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[SOZIAL- UND ZEITGESCHICHTE]
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II. Streitpunkte

Nicht zu allen Themenkomplexen, über die Nolte in seinem jüngsten Buch gegenwärtige und zukünftige Kontroversen ausgemacht hat, liegen neuere Arbeiten vor, die sich dem Umfeld Noltes zuordnen (lassen). Und nicht alle der nachfolgend näher betrachteten Studien beziehen sich explizit auf die Forschungen oder Thesen Noltes. Während Untersuchungen zur Frage nach dem „kausalen Nexus" von bolschewistischem „Klassenmord" und nationalsozialistischem „Rassenmord" (1) sowie zur Annahme, der Nationalsozialismus sei primär eine Reaktion auf den Kommunismus gewesen (2), direkt von Noltes Arbeit angestoßen wurden, ist die Frage nach dem Modernisierungs-Potential des Nationalsozialismus (3) von Nolte aufgegriffen worden, ohne daß er selbst einen entscheidenden Forschungsbeitrag dazu geleistet hat; allenfalls zu vermerken ist, daß manche der auf diesem Gebiet tätigen Historiker und Politikwissenschaftler vom methodischen Zugriff Noltes, von der phänomenologischen Methode, angeregt wurden, was natürlich auch die Argumentationsweise und die Ergebnisse der Forschung beeinflußte.

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1. Nationalsozialistischer „Rassenmord" als Antwort auf den bolschewistischen „Klassenmord"

Wie gesagt, Noltes Werk kreist um die These, der Nationalsozialismus sei nur als Antwort auf den „jüdischen Bolschewismus", der „Rassenmord" sei nur als Antwort auf den „Klassenmord" zu erklären und zu verstehen. Gerade diese für Nolte so zentrale These hat in der wissenschaftlichen Literatur nur begrenzte Zustimmung, vielfach aber Kritik gefunden.

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Weitestgehend auf der Linie Noltes liegt die Argumentation Klaus Hornungs. In seiner Bilanz des totalitären Zeitalters schlägt er den Bogen von der „Diktatur der Jakobiner" („Das Wetterleuchten") über Karl Marx und den „kommunistischen Messianismus" („Die Saat") zu Lenin („Die Grundlegung") und Stalins „totalitärer Despotie („Die Perfektion"), dergegenüber „Hitler und der Nationalsozialismus" als „Gegen- und Nachbild" eingestuft werden. Auch mit der Interpretation des Krieges als „Konfrontation der beiden Parteistaaten", mit dem Bild der beiden Offensiven, die aufeinander gestoßen seien und dem Hinweis auf die Mitverantwortung Stalins am Zweiten Weltkrieg wie insgesamt mit dem Interpretament des Europäischen Bürgerkriegs zeigt sich Hornung stark von den Arbeiten Noltes beeinflußt. [Klaus Hornung , Das totalitäre Zeitalter, S. 249 u. S. 259.]

Während Hornung eine Gesamtschau auf den Spuren Noltes bietet, verspricht die Arbeit Enrico Syrings zu Hitlers „politischer Utopie" [Enrico Syring , Hitler. Seine politische Utopie.] eben als Dissertation neue Ergebnisse. Das ist denn auch der Grund dafür, dieses Buch - unabhängig von seiner wissenschaftlichen Bedeutung - hier eingehender zu betrachten.

Laut Rückseite des Buchumschlags versucht mit Syring „ein Historiker der jüngeren Generation [...] unter Rückgriff auf alle relevanten Quellen erstmals, Hitlers Weltanschauung in allen ihren Facetten zu rekonstruieren". Und im Klappentext wird ebenso vollmundig versprochen: Die Studie „[zwingt] zu einer Korrektur lang gepflegter Vorurteile und Legenden [...], insbesondere auch zu einer Neubewertung der Bedeutung Hitlers im nationalsozialistischen Herrschaftssystem" - was immerhin verblüffend ist, behandelt die Studie doch nur die Zeit von 1924 bis 1933. Und schließlich wird das Buch als ein „wichtiger Beitrag zur Hitler-Forschung und zu der vielfach geforderten ‘Historisierung’ des Nationalsozialismus" vorgestellt. So beruft sich der Verlag auf Forderungen, zu deren Verbreitung er selbst maßgeblich beigetragen hat.

Wird man diese Ankündigungen den Werbe- und Vermarktungsstrategien des Verlages zuordnen können, so paßt sich Syring mit seinen einleitenden Bemerkungen diesen jedoch weitgehend ein. Da wird betont, „wohlwollende ältere Kollegen" hätten ihm „des öfteren" abgeraten, dieses „heikle" Thema zu bearbeiten. [Ebd.,S. 11.] Und Syring selbst betont: Eine solche Arbeit laufe „Gefahr, von allen Seiten Kritik auf sich zu ziehen, wenn sie an gängigen Vorstellungen rüttelt. Dennoch" - so Syrings mannhaftes Bekenntnis, nachdem er sich und seine Arbeit solchermaßen gegen Kritik immunisiert hat - „soll dieser Schritt gewagt werden." [Ebd.,S. 12.]

Daß Mut notwendig sei, sich diesem Thema zu nähern, dürfte weniger am Thema selbst als am geradezu naiv anmutenden Zugriff liegen, will Syring doch eine Arbeit vorlegen, „die schlicht fragt, welche Anschauung von der Welt und welche politischen Ziele Hitler vor seinem Machtantritt am 30. Januar 1933 formulierte". [Ebd., S. 12.]

Wie sieht nun das methodische Rüstzeug aus? Dazu Syring: „Diese Arbeit versteht sich als Beitrag zur ‘Historisierung’ - das heißt zu einer nüchtern-sachlichen und differenzierten Betrachtung - des Nationalsozialismus. Es geht nicht darum, eine bereits vorgefaßte Meinung anhand einzelner, aus dem Zusammenhang gerissener Zitate" - wer hätte je ein solches Verfahren befürwortet? - „zu belegen. Vielmehr soll unter Rückgriff auf möglichst alle relevanten Quellen zu demonstrieren versucht werden, wie sich einer der wirkungsmächtigsten utopischen Entwürfe unseres Jahrhunderts aus sich selbst heraus darstellt." [Ebd., S. 14.] Da Syring „der Überzeugung ist, daß die Ideen und Vorstellungen Hitlers bereits entlarvend genug sind, unterblieb in der Regel eine wertende, d.h. moralisierend verurteilende Kommentierung des Dargestellten." [Ebd.,S. 300.]

Mit diesen Bemerkungen knüpft Syring direkt an Noltes phänomenologische Methode an; zugleich gliedert er sich ein in die Bemühungen um die „Historisierung" des Nationalsozialismus, und zwar mit dem Aufbau eines Papp-Kameraden, der sich - mit dem Gestus sachlicher Wissenschaftlichkeit - trefflich umstoßen läßt: „Trotz des gewaltigen Wissens, das die historische NS-Forschung in den letzten Jahrzehnten angesammelt hat, wird die öffentliche Darstellung der Jahre 1933 bis 1945 noch immer von Schlagworten und plakativer Schwarzweiß-Malerei beherrscht. Der immer neue Hinweis darauf, wie schlimm und verbrecherisch jene Epoche war, ist zweifellos berechtigt. Allerdings genügt er nicht, wenn es zu erklären gilt, wie geschehen konnte, was geschah. Dazu bedarf es vielmehr einer bewußten Entemotionalisierung dieses Themas, die auf karge Sachlichkeit zielt." [Ebd.,S. 15.]

Ganz abgesehen davon, daß Syring sich „seine" Forschungslücke dadurch öffnet, daß er die bisherige Forschung entweder nicht wahrnimmt oder mit pauschaler Ablehnung beiseite schiebt, scheint er mit seinen selbstbewußten Ankündigungen einer breiten Perspektive das Wort zu reden, mit der das Bedingungsgeflecht analysiert werden soll, das den Aufstieg des Nationalsozialismus ermöglichte; doch stattdessen folgt eine Reduktion der Fragestellung: „Der Gegenstand der Betrachtung soll möglichst für sich selber sprechen, um zu verhindern, daß etwas in ihn hineininterpretiert wird, was nicht in ihm angelegt ist." [Ebd.,S. 16.] Ausdrücklich bekennt sich Syring zur „methodischen Leitlinie" von Ernst Nolte, der „Phänomenologie": „Das ‘intellektuelle Kapital’, das Hitler Ende Januar 1933 in sein Kanzleramt einbrachte, sollte so rekonstruiert und erklärt werden, wie es sich ‘von sich aus’ darstellte. Einem nur konstatierendem Beschreiben war damit ebenso zu entsagen, wie einer von außen an die ‘Materie’ herangetragenen Kritik." [Ebd.,S. 297.]

Beschränkt sich Syring auch auf die Präsentation von Hitlers Weltanschauung, ohne deren Inhalt mit der historischen Entwicklung und der nationalsozialistischen Politik zu konfrontieren, so bietet er innerhalb dieser begrenzten Fragestellung eine breite und oftmals differenzierte Darstellung: Nachdem er Hitlers Weltbild skizziert hat, rekonstruiert Syring Hitlers politische Anschauung in drei großen Kapiteln, zunächst das Geschichtsbild, dann das Gegenwartsbild und schließlich den Zukunftsentwurf.

