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[Seite der Druckausgabe: 33 / Fortsetzung]


4 Aktuelle Projekte bundesdeutscher Stadtentwicklung

4.1 Investitions- und Standorttendenzen im Wohnungsbau, bei Musicaltheatern und Multiplexkinos sowie anderen Freizeitanlagen

Da sich bereits heute abzeichnet, daß die zukünftigen tragenden Säulen auch der bundesdeutschen Volkswirtschaft u.a. der Dienstleistungs-, Unterhaltungs- und Freizeitbereich sein werden, sind diese Säulen auch als stabilisierender Faktor für die Entwicklung und Prosperität von Städten und Regionen nicht zu vernachlässigen, so der Referent. Das vorrangige Ziel im Zuge dieser Entwicklung ist die Belebung der Innenstädte durch Kombination der Funktionen Wohnen, Gewerbe und Freizeitgestaltung. Insbesondere der letzte Punkt wird im folgenden aufgegriffen und anhand einiger Beispiele näher erläutert.

4.1.1 Entwicklungen im Bereich Unterhaltungskultur

Ende der 1980er Jahre wurde in Hamburg mit dem Flora-Theater ein erstes Zeichen gesetzt. Die Musicals „Cats" und „Phantom der Oper" brachten der Stadt in Folge erhebliche Wachstumsimpulse sowie weitere Investitionen, deren positive Auswirkungen nach ca. 8 Jahren deutlich ablesbar sind.

Attraktive Musicals haben eine unerwartete Stabilität entwickelt. So läuft beispielsweise „Cats" seit mehr als 10 Jahren mit einer Auslastung von über 90%. Das Musical „Starlight Express" in Bochum erreicht nach über 8-jähriger Laufzeit vergleichbare Erfolge. Diese Entwicklung hat dazu beigetragen, daß viele Städte sich um entsprechende Einrichtungen bemühten. So wurden z.B. in Stuttgart, in Duisburg und in Essen weiter Musicaltheater gebaut, in Berlin entsteht gegenwärtig ein kombiniertes Musical- und Varietétheater.

Die Musicals haben ein großes Publikum gewonnen, da durch die langfristige Ausrichtung mit einer hohen Ausführungsqualität und einer speziellen, festinstallierten technischen Ausstattung gearbeitet wird. Weiterhin ist für den Erfolg der Veranstaltungen eine große und europaweit arbeitende Vertriebsorganisation maßgebend. Einzelne Theater stehen in einem durch zunehmende Kapazitäten gekennzeichneten Konkurrenzkampf und haben deshalb zumindest in diesem Bereich geringe Überlebenschancen.

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Die architektonische Vielfalt der Musicaltheater reicht inzwischen vom rustikalen Arena-Theater in Hamburg über das den englischen Theatern der Jahrhundertwende nachempfundene Musicaltheater für Miss Saigon in Stuttgart über das moderne Theater in Duisburg, bis hin zu einem Märchentheater für „die Schöne und das Biest" in Stuttgart. Das aufsehenerregende Theater in Essen ist der geglückte Versuch, ein Theater in eine denkmalgeschützte Industriehalle einzubauen. In der 100 Jahre alten, ehemaligen VIII. Mechanischen Werkstatt der Firma Krupp mit 100 m Länge, 50 m breite und 30 m Höhe entstand unter weitgehender Erhaltung der baulichen Konstruktion eine außergewöhnliche Atmosphäre.

Neben den geschilderten Musicaltheatern ist weiterhin eine neue Kinolandschaft entstanden, die überwiegend in den Randgebieten der städtischen Zentren in Form großer Multiplex-Anlagen zu finden ist. Sogenannte CinemaxX-Kinos werden dagegen möglichst nur in den Stadtzentren plaziert, um auch ein neues Publikum der mittleren bis älteren Generationen anzusprechen. Hier wird neben der hohen technischen Ausstattung in Theateratmosphäre ein ganz neues Kinoerlebnis geboten. Alle Neubauten liegen sehr verkehrsgünstig und in Reichweite des Stadtzentrums sowie zu Knotenpunkten des öffentlichen Personennahverkehrs. Ein modernes innerstädtisches Großkino belebt Fußgängerzonen und Innenstädte auch nach Geschäftsschluß und wertet somit bislang weniger attraktive innerstädtische Regionen erheblich auf. So erreichen beispielsweise die großen Anlagen in den Innenstädten von Hannover, Essen oder Hamburg Besucherzahlen von 35.000 bis 45.000 pro Woche.

Ein Vertreter der Stadt Stuttgart verwies in diesem Zusammenhang auf die Praxis amerikanischer Projektentwickler im Bereich von Kinokomplexen, die Anlagen dieser Größenordnung vornehmlich an gut erreichbaren Verkehrsknotenpunkten außerhalb der Stadtzentren realisieren. Als Beispiel wurde ein entsprechendes Projekt in unmittelbarer Nähe des Leonberger Autobahndreiecks angeführt, das nicht als Maßstab für eine Stadt verträgliche Planung von „Unterhaltungskomplexen" dienen kann.

4.1.2 Kulturelle Einrichtungen und Erlebniszentren als Elemente der Stadterneuerung

Es hat sich gezeigt - so der Referent - daß eine Ergänzung des Angebots und der Infrastruktur erheblich zur Optimierung vorhandener Einrichtungen beiträgt. Dementsprechend entstehen jetzt immer mehr vielseitige Unterhaltungszentren, bei denen auch das Wohnen und Einkaufen einbezogen wird und die durch ihre überregionale Bedeutung einer Stadt erheblich Auftrieb geben können. Die folgenden zwei Beispiele verdeutlichen dies.

In Essen entsteht mit öffentlicher Förderung in Kooperation zwischen der Landesentwicklungsgesellschaft NRW und der Stadt Essen die neue Weststadt als Verlänge-

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rung der Innenstadt. In Nähe der ehemaligen Kruppstadt wird diese Planung auf historischem Gelände realisiert. Auf dem 10 ha großen Areal der ehemaligen Krupp'schen Gußstahlfabrik erfolgte nach dem zweiten Weltkrieg der industrielle Wiederaufbau unter maßgeblicher Beteiligung der Firma AEG-Kanis. Begrenzte Expansionsmöglichkeiten und die Abhängigkeit von Schienen- und Wasserwegen führten ab 1988 zu einer Verlagerung des Unternehmensstandortes.

Während in vielen einst von Kohle und Stahl dominierten Regionen der Strukturwandel anhält, hat Essen den Schritt in die ökonomische Zukunft bereits weitgehend vollzogen. Der Umstand, daß nahezu 75% der rund 220.000 beschäftigten Essener im mittlerweile florierenden Dienstleistungssektor beschäftigt sind, verdeutlicht diesen Sachverhalt.

