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Vor- und Nachbemerkungen

Die schlimmen Zustände, die bei einer anhaltenden Erosion, vor allem über den Wegzug „stabiler" sowie den Zuzug „instabiler" Gruppen und Schichten der Bevölkerung in den Großwohnsiedlungen entstehen können, sind bei uns gelegentlich angedeutet worden - Beispiele aus den Großstädten Frankreichs, Großbritanniens und der Vereinigten Staaten vermitteln aber eindrucksvolle Bilder und Darstellungen dazu.

Oft haben bereits gezielte „kleine" Maßnahmen bemerkenswerte Wirkungen: das Anbringen von Basketballkörben an vielen geeigneten Stellen, die Tag und Nacht zugängliche bzw. beleuchtete Sporthalle oder effiziente Anlaufstellen gemeinnütziger Organisationen für die in diesen Siedlungen meist zahlreich vertretenen und besonders gefährdeten Jugendlichen.

Natürlich sind „große" Projekte bzw. Investitionen erforderlich. Das gilt vor allem für den Aufbau oder Ausbau von Zentren in den Großsiedlungen. Denn damit entstehen in Ergänzung zu den privaten Wohnungen öffentliche Räume. Konkret heißt das: die Ansiedlung von Handel und Gewerbe, von privaten und öffentlichen Dienstleistungen, von Multiplex-Kinos, Freizeitbädern oder Vergnügungsstätten. In einigen Orten ist bereits viel davon erreicht worden, in anderen Orten ist noch viel oder sehr viel zu tun. Wichtig wäre dabei, daß Räume und Plätze entstehen, die ein buntes und interessantes, ja ein urbanes Leben ermöglichen.

Zu berücksichtigen ist jedoch: Einerseits gibt es viele Probleme durch die exorbitante Ansiedlung von Fachmärkten und Einkaufszentren „auf der grünen Wiese", andererseits ist bei dem bedeutenden Investitionsvolumen Rücksicht auf das empfindliche Gefüge der Stadt, ihrer Stadtteile und der jeweils zugehörigen Zentren zu nehmen. Wie läßt sich diesem Dilemma begegnen?

In den Großwohnsiedlungen mit ihrer hohen Bewohnerzahl und -dichte liegen bedeutende Entwicklungspotentiale. Das wohl kostbarste Potential, das „Humankapital" in Gestalt junger, aber auch erfahrener, in Berufen oder an Schulen und Hochschulen ausgebildeter Menschen, sollte immer wieder in die Überlegungen eingehen. So erscheint es durchaus sinnvoll, über die zuvor erwähnten Ansiedlungen hinaus auch die Einrichtung von Gründerzentren oder gar von Technologiezentren in Erwägung zu ziehen - Entsprechendes gilt für Handwerks- und Gewerbehöfe. Dort steht geeigneter Raum zu günstigen Konditionen zur Verfügung, Hilfe ist beim Aufbau einer Existenz sozusagen jederzeit abrufbar, gemeinsame Dienste verschiedener Art stehen bereit, eine Basis an Aufträgen aus der Dichte des Umfeldes ist zu erwarten.

Besondere Aufmerksamkeit ist den Beziehungen zum Stadtkern / Stadtzentrum und zu den Stadtteilen / Stadtteilzentren zu widmen. Natürlich darf bei kräftigen Investitionsschüben in einer Siedlung nicht das notwendige Gleichgewicht gefährdet werden. So ist in Potsdam durch den raschen und kräftigen Aufbau eines Zentrums zwischen den Siedlungen Am Stern, Drewitz und Kirchsteigfeld einerseits und der durch Schlösser, Parks und Sichtachsen eingeengten Innenstadt andererseits ein Ungleichgewicht zu befürchten. Demgegenüber gibt es in den Großsiedlungen von Halle, Leipzig, Magdeburg oder Dresden noch bedeutenden Nachholbedarf an Investitionen und Standorten aller Art.