Von der Vielfalt der Problemkreise, die Syring behandelt, soll hier nur die Frage nach dem „kausalen Nexus" vom Bolschewismus und Nationalsozialismus genauer betrachtet werden. Schon in der Einleitung geht Syring auf diesen Punkt ein. Kaum daß er die Pose des Tabu-Brechers eingenommen hat, formuliert er eine eher „konventionelle" Erkenntnis: „Um es vorwegzunehmen: Hitlers Wahrnehmung war grundsätzlich von rassenideologischer Verzerrung geprägt. Ein nicht unerheblicher Wirklichkeitsverlust war mithin unausweichlich." Das ist zum einen gewiß kein Bruch eines Tabus, wenn es denn in der gegenwärtigen Geschichtswissenschaft überhaupt welche gibt, und zum anderen zugleich eine Abgrenzung von Noltes Anti-Bolschewismus-These. Aber ähnlich wie bei Nolte wird das eben gefällte Urteil sogleich relativiert: „Doch kann man gleichwohl nicht behaupten, daß seine [Hitlers] Beobachtungen und Einschätzungen völlig aus der Luft gegriffen waren." Und Syring fährt nun positiv gewendet fort: „Es ist vielmehr geradezu frappierend, in welchem Maße sie besonders auf die publizistische Widerspiegelung der politischen Entwicklungen seiner Zeit zurückgingen." Das führt zu der keineswegs erstaunlichen Erkenntnis: „Hitler war durchaus ein wacher Beobachter seiner Gegenwart, wenn er die Ereignisse auch durch die ‘Brille’ seiner rassenideologischen Zwangsvorstellungen verzerrt wahrnahm." [Ebd.,S. 13.]

Mag man in der Betonung der „rassenideologischen Zwangsvorstellungen" auch eine gewisse Distanzierung von Noltes Thesen, die ja gerade den Zusammenhang von Antibolschewismus und Antisemitismus hervorheben, erkennen können, so gliedert Syring seine Studie doch wenig später behutsam in den von Nolte vorgegebenen Zusammenhang ein: „Der Bolschewismus war die zentrale Herausforderung, auf die Hitler unter - vielleicht unbewußter - Anlehnung an dessen formales Motivationsgefüge eine subjektive Antwort formulierte, die von der überwiegenden Mehrheit der deutschen Bevölkerung, wenn wohl auch nicht in dieser Radikalität, geteilt wurde." [Ebd.,S. 13f.]

Zwar hält auch Syring es für zweifelsfrei erwiesen, daß Hitler „bereits vor dem Ende des Ersten Weltkrieges Antisemit war". [Ebd.,S. 109.] Doch zugleich betont er, daß der „Antimarxismus bzw. Antibolschewismus [...] eine von Hitler unabhängig von allen Schwankungen der politischen Konjunktur in höchst eigener Akzentuierung durchgängig verfochtene Auffassung" gewesen sei. [Ebd.,S. 133.] Und dann - recht vorsichtig - vermutet Syring: „Hitler verstand seine ‘Bewegung’ somit aller Wahrscheinlichkeit nach in der Tat als ‘totalen Gegenstoß’ gegen die kommunistische Idee, sah sich in der ‘strategischen Defensive’ gegenüber den Trägerorganisationen dieser Ideologie." [Ebd.,S. 208.]

Wie aber interpretiert Syring den von Nolte konstatierten Zusammenhang von Antibolschewismus und Antisemitismus? Nach einer Rekonstruktion von Hitlers Bolschewismus-Bild kommt Syring dann zu dem Ergebnis: „Folglich mag, zumal angesichts der zahlreichen einschlägigen Hitler-Äußerungen, der Schluß gerechtfertigt sein, daß Hitler tatsächlich auch sich selbst als vom ‘jüdischen Bolschewismus’ mit dem Tode bedroht ansah. Mithin dürfte [...] die Furcht vor der kommunistischen Revolutionsdrohung für Hitler sehr wohl eine nicht unerhebliche Rolle gespielt haben." [Ebd.,S. 160.] Weiter unten heißt es: „Zudem ging für ihn [Hitler] von den ‘jüdischen Drahtziehern des Marxismus’ eine unmittelbare physische Bedrohung für jene Gruppierung aus, der er sich persönlich zurechnete." [Ebd.,S. 208.]

Für Syring ist offenbar der Rassismus - anders als für Nolte - das zentrale Motiv für Hitlers Handeln. Hitlers Weltanschauung war - so betont Syring - „grundsätzlich" vom Rassismus durchdrungen. [Siehe ebd., S. 268.] Aber bei der Verknüpfung von Antibolschewismus und Antisemitismus kommt Syring den Thesen Noltes doch recht nahe. In einem „auf die subjektive Vorstellungswelt Hitlers vor 1933 bezogenen Sinne" gibt er Nolte „durchaus recht, wenn [dieser] substantiell die These formuliert, Hitler habe - ursprünglich, so wäre hier noch zu betonen - aus einer Situation der ‘putativen Notwehr’ heraus gleichsam einen ‘Präventiv-Mord’ gegen die Juden in Deutschland gedacht." Syring rückt diesen Hinweis indessen in - allerdings nicht analysierte - größere Zusammenhänge, wenn er betont, daß „Hitlers persönliche fixe Idee allein nicht ausreicht, um den späteren tatsächlichen, millionenfachen Massenmord an den europäischen Juden im Zweiten Weltkrieg zu erklären." [Ebd., S. 269; Hervorheb. im Original.]

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Daß die zentrale These Noltes vom Zusammenhang von Antibolschewismus und Antisemitismus eine Herausforderung, eine Provokation darstellte, spiegelt sich auch in einer Reihe von Beiträgen im Sammelband zur „Historisierung des Nationalsozialismus" und in der „Festschrift zu Noltes 70. Geburtstag".

Zunächst ist - mit einem Aufsatz von Eckehard Jesse - darauf hinzuweisen, wie sehr sich die Position Noltes von den 1960er zum Ende der 1970er Jahre geändert hat: 1963, in seinem Buch „Der Faschismus in seiner Epoche", hat Nolte die nationalsozialistische „Rede vom Kampf der Weltanschauungen von Anfang an [als] verlogen" zurückgewiesen. Er stützte sich dabei auf eine Aussage von Alfred Rosenberg, der eingeräumt hatte, es gehe den Nationalsozialisten nicht um einen „Kreuzzug" gegen den Bolschewismus, sondern um deutsche Weltpolitik. [Siehe Ernst Nolte , Der Faschismus in seiner Epoche. Action Française - Italienischer Faschismus - Nationalsozialismus, 6. Aufl., München 1984, S. 436 (1. Aufl. 1963), zitiert nach Eckhard Jesse , Ernst Noltes Totalitarismusverständnis zwischen Kontinuität und Wandel, in: T. Nipperdey u.a. (Hrsg.), Weltbürgerkrieg, S. 216-232, hier S. 223f.] Nun ist es ja nicht ehrenrührig, seine Meinung zu ändern, aber ein solcher Wandel ist - wenn er derart deutlich ausfällt und apodiktisch vertreten wird - doch bemerkenswert.

Und bemerkenswert ist auch, daß sich Hinweise auf Noltes „neue" Position bereits Jahre vor der Auslösung des „Historikerstreits" finden. Schon 1979 hatte Nolte mit dem ihm eigenen apodiktischen Sprachgestus erklärt, es unterliege „keinem Zweifel, daß Auschwitz nicht das Resultat von ‘Rassenhaß’, sondern die extremste Gestalt des Antikommunismus war." [Siehe Ernst Nolte , Antikommunismus. Gestern - heute - morgen?, in: ders. , Was ist bürgerlich? und andere Artikel, Abhandlungen, Auseinandersetzungen, Stuttgart 1979, S. 80, zitiert nach E. Jesse, Ernst Noltes Totalitarismusverständnis, S. 225. Nolte weist im übrigen selbst (Das Vergehen, S. 11) auf die lange Vor- bzw. Entwicklungsgeschichte seiner aktuellen Thesen hin.] Daß diese These damals offenbar weitgehend unbeachtet blieb, mag mit der Unaufmerksamkeit der Historiker und Politologen zusammenhängen, deutet aber wohl eher auf eine in den 1980er Jahren erhöhte (politische) Sensibilität hin, was die Frage der Interpretation der nationalsozialistischen Vergangenheit anlangt.

Nun aber zu den Aufsätzen, die sich ausdrücklich mit den Thesen Noltes auseinandersetzen. Wie gesagt, findet Nolte Fürsprecher, wenn auch in modifizierter Form. So begrüßt François Fédier, Nolte habe den „zutiefst reaktiven Charakter" des Nationalsozialismus herausgearbeitet. Doch er fügt an: „Daß der Nationalsozialismus seiner Grundhaltung nach ein Antibolschewismus ist, hindert ihn doch keineswegs daran, auch das große Sammelbecken aller reaktionären Ideologien zu sein." [François Fédier , Mißtrauen und Kritik, in: T. Nipperdey u.a. (Hrsg.), Weltbürgerkrieg, S. 277-303, hier S. 293; Hervorh. im Original.]