Ein anderes Beispiel entstand und entsteht am Rande von Stuttgart. Es handelt sich um ein privat finanziertes Großzentrum mit einer Gesamtinvestition von ca. 800 Mio. DM. Dieses enthält zwei Musicaltheater, ein Multiplexkino, zwei Hotels, ein Boardinghouse. Konferenzbereiche, Erlebnisgastronomie sowie weitere Anlagen zur Freizeitgestaltung. Für die Verkehrserschließung ist eine direkt an die B 27 angebundene Tiefgarage mit ca. 2.600 Stellplätzen sowie ein moderner Busparkplatz für ca. 60 Busse vorgesehen. Für Flugreisende und Charterflüge wird ein Shuttle-Dienst zum Flughafen eingerichtet. Nach Auffassung des Referenten wird ein Zentrum dieser Größenordnung zu einem bedeutenden Wirtschaftsfaktor für die gesamte Region werden und ist in seiner Vielfalt in der Lage, den europäischen Markt anzusprechen. Die Erfahrungen mit dem bereits fertiggestellten ersten Teil bestätigen diese Prognose.

Als Gegenpol hierzu ist für die Stuttgarter Innenstadt ein anderes Projekt vorgesehen. Auf dem ehemaligen Areal der Firma Bosch soll ein neues Nutzungskonzept realisiert werden. Die Immobilien - acht zumeist sechsgeschossige Gebäudekomplexe - dienten ehemals als Gewerbe- und Industriebauten. Das geplante Konzept sieht u.a. die Zusammenführung unterschiedlicher Nutzungen auf verschiedenen Ebenen vor. Bereiche zur Versorgung mit Gütern des täglichen Bedarfs grenzen dabei unmittelbar an Erlebnisbereiche, Veranstaltungs- und Schulungsräume sowie Freizeitanlagen. In den Obergeschossen reichen die Planungen von Büros und Dienstleistungen verschiedener Art bis hin zu Stadtwohnungen in den Dachgeschossen Die Planung sieht vor, dieses Stadtquartier räumlich und materiell weitgehend zu erhalten und zu einem Raum vielfältiger Aktivitäten zu entwickeln. Dabei sollen die vorhandenen Gebäude dem Bedarf entsprechend um- bzw. ausgebaut werden, ohne dabei den architektonischen Gesamtcharakter des Ensembles zu verändern.

Wie bei vielen Sanierungen stellt sich auch hier die Frage, ob Abbruch und Neubau nicht ein Alternative darstellen. Es ist jedoch zunehmend wirtschaftlicher, bei Anlagen dieser Art Sanierungen durchzuführen. Bei den heutigen Entsorgungskosten sind

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oftmals Abbruch und Entsorgung teuerer als ein Neubau. Weiterhin kann insbesondere im Wohnungsbereich eine individuelle Atmosphäre erzielt werden - so beispielsweise durch die großen Stockwerkshöhen alter Gebäude und den sich daraus ergebenden Möglichkeiten. Im Zuge dieser Planungen stellt sich - so der Referent - jedoch die Frage der Wirtschaftlichkeit, da das Projekt ohne Zuschüsse privat über einen Immobilienfonds finanziert werden soll.

Eine weitere zukünftige Notwendigkeit liegt nach Auffassung des Referenten in der Einschränkung der öffentlichen Kulturforderung. Auch hier sind neue Konzepte und neue Ideen gefragt. Als Beispiel wurde in diesem Zusammenhang auf die traditionsreiche Stadt Baden-Baden verwiesen, die in der Vergangenheit einen Wandel vom internationalen Kurort zu einer Seniorenresidenz mit erheblichen wirtschaftlichen Problemen erfahren hat. Zur Revitalisierung dieser Tradition sowie zur Existenzsicherung für Stadt und Region waren neue Ideen gefordert und wurden in ersten Projekten bereits umgesetzt. So entsteht hier gegenwärtig eines der größten Opernhäuser der Welt als Veranstaltungsort für internationale Festspiele. Wesentliche Elemente der Planung sind die Befreiung der Architektur von unnötigen, weil kostenintensiven Einrichtungen sowie die Integration denkmalgeschützter Bereiche in das Bauwerk. Das Gebäude wird über einen Fonds der Südwestdeutschen Landesbank finanziert. Die Bau- und Baunebenkosten einschließlich Einrichtung werden nach Fertigstellung weniger als 100 Mio. DM (netto ohne MwSt) betragen.

Ebenso wie die privatwirtschaftliche Baufinanzierung soll auch der spätere Betrieb privatwirtschaftlich geführt werden.

Dieses Prinzip der privatwirtschaftlichen Organisation von Kultureinrichtungen birgt nach Auffassung des Referenten mehrere Vorteile in sich. Zum einen werden die öffentlichen Haushalte in einer Zeit angespannter Haushaltslagen entlastet. Zum zweiten besteht zwar die Gefahr, daß durch eine solche Entwicklung die Vielfalt und Individualität von Kunst und Kultur leidet, doch verhindert andererseits das Gießkannenprinzip öffentlicher Förderung die Entfaltung sich selbst tragender Kultureinrichtungen. Letztere sorgen wiederum für die gewünschte Innovationen, da sie sich in einem zunehmenden Konkurrenzdruck befinden und behaupten müssen. Zwar werden einzelne kulturelle Bereiche nicht ohne öffentliche Förderung auskommen, doch wird diese zukünftig auf das unbedingt notwendige Maß beschränkt werden müssen.

Die freiwerdenden Industrie-, Bahn- und sonstigen Anlagen bieten in den innerstädtischen Bereichen vielfältige Möglichkeiten, durch sinnvolle Kombinationen von Wohnen, Arbeiten, Einkaufen und Freizeitgestaltung für eine neue Belebung zu sorgen. Dabei ist gewissenhaft darauf zu achten - so der Referent - daß eine verträgliche Mischung der einzelnen Funktionen gewährleistet ist.

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In diesem Zusammenhang stellte ein Tagungsteilnehmer fest, daß es - zumindest in einigen bundesdeutschen Städten - gegenwärtig ein Überangebot an Kinoanlagen gibt, das nicht zu einer ausgewogenen Funktionsmischung beiträgt. Der Referent verwies diesbezüglich auf die Rolle der Stadtplanung, die eine solche Entwicklung bereits im Vorfeld verhindern sollte. Ferner seien diese Überkapazitäten durch amerikanische Investoren geschaffen worden, die im Vorfeld keine eingehenden Untersuchungen zur Standortstruktur und zu den Besucherpotentialen durchgeführt hätten. Zwar würden die marktwirtschaftlichen Prozesse letztendlich diese Situation bereinigen, doch könnte diese Form von Fehlinvestition durch eine adäquate Planung verhindert werden.

