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5. Einige Folgerungen

Schon eingangs ist betont worden, dass es uns vor allem darum geht, die nach unserer Auffassung verschobenen Gewichte bezüglich der Rolle von Angebots- und Nachfragefaktoren für die Beschäftigung wieder gerade zu rücken. Für die Erklärung der Arbeitslosigkeit und deren Anstieg in Europa (und damit natürlich auch in Deutschland) ist in den letzten Jahren fast ausnahmslos auf die Angebotsseite abgestellt worden. Die Arbeitslosigkeit ist überwiegend als strukturell diagnostiziert worden und damit schien bereits erwiesen, dass Maßnahmen, die zur Verminderung von konjunktureller Arbeitslosigkeit tauglich erscheinen mögen, zur Therapie der heute vorherrschenden Beschäftigungsprobleme nichts beitragen können. Dazu kommt der von der herrschenden Theorie genährte Verdacht, dass sich durch nachfrageseitige Maßnahmen allenfalls kurzfristig eine Verbesserung der Beschäftigungssituation erreichen lasse ("Strohfeuereffekt"), während man längerfristig mit einem stärkeren Preisauftrieb zu rechen habe.

Wir halten diese Sicht für falsch. Zwar muss man zugeben, dass es auch auf Seiten der Keynesianer zu Übertreibungen gekommen ist, die nicht aufrecht erhalten werden können und die nicht ohne Berechtigung als "hydraulischer Keynesianismus„ bezeichnet werden. Das betrifft insbesondere die Fixpreismodelle, die die Vorstellung nahe legen, dass durch Manipulation der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage die Ökonomie problemlos und ohne negative Nebenwirkungen auf das gewünschte Aktivitätsniveau geschleust werden könne. Wer solche Vorstellungen vertrat, ist fraglos durch die Realität (die unter anderem dadurch gekennzeichnet ist, dass man es mit offenen Wirtschaften zu tun hat, in denen Kapitalbewegungen eine höchst bedeutsame Rolle spielen) eines anderen belehrt worden.

Aber nicht nur unter Keynesianern findet man Menschen, die zu Übertreibungen neigen. Unter den Vertretern der Theorie realer Konjunkturschwankungen kommen solche auch und sogar besonders reichlich vor. Während Preiseffekte von hydraulischen Keynesianern oft ganz ausgeschlossen wurden, vertreten diese die keineswegs minder gewagte These, dass die Preise sofort reagieren und man sich deshalb eigentlich keine Sorgen machen müsse und auch kein politischer Handlungsbedarf existiere. Was wie eine Rezession aussähe und von den Leuten

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auch für eine gehalten werde, sei letztlich nur eine wünschenswerte Anpassung an einen externen Schock.

Solche Extrempositionen haben aber mit dem wirklichen ökonomischen Leben nichts gemein. In diesem sind die Preise weder vollkommen starr, noch passen sie sich sofort veränderten Umständen an. Das aber bedeutet, dass grundsätzlich die Produktion durch die (unzureichende) Nachfrage beschränkt sein kann und wenn dagegen nichts unternommen wird, werden sich Produktion und Beschäftigung eben an die Nachfrage anpassen, d.h. zurückgehen. Vieles spricht dafür, dass solche Nachfragebeschränkungen nicht nur eine theoretische Möglichkeit sondern von erheblicher praktischer Bedeutung sind und die Politik nicht immer das Notwendige unternommen hat, den Rückgang von Output und Beschäftigung zu konterkarieren.

Dass hat damit zu tun, dass der Einsatz von makroökonomischer, auf der Nachfrageseite ansetzender Politik heute nicht mehr unumstritten ist und erst recht umstritten ist, in welcher Form und mit welchen Instrumenten das gegebenenfalls zu geschehen habe. Gewandelt hat sich insbesondere die Auffassung in bezug auf sogenannte diskretionäre Maßnahmen, also bezüglich der fallweisen Eingriffe in gesamtwirtschaftliche Abläufe. Ihnen wird vorgeworfen, dass sie Unsicherheit hervorrufen, Erwartungen destabilisieren und damit mehr Schaden als Nutzen erzeugen.

