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IV Deutsche Unternehmen in Mittel- und Osteuropa

4.1 Ein global player in Mittel- und Osteuropa - Die Siemens AG München

Bei allen unterstützenden und flankierenden Maßnahmen kann das konkrete Investitionsengagement nur durch die Unternehmen selbst erfolgen. Die Siemens AG ist ein internationaler Wettbewerber auf dem umkämpften Markt der Elektroindustrie. Dieser Markt hat sich in den letzten 20 Jahren zu einem Elektronik -Markt, d.h. einem High tech- Markt entwickelt. Innerhalb der Triade Amerika - Südostasien - Europa weist vor allem der südostasiatische Markt überproportionale Wachstumsraten auf. In diesem Wirtschaftsraum wird die Technologie - Entwicklung in entscheidendem Maße vorangetrieben.

Im Unterschied zum Engagement der Siemens AG in Asien ist der mittel - und osteuropäische Markt ein home market. Siemens hat mittlerweile in Mittel- und Osteuropa ca. 13.500 Mitarbeiter beschäftigt. Die Schwerpunkte der Geschäftstätigkeit liegen in Bereichen der Infrastrukturtechnik (Telekommunikation, Energiesektor, Medizintechnik etc.).

Für die Realisierung ihrer geschäftlichen Aktivitäten hat die Siemens AG verschiedene Formen entwickelt. So wurden Siemens- Gesellschaften gegründet - u.a. in Budapest-, die die Aufgaben der AG unmittelbar vor Ort wahrnehmen. Gegründet wurden auch Stützpunkte ohne konkrete Gesellschaftsform.

Besonders hervorzuheben ist die Gründung von über 50 Joint ventures in den MOE - Staaten mit ca. 13500 Beschäftigten. Hiermit sollen vor allem die regionalen und lokalen Vorteile genutzt werden. Als Produktionsverlagerung will der Vertreter der Siemens AG das Engagement in Osteuropa nicht verstanden wissen, denn es gehe ja um ein zusätzliches Geschäft: Letztliches Ziel der Wirtschaftsaktivitäten der Siemens AG sei die Präsenz auf zukünftigen Wachstumsmärkten, die Sicherung neuer Absatzmärkte: "Wenn wir das nicht machen, springen andere in die Bresche". Vor allem in Bereichen der öffentlichen Infrastruktur sind in den MOE- Staaten sowohl eine fundierte industrielle Basis als auch die entsprechenden marktwirtschaftlichen Rahmenbedingungen vorhanden.

Eine Bedrohung für die Arbeitnehmer in der Bundesrepublik sieht der Firmenvertreter nicht. Im Gegenteil: Die Lieferung von Teilfabrikaten aus deutschen Werken in die Tochtergesellschaften im Osten sichere hierzulande Arbeitsplätze. Andererseits könne ein Unternehmen wie Siemens bei Großprojekten wie bei der Modernisierung der Energieversorgung oder dem Ausbau des Schienennetzes natürlich nur zum

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Zuge kommen, wenn Teile der Produktion vor Ort im jeweiligen Land gefertigt würden. Die Siemens AG strebt an, daß der know how - Austausch in beiden Richtungen erfolgt. Um das Ziel - Führungspositionen mit lokalen Kräften zu besetzen - zu erreichen, erfolgt bei der Siemens AG eine Ausbildung des Führungs- Managements als auch des kaufmännischen und betriebswirtschaftlichen Fachpersonals.

Die Siemens AG betrachtet ihr Engagement auch als vorteilhaft für die MOE-Staaten: In Ungarn hat z.B. Siemens die Telekom-Unternehmen übernommen, mit der Konsequenz, daß keine selbständigen ungarischen Unternehmen in dieser Branche mehr existieren. Andererseits sind mit der Übernahme der Unternehmen die Arbeitsplätze erhalten geblieben. Die Übernahme helfe auch Ungarn auf dem Weg zum Weltmarkt. Zudem verfügte die ungarische Regierung über kein Geld zum Aufbau einer leistungsfähigen Telekom-Industrie. Auch in Österreich "existiere keine eigenständige Telekom-Industrie".

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4.2 Plädoyer für gesetzliche Mindestlöhne - Das Engagement der Schoeller Plast Holding GmbH in Tschechien und Ungarn

Die Schoeller Plast GmbH entwickelt, produziert und betreibt Transportbehältersysteme. Es sind in erster Linie Flaschenkasten und Transport - und Lagerbehälter. Das Unternehmen produziert an 10 eigenen Standorten sowie mit Lizenznehmern in Übersee.

