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[Seite der Druckausg.: I = Danksagung]
[Seite der Druckausg.: II-III = Inhaltsverzeichnis]
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[Seite der Druckausg.: V = Tabellenverzeichnis]

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1 Einführung

1.1 Beschäftigung: Beidäugig betrachtet

Wenn über die hohe Arbeitslosigkeit in Deutschland gesprochen und über deren Ursachen räsoniert wird, kann man schon fast darauf wetten, dass die Sprache sehr schnell auf die US-amerikanische Wirtschaft und insbesondere auf deren dynamische Beschäftigungsentwicklung kommt. Denn all das, was sich in Deutschland - und darüber hinaus auch in zahlreichen anderen europäischen Ökonomien - als großes Problem darstellt, scheint in den USA seit geraumer Zeit kein Problem zu sein. Anders als in zahlreichen europäischen Wirtschaften ist die Arbeitslosenquote niedrig, und zwar ohne dass die amerikanische Wirtschaft dafür eine höhere Inflationsrate hätte in Kauf nehmen müssen als die europäischen Länder. Dazu kommt die für die amerikanische Ökonomie vorteilhafte Richtung der Entwicklung: Während in den USA in den neunziger Jahren die Arbeitslosenquote deutlich rückläufig war, ist sie z.B. in Deutschland deutlich angestiegen. Vor allem aber hat man es mit einer völlig verschiedenen Beschäftigungsentwicklung zu tun. Während die Zahl der Erwerbstätigen in den USA schon seit langem, insbesondere aber zuletzt Jahr für Jahr absolut und relativ beeindruckende Steigerungen aufwies, sieht man sich in Deutschland seit einigen Jahren mit einer sehr bescheidenen, teilweise sogar rückläufigen Beschäftigungsentwicklung konfrontiert.

Diese hier zunächst nur angedeuteten Unterschiede haben dazu geführt, dass die amerikanische Wirtschaft und insbesondere der amerikanische Arbeitsmarkt unter europäischen Ökonomen sich eine große Fangemeinde erworben hat. Die Bewunderer des "amerikanischen Beschäftigungswunders" sind in der Regel davon überzeugt, dass die unterschiedliche Entwicklung die höhere Funktionstüchtigkeit des amerikanischen Arbeitsmarktes genügend belegt. Verbunden wird das häufig mit scharfer Kritik der (Mehrzahl der) europäischen Arbeitsmärkte, die in Begriffen wie "Verkrustung", "Eurosklerose" und ähnlichem zum Ausdruck gebracht wird.

Dabei sind sich die Lob und Tadel Verteilenden freilich nicht einig, worin die entscheidenden Vorzüge des amerikanischen und umgekehrt die wesentlichen

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Defekte der europäischen Arbeitsmärkte liegen. Zahlreiche Kandidaten bieten sich an. Zu den beliebtesten gehören: die moderate Lohnentwicklung in den USA; die größere Differenzierung der Arbeitseinkommen; geringere Bedeutung arbeitsrechtlicher Regelungen, insbesondere ein deutlich weniger ausgeprägter Kündigungsschutz; geringe bzw. gesunkene Bedeutung der Gewerkschaften; größere Verbreitung individueller Arbeitsverträge oder betrieblicher Tarifabschlüsse; das weit weniger ausgebaute System der sozialen Sicherung, usw.

Worauf von den einzelnen Betrachtern des amerikanischen Arbeitsmarktes auch immer der Akzent gelegt wird: Einig sind sie sich in der Regel darin, dass darin eine höhere Flexibilität des amerikanischen Arbeitsmarktes zum Ausdruck kommt. Auch wenn über die relative Bedeutung der jeweiligen Punkte keine Übereinkunft erzielt werden kann, ist man sich jedenfalls darüber weitgehend einig, dass der amerikanische Arbeitsmarkt weit flexibler als seine europäischen Widerparts ist. Und damit scheint auch bereits alles erklärt: Die Flexibilität des amerikanischen Arbeitsmarktes sorgt dort für eine dynamische Beschäftigungsentwicklung, die Rigiditäten an europäischen Arbeitsmärkten verhindern diese. Die nahe liegende Forderung an die Europäer lautet: Flexibilisierung; und diese Forderung ist häufig synonym mit der nach weitgehender Annäherung an amerikanische Verhältnisse.

