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TEILDOKUMENT:


[Seite der Druckausgabe: I]


Zusammenfassung

Im Mittelpunkt der Tagung „Das Leitbild der multizentrischen Stadt" stand die Frage nach der Relevanz städtebaulicher Leitbilder angesichts zunehmend ökonomisch determinierter Rahmenbedingungen heutiger Stadtentwicklung und scheinbar schwindender kommunaler Handlungsmöglichkeiten. Für die Umsetzungesebene wurde diese Fragestellung in bezug auf mögliche Konzepte zur Stabilisierung der Innenstädte vor dem Hintergrund starker Abwanderungstendenzen einstmals originärer City-Funktionen in periphere Räume bzw. die Ansiedlung großflächiger Einzelhandels- und Freizeiteinrichtungen auf der „Grünen Wiese" thematisiert.

„Multizentralität", d.h. die Existenz mehrerer, meist kleinerer, baulich verdichteter Teilgebiete, in denen sich unterschiedliche Funktionen konzentrieren, bestimmt unsere Wahrnehmung städtischer Teilräume als Stadtzentren und ist ein wesentliches Charakteristikum der (mittel-) europäischen Stadt. Die aktuelle Diskussion über das Leitbild einer „multizentrischen Stadt" basiert also auf Forderungen, die bereits Bestandteile historischer Stadtentwicklungsprozesse waren. Auslöser hierfür ist die vor allem unter ökonomischen Aspekten geführte Debatte über Rolle und Stärkung der Kernstädte angesichts des Ausmaßes von Suburbanisierungsprozessen in Großstadtregionen sowie die Diskussion über nachhaltige Stadtentwicklung.

Auf übergeordneter Ebene erhält die Fokussierung auf und Entwicklung von „örtlichen Begabungen" miteinander konkurrierender Teilräume im Rahmen der „Globalisierungs-" und „Regionalisierungs"-Debatte besondere Bedeutung, da allgemein davon ausgegangen wird, daß konkrete Orte mit ihren individuellen Eigenschaften wichtige Ansiedlungskriterien für transnational agierende „global players" und unternehmensbezogene Dienstleistungsunternehmen darstellen. Konkurrenz zwischen Teilräumen auf regionaler und gesamtstädtischer Ebene entsteht u.a. um Wohnstandorte einkommensstarker Haushalte, verbunden mit der Gefahr zunehmender Verdrängung und Marginalisierung benachteiligter Bevölkerungsgruppen.

Aus Sicht des Bundes ist das Dilemma heutiger Stadtentwicklungspolitik vor dem Hintergrund zunehmender Suburbanisierungstendenzen und nicht-integrierter Standortentwicklung weniger auf mangelnde Zielvorstellungen, Leitbilder oder gesetzliche Rahmenbedingungen

[Seite der Druckausgabe: II]

zurückzuführen, als vielmehr ein Problem inkonsequenter Umsetzung der zur Verfügung stehenden (Planungs-) Instrumente. Durch die Unvereinbarkeit der Ziele von Privatwirtschaft (Renditemaximierung) und Kommune (Maximierung des Allgemeinwohls) sind - obwohl beide Handlungsbereiche in wechselseitiger Abhängigkeit zueinander stehen - Konflikte vorprogrammiert, in denen die Städte immer öfter nur zweiter Sieger bleiben. Der Bund hat zur Stärkung der Innenstädte eine Vielzahl verschiedener Maßnahmen ergriffen, u.a. aus den Bereichen Gesetzgebung, Förderung und Ressortforschung (beispielsweise das ExWoSt-Forschungsfeld „Zentren"). Ziel des ExWoSt-Forschungsfeldes „Zentren" wie auch des Planspiels „Innenstadt" ist die Suche nach Strategien und Maßnahmen zur Attraktivitätssteigerung von Stadt(teil)zentren. Im Zusammenhang damit steht die Frage nach der Herstellbarkeit von Nutzungs- bzw. Funktionsmischung. Aus Sicht des Bundes sind zur Realisierung von Projekten zur Zentrenstabilisierung innovative Nutzungs- und Kooperationsansätze sowie die konsequente Anwendung des (planungs-) rechtlichen Instrumentariums notwendig. Als größte Gefahr für bisherige Erfolge wird die Ansiedlung von Factory Outlet Centers in der städtischen Peripherie gesehen, wenngleich auch diese Entwicklung bei konsequenter Anwendung des vorhandenen rechtlichen Instrumentariums beschränkt werden kann.

