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[Seite der Druckausgabe: 3 / Fortsetzung]


2. Das Leitbild der gegliederten und gestuften multizentrischen Stadt

Eine „multizentrische" Stadt unterscheidet sich von homogenen bzw. monozentrischen Stadtstrukturen durch die Existenz mehrerer, meist kleinerer, baulich verdichteter Teilgebiete mit unterschiedlichen Funktionen für den gesamtstädtischen Kontext.

Erst diese örtlich konzentrierte Mischung aus unterschiedlich genutzten Baustrukturen, die kommerziellen und nicht-kommerziellen, also Gewerbe- und Wohnzwecken dienen, läßt nach unserem Verständnis städtische Teilräume als Stadtzentren - und zwar mit der Betonung auf „Stadt" und ihrem Verständnis als „Gemeinwesen" - erscheinen. Beispielsweise unterscheidet sich das Teilgebiet Frankfurt-Niederrad als „Bürostadt" und Dienstleistungszentrum vor diesem Hintergrund stark von durchmischten Stadtteilen wie Frankfurt-Bockenheim. Aus Sicht des Vertreters der Wissenschaft überwiegt dieses Verständnis von Stadtzentren bei uns, wes

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halb das Thema „multizentrische Stadt" vor allem als eines des (mittel-) europäischen Kulturkreises diskutiert werden sollte.

Die Geschichte der (mittel-) europäischen Stadt zeigt, daß deren Entwicklung über weite Zeiträume nicht-homogene Strukturen hervorbrachte. Zentrisch strukturierte Städte waren das Ergebnis marktorientiert handelnder und tendenziell egalitär verfaßter Gesellschaften. Bereits die mittelalterliche Stadt - auf der Funktion Markt beruhend - war zumindest funktional und sozial gegliedert, spezialisiert nach Zünften und Gilden. Stadterweiterungen ließen bereits zu dieser Zeit „Vorstädte" entstehen, die oftmals über eine eigene Kirche, einen Marktplatz und teilweise sogar ein eigenes Rathaus verfügten. Auf diese Weise bildeten sich bereits im Mittelalter abgestufte Zentren in diesen - entsprechend großen - Städten heraus.

Unterbrochen wurde diese Entwicklung durch die absolutistisch-feudale Phase mit ihrem zentralistischen System „von Gottes Gnaden", in der Städte „aus einem Guß" und mit nur einem einzigen Zentrum angelegt wurden.

Im 19. Jahrhundert setzte sich wiederum eine Entwicklung durch, die nicht-homogene, multizentrische Stadtstrukturen hervorbrachte. Spätestens mit der Auflösung der „Okonomie des einen Hauses", d.h. mit der Auflösung der familialen Reproduktion und (Selbst-) Versorgung bzw. mit der Trennung von Arbeiten und Wohnen erfolgte eine Übernahme von marktbestimmten Regeln in die private Lebensgestaltung. Diversifizierte Angebotsstrukturen von Einzelhandel und Handwerk wurden nachgefragt. Im Zuge der räumlichen Ausdehnung der Städte entstanden je nach Verkehrslage und Grundrenten-Erwartung konzentrierte Versorgungsstandorte als erste Subzentren. Unterschiedliche Spezialisierungen nach Sortiment, Reichweite und Erreichbarkeit entschieden wesentlich über Typ und Abstand solcher „Zentren" - diese Entwicklungen bildeten schließlich die Grundlage der „Zentrale-Orte-Theorien" des 20. Jahrhunderts.

Der kulturelle Kontext der mitteleuropäischen Stadt - Wechselverhältnis von Stadt und Land, Öffentlichkeit und Privatheit, Dichte und Weite - prägte auch die Entwicklungen während der Industrialisierung. Das heute diskutierte Leitbild der „multizentrischen Stadt" basiert also auf Forderungen, die bis zur Formulierung der „Charta von Athen" bereits Bestandteile der historischen Entwicklungsprozesse der mitteleuropäischen Stadt gewesen waren.

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Die aktuelle Diskussion über das Leitbild einer „multizentrischen Stadt" wird im wesentlichen von drei Themenbereichen bestimmt:

  • Soziale Aspekte: u.a. (Wieder-) Belebung der Idee der Nachbarschaften in der Stadt,

  • Ökonomische Aspekte: Belebung der Diskussion über Konzentration, Spezialisierung und Arbeitsteilung von Angebotseinheiten/-orten.

