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TEILDOKUMENT:


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3. Ziele und Perspektiven für eine nachhaltige Regionalpolitik - Versuch einer Kommentierung

Eine Krise der ökonomischen Kernbranchen, die eine Großregion mit mehreren Millionen Menschen erfaßt hat, läßt sich nicht im Verlauf weniger Jahre auffangen - das bestätigen die Erfahrungen in allen betrachteten Regionen. In der Regel sind mehrere Jahrzehnte vonnöten, zumal es nicht lediglich um eine Anpassung an neue wirtschaftliche oder technische Gegebenheiten geht. Die gesamte Bevölkerung muß sich neu orientieren, und um die tiefgreifenden Neuerungen sinnvoll verarbeiten zu können, müssen sich viele gesellschaftliche Konventionen ändern.

Darin liegt Risiko und Chance zugleich. Angesichts der berechtigten Furcht vor wirtschaftlichem Niedergang, vor Arbeitsplatzverlust und sozialem Abstieg werden solche Botschaften von der breiten Mehrheit der Betroffenen aber nur ausnahmsweise als Chance, als Befreiung von Erblasten oder als kreatives Tor zur Gestaltung eines besseren Lebens empfunden. Resignation, Hilflosigkeit und Enttäuschung sind statt dessen die verbreiteten Gefühle derjenigen, die den Willen zur politischen und wirtschaftlichen Gestaltung des Systems weitgehend an Andere delegiert haben. Die Krise der Schwerindustrie in den betrachteten Regionen ist längst zu einer Krise der Industriegesellschaft geworden, die sich in zunehmendem Mißmut über Politiker ebenso äußert wie in der Hilflosigkeit im Umgang mit einem stetigen Anpassungsdruck an veränderte Rahmenbedingungen.

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Dynamisierung und Leitbilddiskussionen auf allen Ebenen

Um diesem ständigen Anpassungsbedarf auf regionaler Ebene gerecht werden zu können, so der Vertreter des Ministeriums für Arbeit, Soziales und Stadtentwicklung, Kultur und Sport in NRW, müssen Theorie und Praxis der Raumwirtschaftspolitik neu definiert werden, ist die Dynamisierung von Lern-, Verständigungs- und Entscheidungsprozessen auf allen Ebenen vonnöten. Das beinhaltet die Bereitschaft, sich von etablierten Leitbildern und Erfolgsindikatoren zu lösen, und es bedarf des Verständnisses dafür, daß es keine klaren und detaillierten Handlungsanweisungen, keine Patentrezepte für den Umgang mit derartigen Problemstellungen geben kann.

Statt dessen gilt es, Verfahrensregeln und Kommunikation zu optimieren und zu lernen, mit der verwirrenden Vielfalt und Komplexität von Information besser als bisher umzugehen. So ist beispielsweise die verwirrende Heterogenität der derzeitigen Leitbilder der städtischen Entwicklung nicht zuletzt darauf zurückzuführen, daß sie unter wenig operationalen Begriffen wie z.B. Nachhaltigkeit subsumiert werden, ohne die zahlreichen Zielaspekte auf ganz unterschiedlichen Ebenen zu unterscheiden und wenn möglich zu verbinden. Widersprüchlichkeiten sind ebenso die Folge wie

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die Diskrepanz zwischen allgemeiner Zustimmung und der tatsächlichen Umsetzung angestrebter Ziele.

Letztendlich ist aber die Vielfältigkeit und Vieldeutigkeit der konkurrierenden Leitbilder weder neu noch wirklich störend. Neu ist allenfalls die Explosion der tatsächlich realisierbaren Möglichkeiten. Die auch im Lauf der Tagung deutlich gewordene Vielzahl an Großprojekten und Leitinvestitionen ebenso wie an bottom-up-Ansätzen gibt einen Eindruck davon, und auch die zunehmende Geschwindigkeit, mit der sich immer neue Infrastruktur- und Dienstleistungsnetze über das Ruhrgebiet legen, legt hiervon beredtes Zeugnis ab.

Diese Beschleunigung ist im Grundsatz für alle betrachteten Regionen charakteristisch. Lediglich in Luxemburg scheinen die Uhren etwas anders zu ticken. Luxemburg steht weniger für raschen Wechsel als für Beständigkeit – bis hin zu den politischen Strukturen, die zumindest bei oberflächlicher Betrachtung eher traditionell als modern erscheinen. Schneller als anderswo wurden aber dennoch Grundsatzentscheidungen zur strategischen Positionierung des Großherzogtums getroffen, die ein hektisches Hinterherrennen auf der Ebene taktischer Reaktionen offenbar zumindest teilweise überflüssig machten. Dabei spielte es, wie der Vertreter von CEPS/INSTEAD betonte, stets eine große Rolle, von Anfang an nicht nur sektoral zu reagieren, sondern globale Trends zu berücksichtigen und wesentliche Faktoren aus allen Dimensionen - sozial, ökonomisch und ökologisch - in die Entscheidung einzubeziehen.