Die während der Tagung aufgezeigten Beispiele für den Umgang mit Leitbildern und Stadtentwicklungskonzepten zeigten unterschiedliche Herangehensweisen: Das Stadtentwicklungskonzept Hamburgs von 1996 orientiert sich an den Leitbildern der „Stadt entlang der Achsen" und der „durchmischten, multifunktionalen Stadt". Es weist in einem hierarchisch abgestuften Zentrensystem neben Bezirkszentren die Entwicklung verdichteter, gemischter Nutzungsbereiche sowie Bezirksentlastungszentren entlang von Entwicklungsachsen aus. Diese Form der Zentrenplanung verläuft nicht unproblematisch, wie großflächige Siedlungsentwicklungen in Achsenzwischenräumen gezeigt haben, folgt aber den Notwendigkeiten der Entwicklung (schienengebundener) Verkehrsnetze und wird durch die historischen Zentrenentwicklung später eingemeindeter Stadtteile begünstigt. Die gegenwärtige Entwicklungsdynamik Hamburgs umfaßt die gesamte Metropolitanregion, für die ein Regionales Entwicklungskonzept aufgestellt wurde. Die Kernstadt selbst versucht, mittels eines Konzeptes zur Attraktivitätssteigerung den starken Suburbanisierungstendenzen entgegenzuwirken. Im Vordergrund steht dabei die Einflußnahme auf Prozesse und möglichst umfassende Kooperation der Akteure anstelle einer Fokussierung auf ordnungspolitische Steuerungsinstrumente.

[Seite der Druckausgabe: III]

Die Stadtentwicklungspolitik Essens konzentriert sich u.a. auf die Nutzung weitläufiger, bisher suboptimal genutzter Industrie- bzw. Gewerbe- und Bahnflächenflächen im kernstädtischen Bereich. Neben „Flächenrecycling" werden leerstehende, für eine Umnutzung geeignete Industriegebäude als weitere kommunale Entwicklungspotentiale wahrgenommen. Die besondere Stadtstruktur Essens ermöglicht bei Inwertsetzung dieser Potentiale eine Vielzahl innenstadtnaher Entwicklungen bis hin zur Ansiedlung großflächiger Einzelhandels- und Kultureinrichtungen an integrierten Standorten im Innenstadtbereich. Neben materiellen Entwicklungspotentialen werden in Essen neue Kooperationsformen zwischen beteiligten und betroffenen Akteuren als unverzichtbare Elemente heutiger Stadtentwicklung betrachtet, was besonders im Rahmen der Stadtteilentwicklung zum Tragen kommt. In Essen-Katernberg, einem „Stadtteil mit besonderem Erneuerungsbedarf", verfolgt die Stadt einen Ansatz „integrierter Kommunalpolitik", der sich auf die Bereiche Gemeinwesenarbeit, (Problem-) Analyse und Beschäftigungspolitik stützt. Seitens der dezernatsübergreifend arbeitenden Verwaltung und von verschiedenen Organisationen und Institutionen im Stadtteil werden sowohl mit den Betroffenen abgestimmte „top-down"- als auch „bottom-up"-Projekte entwickelt.

Die Zentrenstruktur Kölns wird seit den 70er Jahren mittels eines räumlich-funktionalen Leitbildes gesteuert, was allerdings im Zuge des wirtschaftlichen Strukturwandels, insbesondere aber aufgrund zunehmender Filialisierung des Handels im Innenstadtbereich und des Wachstums großflächiger Einzelhandelseinrichtungen an nicht-integrierten Standorten zunehmend auf Schwierigkeiten stieß. Gegen diesen „Erosionsprozeß" entwickelte die Stadt ein Fachmarktkonzept zur Kanalisierung der Ansiedlung großflächiger Einzelhandelseinrichtungen in städtebaulich verträglicher Weise. Dieses sieht zum einen den konsequenten Einsatz des planungsrechtlichen Instrumentariums sowie interkommunale Abstimmungen, zum anderen die Ausweisung von Zentrenergänzungsräumen im Randbereich bestehender Nebenzentren für die Ansiedlung großflächiger Einrichtungen vor. Hinzu kommen eine Reihe flankierender Maßnahmen zur Attraktivitätssteigerung von Nebenzentren.

Die Stadtentwicklungsplanung Rostocks orientiert sich an einem hierarchischen System multifunktionaler Zentren nach dem Leitbild der „polyzentrischen, gegliederten und differenzierten Stadt". Dies trägt der gesamtstädtischen Struktur Rechnung, die im wesentlichen auf den beiden historischen Stadtkernen Warnemündes und Rostocks sowie den im westlichen

[Seite der Druckausgabe: IV]

Stadtraum angelegten Großwohnsiedlungen des Sozialistischen Städtebaus basiert. Ziel der Stadtentwicklungsplanung ist eine kompakte Bebauung (Innen- vor Außenentwicklung bei Flächenverknappung) unter Beibehaltung innerstädtischer Grün- und Freiräume. Die einzelnen Teilräume sollen durch gleichwertige Versorgungsinfrastruktur gestärkt werden, bestimmte Aufgaben im Rahmen der gesamtstädtischen Nutzungsdifferenzierung übernehmen und durch ein leistungsfähiges Verkehrsnetz miteinander verbunden werden. Dem tiefgreifenden wirtschaftlichen Strukturwandel nach der „Wende" begegnet man in Rostock mit Ansätzen zur Schaffung entwicklungsfördernder Rahmenbedingungen für kleine und mittlere Betriebe (u.a. Einrichtung von Innovations- und Gründerzentren). Seit Mai 1998 liegt das Stadtentwicklungsprogramm „Leitlinien zur Stadtentwicklung Rostock 2010" vor, das durch ein ganzheitliches, über Stadtwerbung und Gewerbeakquisition hinausgehendes, auch soziale und ökologische Aspekte berücksichtigendes Stadtmarketingkonzept ergänzt wird. Harte und weiche Standortfaktoren sollen gleichermaßen entwickelt werden, Großprojekte auf Basis privater Investorenmodelle/public-private-partnerships unter Einbeziehung lokaler Akteure die (überregionale) Attraktivität des Standortes Rostocks stabilisieren.