Ganz anders Imanuel Geiss: Seiner Meinung nach ist die „von Nolte suggerierte oder behauptete Gleichung - GULag vor Auschwitz, also GULag kausal mit Auschwitz verknüpft - wissenschaftlich unbrauchbar und führt auf die schiefe Ebene aufrechnender Apologie". [Imanuel Geiss , Massaker in der Weltgeschichte. Ein Versuch über die Grenzen der Menschlichkeit, in: U. Backes u.a . (Hrsg.), Die Schatten, S. 110-135, hier S. 123.]

Auch Helmut Fleischer setzt sich von der These Noltes ab, der Nationalsozialismus sei im wesentlichen als Antibolschewismus zu verstehen. Nicht die bolschewistische Revolution sei das den Nationalsozialismus auslösende Schlüsselerlebnis, sondern eher die deutsche Kriegsniederlage. Auch vermag er keinen kausalen, wohl aber einen „innerlichen" Nexus zwischen Nationalsozialismus und Bolschewismus zu erkennen, der darin besteht, daß beide Ideologien bzw. Systeme aus dem Kraftfeld des Ersten Weltkriegs stammen. [Helmut Fleischer , Eine hisorisierende Betrachtung unseres Zeitalters. Zur Notwendigkeit einer epochenübergreifenden Betrachtung von Weltkrieg, Sowjetrevolution und Faschismus, in: U. Backes u.a. (Hrsg.), Die Schatten, S. 58-82, hier S. 77f.]

Demgegenüber kommt Hermann Lübbe in seinen Überlegungen zur Besonderheit des Mords an den europäischen Juden ohne das Motiv des Antibolschewismus aus. Für ihn ist klar, daß der Antisemitismus für die Ideologie der NSDAP „integral" war. [Hermann Lübbe , Terror. Über die ideologische Rationalität des Völkermords, in: T. Nipperdey u.a. (Hrsg.), Weltbürgerkrieg, S. 304-311, hier S. 307.] Auch bemüht er nicht - wie Nolte - die „Humanität" des Gasmords, um das Einzigartige an der „Endlösung der Judenfrage" herauszuarbeiten. [Siehe E. Nolte , Streitpunkte, S. 398.] Lübbe geht es um die Klärung der spezifischen Rationalität des Massenmords an den Juden. Zunächst einmal stellt er fest: „Unzweifelhaft also hat der Völkermord seine technische, sogar wissenschaftlich-technische, organisationstechnische und psychotechnische Rationalität. Ohne Perfektionierung dieser Sorte von Rationalität wäre er nicht vollziehbar gewesen." [H. Lübbe , Terror, S. 305.] Auf den Krieg und die Kriegführung bezogen, war der Völkermord jedoch „unzweifelhaft irrational". Aber: „Was kriegstechnisch-strategisch gesehen irrational war, hatte doch seine höhere ideologische Rationalität, und einzig aus der ideologiepolitischen Dominanz dieser Rationalität läßt sich erklären, daß ausgerechnet mit der Wende des Krieges zuungunsten des Deutschen Reiches die nationalsozialistische Führung ihre Anstrengungen mehrte, doch wenigstens noch das rassenhygienische Menschheitsreinigungswerk für den europäischen Teil der Menschheit zu vollenden." [Ebd.,S. 305.] Unter diesem Aspekt war der Massenmord also Handeln nach Vorgabe „höherer Zwecke", d.h. es war Ausdruck „höherer Zielgewißheit" [Ebd., S. 307f.] , sahen sich „gläubige Nationalsozialisten" doch als Vollstrecker einer „vermeintlichen Einsicht in die naturgeschichtsgesetzliche Bestimmtheit der Kulturgeschichte durch Rassenkämpfe." [Ebd., S. 309.]

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Nicht nur die Identifizierung von Antibolschewismus und Antisemitismus gab Anlaß zur Kontroverse. Auch die Annahme Noltes, beim Angriff auf die Sowjetunion habe es sich - aus der Sicht Hitlers - um einen Präventivkrieg gehandelt, ist heftig bestritten worden.

So hält Manfred Messerschmidt Nolte entgegen, „die Einschätzung des sowjetischen Systems bei führenden Nationalsozialisten [sei] zeitweise [...] durchaus nicht einheitlich" gewesen. [Manfred Messerschmidt , Nationalsozialismus und Stalinismus. Modernisierng oder Regression?, in: B. Faulenbach/M. Stadelmaier (Hrsg.), Diktatur, S. 87-95, hier S. 88.] Bis 1939 habe die UdSSR im außenpolitischen Programm Hitlers eine untergeordnete Rolle gespielt. Auch könne nach Messerschmidts Ansicht „keine Rede davon sein, daß ideologisch verankerte Feindschaft oder Furcht vor einem kommunistischen Umsturz eine Beschleunigung deutscher Aggressionsabsichten provoziert hätten. Der Nationalsozialismus der ‘Kampfzeit’ hat sich mit dem Kommunismus auseinandergesetzt, aber selbst damals zeugte die Strategie der legalen Eroberung der Macht nicht von Sorge vor einem Umsturz." [Ebd.,S. 89. Siehe dazu den Kurzbericht von Bianka Pietrow-Ennker (Es war kein Präventivkrieg, in: Die Zeit Nr. 9 vom 24.2. 1995) über die Internationale Militärhistorische Konferenz in Moskau vom Februar 1995.]

Daß Noltes Sichtweise im Grunde auf einer Reduktion der historischen Komplexität beruht, sieht er doch mit Bolschewismus und Nationalsozialismus bzw. Sowjetunion und „Drittem Reich" nur zwei Akteure auf der weltpolitischen Bühne, wird implizit in Bernd-Jürgen Wendts differenzierter Analyse der komplexen Ursachen des Kriegsbeginns im September 1939 deutlich. [Siehe Bernd-Jürgen Wendt , Durch das „strategische Fenster" in den Zweiten Weltkrieg. Die Motive Hitlers, in: U. Backes u.a. (Hrsg.), Die Schatten, S. 344-374.] Schließlich, so muß - die Thesen Noltes relativierend - vergegenwärtigt werden, begann Hitler „seinen" Krieg nicht mit dem Angriff auf die Sowjetunion; vielmehr zeigten sich bei der Auslösung des Krieges expansiver Nationalismus, auch Antiliberalismus und anti-westliches Ressentiment zusammen mit dem Antibolschewismus, in den indessen ältere antirussische, antislawische und antiasiatische Feindbilder einflossen. [Siehe dazu Hans-Erich Volkmann (Hrsg.), Das Rußlandbild im Dritten Reich, Köln, Weimar/Wien 1994.]

Die Arbeiten Noltes bieten also mit dem Blick auf das Verhältnis von Nationalsozialismus und Bolschewismus keineswegs nur die Erweiterung einer allzu Deutschland-zentrierten Perspektive, sondern zugleich eine deutliche Verengung des Problemhorizonts. Denn, wenn man, wie Nolte, das Verhältnis von Nationalsozialismus und Bolschewismus in den Mittelpunkt des „Europäischen Bürgerkriegs" stellt, blendet man aus, daß der Krieg nicht nur, nicht einmal zuerst gegen die Sowjetunion geführt wurde; daß im nationalsozialistischen Machtbereich nicht nur die Kommunisten, sondern alle politischen Gegner verfolgt wurden; daß nicht nur die Ermordung der kommunistischen Juden, sondern aller Juden betrieben wurde; und daß nicht nur Juden, sondern auch Sinti und Roma, Geisteskranke und Homosexuelle ermordet wurden.

So kann man sagen, der Antibolschewismus war ein konstitutives, aber nicht das konstitutive Element der Ideologie des Nationalsozialismus, die - diesen Befund konnte Nolte mit seinen Thesen allenfalls verdunkeln, indessen nicht vergessen machen - ein Gemisch höchst unterschiedlicher Elemente bot.

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2. Der Nationalsozialismus als Antwort auf den Kommunismus?

Interpretiert Nolte den Nationalsozialismus im wesentlichen als Antwort auf den Bolschewismus, so rückt damit - bezogen auf die konkrete Konfrontationssituation in Deutschland - zugleich das Verhältnis von NSDAP und KPD ins Blickfeld. Dieses Problem ist denn auch Thema der 1993 bei Nolte entstandenen Dissertation von Christian Striefler, die - ganz auf den Spuren Noltes - die Geschichte der Weimarer Republik auf den „Kampf um die Macht" [Siehe Christian Striefler , Kampf um die Macht.Kommunisten und Nationalsozialisten am Ende der Weimarer Republik.] zwischen Kommunisten und Nationalsozialisten verengt. Damit verbunden findet sich in der Arbeit Strieflers eine Reihe typischer Elemente des „phänomenologischen" „Historisierungs"-Ansatzes, die erst eine - dem wissenschaftlichen Ertrag der Studie nicht angemessene - ausführliche Betrachtung offenlegt.

