FES HOME MAIL SEARCH HELP NEW
[DIGITALE BIBLIOTHEK DER FES]
TITELINFO / UEBERSICHT



TEILDOKUMENT:




[Seite der Druckausgabe: 34]

Willi Arens

5. Soziale Mindeststandards - für das Funktionieren des Weltmarktes unabdingbar



Page Top

5.1 Chancen und Risiken des Freihandels

Es ist nachweisbar, daß ein funktionierender Freihandel den Wohlstand aller beteiligten Nationen befördern kann. Das gilt nicht nur in der Theorie, sondern auch in der Praxis. Die wirtschaftliche Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg ist dafür ein gutes Beispiel. Ohne die schrittweise Öffnung der Grenzen für den internationalen Handel wäre der Wohlstand der Nationen geringer gewesen. Dies gilt insbesondere für die bundesdeutsche Wirtschaft, die bis Ende der achtziger Jahre entscheidend von der zunehmenden Globalisierung profitierte.

Die Internationalisierung der Wirtschaft bietet aber nicht nur Chancen, sondern auch erhebliche Risiken. Der in den letzten Jahren zwischen den großen Industrienationen ausgebrochene Kostensenkungswettlauf übt einen erheblichen Rationalisierungsdruck auf die nationalen Volkswirtschaften aus. Arbeitsplätze werden abgebaut, die Realeinkommen stagnieren, die Einkommensverteilung wird ungleicher, es findet Sozialabbau statt, der Umweltschutz bleibt zunehmend auf der Strecke. Hinzu kommt die Gefahr einer weltweiten Finanzkrise und möglicherweise in deren Gefolge eine Weltwirtschaftskrise.

Die negativen Seiten der Globalisierung bekam die Textil- und Bekleidungsindustrie weit früher als andere zu spüren. In Deutschland verlor dieser Sektor seit den sechziger Jahren mehr als eine Million Beschäftigte. Und das, obwohl erfolgreich alle Möglichkeiten zur Steigerung der Produktivität genutzt wurden: Die Maschinenlaufzeiten wurden bis zum Maximum erhöht, die Arbeitszeiten flexibilisiert, die Löhne blieben hinter der allgemeinen Einkommensentwicklung zurück. Mit diesen Maßnahmen gelang es, die Produktivität in der Textilindustrie mehr zu steigern als im Durchschnitt der Gesamtindustrie. Trotzdem gingen Märkte und Arbeitsplätze verloren.

Die Krise in der Textil- und Bekleidungsindustrie beschränkt sich keineswegs nur auf Deutschland oder die Industrieländer. Westeuropa verliert in diesem Sektor viele Arbeitsplätze, aber in anderen Regionen, zum Beispiel in Osteuropa, verlieren die Arbeitnehmer in diesem Industriezweig ihren Lebensstandard. So sind die Einkommen der Textilarbeiter in den meisten osteuropäischen Staaten seit Ende der achtziger Jahre um ca. die Hälfte gefallen. Weltweit nehmen die Beschäftigten im Bereich Textil und Bekleidung ab. Die Kinderarbeit allerdings nimmt in dieser Industrie ständig zu.

Verursacht, so die landläufige Meinung, sei die Krise in der Textilindustrie durch vorhandene Überkapazitäten. Es fragt sich allerdings, ob nicht vielmehr eine weltweite Nachfrageschwäche der Grund für die Krise ist. Eine Nachfrageschwäche, die

[Seite der Druckausgabe: 35]

dadurch zustandegekommen ist, daß aufgrund des allgemeinen Kostensenkungswettlaufs die Einkommen der Arbeitnehmer den Produktivitätsfortschritten nicht mehr folgen und die privaten Haushalte deshalb keine kaufkräftige Nachfrage entwickeln können.

Der unregulierte Freihandel hat, wie am Beispiel der Textil- und Bekleidungsindustrie feststellbar ist, einen Kostensenkungswettbewerb in Gang gesetzt, der leicht in eine zerstörerische Konkurrenz münden kann. Von ihr profitiert niemand, noch nicht einmal die Unternehmen. Und sollte sich der Wettlauf um niedrigere Kosten auf alle Sektoren ausdehnen, was zunehmend der Fall ist, stünde bald eine weltweite Rezession ins Haus.

