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8. Über die Schwierigkeiten beim Aus- und Aufbau eines Zentrensystems am Beispiel der Stadt Potsdam

8.1 Historische Stadtentwicklung Potsdams

Potsdam, im Jahr 993 erstmals als „Poztumi" urkundlich erwähnt und im wesentlichen in der Zeit nach dem Dreißigjährigen Krieg (1618-1648) entstanden, wurde während des 17. Jahrhunderts zur Residenzstadt und im 18. Jahrhundert zur Garnisonsstadt ausgebaut. Friedrich der Große residierte ab 1744 in Potsdam und ließ das Schloß Sanssouci sowie die Webersiedlung Nowawes - das heutige Babelsberg - bauen. Damit war Potsdam bereits Mitte des 18. Jahrhunderts eine bipolare Stadt.

Im Zuge des wirtschaftlichen Aufschwungs ab Mitte des 19. Jahrhunderts stieg die Einwohnerzahl der Stadt zwischen 1860 und 1890 stark an; entlang der Ausfallstraßen entstanden die Brandenburger-, Teltower- und Nauener-Vorstadt. Bis 1914 wurde die Ökonomie Potsdams von kaiserlicher Hofhaltung, Militär und Bürokratie bestimmt, während Handel und Industrie eher unbedeutend blieben. Nach Abdankung Wilhelms II. im Jahr 1918 ging die Funktion als Residenzstadt verloren.

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8.2 Entwicklung Potsdams zwischen 1950 und 1989

Nach schweren Zerstörungen während des Zweiten Weltkriegs wurde im Jahr 1950 mit dem Wiederaufbau Potsdams - inzwischen Bezirksstadt - begonnen. Bis 1989 wurde die Stadt durch Industrialisierung und Siedlungsbau nach den Regeln und Leitbildern des Sozialistischen Städtebaus der DDR gestaltet und kann aufgrund des Nebeneinanders der Kernstadt, Babelsbergs und der Siedlungen des komplexen Wohnungsbaus als multizentrische Stadt bezeichnet werden, in der heute rund 130.000 Einwohner leben

Die Industrialisierungspolitik der DDR ließ umfangreiche Fabrikanlagen - überwiegend aus den Bereichen Maschinenbau und Elektronik - im Südosten Potsdams im Nahbereich von Babelsberg und entlang der ehemaligen Staatsgrenze entstehen. Aufgrund der damit verbundenen Ausweitung des Arbeitsplatzangebotes stieg die Einwohnerzahl der Stadt auf 140.000

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im Jahr 1989. Entsprechend mußte neuer Wohnraum geschaffen werden - allein 40.000 der insgesamt 70.000 Wohnungen Potsdams entstanden während der Jahre 1970 bis 1990. Heute leben noch immer rund 60% der Bevölkerung in den insgesamt 14 Großsiedlungen des komplexen Wohnungsbaus mit entsprechenden lokalen Zentren. Zwar erreichten diese Siedlungen mit maximal 20.000 Einwohnern bei weitem nicht Ostberliner Dimensionen - dort entstanden Großwohnsiedlungen mit bis zu 240.000 Einwohnern -, doch gab es auch hier sehr klare Vorstellungen über die Ausstattung der Siedlungszentren in bezug auf Einzelhandelsversorgung. Grundlage dieser Vorgaben waren die von den Bezirken verwalteten Komplexrichtlinien der DDR mit ihrem - entgegen der Orientierungswerte der alten Bundesländer - normativen Charakter. Diese sahen eine Versorgungsgarantie von durchschnittlich 0,3 m² Versorgungsfläche/Einwohner vor, wobei in der Realität zwischen 0,1 m² und 0,2 m² Versorgungsfläche/Einwohner in den Großwohnsiedlungen, etwas mehr dagegen in der Innenstadt und im „proletarischen" Babelsberg realisiert wurden (in den alten Bundesländern lag die Versorgung in den Jahren 1989/90 bereits bei 1-1,5 m² Versorgungsfläche/Einwohner). Die Einzelhandelsläden („HO" und „Konsum") waren staatlich organisiert und in den Wohnungsbau eingebunden; die Versorgung gestaltete sich damit sehr wohngebietsnah und verteilt auf viele kleine Einrichtungen: in Potsdam existierten bis zur „Wende" rund 400 Einzelhandelseinrichtungen mit einer Verkaufsfläche von durchschnittlich 200 m².

Ein Ergebnis der Großwohnsiedlungspolitik der DDR mit ihrem Staatsziel der wohnungsnahen Grundversorgung ist - neben der deutlichen Trennung der Funktionen Arbeiten und Wohnen -das sehr dezidierte polyzentrale Zentrensystem Potsdams. Innerhalb dieses gesamtstädtischen Systems hatte die Kernstadt aufgrund ihrer internationalen „Schaufensterfunktion" - ein Großteil des Ostblock-Tourismus, aber auch einige (internationale) Touristen aus dem Westen kamen aufgrund der historischen Schlösser und Gärten Potsdams in die Stadt - eine teilweise günstigere Position als beispielsweise die Dresdener Innenstadt.