Ein Schwerpunkt gegenwärtiger Aufgaben bildet der Ausbau der Logistik- Dienstleistung der Vermietung und Rückholung von Transportbehältern. Aufgrund der hohen Transportkosten starrer Transportbehälter ist die Firma zu einer dezentralen Produktion gezwungen.

Der jährliche Umsatz betrug ca. 200 Mio. DM. er wurde mit 600 Mitarbeitern realisiert. Durch die Übernahme eines tschechischen Kunststoffverarbeiters stieg die Mitarbeiteranzahl auf 1.200. Der Verdoppelung der Mitarbeiteranzahl stand aber ein Lohnzuwachs von nur 5 % gegenüber.

Die Gründe für und der Ablauf der Investitionen der Schoeller Plast GmbH in Tschechien und Ungarn ähneln denen anderer Unternehmen. Sofern eine Überkapazität existiert, führt der Preisdruck zur Überlegung, daß die verlängerte Werkbank den Preisrückgang durch den Kostenvorteil der Produktion in Osteuropa kompensieren kann. Aufgrund der Privatisierung in den MOE- Staaten halten sich die dortigen potentiellen Unternehmen als Lohnzulieferer für den ausländischen Investor (Firmenkäufer) bereit. Dem potentiellen Auftraggeber für Lohnveredelungsaufträge bleibt insbesondere in Tschechien keine andere Möglichkeit als sich am Unternehmen

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zu beteiligen bzw. es zu übernehmen.

Schoeller Plast rechnet in einer längerfristigen Perspektive in den MOE- Staaten mit einem Lohnanstieg. Damit kommt es auch zu einem Abbau der unmittelbaren Kostenvorteile. Andererseits erwartet man, daß sich dieser Prozeß mit einem Anstieg der Binnennachfrage vollzieht, so daß jene Mengen, die in Tschechien in der ersten Phase des Investitionsengagements für Westeuropa produziert werden, vom tschechischen Binnenmarkt absorbiert werden.

Neben den Lohnkostenvorteilen muß aber auch die Produktivität Beachtung finden. Sie betrug in Tschechien ca. ein Viertel der Produktivität der westlichen Standorte. Eine wesentliche Ursache dieses Rückstandes liegt in der Qualität der Maschinen und Werkzeuge. Schoeller Plast geht davon aus, daß in einem Zeitraum von fünf Jahren dieser Produktivitätsrückstand zu zwei Drittel aufgeholt werden kann. Eine gleiche Anzahl von Mitarbeitern unterstellt, kann dann das Zwei- bis Dreifache produziert werden. Dieser Produktionszuwachs würde dann selbst eine unterstellte Verfünffachung der Löhne kompensieren. Auch dann wären sie immer noch vier Mal geringer als die vergleichbaren Löhne in den westdeutschen Standorten. Insofern ist die Strategie und der Vorteil für das Unternehmen eindeutig: Mit der Kostensenkung wird die Wettbewerbsfähigkeit auf den internationalen Märkten erhöht, zum anderen werden neue Absatzmärkte erschlossen. Letzteres hat aber eine wesentliche Voraussetzung. 1920 betonte Henry Ford: "Mein Arbeiter muß sich einen Ford kaufen können."

Aus der Sicht des geschäftsführenden Gesellschafters des Unternehmens ist das Thema des Mindestlohns sehr bedeutsam. Im Vergleich zu Japan und den USA sei zu betonen, daß beide Staaten mit Puffern und Barrieren mit ihren Billig - Lohn -Ländern kooperieren - ein für Europa kaum praktikables Modell.

Der Marktpreis für Arbeit funktioniere nur insofern befriedigend, wenn der Preis sich aufgrund einer Knappheit des Angebots entwickeln könne. Aus der Geschichte der frühen Industrialisierung sei bekannt, daß bei ungelernter Arbeit keine Knappheit entstanden ist. Der Zusammenhang zwischen Mindestlohn und Wohlstand sei aber evident, denn

  • die Inlandsnachfrage sei eine Funktion der Summe der Löhne und

  • die Summe aller Löhne sei eine Funktion des Mindestlohns.

Insofern sei zu schlußfolgern, daß

  • je höher der Lohn, desto höher die Nachfrage, desto höher der Wohlstand und das Niveau der Infrastruktur.

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Da der freie Markt keinen Mindestlohn hervorbringe, sei der gesetzliche Mindestlohn eine conditio sine qua non einer prosperierenden, sozialen Marktwirtschaft.