Page Top

5.2 Soziale Mindeststandards als Teil eines Ordnungsrahmens für den internationalen Handel

Den Gefahren des ungeregelten Freihandels kann man nur durch die Schaffung eines Ordnungsrahmens für den internationalen Handel entgehen, der einen fairen Wettbewerb herstellt und die Funktionsfähigkeit der Märkte erhält bzw. wieder herstellt. Interessanterweise wird auch von den neoliberalsten Ökonomen und Wirtschaftspolitikern nicht in Frage gestellt, daß international eingesetztes Kapital durch internationale Vereinbarungen geschützt werden muß und kann. Vereinbarungen zum Patentrecht wurden zum Beispiel bei der Welthandelsorganisation getroffen, um den Schutz des geistigen Eigentums zu gewährleisten. Die OECD-Staaten haben bereits über ein Investitionsschutzabkommen verhandelt, das bisher nur daran scheiterte, daß die Forderungen des Schutzes von ausländischen Direktinvestitionen weit überzogen waren.

Während das Anliegen eines Maximalschutzes von Investitionen in der Öffentlichkeit kaum registriert und noch weniger kritisiert wird, stellt man gleichzeitig jedwede Forderung nach dem Schutz der natürlichen und sozialen Lebensgrundlagen der Menschen in Frage und bezweifelt auch deren Umsetzbarkeit. Dabei stellt sich doch die Frage, wem denn die zunehmende Globalisierung der Wirtschaft etwas nutzen sollte, wenn nicht den Menschen in den am internationalen Handel beteiligten Ländern. Die Liberalisierung des Welthandels durch die GATT-Verhandlungen nach dem Zweiten Weltkrieg hatte ja genau dieses zum Zweck, nämlich den Wohlstand der Menschen in allen Ländern zu fördern. Dies, das hat die Erfahrung der letzten Jahre gezeigt, ist nur gewährleistet, wenn die Politik der Wirtschaft Rahmenbedingungen setzt, die die Funktionsfähigkeit einer freien und sozialen Marktwirtschaft sichern.

Dazu bedarf es eines fairen Wettbewerbs zwischen den Unternehmen, eines stabilen Währungssystems, einer koordinierten Wirtschaftspolitik der Industrienationen, ökologischer Mindeststandards und vor allem sozialer Mindeststandards. Letztere sind von besonders großer Bedeutung, wenn die Gefahr einer Weltwirtschaftskrise auch langfristig ausgeschlossen werden soll.

[Seite der Druckausgabe: 36]

Page Top

5.3 Soziale Mindeststandards international vereinbaren und durchsetzen

Bei der Setzung von sozialen Standards kann es selbstverständlich nicht darum gehen, das hohe deutsche oder europäische Niveau sozialer Sicherheit auf andere Länder zu übertragen. Den weniger entwickelten und weniger produktiven Volkswirtschaften darf die Möglichkeit einer kostengünstigeren Produktion, die sie durch niedrige Löhne, lange Arbeitszeiten, einen geringen Umwelt- und Gesundheitsschutz o.a. realisieren, nicht genommen werden.

Deshalb sollten lediglich soziale Mindeststandards vereinbart werden, die dafür Sorge zu tragen hätten, daß

  1. die Lebenslage der Bevölkerung in den Ländern des Südens sich verbessert,
  2. Wohlstand und soziale Sicherheit im Norden erhalten bleiben,
  3. Migration vom Süden in den Norden weitgehend verhindert wird und
  4. Konjunktur, Wachstum und Beschäftigung weltweit gefördert werden.

Bereits heute ist es durch eine Vielfalt internationaler Vereinbarungen verboten, die sozialen Grundrechte zu verletzen. Die WTO-Vereinbarungen enthalten lediglich ein Verbot der Gefangenenarbeit. Umfassenderen Schutz bieten die Übereinkommen der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO). Die wichtigsten Vereinbarungen wurden von den meisten Mitgliedstaaten unterzeichnet und können deshalb weltweite Gültigkeit beanspruchen.

