwiegen hat. Gewiß hat er sich einmal, ich glaube Ende September 1959, im Süddeutschen oder im Südwestdeutschen Rundfunk freundlich über das Godesberger Programm geäußert. Es geschah jedoch praktisch unter dem Ausschluß der Öffentlichkeit. Auch für die Journalisten war es eine große Überraschung, daß sich Wehner in Bad Godesberg in dieser Weise über das Programm äußerte. Er ist der Stimmung gefolgt, die die Mehrheit vertrat, hat aber auch mit seiner starken Persönlichkeit auf sie Einfluß genommen.

Bernd Faulenbach:

Würden Sie sagen, Herr Morsey, daß sich Wehner insofern von anderen Sozialdemokraten, die auch der Führung angehörten, abhob, als er die Machtchancen der Sozialdemokratie realistischer zu beurteilen wußte?

Rudolf Morsey

Sie haben völlig recht. Nach Schumacher hat es lange keinen Sozialdemokraten gegeben, der so machtbewußt wie Wehner war. Sie sagten, Frau Miller, es sei sein Ziel gewesen, die Partei an die Macht zu bringen. Die Macht zu erringen, stellt jedoch keinen Selbstzweck, kein Endziel dar. Vermutlich sann Wehner darauf, ein sozialistisches oder sozialdemokratisches vereintes Deutschland zu formen, das von einem sozialistisch dominierten Europa umschlossen werde. Dieses Ziel gedachte er in zwei Schritten zu erreichen. Das Nahziel sah er in der Bildung einer Großen Koalition, die er lange vorausgeplant hatte, die 1966 zustande kam. Mit Hilfe einer solchen Koalition, die immer sehr lästig ist, wollte er erreichen, daß die SPD eines Tages allein regierte oder in einem Kabinett die Mehrheit bildete. Nachdem 1969 gewählt worden war, hätte Wehner lieber an einer großen Koalition als an einem sozialliberalen Kabinett, das seinem Willen zuwiderlief, festgehalten. Gleichwohl hat er sie selbstverständlich mitgetragen.

Horst Ehmke

Ich wundere mich, wie akademisch die Diskussion über einen Mann geführt wird, der so unakademisch war wie Herbert Wehner. Peter Burmester hat recht: Die Mehrheit unserer Landsleute hielt den Kommunismus für schlimmer als den Nationalsozialismus. Die Furcht des deutschen Bürgertums vor der Linken hat nicht nur unsere Geschichte, sondern auch deren Bewertung bestimmt. Niemand hat sich aufgeregt, als der Kommentator der Nürnberger Gesetze - der sie nicht gerade in einem projüdischen Sinne interpretierte - Staatssekretär bei Adenauer werden konnte. Aber Wehner wird bis heute angegriffen. Obgleich er oft verleumdet worden ist, war er keine Lichtgestalt.

Wenn wir an Wehners Jugend, an die Verhältnisse, unter denen er aufwuchs, an die Weimarer Republik denken, erstaunt es mich nicht, daß sich dieser Mann damals für das Lager der Revolution, nicht für das der Reform entschieden hat. Darüber hinaus dürfen wir auch nicht so tun, als ob die deutsche Sozialdemokratie die Erfolgsstory der Weimarer Republik gewesen sei. Der Bruch, den Wehner mit dem Kommunismus und dessen Ideen vollzogen hat, erscheint mir völlig echt. Daran habe ich überhaupt keinen Zweifel. Der Streit entzündete sich in der Partei an den Methoden. Und es waren ja nicht nur die Konservativen, die Wehner verleumdet oder kritisiert haben. Er stieß auch in der SPD auf heftigen Widerstand. Wo viel Rauch ist, ist auch viel Feuer.

Wehner stellte einen Machtmenschen dar. Hierin liegt das Problem. Er gehörte einer Partei an, die sich traditionell der Macht enthalten und sich pseudorevolutionärer Sprüche bedient hatte. Ich glaube nicht an die Theorie, die die außenpolitische Lage in den Mittelpunkt seiner Überlegungen rückt. Als er sich einer Mehrheit sicher wähnte, hat er seine Vorstellungen, wie die SPD an die Macht gelangen konnte, ausgesprochen. Ich habe diesen Machtmenschen als unglaublich erfrischend empfunden.

Das Wort Zuchtmeister wird in dem Sinne verwendet, daß er der Partei etwas aufgezwungen hätte. Einen Zuchtmeister kann es jedoch nur geben, wenn es Leute gibt, die sich züchtigen lassen. Diejenigen, die sich darüber beschweren, daß die SPD diesen Zuchtmeister akzeptiert hat, sollten sich einmal fragen, worauf es zurückzuführen ist, wenn ein solcher Zuchtmeister hingenommen wird. Ich habe mir von ihm niemals etwas bieten lassen, weshalb ich von ihm immer mit Respekt behandelt worden bin. Leute, die sich ihm beugten, verachtete er. Und er war auch autoritär.