Schauen wir zunächst auf den Klappentext, der nicht nur über die Person des Autors - Striefler war Forschungsassistent bei Prof. Michael Wolffsohn (Universität der Bundeswehr in München) und ist seit 1992 Grundsatzreferent im Büro des sächsischen Innenministers Heinz Eggert - Aufschluß gibt, sondern Hinweise auf schon bekannte Elemente der Selbststilisierung bietet: Zunächst wird kritisiert, daß der „Kampf von Kommunisten und Nationalsozialisten am Ende der Weimarer Republik um die Macht in Deutschland [...] bis heute nicht vorurteilsfrei dargestellt worden" sei. So korrigiere „Striefler die bisherige Geschichtsschreibung, die dazu neigt, die Rolle der KPD zu verharmlosen." Und weiter heißt es: „Aber auch die Politik der NSDAP wurde oft einseitig interpretiert. Daß sich die NSDAP ebenso wie die KPD als revolutionäre Kraft verstand, der es um die Gewinnung der Arbeiterschaft ging, ist eine Einsicht, die sich in der historischen Forschung erst langsam durchzusetzen beginnt." Demgegenüber nehme der „Autor den sozialistischen Anspruch der NSDAP ernst: ‘Nationaler Sozialismus’ war", so wird behauptet, „mehr als nur eine Phrase - und keineswegs ein bloßer Propagandatrick." Und resumierend heißt es auf der Buchrückseite: „Diese Studie stellt einen entscheidenden Beitrag eines jüngeren Historikers zu der notwendigen Historisierung des Nationalsozialismus dar."

Sehen wir einmal vom offenbar als erfolgsträchtig geltenden Standard-Repertoire von Adjektiven (entscheidend, jüngerer, notwendig) ab, so fällt auf, daß durch die Beschreibung der Fragestellung die Konfliktlinien der geschichtswissenschaftlichen Debatte auf eine bemerkenswerte Weise, die mit dem phänomenologischen Zugriff zusammenhängt, verschoben werden: Gestritten wird ja nicht darum, ob sich die NSDAP als revolutionär verstand, sondern darum, ob sie es faktisch war; und gestritten wird auch nicht darum, ob die NSDAP beanspruchte, eine sozialistische Partei zu sein, sondern darum, ob dieser Anspruch durch konkrete politische Maßnahmen nachvollziehbar umgesetzt wurde.

Diese Problematik ist offenbar auch Striefler nicht verborgen geblieben, doch souverän klammert er sie aus seiner Analyse aus: „Nun ließe sich darüber streiten, ob Hitlers Vorstellungen von Sozialismus überhaupt sozialistisch genannt werden können oder ob man nicht lieber von Pseudosozialismus sprechen sollte. [...] Entscheidend für unseren Zusammenhang ist jedoch, wie sich die Partei und ihr Führer empfanden und welchen Anklang die sozialistische Propaganda bei denen fand, für die sie bestimmt war. Nach Hitlers Vorstellung war die Partei 1930 sozialistisch ausgerichtet. Er selbst empfand sich ohnehin als Sozialist [...]." [Ebd., S. 71f.] Damit erübrigen sich für Striefler alle ansonsten erforderlichen Begriffserklärungen - was heißt z.B. Sozialismus, wenn SPD, KPD und NSDAP diesen Begriff verwenden? - wie aufwendige Analysen der nationalsozialistischen Politik, um gegebenenfalls die Unterschiede von Propaganda und Praxis oder die Rezeption der Propaganda zu beleuchten.

Mögen die Texte auf den Buchumschlag, wie gesagt, eher Aufschluß über die Vermarktungsstrategien des Verlages geben, so fällt doch auch in diesem Falle die Nähe dieser vollmundigen Ankündigungen zu den Ausführungen im Text auf. So beklagt Striefler: „Eine unparteiliche, vorurteilslose Arbeit, die die Wechselwirkungen zwischen den Radikalparteien mit der notwendigen Distanz aufzeigt, ohne in jedem zweiten Satz Schuldvorwürfe zu erheben, ist Desiderat." [Ebd.,S. 17.]

Nicht nur mit seinem Zugriff, sondern auch in der Einbettung seines Themas zeigt sich Striefler stark von Noltes Position beeinflußt, seien es doch „die Schrecken der Revolutionsjahre und der Aufschwung der kommunistischen Parteien" gewesen, die „in nahezu allen Ländern Europas zu einer radikalen Gegenbewegung", dem Faschismus, geführt haben. [Ebd.,S. 10.] Demgemäß wird schon in der Einleitung klargestellt: Man dürfe die Weimarer Republik nicht nur als Vorgeschichte des „Dritten Reiches" betrachten, gehe dadurch doch das „Verständnis für Motivationen und Mentalitäten" verloren: „Denn damals sah man die Dinge anders. Die grundlegende Bedrohung ging vom Bolschewismus aus, und es schien vielen nur noch eine Frage der Zeit, wann sich kommunistische Vernichtungsprophetien in Deutschland durchsetzten." [Ebd.,S. 15.]

Striefler geht in seiner Arbeit zunächst chronologisch vor und stellt das Verhältnis von Kommunisten und Nationalsozialisten, von KPD und NSDAP unter dem Titel „Der Kampf um den deutschen Arbeiter" dar. Damit gliedert sich Striefler (wie auch bei der Arbeit Syrings zu beobachten [Siehe E. Syring , Hitler, S. 169.] ) in die Forschungslinie ein, die vor allem das „Werben" um die Arbeiter als einen wesentlichen Bestandteil nationalsozialistischer Politik und Propaganda meint beobachten zu können. [Siehe z.B. Eberhard Heuel , Der umworbene Stand. Die ideologische Integration der Arbeiter im Nationalsozialismus 1933-1939, Frankfurt/Main u. New York 1989.] Diese thematische Zuspitzung ist verbunden mit einer Verengung der Quellenauswahl und Begrenzung der Perspektive, die insgesamt die Geschichte der Weimarer Republik - in Übereinstimmung mit der Ansicht Hitlers - auf den „Kampf auf Leben und Tod zwischen zwei Weltanschauungen" [Nach C. Striefler , Kampf um die Macht, S. 40.] reduziert.

Dieser Eindruck wird durch das zweite Kapitel der Untersuchung noch verstärkt, in dem die „Aufstandsvorbereitungen der KPD und die Gegenstrategie der NSDAP" dargestellt werden. Allein durch die Problemformulierung wird der NSDAP eine Defensivposition zugeschrieben, die jedoch allenfalls der Weimarer Demokratie bzw. den diese tragenden Kräften angemessen ist. Detailliert nachgezeichnet werden die diversen Überlegungen und Aktivitäten der KPD, insbesondere der Roten Frontkämpfer und des militärpolitischen Apparats, während die in der Kapitelüberschrift angekündigte „Gegenstrategie der NSDAP" nahezu ausschließlich in einem kurzen Unterabschnitt mit dem Titel „Rettung vor dem Bolschewismus mit legalen Mitteln?" behandelt wird. [Siehe ebd., S. 291-304.]

Nachdem Striefler die Selbststilisierung Hitlers und der NSDAP als Retter vor dem Bolschewismus belegt und zudem die Annahme formuliert hat, die „antibolschewistische Sprache der nationalsozialistischen Propaganda dürfte nur dann Aussicht auf Erfolg gehabt haben, wenn sie in der Wirklichkeit eine Entsprechung gefunden" habe, kommt er zu dem Ergebnis: „Verglichen mit den Kommunisten wirkten die Nationalsozialisten weniger radikal, verstanden sie es doch, den Eindruck zu erwecken, Gewalt nur als Reaktion auf einen kommunistischen Aufstandsversuch einzusetzen." [Ebd.,S. 295f.]

Mit ihrem taktischen Vorgehen scheinen sie auch Striefler beeindruckt zu haben, der schließlich - wohl arg blauäugig - Unterschiede der Machteroberungsstrategie zwischen Kommunisten und Nationalsozialisten meint ausmachen zu können, die „förmlich ins Auge" springen: „Die Nationalsozialisten baten die Polizei um Hilfe bei Bekämpfung der allzu unruhigen Elemente in den eigenen Reihen. Bis zur Machtergreifung wollten sie legal bleiben. [...] Die Kommunisten dagegen stellten ihre unerbittliche Feindschaft gegenüber dem Staat mit Polizistenmorden unter Beweis." [Ebd.,S. 304.] Ist schon die Bezeichnung von nationalsozialistischen Gewalttätern als „allzu unruhige Elemente" ein Euphemismus, so bietet das ganze Interpretament ein Beispiel für die Folgen des Verzichts auf Quellenkritik und vor allem auf die Konfrontation der nationalsozialistischen Selbstdarstellung mit einer Analyse des tatsächlichen Verhaltens.

Im dritten Teil seines Buches analysiert Striefler dann am Beispiel Berlins die Realität des „begrenzten Bürgerkriegs". Auch in diesem Kapitel zeigt sich, daß Quellenkritik nicht Strieflers Sache ist. Um sein eigenes Vorgehen zu legitimieren, wird einmal mehr die bisherige Literatur, hier eine Studie über die SA, kritisiert; der Autor, so beklagt Striefler, beschreibe „die Aktivitäten der nationalsozialistischen Straßenkämpfer in einer Art und Weise, die nur wenig mit dem Bemühen um Verständnis für die Motive der Handelnden gemein hat." Vorwurfsvoll wird vermerkt: „Die nationalsozialistischen Selbstdarstellungen gelten ihm als Glorifizierungen, die beiseite geschoben und nicht ernst genommen werden." Darum erscheine die SA „primär als staatsfeindliche Parteiarmee", wohingegen ihrem „eigenen Selbstverständnis als Kampfbund gegen den Bolschewismus [...] keine Rechnung" getragen werde. [Ebd.,S. 307.] Nach diesen Ausführungen ist man fast versucht zu vermuten, die SA sei dank ihrer antibolschewistischen Ausrichtung eine Republikschutztruppe gewesen.