Geeignete Flächen bzw. Standorte müssen in den Siedlungen natürlich verfügbar sein. Es gibt allerdings mehr Möglichkeiten der Erschließung als zunächst anzunehmen ist. Ggf. wäre dabei an die Umwidmung weitflächiger Parkplätze und Garagenhöfe bzw. an die Anlage von Tiefgaragen zu denken. Auch „High-Tech-Garagen" mit automatisiertem Abstell- bzw. Abholvorgang sind vorstellbar. Sie verschaffen der

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Siedlung, ähnlich wie mit der Anlage von Dachterrassen oder Penthouse-Wohnungen, interessante Akzente und ein modernes Flair. Zusammen mit der Attraktivität des Zentrums ist dieses „Image" von Bedeutung für die Standort- und Wohnortentscheidungen. Nur wenn die Siedlungen ein Mindestmaß an Attraktivität und Eigenständigkeit erreichen, sind die angedeuteten Probleme zu überwinden.

Bei der Frage nach dem „Gleichgewicht" der Teilräume im Gesamtraum kann die Vorstellung von der gegliederten und gestuften multizentrischen Stadt (im idealen Fall die sogenannte Sternstadt) mit Siedlungsschwerpunkten auf den radial verlaufenden Verkehrsachsen ein hilfreiches Leitbild sein. Um den meist historisch geprägten Stadtkern mit einer Konzentration von Handel, Gewerbe und Dienstleistungen sowie Verwaltungen, schulischen und kulturellen Einrichtungen, die bis in die anschließenden Wohngebiete vordringen, finden sich die gewachsenen Stadtteile mit ihren markanten, wenn auch oft gefährdeten Stadtteilzentren. Sie haben meist einen klar erkennbaren Schwerpunkt: Industrie und Gewerbe, Tourismus bzw. Fremdenverkehr, Schulen, Hochschulen oder Universitäten. Damit bietet sich in Ergänzung zur grundsätzlich zu fordernden Mischung der Funktionen in den städtischen Zentren eine behutsame Spezialisierung zwischen den Stadtteilen bzw. Stadtteilzentren gemäß der jeweiligen Struktur und dem besonderen Entwicklungspotential an.

Wenn es gelingt, die Großwohnsiedlungen mit attraktiven Zentren auszustatten, wäre der Stadtkern bzw. das Stadtzentrum mit seinen weiten Einzugs- und Ausstrahlungsbereichen umringt von den markanten alten Stadtteilen und den neu errichteten Stadtteilen mit ihren jeweils zugehörigen Zentren. Ähnlich wie die „alten" könnten die „neuen" Stadtteilzentren auf der Basis eines spezifischen Potentials versuchen, einen Schwerpunkt bei ihren Funktionen bzw. Tätigkeiten zu finden. Diese Schwerpunktbildung kommt der immer weiter fortgeschrittenen Spezialisierung in Wirtschaft und Gesellschaft entgegen. Sie erlaubt letztlich die verstärkte Nutzung der heute so wichtigen Agglomerations-, Synergie- und Koppelungsvorteile.

Ideal sind gerade in Deutschland die Voraussetzungen in der gewachsenen Siedlungsstruktur, die ein Netz differenzierter „zentraler Orte" ausgeprägt hat. Das hat im Lauf der Entwicklung die markant gegliederte und gestufte multizentrische Stadt bereits vorgezeichnet, die oft eine Fortsetzung im Stadtumland mit Schwerpunkten an den Achsen des Straßen- und Schienenverkehrs findet. Die Integration einer Großwohnsiedlung in dieses System „dezentraler Konzentration", d.h. vor altem ihre Einbindung in den Ring der alten und neuen Stadtteile, ist bei uns im allgemeinen ohne besondere Schwierigkeiten möglich.

Bedauerlich sind, mehr noch in den neuen als in den alten Bundesländern, die vielen verfehlten Standortentscheidungen insbesondere bei Fachmärkten und Einkaufszentren, die u.a. auf einer verzögerten Nutzung der innerstädtischen Recyclingflächen (Bahn, Post, Militär, Gewerbe und Industrie) beruhen. Die Exzesse, die hier im Namen der freien Marktwirtschaft sowie der „blühenden Landschaften" stattgefunden haben, müssen nun durch Wettbewerb, Planung, Phantasie und Beharrlichkeit so weit wie möglich kompensiert werden. Viele Gefahren kommen auf die Großsiedlungen zu, aber ihre Position ist in vielen Dingen recht günstig.

Der Bericht über die Tagung wurde von Katja Mahler aus Berlin verfaßt

Bonn, im September 1997Dr. Hannes Tank


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