In dieser Arbeit soll gezeigt werden, dass mit dem Verweis auf die höhere Flexibilität des US-Arbeitsmarktes keine befriedigende und keine ausreichende Erklärung für die zweifellos stärkere Dynamik der dortigen Beschäftigungsentwicklung gegeben wird. Zwar ist durchaus richtig, dass die Verfassung des Arbeitsmarktes sich als mehr oder weniger förderlich für dessen Fähigkeit erweisen kann, denjenigen Beschäftigungsmöglichkeiten zu verschaffen, die arbeitslos geworden sind, bzw. denjenigen, die neu oder nach Unterbrechung wieder ins Erwerbsleben eintreten möchten. Aber das ist eben nur die eine Seite der Medaille. Über die Höhe der Beschäftigung wird nicht allein - und vielleicht nicht einmal in erster Linie - am Arbeitsmarkt entschieden. An dieser wesentlichen Einsicht John Maynard Keynes' sind u.E. auch heute keine Abstriche zu machen. Wir verstehen sie als Aufforderung, stärker als das gewöhnlich geschieht, auch den makroökonomischen Bedingungen Aufmerksamkeit zu schenken, unter denen sich die starke Ausdehnung der Erwerbstätigenzahlen in den USA ergeben hat. Dabei wird sich zeigen, dass es im

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wesentlichen die private Nachfrage, und zwar Konsum- und Investitionsgüternachfrage, war, die in den neunziger Jahren den lang anhaltenden Aufschwung getragen hat.

Neben den makroökonomischen Rahmenbedingungen soll aber auch auf die Struktur der Güter- und Dienstleistungsmärkte eingegangen werden. Die hier vorliegenden Unterschiede sind nach unserer Auffassung von erheblicher Bedeutung für den zentralen Sachverhalt, dass bei im Trend annähernd gleichen Wachstumsraten im realen Bruttoinlandsprodukt sich dieses Wachstum in den USA als wesentlich beschäftigungsintensiver erwiesen hat.

Wir verstehen die hier vorgelegte Untersuchung nicht als eine nachfrageorientierte Interpretation der amerikanischen Beschäftigungsentwicklung, schon deshalb nicht, weil es eine reine Nachfrage- oder Angebotstheorie der Beschäftigung gar nicht geben kann. Vielmehr soll zu einer ausgewogeneren Sicht beigetragen werden, wobei die Aussage von Samuelson das Motto vorgibt, der zufolge die Ökonomen von ihrem Schöpfer zwei Augen bekommen haben, damit sie Angebot und Nachfrage berücksichtigen können. Bei der Vereinseitigung, die in der Diskussion gelegentlich festzustellen ist, kann das natürlich schon dazu führen, gerade das deutlicher zu betonen, was anderswo unterbelichtet bleibt. Wenn sich der Kahn allzu sehr nach der einen Seite neigt, lehne ich mich auf die andere, hat Thomas Mann einmal als seine Haltung beschrieben. Diese muss nicht dem Schriftsteller überlassen bleiben, sondern kann auch von einem Ökonomen aufgegriffen werden.

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1.2 Gang der Untersuchung

Im Einzelnen gehen wir wie folgt vor. Im folgenden Punkt (Kap. 2) geben wir zunächst einen Überblick über die Entwicklung, die sich in Deutschland und in den USA vollzogen hat. Da ein längerer Zeitraum betrachtet wird als er seit der deutschen Vereinigung vergangen ist, stützen wir uns beim Vergleich im wesentlichen auf statistisches Material für die alte Bundesrepublik. Ganz generell haben wir uns entschlossen, die mit der deutschen Vereinigung zusammenhängenden Probleme weitgehend unberücksichtigt zu lassen und auch die signifikanten

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Unterschiede zwischen alten und neuen Bundesländern nicht zu thematisieren. Wir sind uns bewusst, dass in einer umfassenderen Analyse dies nicht aufrecht erhalten werden könnte, da die Situation in den alten Bundesländern selbstverständlich nach der Vereinigung nicht unabhängig von diesem Ereignis war.