Der Erfolg könnte als Indiz dafür gewertet werden, daß die vielbeschworene Notwendigkeit zur immer schnelleren Anpassung nicht zwingend in Kurzatmigkeit ausarten muß. Zwar muß, wer am heutigen Markt bestehen will, seine Angebote immer mehr ausdifferenzieren und alle Kraft in den Endspurt legen [vgl. z.B. Negroponte (1995) Total Digital. Die Welt zwischen 0 und 1 oder die Zukunft der Kommu nikation: „Erinnern Sie sich noch an das Kinderrätsel: Wenn man den ersten Tag des Monats für einen Pfennig arbeitet und sich der Lohn jeden Tag verdoppelt, wieviel verdient man dann am Monats ende? Falls Sie dieses Lohnprogramm am Neujahrstag beginnen, würden Sie am 31. Januar mehr als 10 Mio. Mark pro Tag verdienen. Das ist der Teil der Lösungsantwort, an den sich die meisten von uns gut erinnern. Was wir aber schon vergessen haben, ist, daß wir nur 1,3 Mio. Mark verdienen würden, wenn der Januar (wie der Februar) drei Tage kürzer wäre. ... Wenn es sich um einen exponentiellen Effekt handelt, können die letzten drei Tage von entscheidender Bedeutung sein! Und im Bereich der Computer und der digitalen Telekommunikation nähern wir uns unauf haltsam diesen letzten drei Tagen."].
Es sei jedoch auch an das Märchen von Hase und Igel erinnert, in dem sich der Hase fast zu Tode rennt, weil er einen wichtigen externen Faktor nicht erkennt. Wartet im Märchen ein zweiter Igel immer schon am Ziel, so werden in der Wirklichkeit die im Wettrennen um Marktvorteile erzielten Gewinne nach einiger Zeit unweigerlich von externen Umwelt- und Sozialkosten kompensiert.

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Nach Ansicht des Vertreters des RWI ist es deshalb von entscheidender Bedeutung für die Akzeptanz von Reformschritten, daß die Regionalpolitik von vornherein keine falschen Hoffnungen hinsichtlich der zeitlichen Dauer solcher Prozesse oder z.B. zur Entwicklung relativer Einkommenspositionen weckt. Regionalpolitik habe grundsätzlich nur dann Chancen, wenn sie sich als angebotsorientierte Politik begreife. Die Bereitstellung attraktiver Gewerbeflächen, Anlagen und Einrichtungen der Infrastruktur inklusive marktferner Forschungseinrichtungen sowie vor allem eine gut ausgebildete Bevölkerung seien die wesentlichen Parameter einer solchen Politik. In einer Marktwirtschaft könne Regionalpolitik ein Angebot an regionsfremde und bereits ansässige Unternehmen schaffen, diesen aber nicht etwa Standorte vorschreiben.

Bliebe in diesem Zusammenhang noch die Frage zu beantworten, wie Regionalpolitik über die funktionalen Grenzen der Markwirtschaft hinaus wirken kann. Hier bietet sich das Beispiel Luxemburg erneut als Zielvorgabe an. Als Gründe für den Erfolg des Luxemburger Modells werden genannt: Luxemburg ist kleiner und souveräner, die Minister sind eng eingebunden und stehen damit nach Einschätzung des Direktors von CEPS/INSTEAD unter Denkdruck und unter Dialogdruck. Die Hierarchien seien zwangsläufig vergleichsweise flach, auch gebe es wenig entfernte Machtblöcke, die Wege zwischen Wirtschaft (einschließlich internationaler Banken), Politik und Gesellschaft seien kurz.

Es wäre zu kurz gedacht, diese Aspekte lediglich als Unterschied, etwa zum Ruhrgebiet zu sehen. Statt dessen sollten sich Entscheider auf allen Ebenen die Frage stellen: Inwieweit sind derartige Rahmenbedingungen, also größtmögliche regionale Souveränität, Überschaubarkeit und Dialogdruck, grundlegende Voraussetzungen für einen erfolgreichen Strukturwandel [Vgl. etwa auch die im Rahmen der Tagung nicht behandelte „Großregion„ Schweiz.] , und welche Anforderungen an eine Umgestaltung der Beziehungen zwischen den Betroffenen leiten sich daraus ggf. für deutsche Verhältnisse ab? Es wäre ebenso zu kurz gedacht, in diesem Zusammenhang die auf allen Ebenen anstehenden Verwaltungsreformen lediglich unter dem Gesichtspunkt einer bloßen Rationalisierung zu gestalten und sich nicht an eine grundlegende Diskussion z.B. der Gewaltenteilung oder des bürgerschaftlichen Engagements zu wagen.