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8.3 Entwicklung Potsdams seit 1989

Nach 1989 stand Potsdam als neue Landeshauptstadt Brandenburgs und Oberzentrum der Region mit einem Einzugsbereich von 220.000 Einwohnern - wie die anderen Städte der neuen Bundesländer auch - vor dem Problem des mit der „Wende" verbundenen vollkommenen Systemumbruchs „von einem Tag zum anderen". Der Strukturwandel, der sich in den alten Bundesländern in einem Zeitraum von 60-70 Jahren und auf einer vergleichsweise stabilen materiellen Basis vollziehen konnte, mußte hier innerhalb kürzester Zeit nachgeholt werden.

Die bisherige Wirtschaftsstruktur und somit auch Arbeitsmentalität der Beschäftigten waren ausschließlich von industrieller Produktion geprägt und mußten nun innerhalb kürzester Zeit in Richtung „Dienstleistungsökonomie" umgestellt werden. Aufgrund des hohen Bildungsniveaus der Potsdamer Bevölkerung konnte der Strukturwandel - so der Vertreter der Stadt - jedoch vergleichsweise gut bewältigt werden. Arbeitnehmer gehen teilweise zwei Jobs nach oder konnten einen neuen Arbeitsplatz in Berlin finden, so daß die offizielle Arbeitslosenquote in Potsdam heute bei rund 15% liegt.

Weitere Probleme des Strukturwandels ergaben sich aus veränderten Besitzverhältnissen aufgrund umfangreicher Restitutionsansprüche, veränderten Verwaltungsstrukturen, aber auch der neuen räumlichen Situation nach dem Wegfall der Staatsgrenze: Der bereits vor dem Zweiten Weltkrieg bedeutsam gewesene Entwicklungsfaktor „räumliche Nähe zu Berlin" wurde nach 1989 - neben den touristischen Potentialen der Stadt - wieder zu einem wichtigen Standortfaktor. Der Berliner Westen ist in 30 Autominuten zu erreichen, die Innenstadt in 45 bis 60 Minuten. Mit der Bahn - diese Verbindung soll ausgebaut werden - reduzieren sich die Fahrtzeiten um die Hälfte.

Die neue großräumliche Situation nach der „Wende" betraf auch Lage und Funktion der Innenstadt sowie die Ausrichtung des städtischen Verkehrssystems. Die Potsdamer Innenstadt liegt innerhalb des Stadtgefüges im nördlichen Randbereich und damit peripher zu den Schwerpunktgebieten der neueren Entwicklungen im Südosten. Dies ist auf die bis 1989 limitierten räumlichen Expansionsmöglichkeiten der Kernstadt zurückzuführen, die von - auch zu DDR-Zeiten genutzten - Militärflächen sowie den historischen Anlagen von Sanssouci und dem Neuen Garten nahezu umschlossen war. Erst nach 1989 wurden die Mili-

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tärflächen nicht mehr benötigt und können heute konvertiert werden; die Stadt entwickelt hier ein neues Siedlungsgebiet für 15.000 Einwohner und 5.000 Arbeitsplätze.

Der historische Bahnhof Potsdams war aufgrund seiner wirtschaftlichen Ausrichtung auf Berlin nach Ende des Zweiten Weltkriegs obsolet geworden. Stattdessen wurden die bereits zu Anfang des Jahrhunderts formulierte Idee eines um Berlin herumführenden Eisenbahnrings („Friedensbahn") realisiert und ein neuer, peripher gelegener Bahnhof errichtet, auf den sich die gesamte Verkehrsstruktur ausrichtete. Nach der „Wende" allerdings erhielt der historische Bahnhof mit Orientierung auf Berlin seine frühere Bedeutung zurück, was eine erneute Umorientierung der Verkehrsstruktur bedeutete.

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8.4 Zur Stadtentwicklungspolitik Potsdams nach 1989

Von seiten der Stadtverwaltung und -politik wurde auf den Strukturwandel mit der Ausschöpfung einer Vielzahl von Sonderabschreibungs- und sonstigen Fördermöglichkeiten reagiert. Jeder Bauantrag wurde zur Stabilisierung der Entwicklungen nach Möglichkeit genehmigt. Das Dezernat Stadtentwicklung, das bis vor kurzem die Bereiche Wirtschaftsförderung, Gewerbeansiedlung und Stadtplanung beinhaltete, konnte - so der Vertreter der Stadt - wesentliche Synergieeffekte bewirken. Potsdam hat im Jahr 1993 ein dezentrales Zentrenkonzept beschlossen, das die Grundlage für Stadtentwicklungsziele, Flächennutzungs- und Bauleitplanung bildet und der auf zahlreichen Siedlungskernen basierenden Entwicklung des gesamtstädtischen Raumes entspricht.