Die Stadt Potsdam wurde bis 1989 durch Industrialisierung und Siedlungsbau nach dem Leitbild des Sozialistischen Städtebaus gestaltet. Als Folge der Großwohnsiedlungspolitik der DDR mit ihrem Staatsziel der wohnungsnahen Grundversorgung und der deutlichen Trennung der Funktionen Arbeiten und Wohnen verfügt die Stadt heute mit ihrer Kernstadt und den Zentren der Großsiedlungen über ein sehr dezidiertes polyzentrales Zentrensystem. Im Jahr 1993 wurde ein dezentrales Zentrenkonzept beschlossen, das der Siedlungsentwicklung des gesamtstädtischen Raumes Rechnung trägt. Im Zuge der „Wende" wurde Potsdam mit einer Vielzahl von Problemen konfrontiert, u.a. dem ökonomischen Strukturwandel und der neuen räumlichen Situation nach dem Wegfall der Staatsgrenze. Die Nähe zu Berlin ist - abgesehen von den touristischen Attraktionen der Stadt - heute wieder ein wichtiges Entwicklungspotential Potsdams. Die Stadt reagierte auf den Strukturwandel u.a. mit der Ausschöpfung einer Vielzahl von Sonderabschreibungs- und sonstigen Fördermöglichkeiten sowie einer großzügigen Genehmigungspolitik. Zu den verschiedenen, in Potsdam geplanten oder bereits umgesetzten Stadtentwicklungsprojekten gehören u.a. die Wiederbebauung von Brachflächen bzw. Umnutzung leerstehender Gewerbebauten, die Ausweisung neuer Wohngebiete, die Entwicklung der „Medienstadt" Babelsberg und die Errichtung des aufgrund sei

[Seite der Druckausgabe: V]

ner Konkurrenzsituation zur Innenstadt nicht unproblematischen „Potsdam-Centers" auf einem Brachgelände in Bahnhofsnähe.

Die Tagung zeigte die Probleme heutiger Stadtentwicklung im Spannungsfeld zwischen (staatlichem) Lenkungsanspruch und Tendenzen privatwirtschaftlicher Aneignung von Planungsprozessen auf. Von den verantwortlichen Akteuren wurden aktivere Strategien anstelle von Resignation gegenüber den gegenwärtigen Entwicklungen gefordert. Gewarnt wurde vor einer Überhandnahme unternehmerischer Komponenten der Stadtplanung, die den Niedergang „nicht-rentabler" Zentren unterstützen. Die Rolle von Förderungsprogrammen des Bundes zur Stabilisierung von Innenstädten bzw. Stadtteilen wurde betont, von seiten des Bundes die Zielvorstellungen der EU-Gemeinschaftsinitiative URBAN mit ihrer Betonung auf Gleichzeitgkeit investiver und nicht-investiver Förderbereiche sowie integrativer Maßnahmen und umfassender Akteurskooperation als richtungsweisend für zukünftige Stadtentwicklungspolitik bezeichnet.

Bezüglich der gegenwärtigen Leitbilddiskussion wurden gegensätzliche Meinungen geäußert: Auf der einen Seite wurde bemerkt, man könne heute kein Leitbild mehr formulieren; statt einer Konzentration auf langfristig angelegte räumliche Planungsvorstellungen sei die Fokussierung auf Begleitung bzw. Moderation (dynamischer) Planungsprozesse im Sinne von Leitvorstellungen realistischer. Die Gegenseite räumte den statischen Charakter von Leitbildern ein, zweifelte jedoch daran, ohne langfristig gedachte Zielvorstellungen räumlicher Entwicklungen auf Dauer auskommen zu können. Aus Sicht des Konferenz-Veranstalters zeigen die zahlreichen während der Tagung vorgestellten Beispiele für den Umgang mit Leitbildern, daß auf die einzelnen Städte zugeschnittene und miteinander verknüpfte Zielvorstellungen sowohl für die gesamtstädtischer Ebene als auch einzelne Stadtteile ein hohes Maß an Flexibilität aufweisen. Dies gelte heute in Anbetracht einer Vielzahl zur Verfügung stehender (innersädtischer) Recycling-Flächen in besonderem Maße.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | April 2001

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