Derartige Entwicklungen lassen sich allerdings nach Einschätzung einiger Referenten nicht ohne Druck von unten voranbringen, da die Trägheit des etablierten Systems zwangsläufig groß sei. Es gelte also, Veränderungen und eine bessere Koordinierung staatlichen Handels unermüdlich vor Ort einzufordern.

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Keine Dienstleistung ohne Produktionsbasis

Bezüglich der Inhalte - für welche Projekte sollen zukünftig Schwerpunkte in der regionalen Wirtschaftsförderung gesetzt werden, welche Bereiche von Produktion und Dienstleistung sind zukunftsfähig? – hat sich gezeigt, daß hinsichtlich des teils euphorisch beschworenen Wandels zur Dienstleistungsgesellschaft durchaus Skepsis angebracht ist. Der sog. tertiäre Sektor entpuppt sich zumindest teilweise als Chimäre: So verstellt beispielsweise nach Einschätzung des Vertreters der IHK Essen der durchaus interessante Vergleich zwischen dem Rückgang des verarbeitenden Gewerbes gegenüber dem Anstieg der Dienstleistungen bei insgesamt steigendem Bruttosozialprodukt den Blick auf den „Produktionsfaktor Information", der vor allem bei globalen und komplexeren wirtschaftlichen Tätigkeiten ungleich wichtiger werde.

Weitergehend betont der Vertreter des RWI die Bedeutung der industriellen Produktion für die Region. Ein wesentliches Ziel der Restrukturierung muß, auch nach Einschätzung der Referenten aus den Vergleichsregionen, die Schaffung neuer industrieller Kerne sein. Deren Bedeutung könne nicht allein an Beschäftigtenzahlen gemessen werden, sondern vor allem an den „motorischen" Wirkungen auf produktionsorientierte Dienstleister und auf Zulieferunternehmen, so auch die Pittsburgher Wissenschaftler. Das Wegbrechen der Produktionsbasis in Pittsburgh sei das Ergebnis gewaltiger, externer Marktkräfte gewesen, und die Effekte dieser Krise hätten die Entwicklung auch in den nicht-produzierenden Sektoren in weiten Teilen negativ beeinflußt. Nicht zuletzt aufgrund der Politikkultur in den USA habe es außerhalb der Möglichkeiten einer jeden regionalen Initiative gestanden, solchen Strukturkrisen umfassend entgegenzuwirken und die Basis der Wertschöpfung in einer Region zu erhalten. In diesem Sinne sei die Wiederherstellung von Pittsburghs Vitalität ein enormer Erfolg. Es gelte jedoch, sehr wach zu bleiben, vor allem angesichts der Tatsache, daß die im Prinzip positive Entwicklung dennoch in wichtigen Teilbereichen hinter nationalen Trends zurückgeblieben sei. Die Ursachen dafür müßten analysiert, besondere Anstrengungen zur weiteren Identifizierung von positiven Potentialen müßten weiter unternommen werden.

Dies gilt im Grundsatz auch für das Ruhrgebiet: Vor allem die neue Dimension des globalen Wettbewerbs bzw. der Einfluß der technisch revolutionierten und globalisierten Möglichkeiten der Finanzmärkte auf regionale Strukturen müssen besser als bisher berücksichtigt werden. Auf der Grundlage einer regionalen Abstimmung individueller städtischer Entwicklungskonzepte müssen deshalb Stadtentwicklungspolitik, regionale und letztlich auch überregionale Strukturpolitik stärker als bisher harmonisiert werden. Damit kommt nach übereinstimmender Einschätzung wohl aller

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Referenten über die Stadtteil- und städtischen Konzepte hinaus der Ebene der Regionalplanung und -politik eine hervorgehobene Bedeutung zu.