Seit der „Wende" floß ein Investitionsvolumen von insgesamt 10 Mrd. DM nach Potsdam; 5.000 Wohnungsneubauten wurden errichtet, 7.000 Baugenehmigungen sind erteilt, 2.000 Wohnungeinheiten saniert worden. Mehrere tausend Wohnungen in den Plattenbauten wurden nachgerüstet und Wohnumfeldverbesserungsmaßnahmen durchgeführt. Diese Maßnahmen haben nach Angaben der Vertreters der Stadt neben strukturellen Verbesserungen auch zu einer Stabilisierung des Arbeitsmarktes beigetragen: allein im Dienstleistungsbereich konnten 30.000 Arbeitsplätze geschaffen werden.

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Die Stadt konnte in Zusammenarbeit mit den Entwicklern dazu beitragen, daß in fast allen Großsiedlungen des komplexen Wohnungsbaus die lokale Situation - auch in architektonischer Hinsicht - verbessert worden ist. Das heutige Versorgungsangebot liegt in den Großwohnsiedlungen bei durchschnittlich 0,9 m² Versorgungsfläche/Einwohner.

Dem Konkurrenzproblem zwischen innerstädtischem bzw. an Großwohnsiedlungszentren gebundenem Einzelhandel und großflächigen Einrichtungen auf der „Grünen Wiese" und/oder in benachbarten Gemeinden begegnete die Stadt lange Zeit abwartend. Auf brachliegenden Bauflächen nahe der beiden großen Plattensiedlungen „Stern" und „Drewitz" wurde schließlich das „Sterncenter" mit 35.000 m² Verkaufsfläche errichtet, das aber - anders als vergleichbare Großprojekte in der Peripherie - qualifizierende und vitalisierende Funktionen für diese beiden größten und rigidesten Plattensiedlungen Potsdams sowie für seinen gesamten Nahbereich mit 40.000 Einwohnern wahrnimmt. Durch seine Anbindung an eine bereits existierende Schnellstraße konnte die andernorts zu beobachtende Verkehrsproblematik reduziert werden. Einschränkend wirkt sich jedoch das mall-Prinzip des „Sterncenters" mit seinem Effekt der „Privatisierung" - also Einschränkung - des öffentlichen Raums aus.

Als weitere Maßnahmen nannte der Vertreter Potsdams u.a. folgende Stadtentwicklungsprojekte:

  • Die großdimensionierten brachgefallenen Flächen eines Güterbahnhofes jenseits der Havel in Bahnhofsnähe wurden als Kernergänzungs- und -entlastungsraum ausgewiesen.

  • In der „Medienstadt Babelsberg" entsteht auf dem 60 ha umfassenden ehemaligen Ufa- und späterem DEFA-Gelände, das nach der „Wende" von der Treuhand verkauft worden ist, heute wieder ein Medien- und Filmproduktionsstandort, auf dem sich der Ostdeutsche Rundfunk angesiedelt hat und sich die zur Zeit im Aufbau befindliche Film- und Fernsehhochschule sowie zahlreiche Dienstleister aus dem Medien- und Filmbereich ansiedeln.

  • Ebenfalls in diesem Bereich entsteht die zweite Spielbank Brandenburgs inklusive angeschlossenem Erlebniscenter und spezifischem Einzelhandel.

  • Auf einem Brachgelände in Bahnhofsnähe wird das „Potsdam-Center" als Ergänzungsfunktion für die Innenstadt errichtet. Gutachertliche und politische Begleitung der Konzeption sollen Größenordnung und Branchenmix regulieren. Ein Ziel der Planung ist die identitätsstiftende Revitalisierung der ursprünglichen Stadtmitte, in dessen Bereich - dem

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  • früheren Schloß-Standort - sich heute eine in starkem Maße verkehrsbelastete Kreuzung befindet. Die ursprüngliche Planung für das „Potsdam-Center" beinhaltete daher den Bau einer City-Entlastungsstraße in Kooperation von Stadt, Deutscher Bahn und privatem Developer, die zusammen mit der Gestaltung der Bundesgartenschau 2003 zu einer erheblichen Verbesserung der innerstädtischen Verkehrssituation führen sollte. Als Problem nannte der Vertreter Potsdams, daß diese Straße nach den neuesten Projektentwicklungen nur partiell realisiert werden soll, wodurch die Kreuzungssituation in der ehemaligen Stadtmitte nicht verändert und die Interessen der Stadt damit nicht vollständig berücksichtigt würden.

Als ein Kernproblem heutiger Stadtentwicklungsplanung in Potsdam nannte der Vertreter der Stadt die Einschränkung der vorhandenen kommunalen Handlungsmöglichkeiten durch mangelnde bzw. fehlende Landes- und Regionalplanung und damit unzureichende Planungsstabilität auf Landesebene.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | April 2001

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