FES HOME MAIL SEARCH HELP NEW
[DIGITALE BIBLIOTHEK DER FES]
TITELINFO / UEBERSICHT



TEILDOKUMENT:


[Seite der Druckausg.: 3]



1. Langzeitarbeitslosigkeit und ihre Bekämpfung Erfahrungen im Westen – Entwicklungen im Osten




1.1. Erfahrungen im Westen

Hinter den bedrohlich klingenden jahresdurchschnittlichen Arbeitslosen-Zahlen und -Quoten verbergen sich erhebliche Arbeitsmarktbewegungen. So kann beispielsweise für das Krisenjahr 1993 festgestellt werden, daß der hohe jahresdurchschnittliche Bestand an 2,3 Mio. Arbeitslosen im Westen im Jahresverlauf zweimal "ausgetauscht" worden ist. Die durchschnittliche Dauer einer Arbeitslosigkeitsperiode betrug 1993 insgesamt 27,5 Wochen. Nach Berechnungen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) für 1988 (später auch für weitere Jahrgänge bestätigt) lassen sich hier drei tiefere Untergliederungen anbringen: Fast die Hälfte der Arbeitslosen erreicht nach durchschnittlich 1,8 Monaten den Wiedereinstieg in den Beruf, eine weitere Gruppe von ca. 40% der Arbeitslosen mündet nach 7,3 Monaten erneut in Arbeit, während die dritte Gruppe im Durchschnitt 28 Monate, d.h. fast zweieinhalb Jahre lang in Arbeitslosigkeit verharrt.

Die globale Entwicklung der Langzeitarbeitslosigkeit folgt der Entwicklung der Gesamtarbeitslosigkeit – allerdings mit Verzögerungen. Durch die Kriseneinbrüche 1973/74 und 1981/82 bauten sich hohe Sockel der Massenarbeitslosigkeit auf – im ersten Fall überschritt die jahresdurchschnittliche Arbeitslosigkeit die Millionen-Grenze, im zweiten Fall die Zwei-Millionen-Grenze. Mit wenigen Jahren Verzögerung bauten sich ähnliche Sockel beim Anteil der Langzeitarbeitslosen auf. 1976 wurde ein Spitzenwert von 18% erreicht, 1988 betrug er gar 32,6%. Jeweils in den anschließenden Erholungsphasen gelang es nur langsam, das einmal erreichte Niveau der Arbeitslosigkeit spürbar abzusenken –1980 auf ca. 900.000 Arbeitslose, 1991 auf ca. 1,7 Millionen Arbeitslose. Bei den Langzeitarbeitslosen vollzog sich diese Bewegung dagegen erst am Ende der Erholungsphase – 1980 auf ca. 13%, 1992 auf 26,6%.

Im Hinblick auf persönliche und qualifikatorische Merkmale ließ sich bereits in den 80er Jahren feststellen, daß Langzeitarbeitslose insbesondere bei den Altersgruppen ab 40, bei den Arbeitslosen mit gesundheitlichen

[Seite der Druckausg.: 4]

Einschränkungen sowie bei den Arbeitslosen ohne qualifizierte Berufsausbildung überproportional, z.T. mit Anteilen von über 50%, vertreten sind.

Bereits 1985 betrug die Zahl der Langzeitarbeitslosen über 600.000 Menschen. Ihr Anteil an der Gesamtarbeitslosigkeit erreichte 31%. Dieses Niveau stieg in den Folgejahren noch weiter an. Unter diesem Eindruck wurde aus Fachkreisen und von gesellschaftlichen Gruppen immer lauter die Forderung nach Abhilfe gestellt. Unter anderen hatten beide großen Kirchen bereits 1985 in einem gemeinsamen Aufruf auf die bedrohliche Entwicklung der Langzeitarbeitslosigkeit aufmerksam gemacht. Der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) veröffentlichte 1987 eine vielbeachtete Denkschrift mit dem Titel "Gezielte Hilfen für Langzeitarbeitslose", in der ein detaillierter Forderungskatalog für Wiedereingliederungs- und Qualifizierungsmaßnahmen für Langzeitarbeitslose aufgestellt wurde.

Die politische Diskussion blieb demgegenüber lange Jahre in einer Kontroverse um fiskalisch-motivierte Einsparungen und Kürzungen der aktiven Arbeitsmarktpolitik im Rahmen der 8. und 9. Novelle zum Arbeitsförderungsgesetz (AFG) stecken. 1989 brachte die SPD-Bundestagsfraktion unter Bezugnahme auf die erwähnte Denkschrift der EKD einen Antrag ein, in dem ein detailliertes Sonderprogramm der öffentlichen Hand zur Eingliederung Langzeitarbeitsloser gefordert wurde.