Ein Vertreter der Stadt Kassel wies darauf hin, das insbesondere im regionalen Maßstab die Regelungsmöglichkeiten an ihre Grenzen stoßen. So könnten die Gemeinden eines Landkreises Entwicklungen genehmigen, auf die eine jeweils betroffene Kommune kaum Einfluß hat.

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4.2 Entwicklungspole in Form kombinierter Gründer-, Einkaufs- und Freizeitzentren mit Standorten an Knotenpunkten der Infrastruktur - das Beispiel einer Großinvestition Im Ortszentrum Berlin-Tegel (ehem. Borsig-Gelände)

4.2.1 Spezifische Rahmenbedingungen der Stadtentwicklung Berlins

Die Rahmenbedingungen städtebaulicher Entwicklung unterschieden - und unterscheiden sich streckenweise auch heute in Berlin deutlich von jenen westdeutscher Städte. So zeichnete sich die Stadt schon vor dem Mauerbau durch eine dezentrale Struktur mit vielen Stadtteilzentren aus, begleitet von der sogenannten "Berliner Mischung" (Funktionale Integration von Arbeiten, Wohnen, Versorgung und Freizeit). Die räumliche Isolation, bedingt durch den Mauerbau, verhinderte die Randwanderung von Industrie und Gewerbe und somit eine Entwicklung, wie sie in den 60er und 70er Jahren in den städtischen Zentren Westdeutschlands zu beobachten war. Die deutsche Wiedervereinigung und das für Berlin dadurch entstandene Umland veranlaßten den Senat 1992, ein Konzept zur Sicherung von Industrieflächen zu entwickeln, um einer drohenden Abwanderung von Gewerbe und Industrie entgegenzuwirken [Fn. 9: vgl.: Senatsverwaltung für Wirtschaft und Betriebe (1997): Wirtschaftsbericht Berlin 1997. Berlin. S 44 ff] Maßgebliche Ziele des Konzeptes waren folgende:

  • Dem Umnutzungsdruck sollte entgegengewirkt werden,

  • ein angemessenes Niveau der Grundstückspreise für Industrieflächen sollte erhalten bleiben und

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  • die räumlichen Voraussetzungen für die Sicherung des Industriestandorts Berlin als Grundlage für die Entwicklung der Stadt zur modernen Wirtschaftsmetropole sollte sichergestellt werden

Hiernach wurden in Berlin zahlreiche Flächen ausgewiesen, deren Nutzung vornehmlich Industrie und Gewerbe vorbehalten bleibt. Die Entscheidung über Konzepte zur Nachnutzung ist danach an die Zustimmung der Berliner Senatsverwaltung für Wirtschaft und Betriebe gebunden. Die Realisierung integrierter Stadtentwicklungskonzepte, die insbesondere die multifunktionale Nutzung vorhandener Areale vorsehen, wird hierdurch erschwert.

Das im folgenden dargestellte Projekt „Borsigturm" zeigt, wie trotz der administrativen Hürden ein innovatives Vorhaben zu einem erfolgreichen Ergebnis gebracht werden kann.

4.2.2 Das Projekt „Borsigturm" - Etappen der Planung und Realisierung

Das 51 ha große Areal der ehemaligen Borsig-Werke liegt im nördlichen Berliner Bezirk Reinickendorf und war ehemals Standort der stahlverarbeitenden Industrie.

Maßgeblicher Projektentwickler für das Gelände am Borsigturm ist die Firma Herlitz-Falkenhöh AG (HFAG), ein Tochterunternehmen des Büromaterial- und Schreibwarenherstellers Herlitz AG. Dieser verlagerte seine Hauptaktivitäten nach Maueröffnung in das neu errichtete Herstellungs- und Logistikzentrum im brandenburgischen Falkensee unmittelbar an der Berliner Stadtgrenze, entschied sich jedoch dafür, den Unternehmenssitz und die Hauptverwaltung in Berlin zu belassen.

Das Gelände am Borsigturm stellte zu diesem Zeitpunkt eine weitgehende Industriebrache mit den bekannten Problemfeldern dar. Aufgrund der früheren intensiven industriellen Nutzung bestand der Verdacht auf erhebliche Bodenkontamination, die im Zuge der Inwertsetzung erhebliche Sanierungskosten verursacht. Die Größe des zur Verfügung stehenden Areals machte es weiterhin schwierig, eine Neunutzung durch einen einzelnen Investor zu finden. Schließlich kam das bereits eingangs erläuterte Industrieflächensicherungskonzept des Berliner Senats hinzu, welches es den Projektentwicklern erschwerte, andere als industrielle bzw. gewerbliche Nutzungen für das Gelände umzusetzen Der entsprechende Flächennutzungsplan des Landes Berlin und der darauf beruhende Bereichsentwicklungsplan wies das Gelände als Industriefläche aus.

Die HFAG stand vor der Aufgabe, innerhalb dieser Vorgaben ein Gesamtkonzept zu entwickeln, das eine sinnvolle und wirtschaftlich akzeptable Nutzung vorsah. Insbesondere der letzte Punkt - die industrielle Nutzung durch einen Großinvestor - erwies sich als nicht realisierbar, da die Ansiedlungsbedingungen für neue Industrien im Berliner Umland weitaus günstiger waren. Zu diesem Zweck entstand im Früh-

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jahr/Sommer 1993 ein Konzept zur integrierten Entwicklung des Geländes, das eine abgestimmte Mischnutzung vorsah und die Basis für den späteren Diskurs zwischen der Entwicklungsgesellschaft und den für Realisierung notwendigen staatlichen Stellen wurde. Dieses Konzept enthielt zum Zeitpunkt des Entwurfs bereits alle wichtigen Elemente, die die spätere Planung prägten. Im einzelnen waren dies:

  • Die Einbindung des Geländes in die innerstädtische Umgebung,

  • die räumliche Aufteilung des Geländes in Funktionsbereiche,

  • die Schaffung von Kooperationsmöglichkeiten zwischen traditioneller Produktion und neuen Industrien in einem Gewerbe- und Innovationspark,

  • die Ausweisung von Industrieflächen für kleine und mittlere Unternehmen (KMU) auf rd. einem Fünftel des Gesamtgeländes,

  • der Entwurf von Wohnungsbauprojekten,

  • ein in die Umgebung integriertes Einzelhandelszentrum sowie

  • ein Bürozentrum mit dem Schwerpunkt produktionsnahe Dienstleistungen.