Bessere Planung wird möglich und notwendig sein in internationalen Beziehungen, in den Beziehungen zur Weltwirtschaft, den sozialen Strukturen, dem Gesundheitswesen, der Erziehung und vielen anderen Gebieten. Planung ist in einer globalisierten Welt unvermeidlich. Aber wir wissen nur allzugut, daß es leichter ist, ein technisches System zu planen als das Verhalten von Menschen. Darum müssen Wege gefunden werden, um besser planen zu können, ohne die Freiheit der Menschen zu unterdrücken. Ein einfaches Beispiel mag dies verdeutlichen: Seitdem so viele Produkte erfunden und benutzt werden, um Zeit zu sparen, sind alle vom Zeitmangel betroffen. Die Anzahl der Menschen, die wir in unserer globalisierten Welt durch Telekommunikation und Verkehrsmittel erreichen können, ist um so viel größer als die Anzahl, mit der wir noch vor zwei Jahrzehnten verkehren konnten, daß dieses Wachstum bei weitem die technisch ermöglichte Zeitersparnis in jedem einzelnen menschlichen Kontakt übertrifft. Die Globalisierung, so scheint es also, ist ein zweischneidiges Schwert - zumal sie noch weiter voranschreitet und jede ihrer sichtbaren Wirkungen in Zukunft durch eine größere überholt werden kann.

In der wirtschaftlichen Realität sind Anbieter wie Verbraucher aber dennoch aufgefordert, täglich Entscheidungen zu treffen, deren Wirkung mit Blick auf das dauerhafte Wohlergehen von Mensch und Natur sie nur unvollkommen abschätzen können. Um damit sinnvoll umzugehen, bleibt in erster Instanz wenig anderes übrig, als sich bei möglichst vielen Gelegenheiten die Frage zu stellen: Wie kann die Globalisierung uns und unseren Mitmenschen im „globalen Dorf" praktisch und wirtschaftlich erfolgreich helfen, Lebensumstände nachhaltig zu verbessern? Dazu wird man lernen müssen, das Wesen des Menschen besser zu verstehen, denn die meisten im Rahmen der Tagung diskutierten Probleme stammen ja nicht aus einer unzureichenden Herrschaft über die Kräfte der physischen Welt. Sie stammen aus der Unfähigkeit, menschliche Handlungen zu lenken, vorherzusagen, ja auch nur zu verstehen.

Nun wäre es falsch zu leugnen, daß die Globalisierung wichtige Beiträge zum Verständnis des menschlichen Handelns ermöglicht. Menschliches Handeln ist nicht zuletzt von Wissen geprägt, und der Weg in die globalisierte Zukunft ist ja aller Voraussicht nach weitgehend identisch mit dem Weg in die Wissensgesellschaft. Aber wer bedient sich der Möglichkeiten der Globalisierung in unserer heutigen Gesellschaft am besten? Daß besseres Wissen die Akteure zugleich mit der sittlichen Größe ausstattet, die sie benötigten, um die aus der Anwendung ihres Wissens erwachsende Verantwortung zu tragen, ist bisher nur eine Hoffnung geblieben. Das Verhaltensschema der Wirtschaft braucht den Hintergrund einer Ethik, die die Wirtschaft

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selbst nicht zu geben vermag. Gleiches gilt im übrigen für die Politik, die dennoch in besonderem Maße aufgerufen ist, über gesellschaftliche Grundwerte und Ziele zu wachen.

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Subsistenz statt Konkurrenz

Als Quintessenz für die nächstliegenden praktischen Schritte läßt sich festhalten, daß es in erster Näherung auf die Abstimmung der einzelnen gewählten Schwerpunkte innerhalb der Region ankommt, unabhängig davon, ob es sich um weitgehend identische Aktivitätsfelder handelt. So ist z.B. das Aktivitätsfeld Information und Kommunikation zweifellos groß genug für alle, und da es sich ohnehin um eine alles durchdringende Technologie handelt, muß man sie zwangsläufig überall zu einem Schwerpunkt machen. Sicherlich macht es aber wenig Sinn, wenn jede Kommune ihr Image um das gleiche Mediensegment herum aufbaut, beispielsweise Musical, E- oder U-Musik, Dokumentarfilm etc.

Lediglich in ausgewählten Bereichen mit herausragendem Marktpotential bei gleichzeitig geringem Bezug zu ökologischen Lebensgrundlagen könnte Konkurrenz das Geschäft dauerhaft beleben. In diesem Zusammenhang verweist auch der Vertreter der IHK Essen zu Recht darauf, daß Wettläufe mit Blick auf die Nachbarn in der Regel wenig zielführend seien. Es gelte vielmehr, möglichst gemeinsam Stärken auszubauen und Schwächen auszumerzen.