Angesichts der Bereitschaft zur Einfühlung in Selbstverständnis und Motive der SA - im übrigen nur einer Seite im „Bürgerkrieg" - und angesichts der ausdrücklichen Zurückweisung quellenkritischer Analyse, kann das ebenso klar wie eindeutig formulierte Ergebnis kaum verwundern: Die KPD war - nicht zuletzt in Ausführung der Moskauer Anweisungen - die radikalere Partei, die überdies brutaler als die NSDAP vorgegangen sei. Der „Polizeibericht eines einzigen Tages [...] beweist, was sich auch aus anderen Aufstellungen vermuten läßt: Die Gewalt ging weit häufiger von den Kommunisten aus als von der SA." [Ebd., S. 368.]

Nun kann hier nicht die sachliche Richtigkeit dieser Aussage überprüft werden. An der Quellenbasis und an der Argumentationsweise sind indessen Zweifel anzubringen. Daß Striefler sich für eine derart zentrale und zugleich entschieden vorgetragene These auf einen einzigen Polizeibericht, ansonsten aber auf Vermutungen stützt, ist befremdlich; es ist um so erstaunlicher, als Striefler sich in der Einleitung selbst sehr vorsichtig über die Aussagekraft der von ihm benutzten Quellen äußert. So berichtet er, daß er vornehmlich auf staatliche Überwachungs- und Gerichtsakten zurückgegriffen habe, die „einen etwas verzerrten Gesamteindruck vermitteln" könnten, zumal die im Landesarchiv Berlin lagernden Akten des Generalstaatsanwalts beim Landgericht Berlin einen Bestand bilden, der während des „Dritten Reichs" angelegt wurde, um die „für die ‘Kampfzeit der Bewegung’ geschichtlich wertvollen Akten" zu sichern. Auch wenn Striefler in der Einleitung vermerkt, daß dieser Bestand „in der Mehrzahl Fälle [enthält], in denen Nationalsozialisten die Opfer waren" [Ebd., S. 20.] , und auch wenn er seine einschränkenden Hinweise zur Quellenbasis zu Beginn des dritten Teils seiner Studie fast wortgleich wiederholt [Ebd., S. 309.] , so führt das nicht dazu, daß die inhaltlichen Aussagen der Quellen in der eigentlichen Darstellung relativiert würden.

Konsequent blendet Striefler durch die Konzentration auf den „Entscheidungskampf" zwischen Kommunisten und Nationalsozialisten die Rolle anderer Akteure - politische Parteien, Interessenverbände, Eliten usw. - aus. Weder die Formierung der „nationalen Rechten" und der Kampf zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten noch die Machtübertragung an Hitler und die NSDAP werden thematisiert. Mit der Bipolarität seiner Interpretation folgt Striefler zum einen der nationalsozialistischen Propaganda, die einzig die Alternative von kommunistisch-bolschewistischer Fremdherrschaft oder nationalsozialistischem „Dritten Reich" ausmalte. Und zum anderen gewinnt durch diese falsche Alternative, wird doch die Position der Anhänger und Verteidiger der Weimarer Demokatie außer Acht gelassen, der Antibolschewismus, der sich „dem Totalangriff der Kommunisten gegen die bürgerliche Gesellschaft" entgegenwarf, „historische Legitimität", die allerdings „nicht zwangsläufig gleichbedeutend mit moralischer Rechtfertigung ist". [Ebd.,S. 294.] Das ist nicht sehr weit entfernt von der Position Noltes, der, wie oben gezeigt, dem Nationalsozialismus eben als Antibolschewismus ein „historisches Recht" zuschreibt.

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3. Nationalsozialismus und Modernisierung

Bei genauerem Zusehen handelt es sich um zwei unterschiedliche Kontroversen, die unter dem Generalthema „Nationalsozialismus und Modernisierung" ausgetragen werden: Zum einen geht es um die soziale Basis der NSDAP und damit um den Chrakter der NSDAP als einer, wenn nicht der ersten „modernen Volkspartei". [Siehe Jürgen W. Falter , War die NSDAP die erste deutsche Volkspartei?, in: Michael Prinz/Rainer Zitelmann (Hrsg.), Nationalsozialismus und Modernisierung, Darmstadt 1991, S. 21-47.] Zum anderen werden dem Nationalsozialismus auf bestimmten Feldern der sozialen Realität oder für die Entwicklung der deutschen Gesellschaft insgesamt Modernisierungsleistungen zugesprochen. [Siehe M. Prinz/R. Zitelmann (Hrsg.), Nationalsozialismus.]

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Kaum ein Themenbereich erfreut sich bei denjenigen, die mit dem Gestus der „Legenden-Killer" auftreten, so großer Beliebtheit wie die Frage nach der sozialen Basis des Nationalsozialismus. Galt der Nationalsozialismus zeitgenössischen Beobachtern [Theodor Geiger , Panik im Mittelstand, in: Die Arbeit 10, Oktober 1930, S. 637-654, hier bes. S. 648ff.; Hans Neisser , Sozialstatistische Analyse des Wahlergebnisses, in: S. 655-659.] wie Soziologen und Historikern [Seymour M. Lipset , Nationalsozialismus - ein Faschismus der Mitte, in: ders. , Soziologie der Demokratie, Neuwied 1962, S. 131ff.; Heinrich August Winkler , Extremismus der Mitte? Sozialgeschichtliche Aspekte der nationalsozialistischen Machtergreifung, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte (VfZ) 20, 1972, S. 175-191, bes. S. 185f.] lange vornehmlich als ein Produkt der „Panik des Mittelstandes" oder als Massenbewegung des „neuen Mittelstandes", so hat sich das mit der Verfeinerung des methodischen Instrumentariums der historischen Wahlforschung und auch mit den verbesserten Möglichkeiten der Analyse großer Datenmengen aus Mitgliederstatistiken von NSDAP und SA vor einiger Zeit geändert. In immer neuen Analysen wird belegt, daß die einem überpointiert zusammengefaßten Forschungsstand zugeschriebene Annahme, nach der sich „die" Arbeiterschaft als resistent gegen den Nationalsozialismus erwiesen habe, falsch sei. Dabei wird oftmals übersehen, daß hier mit zweierlei Begriffen von Arbeiterschaft gearbeitet wird: Während die einen unter Arbeiterschaft die industrielle Arbeiterschaft und noch spezieller die organisierte bzw. klassenbewußte Arbeiterschaft verstehen [Siehe z.B. H. Neisser , Sozialstatistische Analyse.] , berücksichtigen neuere Studien, methodisch völlig korrekt, die gesamte Arbeiterschaft - vom Landarbeiter bis zum industriellen Facharbeiter, vom national bis zum kommunistisch gesinnten Arbeiter. [Siehe dazu Ulrich Herbert , Arbeiterschaft im „Dritten Reich". Zwischenbilanz und offene Fragen, in: Geschichte und Gesellschaft (GG) 15, 1989, S. 320-360; vgl. auch Gunter Könke , „Modernisierungsschub" oder relative Stagnation? Einige Anmerkungen zum Verhältnis von Nationalsozialismus und Moderne, in: GG 20, 1994, S. 584-608, hier S. 592.] In dem Maße, in dem sich auch in der Geschichtsschreibung der Arbeiterbewegung die Erkenntnis durchgesetzt hat, daß keineswegs nur die klassenbewußten Arbeiter „die" Arbeiterschaft bilden, sind die auf dieser Verengung des Begriffs basierenden Urteile relativiert worden. So ist zu bedenken, daß seit dem Erscheinen der Studien über Gelbe Werkvereine [Siehe Klaus Mattheier , Die Gelben. Nationale Arbeiter zwischen Wirtschaftsfrieden und Streik, Düsseldorf 1973.] , christlich-nationale und deutsch-nationale Arbeiterorganisationen [Siehe z.B. Michael Schneider , Die Christlichen Gewerkschaften 1894-1933, Bonn 1982; Amrei Stupperich, Volksgemeinschaft und Arbeitersolidarität. Studien zur Arbeitnehmerpolitik in der Deutschnationalen Volkspartei (1918-1933), Göttingen/Zürich 1982.] sowie über die NSBO [Gunther Mai , Die nationalsozialistische Betriebszellen-Organisation. Zum Verhältnis von Arbeiterschaft und Nationalsozialismus, in: VfZ 31, 1983, S. 573-613; Volker Kratzenberg, Arbeiter auf dem Weg zu Hitler? Die Nationalsozialistische Betriebszellen-Organisation. Ihre Entstehung, ihre Programmatik, ihr Scheitern 1927-1934, Frankfurt/Main, Bern u. New York 1987.] , durch die die weltanschaulich-politische Heterogenität der Arbeiterschaft verstärkt ins Bewußtsein gehoben wurde, Jahre vergangen sind. Längst hat sich die Ansicht durchgesetzt, daß nicht „die" Arbeiterschaft, sondern allenfalls bestimmte Teile der Arbeiterschaft relativ „immun" gegen das Werben des Nationalsozialismus gewesen seien. [Siehe z.B. E. Heuel , Der umworbene Stand; Bernd Stöver , Volksgemeinschaft und Drittes Reich. Die Konsensbereitschaft der Deutschen aus der Sicht sozialistischer Exilberichte, Düsseldorf 1993; Günter Morsch , Arbeit und Brot. Studien zu Lage, Stimmung, Einstellung und Verhalten der deutschen Arbeiterschaft 1933-1936/37, Frankfurt/Main usw. 1993.]