Mit diesem vorläufigen Nutzungskonzept nahm die HFAG den Dialog mit den staatlichen Stellen sowohl auf Ebene der Senatsverwaltungen als auch mit den Bezirksämtern als den kommunalen Genehmigungsbehörden auf. Grundlage dieses Dialogs war die Bereitschaft der HFAG, sich auf eine Konzeptdiskussion ohne jegliche Vorbedingungen einzulassen. Zwar gab es anfangs Vorbehalte gegen eine solche Vorgehensweise - insbesondere mit der Begründung, daß von einer einmal beschlossenen Nutzungsfestlegung nicht mehr abgewichen werden könne. Im weiteren Verlauf der Verhandlungen stellte sich hingegen heraus, daß solche Vorbehalte beispielsweise durch die Beauftragung unabhängiger Sachverständiger ausgeräumt werden können. So gab es zu Anfang von kommunaler Seite, aber auch durch die Senatsverwaltung für Wirtschaft, Vorbehalte für eine großflächige Ansiedlung von Einzelhandelsangeboten, da man einen Verdrängungsprozeß gegenüber dem etablierten Einzelhandel im benachbarten Tegel befürchtete. Die Forschungsstelle für den Handel (FfdH) erstellte als unabhängiges Institut eine Prognose über die zukünftige Kaufkraftentwicklung und das Einzelhandelsangebot in der näheren Umgebung. Zuvor war vereinbart worden, das Ergebnis zum Ausgangspunkt von Planungsentscheidungen zu machen. Das gutachtende Institut wurde von der Senatsverwaltung ausgesucht, das Gutachten von der HFAG bezahlt. Es kam zu dem Ergebnis, daß ohne Errichtung zusätzlicher Einzelhandelskapazitäten ein Fehlbedarf von. ca. 40.000 m2 bis zum Jahr 2010 entsteht, so daß lokale Kaufkraft abfließen würde. Da vorhandene Einzelhändler in einer Umfrage angaben, ihr Angebot im Gesamtumfang von etwa 15.000 m2 erweitern zu wollen, ergab sich ein Restbedarf von rd. 20.000 - 25.000 m2 neu zu errichtender Einzel-

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handelsangebote für ein Einzelhandelszentrum. Darüber hinaus entwickelte das gutachtende Institut detaillierte Vorgaben für den Standort des Neubedarfs:

  • Um das Gelände des Projekts "Borsigturm" an die Einkaufszeile auf der Berliner Straße anzubinden, wurde eine Feuerwache und eine Tankstelle auf Kosten der HFAG umgesetzt.

  • Zur Anbindung an die angrenzenden Wohngebiete wurden Wohnungsbauvorhaben zur Lückenschließung eingeplant.

  • Um die Durchlässigkeit des Geländes in Nord-Süd Richtung zu erhöhen, werden existierende Straßen auf dem Gelände weitergeführt. Die Finanzierung erfolgt durch die HFAG, die diese Privatstraßen dem Bezirk schenkt, wonach sie in öffentlich Straßen umgewidmet werden.

  • Das Gelände wird in Ost-West Richtung an den vorhandenen Grünzug im östlich angrenzenden Gebiet angeschlossen, so daß ein mikroklimatisch wichtiger Grünkeil bis zum Tegeler See entsteht.

Mit der Denkmalschutzbehörde wurden Planungsvorgaben für jedes einzelne historische Gebäude erarbeitet und Mindestanforderungen festgelegt, so daß ein Kompromiß zwischen den Anforderungen für den Erhalt des geschützten Gebäudekerns und der beabsichtigten neuen Nutzung erzielt werden konnte. Zur Koordinierung des Planungsprozesses wurde zwischen den Senatsverwaltungen eine sogenannte Steuerungsrunde eingerichtet. Dieses Gremium beschloß Ende 1993 einen städtebaulichen Rahmenplan „mit kurz- und langfristigen Empfehlungen für die weitere Entwicklung des Borsig-Geländes", die sich wiederum eng an die Vorgaben " der FfdH hielten. Entsprechend dieser Vorgaben wurden zusätzliche Gutachten für weitere Bereiche in Auftrag gegeben:

  • ein Gutachten über regional- und betriebswirtschaftliche Kriterien für die Nutzung des Borsig-Geländes,

  • ein Verkehrsgutachten

  • eine Untersuchung zu neuen Industrien sowie

  • alternative Stadtplanungsszenarien.

Im Rahmen dieser Szenarien wurden Nutzungsvorgaben für einzelne Gebäude auf dem Gelände entwickelt. So wird der Borsigturm nach den Anforderungen des Denkmalschutzes instandgesetzt, ein Hallenstumpf wird als Kreativhaus ausgebaut und weitere Gebäude werden in die Projektentwicklung einbezogen. Diese Ergebnisse wurden ihrerseits im Rahmen verschiedener Workshops zum Thema „Neue Wege von der Industrieflächensicherung zu Konzepten der Standortqualifizierung" mit dem Ziel

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weiterentwickelt, ein Nutzungskonzept mit quantitativer Funktionsaufteilung zu erreichen. Ende 1994 wurde dieses mit folgender Flächenaufteilung fertiggestellt:

  • Ein Gewerbe- und Innovationspark auf ca. 36.000 m2 Baugrundstück

  • Büroflächen für produktionsnahe Dienstleister und ein Hotel im zentralen Bereich des Geländes auf ca. 23.000 m2 BGF

  • Traditionelle Industrien auf ca. 30.000 m2 BGF

  • Wohnbebauung mit 207 Wohneinheiten (Eigentumswohnungen)

  • Ein Einzelhandelszentrum auf ca. 30.100 m2 BGF als neuer Anziehungspunkt für die südliche Tegeler Innenstadt.

Dieses Nutzungskonzept wurde von allen am Planungsprozeß Beteiligten akzeptiert. Es wurde weiterhin verbindliche Vorgabe für den im Anschluß von HFAG und Senatsverwaltung ausgelobten städtebaulichen Wettbewerb. Als Ergebnis dieses Wettbewerbs wurde das Gelände in vier Baufelder für die Vor- und Genehmigungsplanung aufgeteilt:

  • Wohnungsbau an der Veithstraße.