Wie Wehner mit Brandt in Moskau umgegangen ist, war für mich unerträglich. Das war kein Ausrutscher. Wehner glaubte, Bonn erfülle die Ostverträge nicht mit Leben, nachdem es sie geschlossen hatte. Ich bin zu Brandt gegangen und habe ihm gesagt: „Wenn du jetzt nicht darauf bestehst, daß er den Fraktionsvorsitz abgibt, ist das dein Ende." Es bedeutete sein Ende. Er ist anderen Ratschlägen gefolgt. Selbst wenn Wehner recht gehabt hätte, darf man sich solcher Mittel nicht bedienen, um eine Partei zusammenzuhalten. Aber das war natürlich auch ein Bühnenstück.

Der Mann war ein Vulkan. Er war Fundamentalist geblieben, obwohl er dem Kommunismus abgeschworen hatte und überzeugter Sozialdemokrat geworden war. Ich kenne keinen anderen Politiker in Deutschland, der sich in diesem Maße für die Politik und für die Menschen eingesetzt hat wie Herbert Wehner. Aber er hatte auch Schattenseiten. Wenn er meinte, es sei unglaublich, was die Partei beschlossen habe, entschloß er sich zum Alleingang, auch zur Provokation. Aus diesem Grunde war er auch immer so umstritten in der Partei. Ich denke, wir sollten ihn nehmen, wie er war. Wir sollten in ihm einen der Großen der deutschen Politik, einen ungewöhnlichen Mann mit Licht- und Schattenseiten sehen. Diskutierten wir jedoch auf akademische Weise über ihn, täten wir ihm unrecht.

August Hermann Leugers-Scherzberg

Wir müssen herausfinden, Herr Ehmke, wie Wehner politische Entscheidungen begründete. Hierfür hat er Analysen angefertigt, die der Fraktion vorlagen. Sie waren damals deren Mitarbeiter. Ich habe mich bemüht, herauszubekommen, wie er seine Entscheidungen begründete. Sie meinen, eine akademische Debatte helfe nicht weiter. Wir müssen jedoch versuchen, so scheint mir, mit den Mitteln der Wissenschaft ein objektives Bild zu gewinnen. Jeder, der der SPD angehört, hat ein anderes Bild von Wehner. Das kann ich mir nicht erklären.

Horst Ehmke

Mir sagen Erfahrungen, die der eine oder andere mit Wehner über Jahre gemacht hat, weit mehr als Akten. Einer der großen Irrtümer der Historiker besteht darin, blind an Akten zu glauben, die zum Teil dafür geschrieben werden, daß sie hinterher in diesem Sinne ausgewertet werden.

Bernd Faulenbach

Die Historiker pflegen jedoch ironisierend selbstkritisch zu sagen: Was nicht in den Akten steht, ist nicht in dieser Welt.

Annemarie Renger

Was war Herbert Wehner für ein Mensch, was war er für ein Politiker? Wir werden es hier nicht klären, denn es ist nicht zu klären. Das möchte ich ganz einfach sagen. Ich habe ihn 1947 kennengelernt. Als ich ihn das erste Mal sah, war er mir sehr fremd und auch nicht sympathisch. Er ließ nur die an sich heran, die er an sich heranlassen wollte. Auf diese Weise ist er auch mit der Fraktion umgegangen. Diejenigen, die seinen taktischen oder strategischen Überlegungen nicht folgten, hat er heruntergemacht. Sie hat er auf eine Weise erniedrigt, daß sie sich fürchteten, noch einmal den Mund aufzumachen.

Herbert Wehner hat eine politische Erziehung erhalten, die in Maßen auch Unmenschlichkeit erlaubte oder erzwang. Eine solche Erziehung kann man wahrscheinlich nicht ablegen. Den Sozialdemokraten war sie völlig fremd; sie haben diese Sprache überhaupt nicht verstanden. Die Sozialdemokraten haben sich ein Bild von den Menschen gemacht. Und sie glaubten, es umsetzen zu können. Herbert Wehner glaubte es jedoch nicht. Im Gegensatz zu den Sozialdemokraten hielt er die Menschen nicht von vornherein für gut. Er sah, wie schlecht die Verhältnisse waren, und er wollte sie verändern, auch mit härtesten Mitteln. Diese Haltung war mir immer fremd.

