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4. Aktuelle Entwicklung und Problemstand von Forschung und Entwicklung in den Mittel- und Osteuropäischen Ländern

Grundsätzlich ist festzuhalten, daß die MOEL aus sozialistischer Zeit ein großes und erhaltenswertes Erbe an Forschungs- und Technologiekapazitäten übernommen haben, das sich z.B. in hohen Beschäftigungszahlen in Forschung und Entwicklung, einer hohen Zahl an Ingenieuren gemessen an der Bevölkerungszahl und gut ausgebildeten Arbeitskräften manifestierte. Verglichen mit der Struktur des Forschungs- und Technologiesektors in westlichen Marktwirtschaften gab es jedoch nach Darstellung eines Vertreters der EU-Kommission zwei wesentliche Besonderheiten (natürlich mit unterschiedlich starker Ausprägung in den verschiedenen Ländern):

  1. Die Trennlinie zwischen Unternehmensforschung und institutioneller Forschung war verwischt, da ein großer Teil der FuE-Aktivitäten in Akademie- oder Brancheninstituten in engem Kontakt mit der Industrie stattfand. Die universitäre Forschung war stark unterentwickelt. Ein großer Teil der Forschungskapazität war auf Militärforschung ausgerichtet.

  2. Es handelte sich um geschlossene Volkswirtschaften, in denen ein nicht geringer Teil der Forschung und Entwicklung dem "Nachempfinden" von auf dem Weltmarkt eingeführten Spitzentechnologien gewidmet war.

Mit der Auflösung des Ostblocks wurden die vormals geschützten Volkswirtschaften den Kräften des Weltmarktes ausgesetzt, was in vielen Fällen zum Zusammenbruch nicht wettbewerbsfähiger Industriezweige und

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einer anfänglich enormen Schrumpfung des Bruttosozialproduktes führte. Die schon vor den Zeiten des Umbruchs überdimensionierten Kapazitäten im FuE-Bereich entsprachen nicht mehr der Größe der Volkswirtschaften. Eine umfassende Umstrukturierung der FuE-Kapazitäten mit dem Ziel der langfristigen Verbesserung der industriellen Technologieposition und Exportstärke war und sei dringend erforderlich, unterstrich der Vertreter der EU-Kommission.

Entwicklung und Problemstand von FuE-Aktivitäten wurden von einem Vertreter des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) aufgezeigt. Mit dem Zusammenbruch der sozialistischen Staaten in Osteuropa sind auch die Innovationssysteme zusammengebrochen. Lediglich Fragmente ohne Verbindungen zur Produktion und somit ohne Funktion im Innovationsprozeß blieben erhalten.

Das sozialistische Wissenschaftssystem habe auf drei Säulen basiert:

den Universitäten und Einrichtungen der höheren Ausbildung, den Akademien der Wissenschaft und den Industrieforschungsinstitutionen, berichtete der Wissenschartier des DIW. Während Hauptaufgabe der Universitäten die Ausbildung gewesen sei, sei die Forschung in ihrer „ganzen Breite und Tiefe" von den Akademien ausgeführt wurden. Die spezifische Produkt- und Technologieentwicklung von der Entwicklung neuer Produkte und Technologien in Form von Prototypen, Pilotsystemen und Experimentiermodellen sei hingegen von den Industrieforschungsinstituten übernommen worden.

Diese Darstellung löste jedoch bei einem Professor von der polnischeuropäischen Universität in Warschau Widerspruch aus. „Es gab an der

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Universität nicht nur die Ausbildung, sondern auch die Forschung", erklärte er.

Ein Vertreter von FEMIRC verwies darauf, daß berücksichtigt werden müsse, daß das Wissenschaftssystem in Polen komplizierter gewesen sei, als gemeinhin dargestellt. Es habe selbstverständlich die vom DIW-Forscher beschriebene Aufgabenteilung in Universitäten, wissenschaftliche Akademien und Institute, die für die Wirtschaft arbeiteten, gegeben. „Wir beschäftigten tatsächlich nur 16 Prozent der Wissenschaftler in der angewandten Forschung." Nicht zu vergessen sei, daß es in Polen keine großen Konzerne gegeben habe.

Der DIW-Forscher betonte, es sei ihm darum gegangen, schematisch zu verdeutlichen, daß die Verbindungen zur Wissenschaft vom Staat in allen Säulen etabliert worden seien. Ihm sei aber durchaus bewußt, daß die Realität nach komplizierteren Mustern funktionierte.

Im Gegensatz zu den westlichen Strukturen wurde die industrielle Forschung hauptsächlich in externen Institutionen, wie den Branchenforschungsinstituten, durchgeführt. Die Forschungskapazitäten innerhalb der Produktionsstätten waren klein, da die den Produktionsstätten zugedachte Aufgabe ausschließlich die Produktion umfaßte. Eine Interaktion zwischen den Kunden und den Entwicklern existierte somit nicht.

Die Isolation der sozialistischen Staaten bewirkte eine zweigeteilte Innovationsstrategie. So wurde auf der einen Seite auf eine unabhängige Problemlösungsstrategie und auf der anderen Seite auf pure Imitation gesetzt. Ein großer Anteil des FuE-Aufwands wurde für die Imitation von westlichen Produkten verwendet. Problematisch wirkte sich auch die dominante

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Rolle der Militärforschung aus. Da die Forschungsergebnisse aus dem militärischen Bereich streng vertraulich behandelt wurden, kam es auch zu keinen "Spill-over-Effekten" in die zivile Forschung, anders als in den westlichen Staaten.