  • Kulturelle Aspekte im weitesten Sinne: Organisation, Repräsentation und Praktizieren des „Gemeinwesens", Diskussion über den „genius loci" zentraler Orte in der Stadt sowie über öffentlichen Raum und Urbanität.

Die Grundkonzeptionen eines solchen Leitbildes können aus Sicht des Vertreters der Wissenschaft seit 1900 in Form dreier Trends oder Strömungen beobachtet werden:

  • Im Zuge der Großstadtkritik - und auch der Auseinandersetzung mit den Folgen des Kapitalismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts - sowie des Nachbarschaftsgedankens entstand die Vorstellung von Stadtgebieten, in denen Wohn- und Versorgungsfunktionen zugleich angesiedelt sind, eine entsprechende „kommunikative" Größe vorausgesetzt. Erste Umsetzungen dieser Konzepte können in den „Gartenstädten" Howards gesehen werden.

  • Die Idee (oder Ideologie) der Nachbarschaften bleibt auch im Konzept der „gegliederten und aufgelockerten Stadt" tragend. Neben der Durchgrünung als einer „Antwort" auf die Verstädterung setzt sich hier der Gedanke durch, eine (große) Stadt in eine aus unterschiedlichen Gebieten und Zentren bestehende Struktur zerlegen zu können. Besondere Bedeutung erhält daher die Kommunikation zwischen diesen einzelnen Teilräumen, vor allem in Form von Straßennetzen für den motorisierten Individualverkehrs (späteres Leitbild der „autogerechten Stadt"). In diesem Leitbild spiegeln sich fortschrittsgläubige Vorstellungen einer Organisation von Stadtstrukturen nach rationalen Kriterien der Arbeitsteilung, Spezialisierung von Teilräumen und großmaßstäblichen Infrastrukturen wider. Auch hier findet sich bereits ein abgestuftes System von Zentren in der Stadt.

  • Ideen einer multizentrischen Stadt setzten sich bei uns im wesentlichen erst nach dem Zweiten Weltkrieg durch; sie werden interpretiert als die stadträumliche Entsprechung des organisierten Industrie-Kapitalismus nach den Regeln des „Fordismus", so der Vertreter der Wissenschaft.

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Die historische Linie von Leitbildelementen einer multizentrischen Stadt wird während der 80er Jahre unterbrochen, teilweise aus „Leitbild-Unlust" und/oder der Akzeptanz der Vorstellung von einer „Auflösung der Städte in ihr Umland".

In den letzten Jahren ist jedoch eine „Renaissance" der Orientierung auf eine multizentrische Stadtstruktur festzustellen. Das Bemühen vieler deutscher Großstädte, entsprechende Programme zu entwickeln, oder auch das Forschungsfeld „Zentren" im Experimentellen Wohnungs- und Städtebau (ExWoSt) des Bundesministeriums für Raumordnung, Bauesen und Städtebau (BMBau; heute Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen, MBVBW) und der Bundesforschungsanstalt für Landeskunde und Raumordnung (BfLR; heute Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung, BBR) sind Zeichen dafür. Als Auslöser für die aktuelle Diskussion über das Leitbild einer „multizentrischen Stadt" sieht der Vertreter der Wissenschaft - neben den Problemen der funktionsdifferenzierten Stadt - die vor allem unter ökonomischen Aspekten geführte Debatte über Rolle und Stärkung der Kernstädte angesichts des Ausmaßes von Suburbanisierungsprozessen in Großstadtregionen sowie die Diskussion über nachhaltige Stadtentwicklung.

Die Forderung nach Reduzierung des Flächenverbrauchs und die in heutigen Diskussionen wachsende Bedeutung „endogener Potentiale" sind zwei wesentliche Punkte, die - auch unter dem Begriff der „kompakten Stadt" - zu konkreten Planungsansätzen der (Wieder-) Herstellung räumlicher Nähe, Verkehrsreduzierung und teilraumbezogener Nutzungsmischung - Voraussetzungen zur Herstellung von „Urbanität durch Dichte" und damit der Zentrenbildung im „klassischen" Sinne - führen. Auch das weiterreichende Leitbild der „nachhaltigen Stadtentwicklung" betont u.a. das „Vor-Ort-Prinzip" teilräumlicher Einheiten wie Nachbarschaft, Quartier und/oder Stadtteil.