Es gab Resolutionen, die hätte auch Adenauer billigen können. Sie kamen jedoch auf eine Weise zustande, die nicht immer alle verstanden haben. Und Wehner hat sich nicht einmal die Mühe gemacht, sie der eigenen Fraktion und Partei zu erklären. Weder über den Deutschlandplan noch über die Rede vom 30. Juni 1960 hat er die Fraktion oder die Partei informiert. Ich gehörte zu denen, die mit dieser Rede nichts anzufangen wußten, hatte jedoch den Eindruck, daß mit ihr das Ende der Wiedervereinigung Deutschlands eingeläutet worden sei. Dazu stehe ich noch heute. Aus der Konferenz der Außenminister und aus anderen außenpolitischen Ereignissen hat Wehner wahrscheinlich den Schluß gezogen: Die Wiedervereinigung ist entweder gar nicht oder erst in ferner Zeit auf eine ganz andere Weise zu erreichen. Daher versuchte er, für die SPD eine neue Position zu finden, sie aus der Opposition herauszuführen. Sie sollte mit der CDU, die in den letzten Jahren Adenauers ausgeblutet war, regieren, um eines Tages mehr zu überzeugen und die besseren Leute zu haben als die CDU. Wir hatten natürlich gute Leute, Erler und Brandt zum Beispiel. Wehner hat Brandt jedoch nicht für einen so großen Mann gehalten, wie er heute dargestellt wird. Das kann ich gut verstehen. Sie gingen auf ganz unterschiedliche Art und Weise an die Politik heran.

Ich hatte die große Ehre, damals Bundestagspräsidentin zu sein und die Delegation zu leiten, die nach Moskau flog. Mit den Ereignissen in Moskau bin ich bis heute nicht fertig geworden. Ich bin nicht damit fertig geworden, daß ein Mann wie Herbert Wehner nach Moskau kam und die Kommunisten vor ihm auf den Knien lagen. Da kam ein Mann, den sie eigentlich für einen Renegaten hielten. Sie sahen ihn jedoch als einen Missionar - womöglich eines neuen Kommunismus - an, der eine unbeschreibliche Autorität besaß. Nachdem Wehner die Worte über Brandt gesprochen hatte (Der Herr badet lau), glaubte ich, die Welt gehe unter und die Fraktion werde aufschreien, wenn er zurückkomme. Lediglich Rappe und eine Frau wagten es indes, sich überhaupt zu Wort zu melden. Alle anderen, auch Helmut Schmidt, der spätere Bundeskanzler, haben es hingenommen und geschwiegen. Diese Haltung ist sehr schwer zu verstehen.

Auch für Kurt Schumacher war klar, daß sich Wehner vom Kommunismus abgewandt hatte. Er blieb jedoch ihm gegenüber reserviert. Schumacher meinte, Wehner dürfe die SPD nicht führen, da er sich politischer Methoden bediene, die zur SPD nicht paßten.

Susanne Miller

Ich möchte etwas zu den Methoden sagen, deren sich Herbert Wehner bediente. Einige Monate nach dem Godesberger Parteitag sagte mir ein prominenter Sozialdemokrat: „Man kann ein sozialdemokratisches Programm nicht mit kommunistischen Methoden durchsetzen." Es entsprach einer weitverbreiteten Stimmung, daß diese Methoden dem Programm und dem Wesen der Sozialdemokratie unangemessen waren.

Wehner war kein Akademiker, in gewisser Weise jedoch ein Intellektueller. Wir müssen uns mit der Frage auseinandersetzen, was für ihn in der Politik Vorrang hatte. Was hat ihn an der Sozialdemokratie überhaupt besonders interessiert? Warum stand er treu zu ihr? Warum wollte er dieser SPD zur Macht verhelfen? Diese Fragen werden uns noch lange zusetzen, denn Wehners Weltbild ist nicht einfach darzustellen. Gewiß enthält es eine soziale und eine menschliche Komponente, gewiß wollte er den Unterprivilegierten zu ihrem Recht verhelfen. In Gesprächen mit Schumacher, an denen ich teilnahm, stellte er die Frage: „Was geschieht mit den Menschen, die in der damaligen DDR oder sowjetisch besetzten Zone leben, die von dort fliehen wollten?" Ob er der Wiedervereinigung alles andere unterordnete, weiß ich nicht. Wir müssen uns aber mit der Frage auseinandersetzen, wofür er die Macht erlangen wollte.

Rudolf Morsey

Einiges, was Sie gesagt haben, Herr Ehmke, leuchtet mir ein. Die Partei hat unter ihm ebenso gelitten wie die Union unter Adenauer. Andererseits hat Wehner unter seiner Partei gelitten, und zeitweise wollte er die Brocken hinwerfen. Für die Partei war es schwierig, ihm immer zu folgen, weil er seine Ziele nicht immer deutlich genug zum Ausdruck brachte oder zu bringen verstand. Hierin unterschied er sich von Adenauer, der vor allem in Wahlkämpfen klar sagte, was er wolle.

Frau Miller hat das richtige Wort verwendet: Er war ein Intellektueller par excellence, vermochte es jedoch seiner Klientel nicht deutlich zu machen. Es setzt doch in Erstaunen, daß ein Mann, der aus dem Arbeitermilieu stammt, eine so ungewöhnlich breite Allgemeinbildung hat, sich in der Literatur und Musik auskennt und sieben oder acht Sprachen beherrscht.