  • Der Gewerbe- und Innovationspark mit 45.000 m2 Bruttogeschoßfläche für Unternehmen aus neuen und technologieintensiven Branchen. Im Konzept des Gewerbeparks enthalten ist das PHÖNIX Gründerzentrum mit 10.000 m2 BGF. Es bietet günstige Mieten (12,80 DM/m2), Bürodienstleistungen sowie einen ungewöhnlichen Service der Herlitz AG: Die im Gründerzentrum angesiedelten Unternehmen können kostenlos auf Beratungsleistungen durch Führungskräfte der Herlitz AG zurückgreifen.

  • Ein Einzelhandelszentrum von 22.000 m2 mit einem integrierten Freizeit- und Gastronomieangebot wird in den renovierten und für die neue Nutzung umgebauten Borsig-Hallen eingerichtet.

  • Büroflächen für produktionsnahe Dienstleister im zentralen Bereich um den Borsigturm im Umfang von 36.000 m2 BGF inklusive eines Hotels mit 105 Zimmern.

Nach der einvernehmlichen Entwicklung des skizzierten Erschließungs- und Nutzungskonzeptes war es für die weitere Planung und Beantragung der Baugenehmigungen notwendig, den Flächennutzungsplan sowie die bisherige Bereichsplanung entsprechend abzuändern. Die Änderung des FNP wurde im September 1996 vom Abgeordnetenhaus beschlossen, die zuständigen bezirklichen Genehmigungsstellen beschlossen im weiteren Verlauf drei B-Planverfahren, in denen auf dem Gelände ein Wohngebiet, ein Sondergebiet sowie ein Gewerbegebiet festgelegt wurden.

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Zum gegenwärtigen Zeitpunkt (Ende 1997) ist das Gründerzentrum bereits eingeweiht, der erste Bauabschnitt des Industrieareals sowie der Bau des Einzelhandelszentrums hat begonnen und der Wohnungsbau auf dem Gelände ist weitgehend abgeschlossen (ca. 90% der Wohnungen sind verkauft und z.T. vermietet). Das Projekt soll Ende 1998 fertiggestellt sein und im darauffolgenden Jahr seinen Betrieb aufnehmen.

Die formale Grundlage für die Zusammenarbeit von HFAG und den zuständigen Behörden bildeten zwei städtebauliche Verträge, in denen sich die HFAG u.a. zur Übernahme umfangreicher Erschließungsmaßnahmen verpflichtete. Danach war es Aufgabe der HFAG, den vollständigen Anschluß von Ver- und Entsorgungseinrichtungen an die öffentlichen Netzte herzustellen sowie diese Installation nach Abschluß der Arbeiten dem Bezirk kostenlos zur Verfügung zu stellen. Darüber hinaus verpflichtete sich die HFAG zur besonders schonenden Sanierung der historischen Bausubstanz.

Die städtebaulichen Verträge sehen ferner die öffentliche Förderung des Wohnungsbaus vor, aus denen sich wiederum Verpflichtungen der HFAG beispielsweise zur langjährigen Garantie konstanter Mieten ergeben. Weiterhin sind in diesen Verträgen Regelungen über gestalterische Aspekte sowie hinsichtlich des Denkmalschutzes getroffen.

Die inhaltliche Darstellung des Projekts „Borsigturm" zeigt, daß private Entwicklung innerstädtischer Flächen und staatliche bzw. kommunale Entwicklungsplanung nicht zwangsläufig widersprüchlich sind. Der konsequent umgesetzte Dialog zwischen den beteiligten Parteien führte zu einem Planungsverfahren, das alle Anforderungen an ein geschlossenes Gesamtkonzept integrierte. Der Bezirk hat erreicht, daß das Projekt nicht nur einen Zuwachs an Wohnungen, Gewerbe und Einzelhandelsangeboten bietet, sondern auch einen Verdrängungswettbewerb mit existierenden Strukturen verhindert. Gleichzeitig wurden Wohnwert, Verkehrsanbindung und Grünflächenausstattung der näheren Umgebung verbessert.

Nachdem die vorangegangenen Ausführungen gezeigt haben, welche Möglichkeiten hinsichtlich der Umstrukturierung ehemals industriell genutzter Areale bestehen, beschäftigt sich das folgende Kapitel innerhalb der Diskussion um städtebauliche Leitbilder mit den Problemen, die in spezifischen städtischen Siedlungsbereichen - den Großwohnsiedlungen - existieren. Zentrales Moment der Leitbilddiskussion ist hier die Frage, wie solche monostrukturierten Areale im Rahmen der Bestandsentwicklung einer tragfähigen Nutzung zugeführt werden können. Die Potentiale hierzu sind aus Sicht des Instituts für Regionalentwicklung und Strukturplanung durchaus vorhanden, wenngleich eine effiziente Umsetzung an vielen Stellen noch nicht erfolgte.

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4.3 Der Weg der Großsiedlungen zu attraktiven und eigenständigen Stadtteilen

Mit dem Begriff „Großsiedlungen" bzw. „Großwohnsiedlungen" werden im allgemeinen Neubaugebiete bezeichnet, die:

  1. nach dem Zweiten Weltkrieg in Städten oder Stadtagglomerationen errichtet wurden, die

  2. vorrangig aus Geschoßbauten mit mindestens vier, häufig auch bis zu zehn und mehr Etagen bestehen, und die

  3. in der Regel einheitlich nach einem spezifischen Bebauungsplan als separates, funktional eigenständiges Siedlungsgebiet bzw. als ein eigener neuer Stadtteil geplant bzw. auch realisiert worden sind.

In Deutschland befinden sich über 2,3 Mio. Wohnungen und damit rd. 6,9 % des Wohnungsbestandes in solchen Gebieten. Die großen Neubaugebiete der neuen Bundesländern haben etwa 1,5 Mio. Wohnungen und machen rd. 22 % des ostdeutschen Wohnungsbestandes aus. In den westdeutschen Großwohnsiedlungen gibt es über 0,8 Mio. Wohnungen, das sind rd. 3 % des Wohnungsbestandes. Die Großwohnsiedlungen stellen einen besonderen und wichtigen Typ städtischer Wohngebiete dar. Sie sind für die Wohnungsversorgung als das Zuhause von Millionen von Menschen unverzichtbar. Ihre Erhaltung, Vitalisierung und Weiterentwicklung zu eigenständigen, multifunktionalen und attraktiven Stadtteilen liegt im Interesse einer ressourcen- und flächensparenden, nachhaltigen Stadtentwicklung.