Im Prinzip sollte für die Entwicklung der Region die gleiche triviale Wahrheit gelten, die ein Anlageberater für die Investition von individuellem Kapital empfiehlt: Möglichst gleichmäßige Verteilung auf verschiedene Investitionsformen mit unterschiedlichem Grad an Sicherheit. Eine Region, die das Glück hat, wesentliche Grundbedürfnisse ihrer Bürger weitgehend aus eigenen Mitteln decken zu können, hat den Rücken frei, sich aus dieser Position der Sicherheit heraus ihre Nischen suchen zu können, in denen sie erfolgreich im globalen Markt agiert.

Hingegen bringt die im Prinzip positive Schaffung oder Aufrechterhaltung eines industriellen Kerns einer Region dann wenig, wenn die dort produzierten Güter a) überwiegend exportorientiert sind und b) im Grundsatz überall gut zu produzieren sind. Derartige Produkte werden zwangsläufig in absehbarer Zeit in Konkurrenz mit Niedriglohnländern treten müssen und sind von daher nur eingeschränkt zukunftsfähig für die Entwicklung der eigenen Region. [Diese Problematik gilt im Grundsatz auch für den quartären Sektor, wie zahlreiche Beispiele, von der Softwareentwicklung in China bis zur Buchhaltung in Indien zeigen.]
Natürlich kann eine exportorientierte klassische Güterproduktion noch einige Jahre gut vom ungeheuren Nachholbedarf an sog.

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„Commodities" z.B. in den mittel- und osteuropäischen Staaten leben, angesichts der möglichen Risiken, i.w.

  • zunehmende Marktsättigung bei gleichzeitiger internationaler Konkurrenz,

  • Zunahme politisch-gesellschaftlicher Instabilität und

  • rasch wachsende Möglichkeiten des Technologietransfers, daraus folgend der leichtere Aufbau eigener Kapazitäten in den jeweiligen Märkten,

sind aber für zukunftsweisende Investitionen, von denen ggf. das Wohlergehen einer Region etwa in Hinsicht auf Arbeitsplätze in hohem Maße abhängt, eine genaue Prüfung und ein vorausschauendes Abwägen unerläßlich.

Um regionalen Produkten und regionalisierten Produktionsstrukturen zum Erfolg zu verhelfen, muß ausreichende Nachfrage gewährleistet sein. Die wiederum gibt es nur, wenn der Preis stimmt (was angesichts schwieriger Rahmenbedingungen wie z.B. subventionierter Transportkosten eher selten der Fall ist) oder sich das Bewußtsein bei Verbrauchern wie Anbietern ändert. In diesem mittelfristigen Prozeß sind Nebenfelder wie Ambiente, gute Schulen, Bildungskonzepte etc. von herausragender Bedeutung und müssen dringend sowohl mit den Konzepten der Wirtschaftsförderung als auch der Stärkung der Verbraucherkompetenz integriert werden. Hier ist auch der Mittelstand gefordert, nicht nur Impulse durch Innovation und Kreativität in Bezug auf Technik zu geben, sondern auch hinsichtlich der Humanressourcen und der Kunden. Es reicht nicht aus, lediglich neue Arbeitsplätze durch Subventionierungen oder (zeitweilige) Umsatzsteigerungen bei beliebigen Angeboten zu schaffen. Das Jahrtausend benötigt Menschen, die Spaß und Lust an der Arbeit haben, die jobfähig sind und bleiben. Der Bedarf an geschulten und permanent lernenden Mitarbeitern wird zunehmen, und auf dem Arbeitsmarkt werden mittelfristig nur Arbeitnehmer gefragt sein, die etwas für ihr eigenes Fortkommen tun - und Arbeitgeber, die ihnen die Möglichkeiten dazu geben.

Dieses anspruchsvolle Profil darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, daß es umfangreicher Hilfen bedarf, um die Schere zwischen Hochqualifizierung und einfachen Tätigkeiten nicht noch weiter zu öffnen. Den 100% dynamischen Mitarbeiter oder Verbraucher, der bereit und in der Lage ist, sich jeder neuen Herausforderung zu stellen, die sich Technologen und Marketingabteilungen für ihn ausgedacht haben, wird es nicht geben. Er ist weder gesellschaftlich wünschenswert noch überlebensfähig. Es zeigt sich, daß nicht alles dynamisiert werden kann: Bestimmte traditionelle Strukturen, z.B. die Familie, benötigen Schutzräume und –zeiten, die weder disponierbar noch vermarktbar sein dürfen. Familienstrukturen, in denen aufgrund materieller Not oder Begehrlichkeit zu wenig Zeit für eine Beziehung zu den Kindern

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bleibt, bilden die Grundlage für einen Mangel an unverzichtbarer Solidarität in der kommenden Generation. Eine echte Neubewertung der Verhältnisse zwischen Erwerbsarbeit und unbezahlten Tätigkeiten in Familie und Gesellschaft steht allerdings immer noch in weiter Ferne. Auch wenn es sich um kein regionenspezifisches Problem handelt, so ist es doch von entscheidender Bedeutung für die Funktionsfähigkeit auch der regionalen Strukturen.