Ich möchte noch seine Religiosität in die Diskussion einbringen. Sie spielt vermutlich eine größere Rolle, als in den bisherigen Biographien angenommen wurde. Wehner hafteten hin und wieder wehleidige Züge an, und im Advent wurde er melancholisch. Wollte man Wehner auf einen Nenner bringen, müßte man ihn ein politisches Urgestein heißen. Ein Mann solcher Art muß mit seiner Umwelt in Streit geraten.

Greta Wehner

Wofür drängte Herbert Wehner nach der Macht? Meiner Meinung nach arbeitete er auf eine Große Koalition hin, um die Arbeiter mit dem Staat auszusöhnen, um eine breite Demokratie auszubilden. Allein in der Demokratie sah er die erträgliche Lebensform eines Volkes. Immer zählte es zu seinen Grundsätzen, breite Schichten der Bevölkerung für die Politik zu interessieren, sie zu bewegen, an den Wahlen teilzunehmen.

Bernd Faulenbach:

Herbert Wehner war ein leidenschaftlicher Parlamentarier, sicher auch ein großer Organisator, nicht jedoch ein Theoretiker. Gleichwohl vermochte er, konzeptionell zu arbeiten und zu denken. Hierfür spricht zum Beispiel der Deutschlandplan, den er 1958/59 entwickelt hat. Können wir in den verschiedenen Phasen der Deutschlandpolitik von einer eigenständigen Position Wehners ausgehen? Wenn wir Egon Bahr glauben, dann ist die neue Ostpolitik zunächst mehr oder minder an Herbert Wehner vorbeigegangen, und er hat erst in einer späteren Phase an ihr mitgewirkt. Offenkundig engagierte sich Wehner in den fünfziger Jahren insbesondere in der Deutschlandpolitik. Mit dem Deutschlandplan, der in der Partei nicht unumstritten war, hoffte er, auf der anderen Seite eine Reaktion hervorzurufen. In den sechziger Jahren vertrat er ebenfalls eigene Positionen, die - wie in der Folgezeit - nicht immer mit der von Willy Brandt übereinstimmten. Wie ist Wehners Rolle in den 70er Jahren zu beurteilen?

Heinrich Potthoff

Zuerst möchte ich über das Jahr 1973 sprechen. Im Frühjahr zeichnete sich ab, daß die Deutschlandpolitik ziemlich festgefahren war. Egon Bahr war zutiefst enttäuscht, da sein Versuch fehlgeschlagen war, humanitäre Dinge durchzusetzen. Michael Kohl hatte ihn hereingelegt. Er hatte Bahr eine Liste präsentiert, die in die Tat umgesetzt werden sollte, sobald die Unterschrift geleistet sei. Kohl hielt sich jedoch nicht daran.

Am 31. Mai 1973 fuhren Herbert Wehner und Mischnick nach Ost-Berlin zu Honecker, wovon Brandt lange vorher unterrichtet worden war. Dieser Besuch hat nicht nur im humanitären Bereich einen Anstoß gegeben. Er hat auch in konzeptioneller Hinsicht einen neuen Weg gewiesen: Wehner nutzte die gemeinsamen Erlebnisse im Saarland 1934 aus, um mit der Nummer eins der DDR direkt zu verhandeln. Er vermied den Umweg über Moskau, den Egon Bahr gewählt hatte. Sodann rief die Idee von Egon Bahr, das Umweltbundesamt nach Berlin zu verlegen, den entschiedenen Widerstand der Sowjetunion und der DDR hervor. Sie schalteten auf Blockade um, die sich im November 1973 in der Erhöhung des Zwangsumtausches um das Doppelte widerspiegelte. In dieser Situation legte Wehner ein Memorandum vor, nachdem er Brandt in Moskau angegriffen hatte. Der Angriff, den Wehner in Moskau gegen Brandt gerichtet hatte, weist auf die Brutalität, die seinen Methoden eigen sein konnte. In dieser Zeit leitete ihn die Überzeugung, Brandt solle als Bundeskanzler abgelöst werden. Diese Ansicht teilten viele Sozialdemokraten, die mit Brandt eng zusammenarbeiteten. Im Sommer, im Frühherbst 1973 meinten sie, er fülle sein Amt nicht mehr aus. Nachdem Wehner Brandt in Moskau angegriffen und das Memorandum vorgelegt hatte, schloß sich Brandt nicht der Position Bahrs, sondern derjenigen Wehners an. Wehner vertrat eine andere Konzeption in der Deutschlandpolitik. Über Wolfgang Vogel gedachte er, vertrauliche Kontakte zur Nummer eins der DDR herzustellen, um mit ihm zu kooperieren und etwas zu erreichen. Brandt hat diese Konzeption sogleich aufgegriffen. Viele Botschaften gingen hin und her, die Egon Bahr eigentlich auch kennen müßte. Daher vermag ich nicht zu verstehen, wie er einige Ereignisse dargestellt hat.

