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[Seite der Druck-Ausgabe: S. 36 (Fortsetzung)]

6. Fazit und Ausblick

Die Tarifparteien können mit tarifvertraglich vereinbarten Arbeitszeitinstrumenten zur Abwehr von Arbeitslosigkeit und zur Stabilisierung von Beschäftigung beitragen - und haben in vielen Bereichen diese Leistung erbracht. Arbeitszeitverkürzungen in teilweise deutlichem Ausmaß und unter Verlust von Einkommen haben Arbeitsplätze erhalten, die Ausschöpfung von Kostensenkungspotentialen flexibler Arbeitszeitregelungen haben Wettbewerbsfähigkeit und Qualität von Standorten erhöht.

Die betrieblichen Verhandlungen zur Umsetzung dieser Instrumente waren vielfach schwierig und konfliktreich. Empfindliche Eingriffe in Besitzstände, unabhängig davon ob es sich um materielle Einschnitte handelt oder um die Ausdehnung der Arbeitszeit auf bislang arbeitsfreie Zeiträume, sind für die betroffenen Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen schmerzhaft. Für die Akzeptanz der Arbeitszeitmodelle ist sicherlich auch von Gewicht, ob sie in kooperativem Einvernehmen implementiert wurden, oder ob sich Betriebsräte und Belegschaften in der nationalen und internationalen Standortkonkurrenz gegeneinander ausgespielt fühlen.

[Seite der Druck-Ausgabe: S. 38]

Während der Tagung machte das Wort von der "Erpreßbarkeit" der Betriebsräte die Runde.

Der schon seit langem zu beobachtende rasante Produktivitätsfortschritt in der Industrie und der eingeleitete und sich in Zukunft wohl beschleunigende in vielen Dienstleistungsbereichen bedeutet nichts anderes, als daß mit moderner Ausstattung, neuen Organisations- und Kooperationsformen intensiver gearbeitet und mehr geleistet wird. Es stellt sich die Frage, wie ohne eine Verkürzung und andere Verteilung der Erwerbsarbeitszeit verhindert werden kann, daß immer mehr Menschen aus dem Erwerbsprozeß ausgegliedert werden. Bei drastischen Arbeitszeitverkürzungen mit entsprechenden Einkommenseinbußen wäre auch zu prüfen, inwiefern ein sozialer Ausgleich über den Kreis der Tarifparteien hinaus möglich ist.

Verkürzte Arbeitszeit und individuelle Flexibilität schließen sich dabei nicht gegenseitig aus, sondern bedingen einander vielmehr. Je kürzer die Arbeitszeit ist, desto vielfältiger sind auch die Variationsmöglichkeiten. Es gibt ein Bedürfnis unter Beschäftigten nach individueller, mehr selbstbestimmter Gestaltung ihrer Arbeitszeit, sowohl hinsichtlich der Lage der Arbeitszeit, als auch was deren Dauer und die längerfristige Verteilung von Erwerbs- und Nichterwerbszeiten anbetrifft.

Arbeitszeitkonten sind ein Instrument, diese Ansprüche mit betrieblichen Erfordernissen besser in Übereinstimmung zu bringen. Je nach Ausgestaltung und Regelung kann einmal die Verteilung schwankender Arbeitszeiten innerhalb eines mehrmonatigen Zeitabschnittes oder eines Jahres ausgeglichen werden. Denkbar sind jedoch auch Modelle, die ein Ansparen von Arbeitszeitguthaben über mehrere Jahre hinweg ermöglichen, um längere Zeiträume - mit Einkommen - für eine Aus- oder Weiterbildung, für Betreuungsaufgaben oder schlicht für Muße und eine grundlegende Erholung zu gewinnen. Konsequent fortgeführt stünden am Ende Modelle, die hin bis zu einem vorzeitigen Ausscheiden aus dem Erwerbsleben mittels Abtragens eines in den Jahren zuvor erworbenen Arbeitszeitguthabens reichen.

[Seite der Druck-Ausgabe: S. 39]

Mit der Einführung derartiger Arbeitszeitkonten sind natürlich vielfältige Probleme der sozialrechtlichen, tariflichen und betrieblichen Regulierung, Konditionierung und Ausgestaltung verbunden. Hierzu zählen Fragen nach der Verzinsung der Zeitguthaben, der Sicherung bei wirtschaftlichen Schwierigkeiten bis hin zum Konkursfall, die Konditionen des Ansparens und Abrufens, die Definition eines Rahmens von Höchstarbeitszeiten, von zuschlagpflichtigen Arbeitszeiten und deren Kontierung, Verfügungs-, Mit- und Selbstbestimmungsrechte über die Arbeitszeit und anderes mehr.

Die Regulierungsanforderungen sind zwar differenziert und anspruchsvoll und der Vollzug wird möglicherweise durchaus von Konflikten begleitet werden. Elemente und Ansätze von Arbeitszeitkonten haben jedoch schon auf der Ebene einzelner Unternehmen Eingang in die betriebliche Praxis gefunden, es liegen auch Erfahrungen mit einzelnen Pilotprojekten vor. Den nötigen Gestaltungswillen auf tariflicher und betrieblicher Handlungsebene vorausgesetzt, könnten Arbeitszeitkonten relativ schnell zur Realität werden.

Einen anderen Zugang zu Fragen der Arbeitszeitgestaltung bieten Entwicklungen in der Arbeitsorganisation. Neue Produktions- und Managementkonzepte mit Gruppenarbeit und flachen Hierarchien ermöglichen andere Formen der Arbeitszeitorganisation und stellen gleichzeitig auch neue Anforderungen. Neue Informations- und Kommunikationstechniken und deren rasante Verbreitung in der Arbeitswelt führen zu Veränderungen von Arbeitszeitstrukturen. "Virtuelle Büros", "Fraktale Verwaltungen" bedeuten nicht nur die Auflösung herkömmlicher Betriebsstrukturen, sondern auch die von gewachsenen Arbeitszeitstrukturen. Diese gegenwärtig entstehenden Arbeits- und insbesondere Arbeitszeitformen der Informationsgesellschaft bieten nicht nur viele neue Gestaltungsspielräume, sondern können sich bei ungünstiger Regelung im negativen Sinne für die Betroffenen auswirken.

Ein entscheidendes Element für die Ausschöpfung von potentiellen Gestaltungsspielräumen ist die Zeitsouveränität der Beschäftigten. Wenn es richtig sei, daß Wettbewerbsfähigkeit zu Hause beginnt und die Qualität

[Seite der Druck-Ausgabe: S. 40]

der Köpfe über Innovationsfähigkeit entscheidet - so Rudolf Dreßler, stellvertretender Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion - dann seien Konsequenzen fällig. Die Betriebe benötigten den fachlich hochkompetenten, über die engeren Arbeitsbereiche hinausblickenden, auch eigensinnigen und zugleich gesellschaftlich wachen Typus von Mitarbeiter und Mitarbeiterin. Nach seiner Überzeugung geht das Zeitalter der Mitbestimmung nicht zu Ende. Vielmehr stehe eine lange Phase zunehmender Transparenz und Mitentscheidung bevor. In dieser Entwicklung liege ein größeres Maß an individueller Entscheidungsfreiheit über die Verteilung von Erwerbsarbeit, von Familien- und Gemeinwesenarbeit sowie von Tätigkeiten, die nur der jeweiligen Person nutzen. Der sozial gestaltende Staat müsse eine solche Entwicklung durch eine Reform der gesetzlichen Mitsprache- und Mitentscheidungsmöglichkeiten fördern.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Januar 2000

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