4.3.1 Frühere Leitbilder aus West und Ost auf dem Prüfstand

Abgesehen von den eher restaurativen, am traditionellen Städtebau orientierten Planungen der späten 40er und beginnenden 50er Jahre, folgten die Baupläne der Großsiedlungen in West und Ost seit Mitte der 50er Jahre im wesentlichen den gleichen städtebaulichen Leitbildern. „Fort von der steinernen Stadt hin zur durchgrünten Stadt, fort von der Straßenrandbebauung hin zur sonnengerichteten Zeile, fort vom umschlossenen Hinterhof hin zum grünen Freigelände, fort von der Straßen-Schaufassade hin zur vollplastischen Hausgruppe...", das waren 1953 die Forderungen der Planer im Hinblick auf das Primat gesunden Wohnens und die Gesundung der Stadt durch Auflockerung.

Das auf solchen Forderungen aufbauende Leitbild der „gegliederten und aufgelockerten Stadt" beherrschte denn auch bis Mitte der 60er Jahre den Großsiedlungsbau: im Westen von der Sennestadt bei Bielefeld über Karlsruhe-Waldstadt bis zur Neuen Vahr in Bremen, in der DDR vom einstigen Musterbeispiel des „Sozialistischen Wohnkomplexes" in Bad Dürrenberg über Hoyerswerda bis zur Rostocker Südstadt.

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Mit dem massiven Entstehen solcher quasi funktionalen, additiven Wohngruppen oder Nachbarschaften wuchs aber schon bald in beiden Teilen Deutschlands die Kritik an den Schwächen des Leitbilds der gegliederten und aufgelockerten Stadt: Siedlungscharakter an Stelle von Stadtqualität, zunehmender Flächenverbrauch, unökonomische Bauformen und Baukörperlösungen. Das daraufhin entstandene neue städtebauliche Leitbild „Urbanität durch Dichte" und die auf seiner Grundlage entstandene zweite Generation von „Neuen Städten" setzten deshalb kontrastierend vor allem auf folgende Ziele:

  • stärkere horizontale und vertikale Verdichtung,

  • städtebauliche Großform,

  • kurze Wege zu den wohnungsnahen Gemeinbedarfseinrichtungen,

  • betriebswirtschaftlich optimierte, größere Infrastruktureinrichtungen,

  • nicht integrierte Landschaft, sondern Natur als Kontrast,

  • Dominanz der Verkehrssysteme und

  • Industrialisierung der Bausysteme,

letztere in Ostdeutschland seit den 60er Jahren weitaus radikaler und kompromißloser betrieben als in jedem anderen Land einschließlich der Ostblockländer. Die Umsetzungen dieses Leitbilds sind hinlänglich bekannt. Die Beispiele reichen vom Märkischen Viertel in Berlin bis München-Neuperlach, Köln-Chorweiler und Hamburg-Steilshoop in den alten sowie Rostock-Evershagen, Halle-Neustadt und Berlin-Marzahn in den neuen Bundesländern.

Diese Form des Großsiedlungsbaus ist in Ost und West aus dem Repertoire städtebaulicher Entwicklung verschwunden. Andere Formen der architektonischen Umsetzung beherrschen heute das Bild und werden unter den Begriffen „Wohnpark", „Residenzen" oder „grüne Vorstädte" zusammengefaßt. Die bisherigen Wohnsiedlungen bestehen jedoch weiter und sie stehen aus der Sicht der Bewohner, besonders der umzugsbereiten, mobilen Besserverdienenden gleichsam täglich auf dem Prüfstand. Und da zeigt sich z.B. in vielen Städten der neuen Bundesländer auffällig übereinstimmend, daß

  • die „älteren" Neubaugebiete aus den 50er und 60er Jahren aufgrund ihres offenbar höheren Wohnwertes, ihres städtebaulichen Maßstabs höher geschätzt werden als die Gebiete der sogenannten „zweiten Generation".

  • Weiterhin werden die „jüngeren" Neubaugebiete, insbesondere diejenigen aus den 70er und 80er Jahren, angesichts ihrer größeren Bebauungshöhe bzw. ihrer höheren Bebauungsdichte und ihrer meist sehr vernachlässigten Grüngestaltung oftmals weitaus weniger gut beurteilt.

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Für die weitere Vitalisierung der ostdeutschen Großsiedlungen ergibt sich daraus verstärkt die Notwendigkeit, zukünftig differenzierte Strategien und Handlungsansätze zu entwickeln.

4.3.2 Bestandsorientierte Weiterentwicklung der Großwohnsiedlungen als Teilziel nachhaltiger Stadtentwicklung

Abgesehen von der geschilderten Notwendigkeit regional und lokal differenzierter Entwicklungsstrategien sind es nach Auffassung des Referenten Orientierungen, mit denen sich aus heutiger Sicht ein allgemeines Leitbild für die Entwicklung der Großsiedlungen zu attraktiven, eigenständigen Stadtteilen beschreiben läßt. Zentrale Aspekte sind dabei immer die Maximen einer nachhaltigen Stadtentwicklung, wie sie vor allem von der HABITAT-Agenda der Weltsiedlungskonferenz 1996 in Istanbul, dem Nationalen Aktionsplan sowie den „Deutschen Best Practices" benannt wurden:

  • Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen

  • nachhaltige Ressourcen- und Flächennutzung

  • angemessene Unterkunft für alle

  • Recht auf Teilhabe an bezahlter Arbeit

  • Beteiligung am kommunalen Leben

4.3.3 Paradigmenwechsel und neue Leitbilder

In den ostdeutschen Großwohnsiedlungen haben sich seit der Wende allein schon bei den gesellschaftspolitischen und ökonomischen Rahmenbedingungen erhebliche strukturelle Wandlungen vollzogen:

  • Vom gesamtgesellschaftlichen Besitz an Grund und Boden zur Grundstücksbildung und Bindung der Grundstücke an die unmittelbaren Eigentümer.

  • Von der staatlichen Wohnungsbewirtschaftung zu einem sich schrittweise weiter ausprägenden Wohnungsmarkt.

  • Von einer ständigen staatlichen Mangelwirtschaft im Bereich des Handels und der Dienstleistungen zu einer auf Initiative und Konkurrenz setzenden Privatwirtschaft

  • Von einer ideologiegeprägten staatlichen Bildungs-, Kultur- und Jugendpolitik zu neuen differenzierten, aber zugleich finanziell oft nur unzureichend ausgestatteten Trägerschaften.

Im städtebaulich-räumlichen Bereich läßt sich der inzwischen eingetretene Paradigmenwechsel vor allem auf folgende Weise beschreiben:

  • Von der anonymen Großform zu räumlich kleinteiligen Wohnbereichsstrukturen, Quartieren oder Nachbarschaften.

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  • Von meist nur wenig strukturierten öffentlichen Freiräumen zu differenzierten öffentlichen, halböffentlichen und privaten Grün- und Erholungsräumen.