Hier kann es nicht darum gehen, die verschiedenen Formen und Instrumente einer wirtschaftspolitischen Intervention im einzelnen zu beurteilen. Niemand wird leugnen, dass es dabei auch zu kontraintentionalen Effekten kommen kann, weil z.B. Fehleinschätzungen der Reaktionen von Investoren, Konsumenten oder internationaler Anleger vorliegen. Daraus ziehen wir aber nicht den Schluss, dass die beste Makropolitik der Verzicht auf Makropolitik ist. Nach wie vor gilt vielmehr, dass die notwendige Bedingung für ein hohes Produktions- und Beschäftigungsniveau das Vorliegen einer entsprechenden Nachfrage ist. Dabei wird in der Regel die Rolle der Nachfrage nur darin gesehen, zu einer besseren Auslastung gegebener Kapazitäten beizutragen, also mit dem vorhandenen Potential einen höheren Output zu erzeugen. Ober diese landläufige Sicht hinausgehend, sind wir aber auch der Auffassung, dass Nachfrage mehr bewirken kann, nämlich dass die Ausweitung der gesamtwirt-

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schaftlichen Nachfrage die Schaffung neuer Kapazitäten begünstigt, also auch zu einer Erhöhung des Produktionspotentials beiträgt. Und schließlich erweist sich auch der Anteil von konjunktureller und struktureller Arbeitslosigkeit durchaus nicht als gegeben. So hat sich z.B. in der Vergangenheit gezeigt, dass in Phasen mit hoher Nachfrage viele Firmen plötzlich Arbeitskräfte rekrutierten, die zuvor ihren Qualifikationsanforderungen nicht entsprachen.

Welchen Nachfragekomponenten jeweils bei einer Expansion der Nachfrage besondere Bedeutung zukommt, ist in verschiedenen Ländern und historischen Situationen unterschiedlich. In Westdeutschland hat z.B. der Export für die Überwindung von Phasen der Nachfrageschwäche immer eine besondere Rolle gespielt. In den USA hat sich während der noch anhaltenden Expansionsphase das Gewicht ganz eindeutig hin zur privaten Nachfrage verlagert, die durch eine entsprechende Geldpolitik gestützt, aber nicht durch diese erst geschaffen wurde. Insgesamt wird man aber feststellen können, dass die makroökonomischen Voraussetzungen und damit die notwendigen Bedingungen für eine Ausdehnung von Produktion und Beschäftigung in den USA die entschieden besseren waren und insofern einen erheblichen Teil zum deutlich besseren Erscheinungsbild der USA in Sachen Beschäftigung beigetragen haben. Gleichzeitig liefern die Vereinigten Staaten Anschauungsunterricht dafür, dass die notwendige Nachfrage in hochentwickelten Industriestaaten keineswegs nur dadurch zustande kommen kann, dass Budgetdefizite laufend ausgedehnt werden und damit die öffentliche Schuld immer weiter erhöht wird.

Einzugehen ist aber noch kurz auf die hinreichenden Bedingungen. Dass die Arbeitslosenquote in den USA auf ein historisch außerordentlich niedriges Niveau gesunken ist und das bei gleichzeitigem Rückgang der Inflationsrate, wirft natürlich die Frage auf, welchen besonderen Umständen das zu verdanken ist, ob diese spezifisch amerikanisch sind oder ob die europäischen Länder mit zeitlicher Verzögerung auch damit rechnen können.

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In einem interessanten Beitrag zweier amerikanischer Autoren [Fn. 101: Katz, L.F. and Krueger, A.B., The High-Pressure U.S. Labor Market of the 1990s, Brookings Papers on Economic Activity 1 ;1999, S, 1-87 ] wird darauf eine Antwort zu geben versucht. Die beiden Autoren gehen davon aus, dass seit Mitte der achtziger Jahre eine Reduktion der NAIRU im Umfang von 0,7 bis 1,5-Prozentpunkten eingetreten ist und sie gehen der Frage nach, welchen Beitrag dazu vier von ihnen näher untersuchte Entwicklungen geleistet haben.

Ihr erster Punkt betrifft die demographische Entwicklung. In den Vereinigten Staaten hat sich eine Verschiebung zu den älteren Arbeitnehmern hin ergeben. Da die Jüngeren (16-24jährigen) immer deutlich höhere Arbeitslosenquoten aufwiesen, kann man aus dieser Verschiebung rein rechnerisch einen die gesamtwirtschaftliche Arbeitslosenquote reduzierenden Effekt ermitteln. Als "best estimate" für diesen demographischen Einfluss geben die Autoren 0,4 Prozentpunkte [Fn. 102: Hier wie bei den folgenden Punkten bedeutet das jeweils, dass ein Absinken der Arbeitslosenquote in diesem Umfang dem genannten Effekt zugeschrieben wird.] an.