Bei den bereits vereinbarten internationalen Mindeststandards handelt es sich um

  • das Verbot der Zwangsarbeit
  • das Verbot der Kinderarbeit
  • das Verbot der Diskriminierung in Beschäftigung und Beruf
  • die Gleichheit des Entgelts für männliche und weibliche Arbeitskräfte
  • das Recht auf Vereinigungsfreiheit, auf Kollektivverhandlungen und den Schutz der Arbeitnehmervertreter im Betrieb
  • den Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz und
  • die Mindestlohngesetzgebung.

In der Praxis werden diese Verbote leider oft mißachtet. Dabei wird die zunehmende Verletzung sozialer Grundrechte einerseits mit dem stärkeren internationalen Wettbewerbs- und damit Kostensenkungsdruck begründet. Andererseits bestehen für die internationalen Organisationen und die nationalen Volkswirtschaften im Falle eines Verstoßes gegen die Mindeststandards keine ausreichenden Sanktionsmöglichkeiten.

Deshalb, und weil die Verhinderung eines Sozialdumpings nicht in einen verkappten Protektionismus münden darf, ist die kürzlich vom amerikanischen Präsidenten Clinton vorgeschlagene Zusammenarbeit der Internationalen Arbeitsorganisation mit der Welthandelsorganisation zu befürworten. Demnach wären negative handelspolitische Sanktionen wie Zölle möglich, wenn von einem Handelspartner gegen soziale Mindeststandards verstoßen wird. Bei Konflikten zwischen Freihandel - vertreten durch die Welthandelsorganisation - und der Einhaltung sozialer Mindeststandards - vertreten von der Internationalen Arbeitsorganisation - könnte in beiderseitigem Ein-

[Seite der Druckausgabe: 37]

vernehmen eine Schlichtungskommission eingesetzt werden, die den Streit beilegt. Neben dieser wichtigsten Maßnahme, den vorhandenen sozialen Mindeststandards in der Praxis Geltung zu verschaffen, wären folgende Reformen notwendig:

  1. Alle Staaten sollten die wichtigsten Übereinkommen der Internationalen Arbeitsorganisation und die weitgehenden Übereinkommen des Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Menschenrechte (WSK-Pakt) unterzeichnen.
  2. Positive Sanktionen würden die Umsetzung sozialer Grundrechte wohl am besten befördern. Im Rahmen des Zollpräferenzsystems der EU, das einigen Staaten günstigere Einfuhrbedingungen gewährt, könnten ärmere Länder, die Mindeststandards einhalten, zusätzlich bevorzugt werden.
  3. Die bestehenden Instrumente der Internationalen Arbeitsorganisation (Klagerecht von Regierungen, Beschwerderecht von Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften) sollten erweitert werden durch die Individualbeschwerde und die Klagemöglichkeit der Internationalen Arbeitsorganisation selbst.
  4. Multinationale Unternehmen sollten sich verpflichten, die Normen der Internationalen Arbeitsorganisation einzuhalten und darauf zu achten, daß auch ihre Abnehmer und Lieferanten sich daran halten.
  5. Weltbank und Internationalem Währungsfonds sollte man eine Berichtspflicht gegenüber den UN-Menschenrechtsgremien auferlegen.

Die Voraussetzungen für die Vereinbarung zusätzlicher sozialer Mindeststandards und die Umsetzung bereits bestehender sozialer Grundrechte haben sich in den letzten Jahren verbessert. Nicht nur die Clinton-Regierung hat die Notwendigkeit zum Handeln erkannt, sondern auch die zum großen Teil sozialdemokratisch regierten Länder in Europa. Deshalb bestehen heute gute Chancen dafür, daß die zunehmende Globalisierung zum Vorteil für die gesamte Bevölkerung in allen am Welthandel beteiligten Ländern genutzt wird.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | August 1999

Previous Page TOC Next Page