  • Von der industriell gefertigten, monotonen Baustruktur zu vielfältigen - manchmal schon beliebigen - Baukörperformationen.

  • Von einem bisher stark eingeschränkten Wohnungssortiment zu einem auf unterschiedliche Bedürfnisse reagierenden Wohnungsangebot.

Im unmittelbaren architektonisch-gestalterischen Bereich, vor allem bei ergänzenden Neubauten in den Großsiedlungen sowie bei den Gebäudesanierungen, schlägt das Pendel des Paradigmenwechsels in unterschiedliche Richtungen aus: zur bauhausverpflichtenden „zweiten Moderne" ebenso wie zu einem manchmal nachgerade rührenden Traditionalismus mit rosafarbener Steildachakrobatik und idyllischem Dorfanger-Ambiente.

Die standortkonkreten Leitbilder bzw. die Ergebnisse breit angelegter Imagekampagnen indes versuchen an bestehende Potentiale anzuknüpfen und für künftige Qualitäten zu werben. Die nachfolgenden Werbeleitsätze illustrieren diesen Sachverhalt:

- „Das neue Gleichgewicht Arbeiten und Wohnen" (Leinefelde)

- „Bestandsorientierte Qualitätsverbesserung" (Magedeburg-Olvenstedt)

- „Marzahn - mehr als man denkt"

4.3.4 Von der monofunktionalen Schlafsiedlung zum attraktiven Stadtteil

Es gehört zu den schwerwiegenden Problemen der Großsiedlungen, daß sie im Unterschied zu den gemischt strukturierten Stadtgebieten z.B. des 19. Jahrhunderts, fast ausschließlich von einer „reinen" Wohnfunktion bestimmt werden. Die Trennung der sogenannten Grunddaseinsfunktionen von Wohnen, Arbeiten und Erholung bzw. Freizeit wird anhand der Beispiele der ostdeutschen Städte Schwedt, Suhl, Ilmenau, Jena oder Sangershausen besonders deutlich. Den zentral gelegenen Wohngebieten liegt auf der einen Seite der Arbeitsplatz in Form eines Großbetriebes gegenüber, auf der anderen Seite finden sich weitläufige Datschengebiete, die bequem erreichbar sind und das Bedürfnis nach Erholung befriedigen sollen.

Inzwischen hat sich überall in den neuen Bundesländern die Arbeitsmarktsituation z.T. dramatisch verändert. In vielen der Großsiedlungen übersteigt die offizielle Arbeitslosigkeit den ohnehin schon sehr hohen Durchschnitt der betreffenden Städte oder Regionen.

Langfristig sind diese Siedlungsbereiche deshalb nur dann zu stabilisieren, wenn es gelingt, sie durch die Schaffung von lokalen Arbeitsmöglichkeiten für den Bewohner und Gewerbetreibenden ökonomisch tragfähig zu entwickeln. Die vorhandenen Flächen- und Gebäudepotentiale sind dabei als gut geeignete Ansatzpunkte für künf-

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tige Umnutzungen, Nutzungserweiterungen oder -ergänzungen zu verwenden. Durch eine kommunalpolitische und privatwirtschaftliche Aktivierung und Entwicklung kleinteiliger Mischstrukturen lassen sich neben dem unmittelbaren beschäftigungspolitischen Effekt größere Aktions-, Erlebnis- und Bebauungsdichten schaffen. In den neuen Bundesländern ist eine solche Entwicklung hin zu attraktiven Stadtteilen jedoch bis auf wenige Ansätze in Stendal, Hoyerswerda oder Magdeburg noch nicht wesentlich fortgeschritten. Sie wird lediglich anhand der Ansiedlung einiger kommerzieller Zentren sichtbar. In diesem Zusammenhang wurde während der Tagung die Frage gestellt, welche Möglichkeiten der Arbeitsplatzentwicklung über den unmittelbar siedlungsbezogenen Bereich (Versorgungs- und Dienstleistungsbereich) hinaus bestehen. Der Referent beurteilte die Chancen hierfür als durchaus positiv, da die entsprechend notwendigen Infrastruktur-Vorleistungen (vollerschlossene Flächen, Qualifikationsniveau der lokalen Bevölkerung) vielfach vorhanden sind. Jedoch mangelt es bisher an repräsentativen Beispielen, die aufzeigen könnten, daß es sich hierbei um lukrative Standorte für die Ansiedlung zeitgemäßer Produktionstechnologien handelt und die Nachahmungseffekte nach sich ziehen könnten.

4.3.5 Eigenständigkeit und gesamtstädtische Integration

Eine der wichtigsten Aufgaben des Leitbildes für die Weiterentwicklung der Großsiedlungen ist die Überwindung jenes Widerspruchs, der sich im Zusammenhang der folgenden beiden Zielsetzungen ergibt.

Die Großwohnsiedlungen sollen einerseits so entwickelt werden, daß sich ihre funktionalen Verflechtungen, die verkehrstechnischen Verbindungen und die städtebaulichen Beziehungen zu den benachbarten Gebieten und der Gesamtstadt verbessern. Dazu gehört auch, daß den betreffenden Großsiedlungs-Stadtteilen stadtzentrale, integrale Funktionen übertragen werden, z.B. gesamtstädtische oder überörtliche Bildungseinrichtungen, Ämter, Kultur- und Sporteinrichtungen etc. Andererseits sollen diese Großsiedlungen jeweils, im Unterschied zu ihrer bisherigen Existenz, eine eigene lokale Identität erhalten, d.h. differenzierte Quartiere, überschaubare Nachbarschaften, identitätsstiftende Bauten, Grünanlagen, Merkzeichen und Gestaltungen.

4.3.6 Differenzierte Wohnangebote zur Stärkung der Konkurrenzfähigkeit

Um den aus der DDR-Vergangenheit herrührenden geringen Differenzierungsgrad des Wohnungsbestandes in den ostdeutschen Großwohnsiedlungen zu überwinden und eine mindestens ebenso breite Palette baulicher Formen wie in den westdeutschen Großsiedlungen zu erreichen, sind grundsätzlich zwei strategische Vorgehensweisen möglich:

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  1. Im Zuge der bautechnischen Instandsetzungen und Sanierungen der bestehenden, industriell errichteten Bausubstanz können Variabilität erzeugende Grundrißveränderungen, Wohnungszusammenlegungen o.ä. vorgenommen werden und/oder

  2. mit Hilfe von ergänzenden, gleichsam „verdichtenden" Neubauten können die erkennbar fehlenden Wohnangebote ausgebaut werden.