Angesichts dieses Befundes ist es schon erstaunlich, daß noch immer [Siehe schon Jürgen W. Falter/Dirk Hänisch , Die Anfälligkeit von Arbeitern gegenüber der NSDAP bei den Reichstagswahlen 1928-1933, in: AfS XXVI, 1986, S. 179-216.] so getan wird, als eigne sich dieses Thema dazu, „Mythen" oder „gängige Stereotypen" zu zerstören oder auch „volkspädagogische Absichten" zu entlarven. [Jürgen W. Falter , „Anfälligkeit" der Angestellten - „Immunität" der Arbeiter. Mythen über die Wähler der NSDAP, in: U. Backes u.a. (Hrsg.), Die Schatten, S. 265-290, hier S. 265; Gunther Mai , Arbeiterschaft zwischen Sozialismus, Nationalismus und Nationalsozialismus. Wider gängige Stereotypen, in: S. 195-217.] So schickt sich z.B. J.W. Falter in seinem Beitrag in dem der „Historisierung des Nationalsozialismus" gewidmeten Sammelband einmal mehr an, der „Vorstellung einer beträchtlichen, wenn nicht sogar fast totalen Immunität von Arbeitern und, komplementär dazu, einer weit überdurchschnittlichen Anfälligkeit von Angestellten gegenüber dem Nationalsozialismus vor 1933" den Garaus zu machen. [J. W. Falter , „Anfälligkeit", S. 265.] Nachdem er ausführlich die Anhänger der Mittelstandsthese - die zeitgenössischen wie die der 1960er/70er Jahre - hat zu Wort kommen lassen, resümiert er knapp die Ergebnisse der historischen Wahl- und Mitgliederforschung. Anders als in seinem Buch über „Hitlers Wähler" [Siehe Jürgen W. Falter , Hitlers Wähler. Die Anhänger der NSDAP 1928-1933, München 1991.] verzichtet Falter hier auf die Entfaltung seiner methodischen Überlegungen; auch beschränkt er sich bei der Formulierung der Ergebnisse auf vorsichtige Trendaussagen, täuscht also nicht eine Exaktheit vor, die angesichts der Quellendefizite und der komplizierten Operationen der Quellenauswertung letztlich nicht gegeben ist. [Siehe Merith Niehuss , Hitlers Wähler, in: GG 20, 1994, S. 478-481.]

Nach Falters Ergebnissen ergeben die „heute verfügbaren, alle Kreise bzw. Gemeinden des Deutschen Reiches umfassenden wahlhistorischen Untersuchungen [...] einen recht deutlich ausgeprägten negativen Zusammenhang zwischen dem Angestellten- und dem NSDAP-Anteil. [...] Arbeiter dagegen waren den gleichen Untersuchungen zufolge - wie schon im Falle der Mitglieder - unter den Wählern bei weitem nicht so stark unterrepräsentiert, wie von der Mittelschichtthese vorausgesetzt wird." [J. W. Falter , „Anfälligkeit", S. 283.] Das Ergebnis wird recht vorsichtig und außerdem nur relational zur Mittelschichtthese formuliert, bietet also - bezogen auf den Arbeiteranteil - keine konkret greifbare Aussage.

Verglichen mit diesen vorsichtigen Formulierungen, will es zunächst so scheinen, als fuße Falters Analyse des Arbeiteranteils unter den Berliner NSDAP-Mitgliedern des Jahrs 1939 auf harten Daten. [Jürgen W. Falter unter Mitarbeit von Christa Niklas-Falter , Die Parteistatistische Erhebung der NSDAP 1939. Einige Ergebnisse aus dem Gau Groß-Berlin, in: T. Nipperdey u.a. (Hrsg.), Weltbürgerkrieg, S. 175-203.] Von den Berliner NSDAP-Mitgliedern stuften sich 1939 17% als Handarbeiter ein, innerhalb der Bevölkerung betrug der Anteil der Arbeiter hingegen 35%; 43% der Mitglieder zählten sich zu den Angestellten, 16% zu den Beamten, während nur 18% bzw. 4% der Berliner Bevölkerung zu diesen Berufsgruppen gehörten; auch die Selbständigen waren demgemäß mit 16% an den Parteimitgliedern überrepräsentiert, betrug ihr Anteil an der Bevölkerung doch nur 8%. Bei Rentnern/Pensionären (2%) und Hausfrauen (6%) sah das Zahlenverhältnis, verglichen mit dem jeweiligen Anteil an der Bevölkerung, der bei 15% bzw. 20% lag, hingegen ganz anders aus. [Siehe ebd., S. 194.] In behutsamer Analyse kommt Falter zu dem Schluß, die Statistik sei methodisch nicht ganz sauber, zumal sie - überdies basierend auf der Selbsteinschätzung der Parteimitglieder - nur nach Handarbeitern, also nur nach einer Teilgruppe der versicherungsrechtlich als Arbeiter Einzuordnenden gefragt habe. [Siehe ebd., S. 197.]

Nicht sehr hilfreich ist es indessen, daß Falter mit Rücksicht auf die unbestreitbaren Quellenprobleme nun Arbeiter und Angestellte zusammenfaßt und als Ergebnis formuliert: „Schätzungsweise zwei Drittel [der NSDAP-]Mitglieder dürften sich in den dreißiger Jahren aus diesen beiden Berufsschichten rekrutiert haben." [Ebd., S. 198 u. S. 200.] Damit gleichen sich die hohen Differenzen zwischen den Berufsgruppen in einer Weise aus, daß gerade zu dem in Frage stehenden Problemkreis - der Angestellten-Arbeiter-Differenz - keine Aussage mehr erlaubt ist. So erweist sich die Parteistatistik mit ihrem auf den ersten Blick deutlichen, dann unter Berücksichtigung der methodischen Bedenken zu relativierenden Ergebnis als letztlich unbrauchbar, um die Frage nach dem Arbeiter- bzw. Angestellten-Anteil an der NSDAP-Mitgliedschaft gültig zu beantworten.

Versucht Falter in seinen Analysen die statistischen Voraussetzungen für Urteile über die Angestellten- bzw. Arbeiteranteile in der NSDAP-Wähler- und -Mitgliedschaft zu klären, so untersucht Gunther Mai das Problem der Integration der Arbeiterschaft in den NS-Staat. Einmal abgesehen vom Gestus des Kampfes gegen „gängige Stereotypen" und gegen die Neigung zu „‘volkspädagogisch’ opportune[r] Verdrängung", formuliert Mai das Erkenntnisproblem zutreffend: „Wenn aber die NSDAP eine Volkspartei war [...], wird man sich der Überlegung stellen müssen, ob ihr Sammlungseffekt weniger über soziale Interessen, sondern mehr noch über ideologische Angebote wirksam wurde." [G. Mai , Arbeiterschaft, S. 196f.] Und, um nicht mißverstanden zu werden, betont Mai gleich zu Beginn: „Die Arbeiterschaft war nicht zur ‘Hauptstütze’ des Nationalsozialismus im Sinne ungeteilter positiver Trägerschaft geworden. Aber offenkundig gab es Integrationsangebote, die in der Praxis glaubwürdig blieben, die das System hinnehmbar machten, die es von der bürgerlichen Klassengesellschaft der Weimarer Republik erkennbar unterschieden." [Ebd., S. 198.]

So zutreffend das Problem formuliert wird, so sehr ist die Fragestellung dennoch von der Annahme geprägt, „die" Arbeiterschaft hätte sich in Gegnerschaft zur „bürgerlichen Klassengesellschaft" befunden. Eben dies stimmte für die Mehrheit der Arbeiter nicht. Von daher führt der Nachweis von Affinitäten der Sozialismus-Debatte zum Nationalsozialismus, führt auch die Charakterisierung der NSBO als „populistisch-radikale Massen- und Basisbewegung mit stark anti-bürgerlichem Ressentiment" [Ebd.,S. 202.] und der DAF als einer Organisation mit „quasi-gewerkschaftlicher Rolle", als ein „klassenspezifisches Surrogat kultureller und sozialpolitischer Interessenartikulation der Arbeiterschaft, das die Aufgaben einer Gewerkschaft übernehmen [...] mußte" [Ebd.,S. 210f.] , nicht viel weiter. Mai verkürzt damit das Problem im Grunde genommen auf die Fragestellung, wie ehemals sozialistisch orientierte Arbeiter ihren Frieden mit dem Nationalsozialismus haben machen können; angesichts der Quellenprobleme, ist doch weder klar, wieviele noch welche Arbeiter in das NS-System auf welche Weise und wie stark integriert wurden, ist diese Analyse, so kenntnisreich und plausibel die Überlegungen sind, dennoch letztlich spekulativ. Zumindest müßte man erwägen, ob und inwieweit der Nationalsozialismus nicht durch sozialistische, sondern durch nationalistische Propaganda-Elemente Zulauf und Zustimmung bei Teilen der Arbeiterschaft gewinnen konnte.