Bis in die achtziger Jahre hinein hatte Egon Bahr an der operativen Deutschlandpolitik keinen Anteil mehr. Seine Rolle übernahm Herbert Wehner, der über Wolfgang Vogel verhandelte und sich zunächst mit Willy Brandt, sodann mit Helmut Schmidt abstimmte. Diese Deutschlandpolitik gründete auf einen anderem Ansatz. Ihr Ziel bestand nicht darin, lange über ideologische Differenzen oder über die deutsche Nation zu debattieren, sondern auf pragmatische, nüchterne Weise die DDR zu bewegen, gegen finanzielle Leistungen der Bundesrepublik Reiseerleichterungen, einen Ausbau der Verkehrswege nach Berlin und dessen Sicherung verbindlich zuzusagen. Diese Strategie führte zum Erfolg. Deren Modell bildete sozusagen die interne Verhandlungsabsprache von 1974, wo diese Punkte festgehalten wurden: Der Mindestumtausch wird wieder zurückgenommen, und die Rentner werden von ihm befreit. Weitreichende Reiseerleichterungen treten in Kraft. Es wurde ein Ausbau der Verkehrswege nach Berlin ausgehandelt, nachdem sich die Bundesrepublik bereit erklärt hatte, den Swing nicht zu erhöhen, sondern ihn auf dem bisherigen Stand zu belassen und eine Obergrenze festzusetzen. Diese Strategie hatte zwei Seiten: Einesteils lief sie darauf hinaus, finanzielle Leistungen für Verbesserungen auf humanitärem Gebiet anzubieten; andernteils sah sie vor, nicht mehr den Umweg über Moskau zu suchen, sondern direkt mit der Nummer eins der DDR zu verhandeln. Diese Strategie wurde in den siebziger und achtziger Jahren verfolgt. Sie war erfolgreich, obwohl sich ihr Moskau und das Politbüro widersetzten. Wehner verfolgte diese Strategie, und Helmut Schmidt hielt an ihr bis 1980 fest, bis in eine Zeit, in der sich die internationalen Gegensätze verschärften, wofür Moskau die Verantwortung trug. Es kam zu den Ereignissen in Polen, und letzten Endes wurde Honecker angeschwärzt, daß er die DDR an die Bundesrepublik verkaufen wolle. Wehners „Kanalpolitik" hatte insofern einen konspirativen Charakter, als er überwiegend lediglich die Positionen der DDR referierte, ihnen jedoch nicht widersprach, als er ihnen eher Sympathie als Abneigung entgegenzubringen schien, als er den Stil und den Duktus der DDR übernahm. Allein diese Politik hat die innerdeutschen Beziehungen vorangebracht, nachdem der Grundlagenvertrag abgeschlossen worden war. 1974 war sie erfolgreich, noch mehr aber 1980, als es beinahe gelungen wäre, eine Herabsetzung des Reisealters um fünf Jahre zu erreichen.

Diese Politik widerspiegelt folglich einen völlig anderen konzeptionellen Ansatz. Insofern halte ich die Ansicht für falsch, Wehner habe nicht konzeptionell gedacht. Ziele ließen sich am leichtesten erreichen, wenn man direkt mit der Führung der DDR verhandelte, wenn man auf eine deutsch-deutsche Karte setzte, woraufhin Honecker im geheimen von einer deutsch-deutschen Freundschaft sprach. Der Ansatz von Bahr und die Strategie, die Wehner verfolgte, die Brandt und Schmidt aufgriffen, hoben sich grundlegend voneinander ab. Wehners Politik, Moskau zu umgehen und einzig mit der DDR zu verhandeln, erwies sich in dieser Zeit als am vernünftigsten und erfolgreichsten. Das Bild, das wir uns von der Ost- und Deutschlandpolitik der SPD machen, wird am stärksten von Willy Brandt und Egon Bahr, folglich von Akteuren bestimmt, die die Verträge mit Moskau und Warschau, gleichermaßen den Grundlagenvertrag zustande gebracht, die die erste Phase der Ostpolitik mehr als andere gestaltet haben. Unbewußt hat sich in unseren Köpfen festgesetzt, daß sie die einzige Art von Deutschlandpolitik gewesen sei. Die Deutschlandpolitik, die sich an deren erste Phase anschloß, die Erleichterungen zur Folge hatte, ist nicht in unser Bewußtsein gedrungen.

Bernd Faulenbach

Der Ansatz der „neuen Ostpolitik" von Brandt und Bahr läuft darauf hinaus, mit Moskau ein bestimmtes Rahmenabkommen abzuschließen, um Bewegung in die deutsch-deutschen Beziehungen zu bringen. In der Phase, auf die soeben Heinrich Potthoff eingegangen ist, hat Bahr bei den deutsch-deutschen Verhandlungen wiederum den Weg verfolgt, Verträge zustande zu bringen, während Wehner vielmehr konkrete Fragen erörterte und zu lösen versuchte. Die grundsätzliche Frage lautet jedoch: Hatte Wehner von den 50er Jahren an eine eigene Konzeption im Hinblick auf die Deutschlandpolitik? Hat Wehner, Herr Leugers-Scherzberg, durchweg den Versuch unternommen, eine besondere deutsch-deutsche Schiene herauszubilden, auch gegen Erler, der Moskau stärker einbeziehen wollte, auch gegen Brandt und Bahr? Durchzog diese Überlegung seine Politik?