Im Mittelpunkt des zweiten Kapitels steht das unterschiedliche Wachstumsmuster in den USA und Deutschland. Es zeigt sich, dass bei nicht allzu stark voneinander abweichenden Wachstumsraten des realen Bruttoinlandsprodukts die dahinter stehenden Komponenten ein deutlich verschiedenes Gewicht aufweisen: In Deutschland war das Produktivitätswachstum vergleichsweise hoch, die Zunahme der Erwerbstätigenzahl dagegen niedrig, das Umgekehrte gilt für die USA. Diese Unterschiedlichkeit wird etwas genauer untersucht, wobei insbesondere auch auf die Frage von Beschäftigungsschwelle, Beschäftigungsintensität und auf das sogenannte "Okunsche Gesetz„ eingegangen wird.

Das dritte Kapitel ist den inzwischen bekannten Erklärungen für die Unterschiede gewidmet, die von angebotsorientierter Seite immer wieder vorgebracht werden. Neben einer Beurteilung der generellen Behauptung einer größeren Flexibilität des amerikanischen Arbeitsmarktes und des dafür angeblich aussagekräftigen Indikators NAIRU befassen wir uns mit vier immer wiederkehrenden Argumenten für die höhere Arbeitsmarktflexibilität in den USA: Unterschiede im Kündigungsschutz, Rigidität des deutschen Systems des Flächentarifvertrags, größere Lohndifferenzierung in den USA, Fehlanreize durch das deutsche soziale Sicherungssystem. Bei der Untersuchung dieser Frage zeigt sich, dass solche Unterschiede zwar zum Teil bestehen, diese allerdings nicht immer eindeutig eine höhere Flexibilität des amerikanischen Arbeitsmarktes begründen können. Insbesondere zeigt sich aber, dass in den letzten 10-15 Jahren bei den genannten Sachverhalten keine so unterschiedliche Entwicklung in den beiden Ländern eingetreten ist, dass sich daraus die unterschiedliche Bewegung der Arbeitslosenquoten erklären ließe.

Das vierte Kapitel wendet sich der makroökonomischen Umgebung zu, in der es zu der sehr günstigen Beschäftigungsentwicklung in den USA gekommen ist. Nur kurz wird - gleichsam als Kontrastprogramm - auch auf Deutschland eingegangen. Wir versuchen im einzelnen zu zeigen, dass in den Vereinigten Staaten die notwendige

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Bedingung für eine günstige Beschäftigungsentwicklung vorlag: Eine entsprechende Ausweitung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage. Während unter Reagan teilweise ein Keynesianismus wider Willen betrieben wurde, der hohe Defizite im Staatsbudget und gleichzeitig in der Leistungsbilanz zur Folge hatte (sogenanntes Zwillingsdefizit), haben sich die Verhältnisse im Verlauf der noch anhaltenden Expansionsphase geändert: Das hohe Defizit im Staatshaushalt ist abgebaut worden und in den beiden letzten Jahren wies das Federal Budget sogar einen Überschuss auf. Da der Leistungsbilanzsaldo nach wie vor stark negativ ist, gehen die entscheidenden Impulse von der privaten Nachfrage aus, d.h. vom privaten Konsum und der privaten Investitionstätigkeit.

Zur notwendigen Bedingung für eine Beschäftigungsausdehnung muss die hinreichende

dazukommen. Nachgegangen wird deshalb auch der Frage, welche Bedingungen dafür gesorgt haben, dass Preiseffekte weitgehend vermieden und starke Produktions- und Beschäftigungseffekte zustande gekommen sind. Dabei spielt zwar die vielbeschworene Flexibilität des amerikanischen Arbeitsmarktes eine Rolle, u.E. bedeutsamer ist aber die Anpassungsfähigkeit der Produktmärkte und ein ganz bewusst auf Erwerbsbeteiligung hin ausgerichtetes Anreizsystem, für das der schon im Kapitel 3 kurz diskutierte Earned Income Tax Credit ein gutes Beispiel liefert.

Im abschließenden Teil ziehen wir einige Folgerungen. Sie laufen letztlich, ganz nach dem von Samuelson vorgegebenen Motto, darauf hinaus, dass (auch) Ökonomen zwei Augen bekommen haben, es ihnen insofern möglich sein sollte, Angebot und Nachfrage zu betrachten und dass sie von dieser Möglichkeit mehr Gebrauch machen sollten.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Juni 2001

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