Ob die neuen technologischen und wirtschaftlichen Möglichkeiten für die Region und die in ihr lebenden Menschen mehr Vor- als Nachteile bereithalten, liegt also daran, wie man sie benutzt. Alle neuen Technologien haben hier eines gemeinsam: Die Produktion bleibt bestehen, aber der wirtschaftliche wie soziale Erfolg hängt zunehmend von persönlichen Fähigkeiten bzw. von Wissenskomponenten ab. Es wird in Zukunft unerläßlich sein, selbst Dinge zu hinterfragen, von denen man immer gewußt hat, daß sie wahr sind und sich in Dialoge mit möglichst verschiedenen Denkansätzen einzulassen. Hier liegen die eigentlichen Herausforderungen, für Regionen ebenso wie für jeden einzelnen.

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IBA-Emscherpark – ein erfolgreicher Versuch zur Erneuerung

Derartige zentrale Handlungsansätze wurden im vergangenen Jahrzehnt bereits im Rahmen der Internationalen Bauaustellung IBA-Emscherpark unter Praxisbedingungen erprobt. Jedes IBA-Projekt mußte sich an dem Anspruch messen lassen, positive Beiträge sowohl in ökonomischer, ökologischer und sozialer Hinsicht zu erbringen. Um sich für eine IBA-Förderung zu qualifizieren, mußten sich alle Projekte an bestimmten Regeln messen lassen. Diese Regeln sollten nach Ansicht des Vertreters des Arbeits- und Stadtentwicklungsministeriums NRW auch für nachfolgende Regionalisierungsprojekte bindend sein:

  • Das Wettbewerbsprinzip. Ohne öffentlichen Wettbewerb ist eine Evaluierung nachhaltigkeitsorientierter innovativer Projekte unmöglich.

  • Anschubcharakter durch zeitliche Begrenzung. Projekte sollen Impulse geben, durch die selbsttragende Entwicklungen generiert werden.

  • Selbstorganisation. Regionale Institutionen und Akteure müssen vorrangig auf der Basis ihrer eigenen Ideen und Möglichkeiten Maßnahmen ergreifen, die a) die besonderen Begabungen der Region zur Geltung bringen und b) die Fähigkeit zu Vernetzung und Kommunikation der lokalen Akteure stärken.

  • Impulse von außen. Mit dem „Fremdheitsprinzip" soll sichergestellt werden, daß innovative Projekte sich unabhängig vom häufig begrenzten lokalen Potential entfalten können.

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  • Produktorientierung und spezifisches Controlling. Entscheidendes Kriterium für den Erfolg eines Projektes ist weniger der Zielerfüllungsgrad eines pauschalen staatlichen Programms, sondern vielmehr sind es die begründeten Notwendigkeiten im Projektverlauf vor Ort. Diese Notwendigkeiten müssen verstärkt zum Maßstab für die Entwicklung, Begleitung und Kontrolle der Mittelverwendung werden.

Im Rahmen dieser Regeln gelte es zudem, über die eigentliche Förderung hinaus einige besonders exponierte Projekte mit besonderem Symbolcharakter zu entwickeln, um so über Öffentlichkeitswirkung und -rückwirkung die Programmdynamik zu steigern. Entsprechende regional orientierte Programme haben nach Einschätzung des Vertreters des o.g. Ministeriums gezeigt, daß sie in der Lage sind, mittels ihrer zentralen Strategien „fachliche Integration" und „methodische Flexibilität" Verfahren deutlich zu beschleunigen und die Planungsprodukte maßgeblich zu verbessern. Insbesondere die Projektentwicklung und Koordination durch behördenexterne Agenturen „auf Zeit" mit starken informellen Kompetenzen habe sich als erfolgreiches Organisationsprinzip gezeigt. Für das Ruhrgebiet werde im Zusammenhang mit der Agentur Ruhr angestrebt, die regionale Erneuerungsstrategie mit frischen Impulsen zu versehen. Nach einer Auswertung der IBA-Erfahrungen solle diese Agentur erweiterte Handlungsoptionen in den Bereichen Strukturpolitik bzw. Infrastrukturförderung erhalten. Aus der integrativen Zusammenführung der bisher zu sehr isolierten Politikbereiche könnten sich so ausgesprochen interessante regionale Impulsgeberfunktionen ergeben.