August Hermann Leugers-Scherzberg

Es fällt schwer, zu entscheiden, ob es in der Deutschlandpolitik eine Kontinuität gegeben hat oder nicht. Denn deren Rahmenbedingungen haben sich von 1949 bis 1989 grundlegend verändert. In Wehners Rede vom 30. Juni 1960 spiegelten sich die Erkenntnis, daß die Wiedervereinigung für lange Zeit nicht möglich sein werde. Anfang 1960 zitierte er den amerikanischen Außenminister Herter, der gesagt hatte: „ Die Wiedervereinigung Deutschlands wird nur in Generationen zu erreichen sein." Dieses Zitat drückte Wehners Überzeugung aus. Hieran knüpft er die Idee, daß die Demokratie in der Bundesrepublik Deutschland gefestigt werden müsse, bis die Wiedervereinigung irgendwann erreicht werden könne. Ich erkenne in der Politik Wehners eine Kontinuität. Bereits 1949 tritt er in einem Memorandum für Kurt Schumacher dafür ein, mit leitenden Personen in der DDR Kontakt aufzunehmen, um auf sie im sozialdemokratischen Sinne Einfluß zu gewinnen.

Der Streit, der 1973 aufbrach, ist konzeptioneller Art. Wehner war nicht der Ansicht, daß es in der Weltpolitik ein besonderes deutsch-deutsches Verhältnis geben müsse. Er ließ sich aber von dem Grundsatz leiten: Wenn ich von einem Staat etwas will, der sich im Machtbereich der anderen Supermacht befindet, spreche ich direkt mit ihm. Folge ich diesem Grundsatz nicht, unterwerfe ich mich der Logik der Blockbildung. Ich gehe zur Vormacht und fordere sie auf, Druck auf den anderen Staat auszuüben, damit er handele. Die Logik der Blöcke vermag ich auf diese Weise nicht zu sprengen. Diese Überlegung spielt für Wehner eine entscheidende Rolle.

Dieter Pritzsche

Ich bin kein Wissenschaftler. Ich stamme aus Sachsen und habe mich immer für die Deutschlandpolitik interessiert. Das strategische Ziel von Herbert Wehner sei es gewesen, sagte Herr Professor Morsey, ein sozialistisches oder sozialdemokratisches wiedervereinigtes Deutschland in einem sozialistisch geprägten Europa zu bilden. Wenn Sie damit sagen wollten, er sei für ein demokratisches Deutschland, für die Unterprivilegierten, für die Benachteiligten gewesen, weil er dieser Gruppe selbst angehört hatte, stimme ich mit Ihnen überein. Wenn Sie jedoch Wehner unterstellen wollen, was ich aus Ihren Worten herauszuhören glaube, seine Herkunft habe in seine Deutschlandpolitik hineingespielt, schließe ich mich Ihnen nicht an.

Hartmut Soell

Von 1959 auf 1960 befand sich Wehner nicht nur mit Adenauer und der CDU sowie mit denen, die mit ihm die SPD anführten, im Wettbewerb. Er war auch Teil einer Gemeinschaft. Es gab die Frühstücksgemeinschaft, der Carlo Schmid und Fritz Erler angehörten. Sie reformierten von 1957 an in starkem Maße die Fraktion, und sie wirkten auf dem Stuttgarter Parteitag mit, die Reform der Organisation durchzusetzen. Wenn indes manche ausgeprägt linken Traditionalisten meinten, sie hätten Wehner gewählt, damit er die Partei in einem traditionell linken Sinne umforme, irrten sie sich. Ihn wählten insbesondere die jüngeren. Helmut Schmidt und andere gingen voran, um 1958 seiner Wahl zum stellvertretenden Parteivorsitzenden Bahn zu brechen. Nachdem die Spitze der Partei 1958/59 umgebildet worden war, entstanden mehrere Kommissionen, die sich mit der politischen Strategie oder der Reform der Organisation befaßten. Diejenigen, die sich mit der politischen Strategie auseinandersetzten, ihnen voran Erler und Brandt, hatten sich schon lange vor der berühmten Rede vom 30. Juni 1960 entschieden, sich mit der CDU über die Grundfragen der Außenpolitik zu einigen. Wehner hielt die Rede vom 30. Juni 1960 auch, um in diesem Wettbewerb bestehen zu können. Dieser bildete jedoch nicht den einzigen Faktor, der ihn dazu trieb. Auch die aktuelle Lage, insbesondere die Gipfelkonferenz, die im Mai 1960 gescheitert war, bewog ihn, diese Rede zu halten. Wehner fürchtete, daß das Verhältnis zwischen Ost und West den Wahlkampf im Jahre 1961 - wie 1953 oder 1957 - entscheidend bestimmen würde und es wieder gelänge, die SPD als eine Partei darzustellen, die sich Moskau besonders gern unterwürfe oder zumindest einen neutralistischen Kurs steuere, was in jedem Fall Wähler von der SPD wegtreiben würde. Auch dieser Aspekt hat Wehner bewogen, diese Rede zu halten.