Der zweite Punkt betrifft die Verbesserung der Arbeitsmarkteffizienz, d.h. insbesondere des sogenannten Matchingprozesses, also der Zusammenführung von Angebot und Nachfrage. Dabei wird auf zwei recht verschiedene Entwicklungen eingegangen. Zum einen ist in den USA ein Programm des Department of Labor etabliert worden, die "Worker Profiling and Reemployment Services (WPRS)", mit dem eine Verbesserung des Matching-Prozesses intendiert ist, insbesondere durch "Job Search Assistance (JSA)". Zum anderen haben Zeitarbeitsfirmen erheblich an Bedeutung gewonnen, denen für einen effizienten Matching-Prozess ebenfalls eine erhebliche Bedeutung zuerkannt wird. Der quantitative Effekt wird auf 0,0 bis 0,4-Prozentpunkte geschätzt.

Der dritten Einflussgröße ist auch schon in anderen Untersuchungen Aufmerksamkeit geschenkt worden: der hohe und in den neunziger Jahren stark gestiegene Anteil der Bevölkerung, der sich in Gefängnissen befindet. Das Argument lautet, dass Gefängnisinsassen zwar aus dem Zähler und dem Nenner der Arbeitslosenquote verschwinden, aber in dem Fall, dass die Betreffenden nicht im Gefängnis wären, im Zähler stärker zu Buche schlagen würden, da es sich um Personen handelt, die weit überproportional von Arbeitslosigkeit betroffen sind. Dieser Effekt wird mit 0,17

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Prozentpunkten quantifiziert. Für die männliche Bevölkerung betrüge er 0,3 Prozentpunkte.

Als letzte Einflussgröße wird die "Hypothese des schwachen Rückgrads" untersucht. Gemeint ist damit, dass auf Grund der Schwächung der Gewerkschaften und einer insgesamt größeren Arbeitsmarktkonkurrenz die Fähigkeit und Bereitschaft zur Forderung von Lohnerhöhungen zurückgegangen ist. Eine solche Hypothese ist naturgemäß nur schwer zu testen. Ihr wird deshalb auch nur eine geringe Erklärungskraft zugestanden (0 bis 0,1-Prozentpunkte).

Insgesamt handelt es sich dabei doch eher um US-spezifische Tendenzen, so dass man nicht erwarten kann, die gleichen Tendenzen mit zeitlicher Verzögerung in Europa zu bekommen. Aber natürlich ist das kein vollständiges Bild über die auf die (strukturelle) Arbeitslosigkeit einwirkenden Determinanten. Schon im zweiten Kapitel dieser Arbeit ist festgestellt worden, dass in den USA die Arbeitslosenquote bei einer Zunahme des Wachstums stärker abnimmt als in Deutschland. Dahinter könnten unterschiedlich ausgestaltete Anreizstrukturen stehen und zwar in der Weise, dass in den USA durch Zuckerbrot und Peitsche ein sehr viel stärkerer Anreiz (bzw. Zwang) zur Erwerbsbeteiligung als in Deutschland gesetzt (bzw. ausgeübt) wird. Wir haben in diesem Zusammenhang auf den Earned Income Tax Credit hingewiesen, weil das Prinzip dabei besonders deutlich wird. Aber auch anderes wirkt in diese Richtung, z.B. dass mit Arbeitslosigkeit der Krankenversicherungsschutz verloren gehen und somit Verweilen in der Arbeitslosigkeit sehr riskant sein kann.

Es ist keine Frage, dass Fehlanreize vermieden werden müssen. Wo solche vorliegen, besteht Handlungsbedarf. Ob man so konsequent und mitunter rigoros wie die USA eine auf Erwerbsbeteiligung zielende Anreizstruktur durchsetzen sollte, ist eine Wertentscheidung, deren Beantwortung wir hier offen lassen wollen. Sicher ist aber, dass allein die Umgestaltung der Anreizstrukturen (Beseitigung von Fehlanreizen und stärkere "incentives" zur Erwerbsbeteiligung) die Nachfrage nach Arbeitskräften nicht automatisch erhöht. Gegen diejenigen, die einen solchen Eindruck erwecken [Fn. 103: Davon kann man auch den Wissenschaftlichen Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft nicht ausnehmen. Siehe dessen Gutachten Langzeitarbeitslosigkeit, BMWi Studienreihe, Nr. 92. Bonn 1996] , muss die richtige Ordnung der Dinge betont werden: Voraussetzung für eine verstärkte

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Nachfrage nach Arbeitskräften ist eine entsprechende Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen. Richtig gesetzte Anreize, die Flexibilität von Märkten (keineswegs nur des Arbeitsmarkts sondern gleichermaßen des Güter- und Kapitalmarkts) entscheiden dann darüber, in welchem Umfang sich verstärkte Nachfrage in Beschäftigungs-, Produktivitäts- oder (am wenigsten erfreulich) in Preiseffekten niederschlägt.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Juni 2001

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