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TEILDOKUMENT:
Walter Riester, Die Förderung sozialversicherungspflichtiger Beschäftigungsverhältnisse im Bereich von 631,- bis ca. 1.500,- DM ist ein wesentliches Thema in der gegenwärtigen sozialpolitischen Diskussion. Dennoch möchte ich eine leise Kritik an diesem Titel üben. Die Diskussion kann sich nicht nur um die Einkommensklassen von 631,- bis ca. 1.500,- DM drehen. Es geht um die Probleme, die sich vor allem in diesem Einkommenssegment verbergen. Kernstück unserer Überlegungen ist doch die Frage: Wie schaffen wir es, zusätzliche Beschäftigung auch bei Personengruppen zu schaffen, die aufgrund ihrer Bildung, ihrer Qualifikation oder ihrer familiären Situation bislang auf dem Arbeitsmarkt kaum eine Chance haben?" Es geht also um mehr, als sich auf die Forderung nach einem Niedriglohnsektor zu beschränken. Es geht zwar auch, aber es geht nicht nur um Lohnfragen. Drei Schlüsselfragen sind entscheidend:
Sie sehen also, daß wir es mit einem vielschichtigen Problem zu tun haben. Mit eindimensionalen Antworten kommen wir hier nicht weiter. Die Frage der Entlohnung ist eine Frage unter mehreren in dieser schwierigen Materie. Viele von uns hier eint der Wunsch, schnell, effektiv und unkompliziert die noch immer sehr beunruhigende Situation auf dem Arbeitsmarkt zu entspannen. Ich teile diesen Wunsch, halte ihn aber nur dann für realisierbar, wenn wir uns zunächst ein detailliertes Bild über die Arbeitsmarktsituation und die Struktur der Arbeitslosigkeit machen. Zunehmende Zahl von Langzeitarbeitslosen und erwerbsfähigen Sozialhilfebeziehern Wir hatten im Februar 1999 rd. 4,46 Mio. Arbeitslose. Ein Drittel dieser Arbeitslosen waren zu dem Zeitpunkt bereits länger als 12 Monate ohne Job. Dieser Personengruppe, die es besonders schwer auf dem Arbeitsmarkt hat, müssen wir uns besonders widmen. Die Gruppe der Langzeitarbeitslosen besteht im wesentlichen aus Menschen ohne Ausbildung, älteren Arbeitnehmern und gesundheitlich Eingeschränkten. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Tatsache, daß die durchschnittliche Verweildauer in der Arbeitslosigkeit mit steigendem Alter zunimmt. [Seite der Druckausg.: 25] Beträgt bei den 50- bis 65jährigen die durchschnittliche Dauer der Arbeitslosigkeit noch 16,2 Monate, erhöht sie sich bei den 55- bis 65jährigen schon auf 19,1 Monate. Die 60- bis 65jährigen, also die rentennahen Jahrgänge, brauchen gar 28,4 Monate, bis sie wieder einen Job finden oder - was der Regelfall sein dürfte - ihre Arbeitslosigkeit durch Verrentung beenden. Das wirft im übrigen ein bezeichnendes Licht auf jene, die ständig über den reichen unverzichtbaren Erfahrungsschatz Älterer in den Betrieben philosophieren. Lassen Sie es mich hart ausdrücken: Älter zu sein, ist auf dem heutigen Arbeitsmarkt ein Handicap. Um die Arbeitsmarktchancen Älterer zu erhöhen, bedarf es mehr als warmer Worte und sentimentaler Rückbesinnung auf längst vergangene Zeiten. Den Arbeitslosen mit gesundheitlichen Einschränkungen ergeht es kaum besser. Auch sie brauchen deutlich länger als der Durchschnitt, um wieder einen Arbeitsplatz zu finden. Sie sind rund 13,2 Monate arbeitslos, während die durchschnittliche Arbeitslosigkeit bei 9,3 Monaten liegt. Neben diesen Gruppen stellen die erwerbsfähigen Sozialhilfebezieher ein großes Problem für den Arbeitsmarkt dar. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes waren 1997 von insgesamt 2,9 Millionen Hilfeempfängern knapp eine Million Personen zwischen 18 und 59 Jahren grundsätzlich erwerbsfähig, aber ohne Erwerbstätigkeit. Die Anforderungen, die hier an uns gestellt werden, sind vielfältig: Wir müssen zuallererst Anreizfunktionen für Sozialhilfeempfänger schaffen. Dann geht es darum, bei bestimmten Personengruppen Beschäftigungsfähigkeit wieder- oder manchmal auch überhaupt erst herzustellen. Und wir müssen zu einer Erhöhung der Akzeptanz von patch-work-Biographien" kommen, wie das etwa in den angelsächsischen Ländern heute schon der Fall ist. Arbeitsangebot für Geringqualifizierte ist vorhanden Es muß uns also bei allen möglichen Maßnahmen darum gehen, die Reintegration von Langzeitarbeitslosen und erwerbsfähigen Sozialhilfebeziehern in den Arbeitsmarkt zu verbessern. Primär sind die Geringqualifizierten Adressat unserer Bemühungen. Denn die Geringqualifizierten sind von Arbeitslosigkeit überdurchschnittlich betroffen. Aber ist es wirklich so, daß es zu wenig Beschäftigungsmöglichkeiten für diese Menschen gibt? Es gibt vielmehr klare Anzeichen dafür, daß Beschäftigungsmöglichkeiten in diesem Segment nach wie vor vorhanden sind. Nach einer 1996 veröffentlichten Studie von Hasso von Henninges ist zwar das formale Qualifikationsniveau der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in der Vergangenheit erheblich angestiegen. Daraus kann jedoch nicht gefolgert werden, daß sich überall auch die Qualifikationsanforderungen am Arbeitsplatz in gleicher Weise erhöht haben. Es ist vielmehr so, daß wir einen Verdrängungseffekt beobachten können: Un- oder angelernte Arbeiter werden in ihren angestammten Tätigkeiten durch besser qualifizierte Arbeitnehmer ersetzt. Aus diesem Zusammenhang können wir einen entscheidenden Schluß ziehen: Wichtigste Voraussetzung für eine Verbesserung der Beschäftigungssituation Geringqualifizierter ist anhaltendes beschäftigungswirksames Wirtschaftswachstum. Wirtschaftswachstum entspannt den Verdrängungswettbewerb der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer untereinander. Bei einer Verbesserung der Beschäftigungslage würden viele qualifizierte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in noch höher qualifizierte und damit besser bezahlte Arbeitsverhältnisse aufsteigen können. Durch diesen Nachrückeffekt" wiederum könnten sich in den unteren Lohnsegmenten neue Beschäftigungsfelder für Geringqualifizierte eröffnen. Ich gebe zu: Der Konjunktiv in meinem Satz macht deutlich, wie schwer es ist, beschäftigungswirksames Wachstum zu realisieren. Wichtig ist mir aber: Wir haben es mit einer Verkettung von wirtschaftlichen Prozessen zu tun. Die Schaffung eines Niedriglohnbereichs hält den Verdrängungseffekt nicht auf. Es führt kein Weg daran vorbei: Wir brauchen ebenso stetiges Wirtschaftswachstum und eine spürbare Zunahme der Erwerbstätigkeit. [Seite der Druckausg.: 26] Keine Lohnunflexibilität Wer einen eigenen Niedriglohnsektor fordert, legt dieser Forderung oft die These der zu geringen Lohnspreizung zugrunde. Doch die Lohnspreizung in Deutschland hat sich in den letzten Jahren deutlich erhöht. Schauen wir uns den tariflichen Bereich an:
Diese Zahlen belegen, daß sich in den letzten 20 Jahren die Lohnspreizung nicht verkleinert, sondern in Teilen sogar vergrößert hat. Zudem eröffnen die Beschäftigungssicherungsverträge in zahlreichen Branchen bei Arbeitszeitverkürzung weitere Lohnsenkungsoptionen. Richtig ist: Die untersten Tariflohngruppen sind de facto nur gering besetzt. 1995 waren insgesamt nur 1,8 Prozent aller Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in den untersten Tariflohngruppen beschäftigt. Die Frage muß hier gestellt werden, ob die dort definierten Tätigkeiten schwinden und was die Ursache ist. Im übrigen kommt die Frage auf, ob in bestimmten Branchen überhaupt noch Spielräume für Lohnsenkungen bestehen. Einige Beispiele:
Auch hier habe ich mich nur auf tarifliche Entgelte bezogen. Die Einkommensrealitäten, losgelöst von allen Tarifverträgen, sehen noch einmal anders aus. Da müssen wir nur nach Ostdeutschland schauen. Die Frage lautet also, wann eine direkte Abhängigkeit von Einkommenstransfers entsteht und ob eine stärkere Lohnspreizung ohne Haltelinie nach unten definiert werden kann. Dienstleistungslücke in Deutschland? Lassen Sie mich nun zu einem Bereich kommen, dem die größten Arbeitsplatzpotentiale für Niedrig- und Geringqualifizierte zugesprochen werden. Ich meine den Dienstleistungssektor. Wenn hier von ungeahnten Beschäftigungsmöglichkeiten gesprochen wird, ist die Rede von der Dienstleistungslücke" in Deutschland. Haben wir wirklich eine solche Dienstleistungslücke? Auf den ersten Blick scheinen die Zahlen eindeutig zu sein: Bei den freizeitbezogenen Dienstleistungen weisen etwa die USA eine doppelt so große Dienstleistungsdichte wie Deutschland auf. Umgerechnet bedeutet dies 1,9 Millionen mögliche Arbeitsplätze bei uns, wenn wir die Dienstleistungsdichte der USA hätten. Auch im Bereich Handel, Instandhaltung und Reparatur könnten wir gegenüber den USA nachholen. Hier würde eine Angleichung der Dienstleistungsdichten zu rd. 1,5 Millionen mehr Arbeitsplätzen führen. Bei Arbeiten im privaten Haushalt ist der Unterschied jedoch geringer als gemeinhin angenommen. Hier sind - bei Angleichung der Dienstleistungsdichten - rd. 180.000 zusätzliche Arbeitsplätze denkbar. Es stellt sich bei solchen Rechnungen aber die Frage, ob diese Dichtevergleiche ohne weiteres zu realistischen Schlußfolgerungen führen. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in [Seite der Druckausg.: 27] Berlin geht etwa davon aus, daß bei den vorwiegend wirtschaftsbezogenen Dienstleistungen die Lücke gegenüber den USA wohl deutlich überschätzt wird, da
Unabhängig davon, wie nunmehr der Befund lauten mag, steht eins fest: Aufgrund mangelnder Vergleichbarkeit der nationalen Statistiken sind bei derartigen Dichtevergleichen immer Probleme angesagt. Ohne Zweifel liegt im Dienstleistungssektor - und hier insbesondere bei den personennahen Dienstleistungen - ein zusätzliches Beschäftigungspotential. Dies gilt allerdings für alle Qualifikationsstufen. Die Frage für die Zukunft wird sein, wie wir dieses Potential nachfragewirksam machen können. Der Bedarf ist da - auch für Geringqualifizierte. Nur wird er nicht realisiert, weil entweder die Nachfrager nach solchen Leistungen nicht bereit sind, den geforderten Preis zu zahlen oder die Anbieter nicht in der Lage sind, zu noch niedrigeren Löhnen zu arbeiten. Auf diese Probleme müssen wir Antworten finden. Interessant finde ich den Vorschlag, Dienstleistungsagenturen einzurichten, die ihre Dienste zu bezahlbaren Preisen anbieten können. Ein solcher Vorschlag muß sorgfältig geprüft werden. Natürlich wird es auch darum gehen, Nachfrager und Anbieter von Dienstleistungen stärker zusammenzubringen. Die weitverbreitete Scheu, sich bedienen zu lassen, ist nicht gerechtfertigt. Ebensowenig ist es ein Makel, seine Dienste anderen Menschen gegen Bezahlung zur Verfügung zu stellen. Viele sind darauf angewiesen, daß man sie unterstützt, und viele Menschen haben dazu die Fähigkeiten. Lohnsektor von 631,- bis 1.500,- DM Zudem - und dies ist ein besonderes Phänomen bei uns in Deutschland - wird eine Vielzahl gerade dieser wichtigen Tätigkeiten in Form von geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen ausgeübt. Das ist eine deutsche Besonderheit. Die Mehrzahl der Industrie- und Dienstleistungsgesellschaften erkennen diese Leistungen als vollwertig an. Ein Beispiel: In anderen Ländern wie den USA und fast allen EU-Ländern gibt es keine Befreiung von der So-zialversicherungspflicht für Geringverdiener. Nach einer Untersuchung des Instituts für Sozialforschung und Gesellschaftspolitik hat sich die Zahl der geringfügig Beschäftigten bei uns von 1987 bis 1998 auf rd. 5,6 Millionen verdoppelt. Dieser Entwicklung haben wir mit der nun verabschiedeten Reform der geringfügigen Beschäfti- [Seite der Druckausg.: 28] gungsverhältnisse eingedämmt. Dies war schwierig genug, da wir in diesem Bereich auf nahezu anarchische Verhältnisse gestoßen sind. Jeder Job wird künftig von der ersten Mark an sozialversicherungspflichtig. Dies war ein