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Ausgehend von der These Ralf Dahrendorfs [Ralf Dahrendorf , Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, München 1968, S. 431ff.] , nach der die nationalsozialistische Herrschaft durch die Auflösung der traditionellen sozialen Strukturen einen Stoß in die Modernität, eine Modernisierung der deutschen Gesellschaft wider Willen verursacht habe, und vorangetrieben von David Schoenbaums [David Schoenbaum , Die braune Revolution. Eine Sozialgeschichte des Dritten Reiches, München 1980 (1. Aufl. 1966).] Analyse der „braunen Revolution", sind in den letzten Jahren Tendenzen einer Neubewertung von Ideologie und Funktion des Nationalsozialismus zu beobachten. Dabei wird die Frage nach der gewollten oder ungewollten Modernität des Nationalsozialismus, nach dem Stellenwert des „Dritten Reiches" im Modernisierungsprozeß Deutschlands - je nach den herangezogenen Modernisierungsparametern - unterschiedlich beantwortet. [Siehe insbes. Horst Matzerath/Heinrich Volkmann , Modernisierungstheorie und Nationalsozialismus, in: Jürgen Kocka , Theorien in der Praxis des Historikers (= GG, Sonderheft 3), 1977, S. 86-102; Jens Alber , Nationalsozialismus und Modernisierung, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 41, 1989, S. 346-365.] Erkennen die einen - mit Blick auf die sozio-ökonomischen Strukturen - in den Jahren 1933 bis 1939 keine Unterbrechung des langfristigen Modernisierungsprozesses [Siehe Werner Abelshauser/Anselm Faust , Wirtschafts- und Sozialpolitik: eine nationalsozialistische Sozialrevolution?, Tübingen 1983, S. 9.] , so betonen andere die geradezu revolutionären und modernen Elemente der nationalsozialistischen Sozial-Ideologie und -Politik.

Besondere Signalwirkung für diese mit dem Ziel der „Historisierung" des Nationalsozialismus verbundenen Neuinterpretationen kommt der Dissertation von Rainer Zitelmann über Hitler als Revolutionär [Siehe R. Zitelmann , Hitler. Vgl. auch ders. , Nationalsozialismus und Moderne. Eine Zwischenbilanz, in: Werner Süß (Hrsg.), Übergänge. Zeitgeschichte zwischen Utopie und Machbarkeit. Beiträge zur Philosophie, Gesellschaft und Politik. Hellmuth G. Bütow zum 65. Geburtstag, Berlin 1989, S. 195ff.] und dem von Zitelmann und Michael Prinz herausgegebenen (und im „Archiv für Sozialgeschichte" bereits besprochenen [Siehe Michael Schneider , Nationalsozialismus und Modernisieurng? Probleme einer Neubewertung des „Dritten Reiches", in: AfS XXXII, 1992, S. 541-545.] ) Sammelband „Nationalsozialismus und Modernisierung" [Siehe M. Prinz/R. Zitelmann (Hrsg.) Nationalsozialismus; vgl. auch Rainer Zitelmann , Historiographische Vergangenheitsbewältigung und Modernisierngstheorie. Nationalsozialismus, Faschismus, Stalinismus, in: B. Faulenbach/M. Stadelmaier (Hrsg.), Diktatur, S. 111-135, hier bes. S. 122 u. 129.] zu, deren Grundthesen, die im übrigen in das Werk von Nolte Eingang gefunden haben [Siehe E. Nolte , Streitpunkte, bes. S. 137ff. u. S. 142ff.] , auf vielfältige - z.T. vehement vorgetragene - Kritik gestoßen sind. [Siehe Christof Dipper , Modernisierung und Nationalsozialismus, in: Neue Politische Literatur 36, 1991, S. 450-456, Karl Heinz Roth , Verklärung des Abgrunds. Zur nachträglichen „Revolutionierung" der NS-Diktatur durch die Gruppe um Rainer Zitelmann, in: 1999, H. 1, 1992, S. 7-11; M. Schneider , Nationalsozialismus; Norbert Frei, Wie modern war der Nationalsozialismus?, in: GG 19, 1993, S. 367-387; Gunter Könke , „Modernisierungsschub"; Axel Schildt , NS-Regime, Modernisierung und Moderne. Anmerkungen zur Hochkonjunktur einer andauernden Diskussion, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte XXIII, 1994, S. 3-22; Bernd Weisbrod , Der Schein der Modernität. Zur Historisierung der „Volksgemeinschaft", in: Karsten Rudolph/Christl Wickert (Hrsg.), Geschichte als Möglichkeit. Über die Chancen von Demokratie. Festschrift für Helga Grebing, Essen 1995, S. 224-242.]

Es gehört zu den Eigenheiten der Autoren, die sich der „Historisierung" des Nationalsozialismus verschrieben haben, daß sie die von ihnen ausgelösten Diskussionsbeiträge nicht nur genau beobachten, sondern ihrerseits zum Anlaß ausführlicher Repliken nehmen und somit den Diskussionsprozeß vorantreiben: So wie Nolte seinen Kritikern antwortete [E. Nolte , Das Vergehen.] , so haben die Herausgeber des Bandes über „Die Schatten der Vergangenheit" wie die des Bandes „Nationalsozialismus und Modernisierung" an die Taschenbuchausgabe bzw. an die Neuauflage ein Nachwort zur Rezeption der jeweiligen 1. Auflage angehängt. [Siehe U. Backes u.a. (Hrsg.), Die Schatten, S. 656-660; Michael Prinz (in Abstimmung mit Rainer Zitelmann ), Nachwort: Einige Bemerkungen zur neueren Debatte über Modernisierung und Nationalsozialismus, in: M. Prinz/R. Zitelmann (Hrsg.), Nationalsozialismus und Modernisierung, 2., mit einem aktuellen Nachwort versehene Aufl., Darmstadt 1994, S. 335-361.]

Dabei zeigen sich z.B. zwischen den Herausgebern des Bandes über „Nationalsozialismus und Modernisierung" durchaus Differenzen, setzt sich doch Michael Prinz an anderer Stelle von der Kritik Zitelmanns am „normativen Modernisierungsbegriff" ab. [Michael Prinz , Demokratische Stabilisierung, Problemlagen von Modernisierung in Selbstbezug und historische Kontinuität - Leitbegriffe einer Zeitsozialgeschichte, in: Westfälische Forschungen 43, 1993, S. 655-675, hier S. 671.] Und auch in dem (in Abstimmung mit Zitelmann verfaßten) Nachwort zur 2. Auflage dieses Bandes nimmt Prinz die Einwände gegen die Anwendung des Modernisierungsbegriffs auf das Gesamtphänomen des Nationalsozialismus sehr ernst; zwar stellt er mit einer differenzierten Analyse der jüngst erschienenen Literatur zur sozialen Realität des „Dritten Reiches" eine Reihe von Belegen für die These von der modernisierenden Wirkung des nationalsozialistischen Systems auf die deutsche Gesellschaft zusammen, doch er gesteht zu, daß „das Regime in einigen für seine Erscheinung und seine Folgen zentralen Bestandteilen" mit dem Modernisierungsbegriff „nicht angemessen" charakterisiert werden könne. Auch räumt Prinz ein, daß die Modernisierungs- und De-Modernisierungstendenzen in dem Sammelband nicht gleichgewichtig behandelt werden. [M. Prinz , Einige Bemerkungen, S. 349.] Und sein Gesamturteil lautet: „Auch wenn der Nationalsozialismus Teilaspekte von Modernisierung bejahte, fügen sich seine Pläne aufs Ganze gesehen nicht zu einem Programm zusammen, das die Mindestanforderungen von Modernisierung erfüllt." [Ebd.,.S. 358.]

Revidiert Prinz damit das Kernstück der Modernisierungsthese, so sieht das bei Zitelmann anders aus: Auch er kommt den Kritikern zunächst entgegen, gesteht er doch zu: „Setzt man Modernisierung und politische Demokratisierung (im Sinne von Parlamentarisierung) gleich, dann kann es keinen Zweifel daran geben", daß der Nationalsozialismus eine „gänzlich unmoderne, ja antimoderne Erscheinung" war. [Rainer Zitelmann , Historiographische Vergangenheitsbewältigung, S. 122.] Damit verschiebt er indessen die Konfliktstellung; denn nicht die Gleichsetzung von Modernisierung und Demokratisierung wurde angemahnt; vielmehr ging es darum, den Begriff der Modernisierung nicht ausschließlich mit wissenschaftlich-technischer Effizienzsteigerung zu identifizieren, sondern auch den Bereich der gesellschaftlichen Partizipation zu berücksichtigen. Außerdem steht nicht die Modernität des Nationalsozialismus zur Debatte, sondern seine intendierte und effektive Modernisierungswirkung. Daß der Nationalsozialismus in weiten Bereichen von Wirtschaft und Gesellschaft modern im Sinne von „auf der Höhe seiner Zeit" war, ist unstrittig.

Gerade „vor dem Hintergrund der Erfahrungen des Stalinismus, des Nationalsozialismus und des Faschismus" plädiert Zitelmann jedoch dafür, die Verbindung von Modernisierung und Demokratisierung aufzugeben. Denn: „Der Modernisierungsansatz ermöglicht es offenbar, die Verbindung von Fortschritt und Barbarei die für dieses System so charakteristisch ist, besser zu erfassen, als dies andere analytische Konzepte vermögen." Dies bedeute, „von dem allzu optimistischen Fortschrittsbegriff des 19. Jahrhunderts Abschied zu nehmen, wonach ‘Fortschritt’ notwendigerweise ein Mehr an Humanität, Liberalisierung und demokratischer Partizipation bedeuten muß". Und weiter: „Heute denken wir intensiver über die Kehrseiten des Fortschritts nach, über die destruktiven und barbarischen Seiten der Moderne." [Ebd., S. 122.]