Mancherorts werde die Überlegung Fair Trade anstatt Free Trade als ein Versuch der Protektion von Branchen im Inland mißverstanden. Protektionsbedarf bestehe aber aus der Sicht einer sozialen Marktwirtschaft. Nur mit einer starken Inlandsnachfrage würden die Staaten Mittel- und Osteuropas auch ein starker Partner der westeuropäischen Länder. Andernfalls verweise das Zukunftsszenario auf Elends-Entwicklungen wie in Südamerika, Afrika und Teile Asiens, die aber dann weit in den EU- Raum hineinwirken.

Anreize für Mindestlöhne könnten derart geschaffen werden, daß über die Einführung von sozial bedingten Zöllen nachgedacht wird, die der östliche Handelspartner dadurch beseitigen kann, daß er Mindestlöhne einhält. Auch unter ökologischen Gesichtspunkten ließe sich ein derartiger Gedanke weiterführen. Die Lohnkostenvorteile der MOE- Staaten blieben auch dadurch weiter erhalten.

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4.3 Rettung durch deutsch- polnische Kooperation - Die Spremberger Tuche GmbH

Die Spremberger Tuche GmbH ist Bestandteil der ostdeutschen Textilindustrie, die 1990 320.000 Mitarbeiter zählte, im Jahre 1993 aber nur noch 28.000. Eine wesentliche Ursache dieser dramatischen Entwicklung ist, daß die ostdeutsche Textilindustrie mit der Wirtschafts- und Währungsunion dem internationalen Wettbewerb und damit einem enormen Kostendruck ausgesetzt war. Massenimporte zu Billigstpreisen aus Entwicklungsländern und auch aus den Ländern Mittel - und Osteuropas führen zu einem weiteren Preissturz. Unter den Bedingungen deutscher Tarife ist manuelle Arbeit bei der Herstellung von textilen Erzeugnissen kaum noch wirtschaftlich.

Soll Deutschland als Standort der Textilindustrie erhalten bleiben, stellt sich die Frage nach Lösungswegen. Eine der Lösungsvarianten ist die Verlagerung von Produktionsabschnitten in kostengünstige Standorte außerhalb der Grenzen Deutschlands.

Die Spremberger Tuche GmbH hat diesen Weg beschritten, um das Unternehmen am Markt zu halten. Das Spremberger Unternehmen selbst ist ein neugegründetes

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Unternehmen, hervorgegangen aus den Spremberger Textilwerken. Die Spremberger Textilwerke waren als typischer DDR-Betrieb personalintensiv und mit allen drei Produktionsstufen ausgestattet (Spinnerei, Weberei, Ausrüstung). Am Tag der Wirtschafts- und Währungsunion befanden sich 670 Arbeitnehmer im Betrieb, heute sind nur noch 30 in der Veredelung tätig. Nichtsdestotrotz gelang es, auf dem westeuropäischen Markt Fuß zu fassen, obwohl zuvor die gesamte Produktion in die DDR bzw. RGW- Staaten geliefert wurde. Um aber angesichts der italienischen Konkurrenz bestehen zu können, war es nicht möglich, die Kosten an die Kunden weiterzugeben. Eine Umstrukturierung des Unternehmens war unabdingbar. Nachdem alle Sanierungsversuche mit Unterstützung der Treuhandanstalt fehlschlugen, wurde ein neues Unternehmen gegründet, welches gute Kooperationsbeziehungen zu polnischen Betrieben aufbaute. Der Standort Spremberg befindet sich 25 km entfernt vom Grenzübergang Bad Muskau. Im grenznahen Raum bestehen zu vier polnischen Webereien Kooperationsbeziehungen.

Das Kooperationskonzept basiert auf einer gemeinsamen Entwicklung von Geweben. Die Vorproduktion findet in Polen statt, die Veredelung in Deutschland. Da es sich bei den beiden Vorstufen Spinnerei und Weberei um sehr energie- und lohnkostenintensive Fertigungsstufen handelt, ergeben sich immense Kostenvorteile für das Spremberger Unternehmen.

In Spremberg entsteht zur Zeit eine neues Textilveredelungsunternehmen auf der sog. grünen Wiese. Dabei wird in der Stufe der Veredelung die neueste Technologie eingesetzt. Insofern ist das Unternehmen in der Lage. aus billigen Vorprodukten qualitativ hochwertige Ware zu konkurrenzfähigen Preisen auf dem europäischen Markt anzubieten.