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Grundsätzliche Fragen und vorläufige Antworten

Grundsätzliche Fragen, auf die man in den geschilderten Zusammenhängen zukünftig weiterhin Antworten wird suchen müssen, lauten nach Ansicht des Direktors von CEPS/INSTEAD wie folgt:

1. Wie kann man Netzwerke besser als bisher aufbauen und nutzen? Trotz oder gerade wegen seiner Kompaktheit besteht für das Ruhrgebiet hier offenbar erheblicher Nachholbedarf.

2. Wie schafft man es, Probleme in einer konkreteren Sprache als bislang zu formulieren? Seit Jahrzehnten wird um den heißen Brei herumgeredet, wird der Bedarf an der Entwicklung von Frühwarnsystemen konstatiert. Gleichzeitig war es in drei der vier Vergleichsregionen (bis auf Luxemburg) möglich, so etwas Gewaltiges wie eine Stahlkrise effektiv zu übersehen.

3. Reichen die heutigen Maßnahmen aus, mit denen man in die innerstädtischen Krisenherde geht, um Entwicklungen wie in Pittsburgh oder Lille zu vermeiden? Trotz

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vieler ansprechender Erfolge muß festgestellt werden, daß auch im Ruhrgebiet bzw. in ganz Deutschland die Zahl der unter der Armutsgrenze Lebenden weiter steigt.

4. Wie kann man die kommunalen bzw. regionalen Entscheider in Politik und Wirtschaft dabei unterstützen, ihren Weg zu mehr Transparenz und Mitbestimmung zu gehen? Zum Beispiel wurde aus Pittsburgh berichtet, daß sich die örtlichen Universitäten intensiv mit der Region befassen, in der sie ansässig sind, und sich zur Kooperation verpflichten, z.B. in Form eines jährlichen Berichts zur Lage der Region durch den jeweiligen Universitätspräsidenten.

5. Wie kann man das Management des Verbrauchs an materiellen Ressourcen (i.w. Energie, Rohstoffe und Fläche) in der Region entscheidend verbessern? Eine Input-Output-Balance der wesentlichen Stoffströme, die in eine Region hinein- und aus ihr hinausgehen, schafft Übersichtswissen für politische Entscheider ebenso wie für potentielle Investoren.

Die Beantwortung dieser Fragen könnte dazu beitragen, die im Grunde bereits weitgehend vorhandene Bereitschaft zur Neuorientierung auch für eine reale Umsetzung nutzbar zu machen, denn an den Inhalten des „Wie" scheiden sich regelmäßig die Geister. Dieses Phänomen wird auch im Rahmen der Tagung deutlich: So liegt z.B. nach Einschätzung des Vertreters des Wirtschaftsministeriums NRW ein besonderes Potential vor allem darin, daß die aus dem Bewußtseinswandel der 80er Jahre abgeleitete, im wesentlichen bis heute gültige sog. regionalisierte Strukturpolitik nicht mehr ex cathedra von der Landesregierung betrieben werde, sondern daß alle relevanten Interessengruppen von vornherein einbezogen würden. Dies habe zum Instrument der Regionalkonferenzen geführt, an denen neben den Kommunen die Industrie- und Handelskammern, Handwerkskammern, Gewerkschaften, Gleichstellungsbeauftragte, Hochschulen, Arbeitsämter etc. beteiligt seien. Die dort erarbeiteten Strategien und Projektvorschläge würden der Landesregierung in Form eines Regionalen Entwicklungskonzepts übergeben. Das Kabinett nehme dazu Stellung und entscheide über finanzielle und sonstige Unterstützung.

Insoweit handelt es sich zweifellos um eine strategische Neuausrichtung im Sinne der Einbeziehung wichtiger externer Einflußgrößen, vom beschworenen Paradigmenwechsel kann hier jedoch noch nicht die Rede sein. Dafür wäre beispielsweise ein verändertes Verständnis der Rolle von Bürgerbeteiligung und Ehrenamt, von globaler Lastenverteilung oder auch eine nutzenorientierte Sicht erforderlich, die klassische technology-push und demand-pull-Sichtweisen ergänzt. Für eine erfolgreiche Umsetzung regional orientierter Handlungsansätze werden deshalb seitens des Vertreters des Arbeitsministeriums NRW weitergehend vor allem folgende Aspekte für unerläßlich gehalten:

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  • Die Grenzen sektoraler Politikansätze müssen ebenso überschritten werden wie die Optimierung einzelner Sektoren etwa durch einzelfallorientierte Förderprogramme. Dazu ist es von besonderer Bedeutung, integrative Elemente in der staatlichen Förderpolitik zu etablieren.