Die 1988er Rekordmarke der Langzeitarbeitslosigkeit, aber auch die nunmehr in das Parlament getragene öffentliche Debatte um Eingliederungshilfen, veranlaßte die Bundesregierung schließlich, zur Jahresmitte 1989 das "Aktionsprogramm Beschäftigungshilfen für Langzeitarbeitslose" aufzulegen. Dieses Programm – anfangs ausgelegt auf zweieinhalb Jahre und ein Mittelvolumen von 1,5 Mrd. DM – war zweiteilig angelegt: Der erste Teil bestand aus Lohnkostenzuschüssen, die an Arbeitgeber bei Einstellung eines Langzeitarbeitslosen in degressiven Raten gezahlt wurden und bei Unterschreitung der damit verbundenen Weiterbeschäftigungsfrist zurückgezahlt werden mußten. Der zweite Teil bestand aus einer gezielten Projektförderung kombinierter Fördermaßnahmen für besonders beeinträchtigte Langzeitarbeitslose, in denen die Funktionen Arbeit, Qualifizierung und soziale Betreuung integriert werden sollten. Dieses Programm wurde mit intensiver Öffent-

[Seite der Druckausg.: 5]

lichkeitsarbeit der Bundesanstalt und der Sozialpartner aufgenommen, und durch den kurz danach einsetzenden Vereinigungs-Boom begünstigt So konnten am Ende der regulären Laufzeit die gesetzten Ziele (60.000 - 65.000 Förderfälle) deutlich überschritten werden (73.000 Förderfälle in Teil 1, 22.400 in Teil 2). In den Folgejahren wurde es deshalb immer wieder verlängert und im Fördervolumen aufgestockt.

Die Langzeitarbeitslosigkeit konnte auf diese Weise zwar 1991 auf den Tiefststand von 455.000 Personen zurückgeführt werden, erhöhte sich in den Folgejahren jedoch erneut trotz der Sonderprogramme auf zuletzt wieder ca. 800.000 Personen in 1994.

Die Erfahrungen im Westen lassen mithin den Schluß zu, daß Langzeitarbeitslosigkeit als ständige Bedrohung wahrgenommen werden muß. Ihr einmal erreichtes Niveau kann nur durch gebündelten Einsatz verschiedenster Mittel und Instrumente und in günstigem konjunkturellem Umfeld wirksam zurückgeführt werden.

Abbildung 1:
Langzeitarbeitslosigkeit in Ost- und Westdeutschland



Bild vergrößern

[Seite der Druckausg.: 6]

Page Top

1.2. Entwicklungen im Osten

Angesichts dieser Erfahrungen müssen die bisherigen Entwicklungen in den neuen Bundesländern alarmieren. Sie erfordern eine eingehende Analyse der Reichweite und Wirksamkeit der Arbeitsmarktpolitik insgesamt und eine Überprüfung der bisher gegen die Langzeitarbeitslosigkeit zum Einsatz kommenden Instrumente.

Der noch nicht annähernd verarbeitete Strukturbruch im Beschäftigungssystem kann bis heute nur durch einen beispiellos hohen Einsatz des arbeitsmarktpolitischen Förderinstrumentariums bewältigt werden. Die ohnehin hohe offene Arbeitslosigkeit liegt auch 1993 mit 1,15 Mio. (1992 = 1,17 Mio.) noch weit unterhalb der durch Ein- und Ausgliederungsinstrumente abgefangenen Arbeitslosigkeit mit 1,54 Mio. (1992 = 1,81 Mio.). Dabei bleiben die Stille Reserve (ca. 150.000 Personen), sowie die Ost-West-Pendler (ca. 424.000 Personen) außer Betracht, die in günstigen Konjunkturlagen als Arbeitsplatznachfrager auftreten könnten.

Die Fachwelt trägt dieser Sonderentwicklung bereits seit einiger Zeit dadurch Rechnung, daß sie unter dem Begriff Unterbeschäftigung alle arbeitsmarktrelevanten Größenordnungen (Arbeitslose, Teilnehmer an AFG-Maßnahmen, Vorruheständler sowie Ost-West-Pendler) aggregiert und so das tatsächliche Arbeitsmarktproblem quantifiziert. Diese Betrachtungsweise müßte korrekterweise auch auf die Problemgruppen der Arbeitslosen und insbesondere die Langzeitarbeitslosen angewandt werden.

Die Langzeitarbeitslosigkeit entwickelt sich im Osten also – wie der Vertreter des IAB ausführte – vor einem völlig anderen Hintergrund als im Westen. Augenfällig ist, daß die Instrumente Vorruhestand und Altersübergangsgeld im Osten noch bis 1993 einen großen Personenkreis (ca. 800.000 Menschen) "aus dem Markt genommen" haben, dessen Pendant im Westen (SozialpIan-Vorruhestand) zur Langzeitarbeitslosigkeit hinzuzählt. Im Osten wird diese Personengruppe also künftig in ganz anderen Größenordnungen als bisher in die Langzeitarbeitslosigkeit hineinwachsen. Hinzu kommt, daß der Instrumenteneinsatz insgesamt zurückgeht, d.h. daß die Möglichkeiten geringer werden, Langzeitarbeitslosigkeit durch Maßnahmen vorzubeugen bzw. zu be-

[Seite der Druckausg.: 7]

heben. Auch die lange Durchschnittsarbeitslosigkeit von 41,5 Wochen in 1993 ist dafür ein ungutes Vorzeichen.

Abbildung 2:
Komponenten der Unterbeschäftigung in den neuen Bundesländern

Es bleibt abzuwarten, inwieweit die in Maßnahmen verbrachte Zeit tatsächlich den typischen Eingliederungsproblemen Langzeitarbeitsloser – insbesondere auch von der Betrachtungsweise betrieblicher Personalpolitik her – vorgebeugt hat.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | November 2001

Previous Page TOC Next Page