Einsame Beschlüsse oder Entscheidungen, die von der Partei im nachhinein sanktioniert worden sind, hat nicht nur Wehner gefällt, sondern auch Brandt, Erler und Schmidt taten es. Die Partei mußte dann wohl oder übel folgen. Im Angesicht der Demokratie, der ungeheuren Wettbewerbssituation, in der sich die SPD anderen politischen Parteien gegenüber befand, im Angesicht des internationalen Geflechtes, dessen Teil die Bundesrepublik seit ihrer Gründung war, konnten viele Dinge nur auf diese Weise vorangetrieben werden.

Im Monnet-Komitee hat Wehner von Anfang an intensiv mitgearbeitet. Den Vereinigten Staaten, deren kapitalistischem System, nicht aber deren Demokratie, stand er ablehnend gegenüber, noch mehr als Schumacher. Die andere Seite, die Sowjetunion, stellte für ihn selbstverständlich auch einen Faktor dar. Wahrscheinlich hatte es für Wehner in den Jahren nach 1945 die größte Bedeutung, eine unabhängige, demokratische Arbeiterbewegung zu formen, ob sie nun sozialdemokratisch oder demokratisch-sozialistisch war. Für Wehner, Erler und andere - auch für mich - sind das in dieser Zeit Synonyme. Eine unabhängige Arbeiterbewegung in Westeuropa stellte eine Konstante in seinem Denken dar. Ihr folgte er, als er sich gegen die KPD und gegen den Weltkommunismus entschied. Für die Bildung einer europäischen Gemeinschaft trat er ein, weil Europa nur in dieser Form als ein selbständiger Faktor gegenüber Amerika und der Sowjetunion bestehen konnte. Für wichtig hielt er es, die demokratischen Arbeiterbewegungen in diese Gemeinschaft einzubeziehen, damit sie in ihr mitwirkten. Dieses starke Motiv hat Monnet akzeptiert, wovon seine Memoiren zeugen. Seine Bekanntschaft mit Wehner, die Zusammenarbeit mit ihm hat er in seinen Erinnerungen, die Ende der siebziger Jahre mit einer Einleitung von Helmut Schmidt erschienen sind, sehr genau und subtil beschrieben.

Klaus Schönhoven

Aus der Sicht von Betroffenen haben Horst Ehmke und Annemarie Renger das Verhältnis Wehners zur SPD beschrieben. Welches Verhältnis bestand eigentlich zwischen Wehner und der sich in den sechziger Jahren dramatisch wandelnden SPD, der Partei, die er in die Große Koalition hineingepeitscht hat? War er eigentlich ein Mann dieser neuen SPD? Ich meine, nein. Unter denen, die die berühmte Troika bildeten, hatte Wehner wohl den geringsten Zugang zu den neuen Wählerschichten, die die SPD für sich gewinnen mußte, wollte sie an die Grenze der Mehrheitsfähigkeit kommen. Er war ein Mann des Apparats, ein Mann der Disziplin, ein Mann, der nicht gern diskutierte, auch nicht in den Gremien der Partei. Ich habe gerades ein langes Protokoll gelesen, das den Parteirat im Jahre 1968 betrifft. In ihm fand eine heftige Diskussion statt, wie mit den Studenten und den Unruhen, die von ihnen ausgingen, umgegangen werden sollte. Wehner hielt eine Rede im Parteirat, in der er wenig Verständnis für den Protest der Jugend, aber auch für diese neue Partei zeigte, die erst diskutieren und dann beschließen wollte. Er stellte doch eher einen Mann dar, der machtbewußt und sendungsbewußt von oben Befehle gab und meinte, unten habe man zu parieren. Er stellte einen Mann dar, der in den siebziger Jahren dem Bild der Partei widersprach.

Rudolf Morsey

Ich bin, hat Wehner einmal gesagt, ein illegitimes Kind dieser Partei. Daher fiel es ihm schwer, sich durchzusetzen. Er hat etwas getan, was seinerzeit in diesem Staat sehr wichtig war: Er hat Demokratie nicht mit Führungslosigkeit verwechselt. Er ist vorangegangen, um in der Fraktion, im Vorstand oder in anderen Gremien Mehrheiten zu gewinnen. Hier sehe ich eine vernünftige Entwicklung, die allerdings nicht von allen Politikern zu erwarten ist.