  • Neue Akteure, neue Akteursbeziehungen und innovative „Ideen" im Sinne einer nutzenorientierten Einbindung technischer Innovation müssen aktiviert werden.

  • Das Denken in vernetzten Zusammenhängen muß gefördert werden. Dabei setzt die Neustrukturierung einer Region nicht nur die Entfaltung ökonomischer Aktivitäten voraus, sondern bedarf umfangreicher Investitionen in das Humankapital und letztlich einer Änderung der Mentalitäten.

  • die Handlungsfähigkeit öffentlicher Planungsinstitutionen muß erhöht werden, u.a. durch den Abbau lokaler bzw. sektoraler Bürokratien.

Angesichts dieser Potentiale erscheint auch die befürchtete Abwanderung von EU-Fördermitteln in die MOE-Staaten in einem etwas anderen Licht, denn erst mit Hilfe einer - ohne Anschubförderung undenkbaren - EU-Osterweiterung werden die notwendige Stabilität der dortigen Märkte und damit auch Beteiligungsmöglichkeiten an der dortigen wirtschaftlichen Entwicklung ermöglicht. Da der Förderkuchen nicht beliebig vergrößert werden kann, besteht auf den ersten Blick nur über rechtzeitige und intensive, direkte Kooperation mit zukünftigen Förderschwerpunkten bzw.- gebieten die Möglichkeit, am wirtschaftlichen Wachstum dieser neu geförderten Regionen teilzuhaben und unweigerlich anstehende Verluste in der eigenen Region auffangen können.

Auf den zweiten Blick kann dieses Vorgehen durch einen weiteren Aspekt ergänzt werden: Effizienzsteigerung in der Fördermittelberatung. Zu viele Fördermittel werden nicht abgerufen oder zweckentfremdet, kommen erfahrenen „Förderprofis", nicht jedoch den wirklich Bedürftigen zugute oder werden aufgrund unzureichender Lobbyarbeit erst gar nicht von den politisch Verantwortlichen eingefordert. Angesichts eines wahren Dschungels an verschiedenen Zuständigkeiten, Programmen und komplizierten Formalien sind häufig nicht nur KMU oder Kommunen mit begrenzten Kapazitäten überfordert, sondern auch bei den Verantwortlichen auf Landes-, Bundes- und EU-Ebene muß das Übersichtswissen zwangsläufig begrenzt sein. Hier sind Bund und Länder gefordert, Beratung nicht allein einem wachsenden kommerziellen Sektor zu überlassen, sondern öffentlich verfügbare Beratungskompetenz im

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Sinne von „Metasuchstrukturen" [In Anlehnung an Suchstrukturen im Internet, in dem es aufgrund seiner hohen Komplexität mittler weile bei bestimmten Rechercheprozessen zu zeitraubend oder nicht mehr zielführend ist, in einer Viel zahl von Suchmaschinen bzw. Datenbanken nach einzelnen Aspekten zu suchen. Diese Arbeit übernehmen sog. Metasuchmaschinen, die automatisiert Suchmaschinen anderer Anbieter bzw. weitere Teile des Internet nach bestimmten Suchebegriffen durchsuchen, z.T. mit Hilfe komplexer Strukturen von künstlicher Intelligenz, die für den Auftraggeber zumeist nicht nachvollziehbar sind und die von daher neue Fehlerquellen und Risiken mit sich bringen. ] zu erhöhen. Der eingangs geschilderte Ansatz von ZENIT ist in diesem Zusammenhang vorbildlich (vgl. Kap. 1.1).

Regionen und KMU ihrerseits tun angesichts begrenzter Ressourcen gut daran, altes Konkurrenzdenken über Bord zu werfen und sich gemeinsam um die Sichtung und Strukturierung ihrer Förderkompetenz zu bemühen, denn leider nutzen die durchaus berechtigten Abqualifizierungen der Globalisierung als „Zockerwirtschaft" [Vgl. Berichte über die entsprechende Einschätzung des Generaldirektors der ILO (International Labour Organisation) der Vereinten Nationen, u.a. aus der Tagespresse vom 16./17.Februar] den betroffenen Menschen oder Regionen wenig: Geschichte wiederholt sich aufgrund allzumenschlicher Eigenschaften, und so regiert bei der Eroberung von Neuland – sei es technologischer oder regionaler Natur – allzuleicht in Wild-West-Manier das Recht des Stärkeren, dem sich die Schwächeren nur durch Zusammenschluß entgegenstellen können.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Februar 2001

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