Hier werden die Folgen der begrifflichen Unklarheit vollends deutlich: Verabschieden müssen wir uns nicht von einem optimistischen Fortschrittsbegriff, sondern von der optimistischen Erwartung, die Geschichte strebe notwendigerweise einem „Mehr an Humanität, Liberalisierung und demokratischer Partizipation" zu. Was spricht dagegen, eben diese Elemente der historischen Entwicklung als fortschrittlich zu bezeichnen, wohl wissend, daß damit nicht die ganze Realität der Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts beschrieben werden kann? Was spricht dagegen, Modernisierung auch und gerade mit dem Indikator der Demokratisierung zu verknüpfen, wohl wissend, daß die Modernisierungsprozesse - angesichts von Bolschewismus, Nationalsozialismus und Faschismus - schwerwiegende Brüche aufweisen? Wie sollte man diese Brüche feststellen, wenn man - dank eingeschränkten Indikatorenkatalogs - von einem Modernisierungskontinuum meint ausgehen zu können?

Zitelmann plädiert demgegenüber für eine Revision des begrifflichen Zugriffs, wenn er empfiehlt: „Der optimistische, stark normativ aufgeladene Fortschritts- und Modernisierungsbegriff sollte vor dem Hintergrund" der „geschichtlichen Phänomene" wie Nationalsozialismus, Faschismus und Stalinismus „überprüft werden". [Ebd., S. 129.] Müßte wissenschaftliche Analyse nicht umgekehrt die für diese Phänomene passenden Begriffe suchen und finden, statt den Gehalt eingeführter Begriffe umzudeuten, zumal das ja nicht die Gefahr ausschließt, daß ein Teil ihres positiven Gehalts auf den damit bezeichneten Gegenstand übertragen wird?

Vermerkt sei noch, daß beim Thema der Modernisierung die phänomenologische Methode so offenkundig an ihre Grenzen stößt, daß auch Zitelmann sie aufgibt. Vielleicht weil er meint, mit seiner Dissertation bereits die Antwort gegeben zu haben, betont Zitelmann, die Frage laute „heute weniger, ob die Nationalsozialisten die Modernisierung wollten, sondern ob die - von Dahrendorf und Schoenbaum erstmals konstatierten - Modernisierungswirkungen wirklich zu belegen sind." Und nachdem er eine Reihe von Indikatoren - vom Abbau der Angestellten-Arbeiter-Differenz bis zur sozialen Öffnung des Offizierskorps - unter Berufung auf neuere Studien abgefragt hat, kommt er zu dem Ergebnis: „Für einzelne Teilbereiche wurde die Modernisierungsleistung des Nationalsozialismus überzeugend nachgewiesen." [Ebd., S. 125.]

Nun soll und kann hier nicht die Debatte um „Nationalsozialismus und Modernisierung" nachgezeichnet werden. Vielmehr geht es darum, die im eingangs näher beschriebenen Umfeld Noltes publizierten Arbeiten darauf hin zu untersuchen, ob und wie die Modernisierungsthese aufgenommen wurde. Dabei zeigt sich, daß die Etikettierung des Nationalsozialismus, speziell der nationalsozialistischen Gesellschaftspolitik, als „modern" eine Art von Indikatorfunktion für die Zuordnung zur Gruppe der „Historisierer" hat. Dies fällt um so stärker ins Gewicht als es offenbar den Verfechtern dieser These gelungen ist, dieses Paradigma in den etablierten Fundus der „Historisierungs"-Bemühungen einzuordnen, so daß die These nicht mehr diskutiert oder belegt werden muß, sondern die bloße Nennung reicht. Deutlich wird das z.B. bei Ernst Noltes Rezeption der Modernisierungs-These [Siehe E. Nolte , Streitpunkte, S. 142ff.] , in Klaus Hornungs Gesatmdarstellung [Siehe K. Hornung , Das totalitäre Zeitalter, S. 230ff.] und bei Karlheinz Weißmanns - mit Zitelmann durch die gemeinsame Arbeit am Band über die „Westbindung" verbunden [Siehe Rainer Zitelmann/Karlheinz Weißmann/Michael Großheim (Hrsg.), Westbindung. Chancen und Risiken für Deutschland, Propyläen, Frankfurt/Main u. Berlin 1993.] - „Rückruf in der Geschichte", der der NSDAP attestiert: „Modernität war der Schlüssel ihres Erfolges, und solche Modernität bildete auch nach Hitlers Machtergreifung ein wesentliches Moment nationalsozialistischer Gesellschaftspolitik." [K. Weißmann , Rückruf, S. 86f.] Zwar erwähnt Weißmann wenig später ausdrücklich Hitlers Ablehnung des demokratisch-pluralistischen Gesellschaftsmodells, aber das führt nicht zu einer Problematisierung des Modernitäts-Begriffs.

Auf der anderen Seite aber hat die Modernisierungsthese vehemente Kritik gefunden, und zwar auch innerhalb des Kreises der Autoren der Festschrift zu Noltes 70. Geburtstag. Bedrich Löwenstein konstatiert im Hinblick auf die angeblichen Modernisierungsleistungen: „Es dürfte kaum möglich sein, auf irgendeinem Feld politikneutrale ‘Innovationsschübe’ herauszufiltern, für die das Regime längerfristig produktive Rahmenbedingungen bereitgestellt hätte." So könne mit Blick auf die effizienzsteigernden wirtschaftlichen und sozialpolitischen Maßnahmen allenfalls von einer „Pseudomodernisierung" gesprochen werden. Und wenn schon von einer nationalsozialistischen Revolution die Rede sein solle, dann könne man allenfalls die „in der zweiten Kriegshälfte vollzogene Verschmelzung von Staat, Partei und Wehrmacht" und „darüber hinaus die Liquidierung jeder Eigenständigkeit, jeder überkommenen Loyalität, jeder autonomen Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft, nicht zuletzt die Zerschlagung des internationalen Staatensystems" erwähnen. [Bedrich Löwenstein , Nationalsozialistische Revolution. Einige Fragezeichen zur historischen Begrifflichkeit, in: T. Nipperdey u.a. (Hrsg.), Weltbürgerkrieg, S. 122-135, hier S. 129f.]

Überblickt man zudem die jüngeren Veröffentlichungen zum Thema „Nationalsozialismus und Modernisierung", so wird man ein Überwiegen der kritischen Stimmen feststellen. Ob die Identifizierung von Moderne, Modernität und Modernisierung kritisiert wird [Siehe C. Dipper, Modernisierung, S. 452; M. Messerschmidt , Nationalsozialismus, S. 92f.] , ob die vorgebliche Wertfreiheit der Begriffe Modernität und Modernisierung bezweifelt wird [Siehe N. Frei , Wie modern, S. 375; M. Schneider , Nationalsozialismus, S. 541f.] , ob einzelne Teilbereiche der gesellschaftlichen Entwicklung im Lichte der neueren Literatur auf den ihnen innewohnenden Modernisierungstrend hin untersucht werden [Siehe G. Könke , „Modernisierungsschub"; A. Schildt , NS-Regime; B. Weisbrod , Der Schein.] - gemeinsam ist diesen Beiträgen das Bemühen um begriffliche Präzision und um genaue Bestimmung der Problemstellung: Schließlich geht es nicht darum, ob im Nationalsozialismus in einzelnen gesellschaftlichen Teilbereichen Modernisierung stattgefunden hat, sondern ob der Nationalsozialismus eine Kraft der gesamtgesellschaftlichen Modernisierung war. [Siehe G. Könke , „Modernisierungsschub", S. 586.] Auch müßte, wenn die Modernisierungsleistung des Nationalsozialismus gewichtet werden soll, gefragt werden, welche Modernisierungsleistungen die Weimarer Republik, hätte der Nationalsozialismus sie nicht zerstört, in der Zeit bis 1945 vollbracht hätte. [Siehe K. Tenfelde , 1914 bis 1990, S. 73f.] Zudem müßten die dem Nationalsozialismus zugeschriebenen Modernisierungsleistungen von den Kriegsfolgen geschieden werden. Schließlich ist zu fragen, ob der Nationalsozialismus wirklich die Ambivalenz „der" Moderne und nicht vielmehr die Gefahren einer nur auf technisch-wissenschaftliche Effizienz reduzierten Moderne zeigt. Mit anderen Worten: Die Anwendung des vom Indikator der Demokratisierung „befreiten" Modernisierungsbegriffs bedeutet - angesichts der unaufhebbar mit diesem Begriff verbundenen positiven Assoziationen - eine Aufwertung des Nationalsozialismus und zugleich eine Abwertung des Modernisierungsprozesses, der mit der Hypothek des Nationalsozialismus belastet wird. Zumindest bei der Neuauflage des Bandes über „Nationalsozialismus und Modernisierung" ist den Herausgebern, denkt man an das oben zitierte Nachwort, diese Problematik wohl bewußt geworden.


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