    Der zweitgenannte Weg setzt dabei in der Regel einen über den Bestand hinausgehenden, zusätzlichen Wohnungsbedarf in der betreffenden Großsiedlung voraus - eine Gegebenheit, die derzeit außer auf einige Ostberliner Gebiete, Leipzig-Grünau oder Ludwigsfelde im wesentlichen nicht zutrifft. So bleibt als siedlungsstabilisierende Maßnahme im Bereich der Angebotsdifferenzierung nur der unter a) charakterisierte Weg übrig, für den es bereits erste, hoffnungsvolle Ansätze in Schwedt, Prenzlau und Gera-Lusan gibt.

    4.3.7 Ansätze zu einer künftigen Nutzungsmischung

    Zu den bereits angesprochenen, punktuell interessanten Ansätzen einer künftig besseren weil kleinteiligen Nutzungsmischung gehören zweifellos die noch sehr improvisiert anmutenden Umnutzungen in der Erdgeschoßzone von Wohnbauten für kleine private Läden, Dienstleistungseinrichtungen, Büros etc. Beispiele hierfür finden sich in Stendal-Stadtsee, in Eberswalde oder in Potsdam-Stern. Da sich erfahrungsgemäß Leerstände in den Wohngebäuden schwerpunktmäßig auf das Erdgeschoß konzentrieren werden, stehen hierfür demnach prinzipiell beachtliche Flächen- und Raumreserven bereit.

    Weiterhin werden Möglichkeiten des Umbaus bzw. der Umnutzung nicht mehr benötigter „gesellschaftlicher Einrichtungen" aus der DDR-Zeit inzwischen bereits in einer größeren Zahl von Neubaugebieten genutzt. Dennoch bleibt die Frage offen, was mit der Vielzahl nicht mehr genutzter Kindertagesstätten oder Schulgebäude zukünftig geschehen soll.

    Auf der anderen Seite entstehen in einer ganzen Reihe von Großsiedlungen auch neue Funktionen: Sonderschulen für physisch bzw. psychisch behinderte Kinder und Jugendliche, Seniorenwohnheime, Rehabilitationszentren sowie Büro- und Geschäftshäuser.

    4.3.8 Tragfähige Einzelhandels- und Dienstleistungsstrukturen

    Die bisher umfangreichsten Maßnahmen zur Herausbildung und Festigung von Stadtteilzentren in den Großwohnsiedlungen der neuen Bundesländer erfolgten in Form des Baus kommerzieller Einzelhandels- und Dienstleistungszentren innerhalb oder am Rande der Siedlungen. Durch den oftmals sehr kurzfristigen Bau dieser Einrichtungen hat sich die 1990 noch bestehende erhebliche Versorgungslücke in den Groß-

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    siedlungen inzwischen vielerorts größtenteils geschlossen. Die Ausstattung der ostdeutschen Städte mit Verkaufsflächen liegt, trotz der geringeren Kaufkraft der ostdeutschen Bevölkerung, bereits teilweise über derjenigen in den alten Bundesländern [Fn. 10: In der Region Rostock liegt der Ausstattungsgrad bei 1,6 m²/EW, der Durchschnitt der alten Bundesländer (1988) beträgt demgegenüber 1,04 m²/EW, der der neuen Länder 0,3 m²/EW (1988).] So hat das 1996 in Betrieb genommene Allee-Center dazu geführt, daß in Leipzig-Grünau mit insgesamt ca. 70.000 m2 etwa ebenso viel Verkaufsfläche wie in der gesamten Leipziger City existiert. Ein ähnliches, wenngleich noch größer angelegtes Projekt wird die Versorgungssituation in Berlin-Hellersdorf zukünftig in vergleichbarer Weise verändern. Das hier entstehende Stadtteilzentrum der MEGA AG wird 70.000 m2 Fläche für Handel, Gastronomie und Freizeit, davon allein 45.000 m2 Verkaufsfläche, weitere 50.000 m2 Fläche für Büros, Arztpraxen und Dienstleistungen sowie 1.000 Wohnungen zur Verfügung stellen.

    4.3.9 Nutzerorientierte Freiraumentwicklung

    Um die teilweisen großen Wohnumfelddefizite insbesondere in den Großsiedlungen der 70er und 80er Jahre abzubauen, werden seit einiger Zeit im Rahmen der Bund-Länder-Förderung Programme zur Verbesserung dieser Situation realisiert. Die folgenden Beispiele zeigen, daß in einigen Bereichen bereits gute Ergebnisse erzielt wurden:

    • ca. 800 Kinderspielplätze bzw. Spiellandschaften wurden neu geschaffen oder grundlegend umgestaltet,

    • in 30 Neubaugebieten wurden die Pausenhöfe von insgesamt ca. 50 Schulen neu gestaltet und für eine öffentliche Nutzung außerhalb der Unterrichtszeiten zugänglich gemacht,

    • in 45 Wohngebieten entstanden neue bzw. umgestaltete Sport- und Freizeitkomplexe oder Wohngebietsparks,

    • im Wohnumfeld wurden über 25.000 Bäume neu gepflanzt, davon ein großer Teil in den großen Neubaugebieten im Ostteil von Berlin.

    Beispiele aus Leipzig-Grünau und anderen Großsiedlungen unterstreichen in diesem Zusammenhang die Bedeutung der Bürgerbeteiligung, bei der Grüngestaltung ihres Wohnumfeldes.

    4.3.10 Stadtteilbezogene Gemeinwesenarbeit

    In den meisten Fällen sind die Großsiedlungen in den neuen Bundesländern noch ohne eine stadtteilbezogene, spezifische Gemeinwesenarbeit. Einrichtungen, in denen über

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    die Perspektive der betreffenden Großsiedlung beraten wird - so beispielsweise Stadtteilkonferenzen, Runde Tische oder Bürgervereine - sind derzeit noch die Ausnahme. Solche Einrichtungen können jedoch maßgeblich zur Identitätsstiftung und auch zur Problemlösung auf Stadtteilebene beitragen, wie Beispiele aus Berlin-Marzahn, Berlin-Hellersdorf, Gera-Lusan oder Leipzig-Grünau belegen. Die Partizipation von Bürgern an der Stadtteilentwicklung ist somit nicht auf das rechtliche festgeschriebene Beteiligungsverfahren bei Baumaßnahmen beschränkt, sondern richtet sich grundsätzlich auf ein sozialverpflichtendes ganzheitliches Stadtteilmanagement, mit dem Ziel, die entsprechenden Siedlungen attraktiv zu gestalten und zu tragfähigen Lebensräumen zu entwickeln.


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