Heute sind die osteuropäischen Regierungen nicht mehr in der Lage oder nicht mehr bereit, ein Innovationssystem zu finanzieren, das keine Aufgabe in der Wirtschaft erfüllt. So sehen sich die Regierungen der MOE-Länder mit der Frage konfrontiert, wie ein neues Innovationssystem unter den vorherrschenden Rahmenbedingungen aufgebaut werden kann. Leistungsfähige müssen von entwerteten und somit nutzlosen Forschungskapazitäten unterschieden werden. Dies kann durch eine nachfrageorientierte Wissenschaftspolitik erreicht werden unter Berücksichtigung der vor Ort existierenden Rahmenbedingungen. Westliche Modelle können nach Meinung des Wissenschaftlers aus dem DIW nicht als Vorlage herangezogen werden, da weder die institutionellen noch die finanziellen Voraussetzungen gegeben sind.

Um die Veränderungen in Wissenschafts- und Innovationssystem in den osteuropäischen Staaten zu verdeutlichen, werden in der Regel Wissenschafts- und Technologieindikatoren herangezogen. Beispiele hierfür sind Ausgaben für FuE, Personal in FuE, Patente, etc.. Folgende Tabelle zeigt die Ausgaben für FuE als Prozentsatz vom BIP,

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Gross Domestic Expenditure on R & D as a percentage of GDP*


1990

1991

1992

1993

1994

Czech Republik1

2,19

2,12

1,83

1,35

1,25

Hungary2

1,60

1,08

1,07

0,99

0,89

Poland3


1,05

0,83

0,83

0,84

Slovak Republik4

1,99

2,57

2,03

1,66

1,12

Russian Federation5

20,3

1,54

0,78

0,81

0,82

* Defence R & D not included.

1 Total expenditure of the R & D base, depreciation costs not excluded.

2 Until 1993, including purchase of licences, know-how etc. break in senes in 1991 due to changing methodology for calculating GDP.

3 Until 1993: capital expenditure in enterprises and the higher education sector not included, depreciation costs not excluded.

4 Until 1993, total expenditure of the R & D base; depreciation costs not excluded.

Quelle: Folie aus dem Vortrag von Jürgen Bitzer (DIW Berlin) auf der Fachkonferenz .Industrielle Kooperation bei Forschung und Entwicklung zwischen der Europäischen Union und den Staaten Mittel- und Osteuropas" (Datenbasis OECD 1996)

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Wie die Tabelle zeigt, sind in allen MOE-Staaten die Ausgaben für FuE in den 90er Jahren stark gesunken. Es sei jedoch zu kurz gedacht, die Reduzierung des Anteils für FuE am BIP prinzipiell als "schlecht" zu interpretieren, erklärte der Wissenschaftler aus dem DIW. Eine Interpretation der vordergründig eindeutigen Zahlen sei schwierig. So könnten beispielsweise eine erhöhte Produktivität, die Abwanderung großer Teile der Forscher in die freie Wirtschaft oder eine veränderte Wirtschaftsstruktur mögliche Gründe für die vorgenommene Verringerung der Ausgaben sein. Die Forderung, die Forschungsausgaben auf hohem Niveau aufrechtzuerhalten, müsse sorgfältig begründet werden und könne nicht von Vergleichen mit den Ausgaben westlicher Staaten abgeleitet werden. Ohne die Analyse der strukturellen Veränderungen in den osteuropäischen Wissenschafts- und Innovationssystemen seien keinerlei seriöse Politikempfehlungen möglich.

Eine solche Analyse lenkt den Blick auf die partielle Entwertung des Humankapitals: Durch die früheren hohen Investitionen in die Bildung von Humankapital verfügen die osteuropäischen Staaten über ein hohes Bildungsniveau. Insbesondere im Bereich der Naturwissenschaften wird ihnen ein Spitzenplatz bescheinigt. Teile des Humankapitals sind jedoch im Zuge der Transformation erheblich entwertet worden. Mit der Öffnung der osteuropäischen Märkte für westliche Verfahren, Produkte und Technologien und der schnellen Diffusion derselben kam es zu einer Entwertung erworbenen Humankapitals.

Die Entwertung im Bereich der angewandten Forschung und der Produktion war besonders hoch, da sich die Produktion und Produktentwicklung im Sozialismus und in marktwirtschaftlichen Unternehmen stark unterscheidet. Als Beispiele für Einsatzbereiche neuer Verfahren und Produkte

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können die verwendeten Maschinen, die Organisationsform, die Logistik etc. angeführt werden. Doch auch im Bereich der Grundlagenforschung kam es teilweise zu Entwertungen des Humankapitals, da sich die Wissenschaftler weltweit gängigen Verfahren anpassen mußten. Besonders kritisch ist die Lage im Bereich des Lehrpersonals, da in diesem Falle heute veraltetes Wissen vermittelt wird.

Übersehen werden dürfe jedoch nicht, so der DIW-Vertreter, daß häufig nicht technologische Fähigkeiten den Engpaßfaktor für die Wettbewerbsfähigkeit der osteuropäischen Unternehmen darstellten. Wettbewerbsnachteile ergeben sich auch aus mangelnder Qualität der Produkte, schlechten Marketingstrategien, großer Unzuverlässigkeit, mangelnder Kundenorientierung und Finanzierungsengpässen.

Mit der Öffnung der osteuropäischen Staaten erhielten die osteuropäischen Produzenten durch den Aufbau internationaler Zuliefernetzwerke Zugriff auf modernste Technologie, die sie dringend brauchten, um dem internationalen Wettbewerb standhalten zu können. Der so möglich gewordene direkte Vergleich zwischen westlicher und sozialistischer Technologie machte in vielen Bereichen die Hoffnung auf die einheimische FuE zunichte. Allerdings traten in anderen Bereichen wiederum komparative Vorteile der osteuropäischen FuE in den Vordergrund, die ausländische Direktinvestitionen aus der ganzen Welt anzogen.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Januar 2001

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