Damit kommt die Wiederbelebung der Diskussion über zentrisch strukturierte Städte einem Paradigmenwechsel in der Stadtentwicklungsplanung gleich, der sowohl die Entwicklung der Kernstädte als auch der suburbanen Räume betrifft. Für letztere werden zunehmend städtebauliche Entwicklungskonzepte zur Einbeziehung nicht-integrierter Standorte in den jeweiligen gesamträumlichen Kontext entworfen. Auf übergeordneter Ebene soll das raumordnerische Konzept der „dezentralen Konzentration" in Großstadtregionen Flächenverbrauch und die Entstehung nicht-integrierter Standorte verhindern.

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Die Fokussierung auf „örtliche Begabungen" von Teilräumen betrifft sowohl das Spannungsfeld Kernstadt - suburbaner Raum als auch kernstädtische Stadtviertel, die sich nach Grad ihrer Multifunktionalität und ihren spezifischen „weichen Standortfaktoren" zunehmend ausdifferenzieren. Bisherige Ansätze einer vertikalen, hierarchischen Zentrentypologie werden also durch eine horizontale „Zentrentypologie" (groß-) städtischer Teilräume ergänzt.

Die Betonung kleinräumiger Einheiten mit ihren spezifischen Potentialen findet auch im Kontext übergeordneter räumlicher Ebenen (Länder, nationalstaatliches Territorium) im Rahmen der Diskussionen um intraregionale Kooperation bzw. Regionalisierung vor allem der wirtschaftlichen Entwicklung vor dem Hintergrund der Globalisierungsdebatte statt. Der Vertreter der Wissenschaft sieht „Globalisierung" und zunehmende „Regionalisierung" in einem dialektischen Verhältnis zueinander stehend. Hinter dem Schlagwort „think global, act local" steht die zunehmende Erkenntnis, daß konkrete Orte mit ihren individuellen Eigenschaften offensichtlich wichtige Ansiedlungskriterien für transnational agierende „global players" darstellen, die es vor dem Hintergrund zunehmender inter-regionaler Konkurrenz zu entwickeln gilt. Die für solche Unternehmen zentrale Bedeutung der Qualitätssicherung bestimmt wesentlich ihre Standortentscheidungen (z.B. Verfügbarkeit hochqualifizierter Arbeitsräfte).

Auch auf (groß-) stadträumlicher Ebene läßt sich die Nachfrage nach „integrierten Mikrostandorten" beobachten, wie die Konzentration unternehmensbezogener Dienstleistungsunternehmen - F.I.R.E. (finance, insurance, real estate): Banken-, Versicherungs- und Immobilienbranche und p.m.t. (promotional, managerial, technical): hochqualifizierte Berufe in den Bereichen Werbung/Medien, (Rechts-) Beratung, EDV/-Programmierung etc. - an Standorten mit urbanem Milieu in einigen Großstädten zeigen. Die in diesen Branchen beschäftigten „neuen Dienstleister" - meist hochqualifizierte, gut verdienende Singles oder kinderlose Doppelhaushalte - finden hier die Rahmenbedingungen für die Entfaltung ihrer Lebensstile vor. Diese kulturelle Komponente des Bedeutungsgewinns kleinräumiger Strukturen führt - wenn auch stark selektiv in räumlichem und gesellschaftlichem Sinne - zur teilweise bereits schon als „Reurbanisierungstendenz" bezeichneten neuen Wertschätzung innerstädtischer Wohnstandorte.

Mit dem Begriff Globalisierung werden u.a. ökonomischer Strukturwandel, Heterogenisierung bzw. Polarisierung von Sozialstrukturen und politische Deregulierung verbunden. In anderen

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Theoriekontexten wird von der Ablösung „fordistischer" durch „postfordistische" Formationen bzw. ein Übergangsstadium in den „Postfordismus" gesprochen. Allen Erklärungs- und Theorienansätzen gemeinsam ist die Erkenntnis, daß wir es heute mit neuen Formen der Raumproduktion und -aneignung zu tun haben, was sich auch auf Überlegungen zur Konstruktion von Zentrenstrukturen niederschlägt.

Vor dem Hintergrund gegenwärtiger Entwicklungen bleibt allerdings zu fragen, inwieweit großflächige und dynamische Suburbanisierungsprozesse - in den USA als „urban sprawl" bezeichnet - ein Anzeichen für die mögliche Auflösung oder gar ein „Verschwinden" der Städte im traditionellen Sinne darstellen, und ob eine solche Entwicklung „typisch" für den „Postfordismus" sei. In diesem Falle würden nicht nur siedlungsstrukturelle Potentiale für polyzentrische Stadtstrukturen wirkungslos, sondern auch die Hoffnungen auf Entwicklungskräfte von „Regionalisierung" obsolet.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | April 2001

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