wichtiger Schritt, um endlich wieder Ordnung auf dem Arbeitsmarkt herzustellen. Zudem war diese Reform Grundvoraussetzung dafür, jetzt die Beschäftigung für Geringqualifizierte gezielt fördern zu können. Die Neuregelung ab 1. April verringert zwar den Kostenvorteil dieser Beschäftigungsformen beim Arbeitgeber; auf seiten des Arbeitnehmers bleibt es aber dabei, daß bei Überschreiten der 630-DM-Grenze ein Abgabensprung einsetzt. Darum wird es auch in Zukunft besonders darauf ankommen, das bislang fast völlig brachliegende Lohnsegment von 631,- DM aufwärts bis zu 1.500,- DM zu aktivieren. Wir müssen die Übergänge glätten. Hier erscheint es sinnvoll, die nach wie vor bestehenden Belastungssprünge beim Überschreiten der 630,- DM-Grenze zu korrigieren. So könnten die Sozialversicherungsbeiträge durch staatliche Zuschüsse teilweise übernommen werden. Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang eine Klarstellung vornehmen: Die monatliche Entgelthöhe sagt weder etwas über das Qualifika-tionsniveau, noch über die Beschäftigungsfähigkeit, noch über die Arbeitsmarktchancen aus. Hinter der Kopfzahl des Verdienstes können sich sehr unterschiedliche Situationen und Motivationen verbergen. Die monatliche Entgelthöhe selbst sagt deshalb wenig darüber aus, ob eine Subventionierung angebracht ist oder nicht. Aussagekräftiger als die monatlichen Einkünfte ist die Höhe des Stundenlohns, wie es etwa Ottmar Schreiner in seinem Modell zugrunde legt. Eine weitere Ursache, warum das Lohnsegment zwischen 631 DM und 1.500 Mark so wenig frequentiert wird, liegt an dessen großer Nähe zur Sozialhilfe. Das führt zu Negativanreizen bei der Arbeitsaufnahme. Darum dürfen wir auch vor Überprüfungen im Bundessozialhilfegesetz nicht halt machen. Ich plädiere dafür, plausible Vorschläge, die zur Lösung dieses Problems unterbreitet werden, in Modellversuchen zu testen. Angesichts der Wirkungen, die in sozialversicherungsrechtlicher, steuerlicher und tarifvertraglicher Hinsicht entstehen können, ist eine genaue Analyse der Beschäftigungswirksamkeit notwendig, ehe wir zu einer abschließenden gesetzlichen Regelung kommen. Zudem sollte es in solchen Modellversuchen auch darum gehen, die Zusammenarbeit zwischen Sozial- und Arbeitsämtern zu verbessern. Denn die Reintegration in den Arbeitsmarkt darf nicht an Bürokratiehürden scheitern. Es gibt viele kluge Köpfe, die sich über diesen Beschäftigungssektor ihre Gedanken gemacht haben. Ich möchte die einzelnen Modelle, sei es das SPD-Modell, das Mainzer Modell oder das Schreiner-Modell nicht bewerten. Alle erarbeiteten Konzepte haben ihre Vor- und Nachteile. Wir müssen genau abwägen. Festzuhalten ist: Wir brauchen eine Lösung, die - für die Betroffenen Anreize schafft, neben dem Bezug von Sozialleistungen Beschäftigungen aufzunehmen, - keinen Lohnsenkungswettbewerb auslöst, aber auch nicht zu Verdrängungseffekten führt, - zielgenau arbeitet und auf Arbeitgeberseite Mitnahmeeffekte minimiert, - brachliegende Beschäftigungspotentiale im Dienstleistungssektor aktiviert und - Fiskal- und Sozialversicherungshaushalte stabil hält. Mir liegt es fern, die Quadratur des Kreises zu fordern. Aber wir müssen abschätzen, was die Wirkung unseres Handelns ist. Deshalb bin ich dafür, Ziele und Kriterien zu setzen. [Seite der Druckausg.: 29] Wir brauchen Maßstäbe, an denen sich die Vorschläge orientieren können. Ich hoffe, daß sich eine konstruktive Debatte entfaltet. Wir alle haben ein gemeinsames Ziel: Wir wollen die Arbeitslosigkeit senken und neue Arbeitsplätze schaffen. Ein wichtiger Baustein wird die Beschäftigung Niedrigqualifizierter, Langzeitarbeitsloser und Sozialhilfebezieher sein. Wenn wir hier kluge und zielgenaue Lösungen entwickeln, sind wir unserem Ziel einen großen Schritt näher gekommen. [Seite der Druckausg.: 30 = Leerseite] © Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Oktober 1999 |