Die Zusammenarbeit mit den polnischen Partnern beschränkt sich nicht auf ein reines Lieferanten- Abnehmer - Verhältnis. In enger Gemeinschaftsarbeit - die auch West- Ost- Technologie- Transfer einschließt - wurden 80 neue Gewebequalitäten entwickelt. Beide Partner haben von der Kooperation profitiert: Der Vorteil für die polnischen Unternehmen besteht vor allem im Absatz ihrer Produkte auf dem westlichen Markt und die Verbesserung ihrer Endprodukte durch das West-know-how, der Vorteil der deutschen Seite im Erwerb kostengünstiger Vorprodukte, der ihre Konkurrenzfähigkeit sichert.

"Ohne diese deutsch- polnische Kooperation wäre der Textilstandort Spremberg nicht zu retten gewesen', betonte die Geschäftsführerin des Unternehmens. Die Produktionsverlagerung war die letzte Chance für den Erhalt des Spremberger Standortes.

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Zu berücksichtigen sei auch, daß mit dem Niedergang der ostdeutschen Textilindustrie die Kooperationsbeziehungen untereinander weggefallen seien. Man habe also zwangsläufig nach neuen Kooperationspartnern Ausschau halten müssen, wobei es schon aufgrund der günstigen räumlichen Entfernung nahe lag, auf polnischer Seite neue Partner zu suchen.

Nicht zu vergessen sei, daß die deutsch- polnische Wirtschaftskooperation durch die brandenburgische Landesregierung unterstützt wurde. Leider war es aber nicht möglich, schnell und unkompliziert von den zuständigen Behörden die entsprechenden Fördermittel zu erlangen. Insofern blieb nur die Möglichkeit der Nutzung eines privaten Unternehmensberatungsbüros.

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4.4 Produktionsverlagerung aus Arbeitnehmersicht - Das Beispiel der AEG-Schienenfahrzeuge GmbH Henningsdorf

Ein weiteres konkretes Beispiel einer Produktionsverlagerung schilderte der Betriebsratsvorsitzende der AEG Schienenfahrzeuge GmbH Henningsdorf, aus dessen Sicht die Gefahren eines solchen Engagements deren Vorteile bei weitem überwiegen.

Die AEG habe mit der Übernahme der Schienenfahrzeuge GmbH Henningsdorf die Systemfähigkeit auf dem Schienenfahrzeugmarkt erlangt, also die Fähigkeit, das komplette Fahrzeug in eigener Regie auf die Schiene zu stellen. Vorher war die AEG nur Komponentenanbieter. Diese Entwicklung habe die AEG Schienenfahrzeuge GmbH zu einem sehr hoffnungsvollen Unternehmen in den neuen Bundesländern gemacht, zumal es sich hier um einen Wachstumsmarkt handele. Das neue Konzept der AEG sähe eine Auslagerung sogenannter technologisch einfacher und lohnintensiver Bestandteile der Fertigung nach Tschechien vor. Hierzu wurde ein Gemeinschaftsunternehmen mit dem Prager Straßenbahnhersteller CKD gegründet.

Mit dieser Produktionsverlagerung verbindet sich der Verlust vieler Arbeitsplätze in Henningsdorf. Der Betriebsratsvorsitzende befürchtet zudem, daß mittelfristig auch andere - qualifiziertere - Tätigkeiten von Verlagerungen bedroht seien. Irgendwann ginge es ans Know-how, "dann wird es in Henningsdorf nur noch ein paar Edeljobs geben"

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Die direkten Lohnkosten seien nur die eine Seite der Medaille, zu beachten seien auch andere Faktoren wie die Lohnnebenkosten, Energiekosten etc., betonte er. Auch die höheren Standards in Bezug auf soziale Sicherheit, Arbeitssicherheit, Umweltschutz verursachen höhere Kosten. Wenn Unternehmen kostenintensive Produktionen auslagerten, gingen sie den bequemeren Weg. Weit wichtiger sei es, zunächst über Rationalisierungsmaßnahmen, z.B. über eine Verbesserung der Arbeitsorganisation nachzudenken. Ökonomisch bedenklich sei im konkreten Fall auch, daß die gerade erst erlangte Systemfähigkeit auf dem Schienenfahrzeugmarkt wieder aufgegeben werde. Auch der Betriebsrat in Henningsdorf erkenne die Notwendigkeit von Kooperationen, real müsse aber der Arbeitsplatzabbau in Henningsdorf und Berlin-Spandau als Problem gesehen werden. Zunehmend stelle sich die Aufgabe der "grenzüberschreitenden Vertretung der Arbeitnehmerinteressen''.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | November 2000

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