Die Wehner-Forschung steht in der Tat erst am Anfang. Aber im Verlauf der letzten Jahre ist Erler arg in den Hintergrund getreten. Es ist erstaunlich, wie sehr die Erinnerung an einzelne Persönlichkeiten, an einzelne Epochen für eine Zeit zurückgedrängt wird. Tagungen wie die, die wir heute abhalten, dienen dazu, an sie wieder zu erinnern und auch eine Verbindung von Wissenschaft und Zeitzeugen herzustellen. Daß Historiker stärker auf schriftliche Quellen rekurrieren, ist selbstverständlich. Sie lassen sich aber, was auch heute deutlich geworden ist, durchaus korrigieren.

Bernd Faulenbach

Ist Wehner in den sechziger und siebziger Jahren ein Vertreter der modernen, offenen SPD oder vielmehr ein Repräsentant der alten Arbeiterpartei?

Susanne Miller

Wehner hatte, glaube ich, Zugang zu den Schichten, die infolge des Godesberger Programms gewonnen wurden, zu Schichten, die religiös gebunden waren. Und er zog sie auch an. Zu jungen Rebellen fand er jedoch keinen Zugang, ebensowenig zu der sich emanzipierenden Frauenbewegung. Sie waren ihm ziemlich fremd. Die Ansprüche und die Forderungen von Frauen, die mit ihrer traditionellen Rolle unzufrieden waren, haben bei Wehner gar keine Resonanz gefunden.

Ich glaube, wir sind uns alle einig: Die Wehner-Forschung bleibt ein Desiderat. Es gibt lediglich Ansätze. Wir dürfen Herbert Wehner nicht von den zahlreichen Intellektuellen absondern, die vorübergehend Kommunisten waren, die in der Kommunistischen Partei mitgemacht haben und deren Leben von diesen Erfahrungen geprägt worden ist. Es bedarf eines großen psychologischen Einfühlungsvermögens, um die innere Verfassung und Verletztheit dieser Menschen verstehen zu können. Ich kannte Arbeiter, die zeitweise Kommunisten waren. Als ihnen die Gewerkschaftspolitik der Kommunisten nicht mehr paßte, traten sie in die SPD oder in irgendeine der Gruppen über, die damals bestanden. Die Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei, so schien mir, hatte sie im Innern nicht berührt. Intellektuellen, nachdenklichen, sensiblen Menschen hingegen ging sie nahe. Am meisten beeindruckte mich die Rede, die Wehner zum Andenken an Leo Bauer gehalten hat. Ich spürte, daß er nicht nur eine Rede für Leo Bauer hielt, der in der Todeszelle mit Kommunisten zusammengesessen hatte, später zur SPD übertrat und in ihr eine Rolle spielte. Sie betraf ihn auch selbst. Jedem, der sich mit Herbert Wehner intensiv beschäftigt, rate ich, diese Rede aufmerksam zu lesen und über sie nachzudenken.

Bernd Faulenbach

Auf die Persönlichkeit Herbert Wehners, auf dessen Bescheidenheit, konnten wir nur wenig eingehen. Worauf führen Sie, Herr Leugers-Scherzberg, dessen Charisma, dessen Ausstrahlung zurück?

August Hermann Leugers-Scherzberg

Wir könnten noch lange diskutieren, würden uns jedoch nicht auf ein einheitliches Bild Wehners einigen können. Es gibt viele Bilder Wehners. Ein amerikanischer Biograph hat einmal geschrieben: „Wehner, das ist das fortwährende Faszinosum." Niemand vermochte sich so recht ein Bild zu machen, was diesen Menschen ausmachte. Wehner blieb so für viele ein Geheimnis. Das Geheimnisvolle an ihm machte einen wesentlichen Teil seines Charismas aus.

Bernd Faulenbach

Im allgemeinen sind wir Historiker nicht darauf bedacht, Mythen zu pflegen. In der Diskussion ist deutlich geworden, daß Wehner eine außerordentlich vielschichtige Persönlichkeit war.

Er war ein Mann, den Tatkraft und Machtwillen auszeichneten. Mehr als andere Sozialdemokraten war er ein Realist, der die Wirklichkeit zu verstehen suchte, um auf ihr seine Politik zu gründen.

Er war, wie mir scheint, vor allem auch ein Mann des sozialen Engagements. Er bemühte sich, Menschen konkret zu helfen, was seiner Anspruchslosigkeit entsprach.

Das deutsch-deutsche Verhältnis, die Zukunft Deutschlands und die Wiedervereinigung standen über Jahrzehnte im Mittelpunkt seiner Politik.

Wehner hatte jedoch auch Schattenseiten. Nicht selten bediente er sich autoritärer Methoden, um Ziele durchzusetzen. Indem er solche Mittel wählte, unterschied er sich von vielen Sozialdemokraten.

Aufs Ganze gesehen haben wir es mit einer ungewöhnlich farbigen Persönlichkeit zu tun; Persönlichkeiten seiner Art finden wir heute in der politischen Landschaft unseres Landes nur noch selten.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-bibliothek | 8.1. 1998

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